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The Heart Collector

von

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Kapitel 8: Täter oder Opfer

Mit heftigen Böen jagte der Frühlingswind herumliegende Blütenblätter über die Straße. Unablässig prasselten dicke Regentropfen auf das Scheibendach der Terrasse herab, worunter drei Jugendliche saßen, die sich hungrig über eine Schüssel mit warmen Leckereien hermachten. Für das scheußliche Wetter hatten sie keinen einzigen Blick übrig.
 

„Oh Gott. Ich liebe deine Mutter, Charlotte.“, stöhnte Raphael und biss herzhaft in eine süße Gebäckkugel. „Sie macht echt die besten Muzen auf der ganzen Welt. Und dabei ist es echt scheiß egal, dass wir noch nicht mal Karneval oder Silvester haben!“
 

Maxime saß zusammengerollt auf einen weichen Sessel und knetete mit seinen Händen die große Decke, welche ihn vor denn milden Temperaturen schützen sollte. Auch er schob sich gerade eine Muze in den Mund und schmatze anerkennend. „Charlotte? ICH liebe deine Mutter. Der Homo dahinten weiß so eine so gute Köchin doch gar nicht zu schätzen!“
 

Im Moment waren die zwei Jungen bei ihrer besten Freundin zu Besuch und verbrachten auch die heutige Nacht hier. Morgen mussten alle Lehrer von ihrer Schule an irgendeiner wichtigen Fortbildung teilnehmen, deshalb fand an diesem Tag keinen Unterricht statt.
 

Für Maxime, der in der letzten Woche wirklich viel Pech ertragen musste, war das eine willkommene Verschnaufpause.
 

Zuerst hatten sie am Dienstag die Geschichtsklausur von Herrn Asthon zurückbekommen und er erhielt eine beschämende 3 Minus. Dann am Mittwoch war er beim Sportunterricht gestolpert und so ungünstig auf seine Schulter gefallen, dass er sich die kommenden Tage nicht mehr richtig bewegen konnte. Und zu guter Letzt, ebenfalls am Mittwoch, wollte er nach der Schule noch mal ein klärendes Wort mit Marcel sprechen, aber dieser war ohne ein Wort zusagen einfach an ihm vorbei gelaufen.
 

Jetzt wo das Gerücht die Runde machte, dass Marcel angeblich homosexuell war nutzen Jaromir und Sebastian natürlich jede freie Sekunde, um ihn das Leben zur Hölle zu machen. Zum Glück wurden so langsam die Lehrer auf die zwei Schläger aufmerksam und behielten die Jungen von nun an im Auge. Aber leider hinderte sie es trotzdem nicht daran, um sich Marcel außerhalb der Schule vorzuknöpfen.
 

Maxime stieß einen langen Seufzer aus. Tja, im Nachhinein entpuppte sich seine tolle Rettungsaktion als totaler Reinfall. Demnach war es kein Wunder, dass Marcel jetzt noch weniger mit ihm zu tun haben wollte, als vorher. Sie hätten durch diese überstandene Situation die besten Freunde werden können, und nun wollte Marcel noch nicht mal mit ihm sprechen! Toll! Danke Schicksal!
 

„So Kinder, ich habe die Zeitungsausschnitte gefunden! Puh, war das da unten im Keller ein Gerümpel, meine Herren! Die Spinnen waren so groß, dass ich Angst hatte, gefressen zu werden.“
 

Ächzend öffnete sich die Türe zum Wintergarten und ein hochgewachsener Mann, mit dunkelbraunen Locken und einem warmen, etwas leidenden Lächeln, schleppte einen riesigen Karton in das Zimmer. Schnaufend stellte er die Kiste auf den Tisch ab.
 

„Oh, danke Papa! Du bist spitze!“ Begeistert sprang Charlotte auf die Beine, schob die Schüssel mit den Muzen auf die Seite und holte mehrere, alte Zeitungen aus den muffig riechen Karton.
 

Auch Maxime und Raphael rückend neugierig an den Tisch heran. Sie sahen dabei zu, wie ihre Freundin verschiedene Blätter und Artikel feinsäuberlich auf der Platte ausbreitete.
 

„Was ist das?“ Raphael klang verwirrt und rümpfte die Nase. „Warte mal kurz, lass mich mal lesen. Sind das...?“
 

„Die alten Berichte von den Wilderern? Jap, mein Vater hat sie damals gesammelt.“, Charlotte nickte und ihr Nicken vermischte sich mit einem herzhaften Gähnen. „Ich habe ihn erzählt, dass wir letzte Woche Sonntag im Wald waren und Hinweise gesucht haben. Natürlich war er im ersten Moment nicht gerade davon begeistert, aber dann hat er sich an die Kiste mit den Reportagen erinnert und mir von ihr erzählt...“
 

Herr Kirschbaum, Charlottes Vater, lächelte milde und tätschelte seiner Tochter die Wange. „In der Tat, junges Fräulein. Und wenn ihr drei noch mal so einen Ausflug in den Wald macht, dann sagt meiner Frau oder mir doch bitte vorher Bescheid... ich wäre natürlich sofort mit von der Partie!“ Er grinste leicht und zwinkerte Maxime und Raphael verschwörerisch zu. „Aber meine Frau würde mir den Kopf abreißen, wenn sie das erfährt. Ich habe die Geschehnisse da draußen im Wald damals mit großem Interesse verfolgt, und bin jetzt wirklich neugierig, wie es dieses Jahr weitergeht. Früher stand immer in der Zeitung, dass Wilderer, also Menschen, die Tiere töten, aber ich denke an etwas anders...“
 

„So?“, sagte Raphael und runzelte seine Stirn. „An was denkst du denn? Vielleicht an ein Tier aus der Gegend? Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch schon mal an so was gedacht. Die Kadaver der Tiere sahen immer so aus, als hätte man sie mit großen Krallen und Zähnen aufgeschlitzt.“ Nachdenklich nahm er einen Zeitungsausschnitt in die Hand und überflog kurz die ersten Zeilen. „Ich finde es komisch, dass die Täter meistens zu der gleichen Zeit zuschlagen. Einmal Ende Frühling und dann Mitte Herbst. Ansonsten ist es die ganze Zeit ruhig und als ob sich normale Wilderer an solche Sachen, wie Monate und Jahreszeiten aufhalten würden. Pfft, die würden doch permanent auf die Jagd gehen, solange sie nicht von der Polizei verhaftet werden...“
 

Herr Kirschbaum grunzte zustimmend, dann senkte er die Augen ebenfalls auf einen Bericht. „Ich dachte zuerst an ein Rudel Wölfe, dass hier vielleicht ihre Jungen aufzieht. Oder an einen Bären, der womöglich schon mal seine Wintervorräte aufstockt, bevor er sich schlafen legt. Hmm, aber wären Tiere die Täter, dann hätten die Ermittler doch Fußabdrücke oder Haarbüschel an den Tatorten finden müssen... Doch nichts. Das Tier oder die Wilderer jagen, töten und verschwinden wieder, ohne irgendwelche Hinweise auf ihre Identität zu hinterlassen. Es ist zum Haareraufen!“
 

„Und Tiere können kein Feuer machen.“ Maxime, welcher sich bis jetzt komplett aus dem Gespräch gehalten hatte, klinkte sich nun wieder ein. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und drückte den Zeigefinger auf die Überschrift eines besonders kleinen, unauffälligen Artikels. „Als wir letzten Sonntag im Wald waren, haben wir überall Brandspuren entdeckt. Und hier steht es auch wieder; „Der gefundene Kadaver hatte nicht nur den kompletten Bauchraum aufgeschlitzt, sondern wies auch unzählige Verbrennungen am ganzen Körper auf.“ Na, das kann doch kein Tier getan haben. Das MÜSSEN Menschen gewesen sein!“
 

„Wo er recht hat, hat er recht“, murmelte Raphael und stieß einen langen, genervten Seufzer aus. „Oh Mann, ich dachte, dass das alles einfacher wäre. Ich konnte das Geld von der Polizei schon förmlich riechen und jetzt...? Stehen wir immer noch am Anfang!“
 

„Komm schon, Raphael!“, meinte Charlotte und klopfte ihrem besten Freund auf den Oberschenkel. „Sei nicht so ungeduldig! Wir sind doch nur ein paar unerfahrene Kinder. Meinst du, dann lösen wir sofort das große Rätsel, woran professionelle und geschulte Ermittler schon jahrelang tüfteln?“ Sie lächelte milde. „Ganz sicher nicht. Darum müssen wir auch klein anfangen und jeder Spur nachgehen. Ich fand deine und Papas Idee gar nicht mal schlecht, aber Maxime hat auch recht. Tiere können kein Feuer entzünden.“
 

Eine gute Stunde später lagen die Kinder schließlich umgezogen und erschöpft in Charlottes Zimmer. Das Mädchen lag in ihrem Bett und Raphael und Maxime zu zweit auf einer großen Matratze daneben. Doch an Ruhe war bis jetzt nicht zu denken. Sie diskutierten immer noch über die Wilderer oder über die Raubtiere, welche angeblich ihr Unwesen im Wald trieben.
 

„... also ich bin für schlafen.“, zischelte Maxime um 3 Uhr morgens genervt. Er rollte sich auf die Seite, vergaß dabei, dass Raphael nur einen halben Meter von ihm entfernt auf der gleichen Matratze lag und knallte mit dem Kinn gegen seine Schulter. „Alter, spinnst du?! Was rückst du mir so auf die Pelle? Verzieh´ dich mal!“
 

Der Angesprochene dachte noch nicht im Traum mal daran, stattdessen flickte er Maxime mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Halt deine Klappe, Pinkie! Du hast genau so viel Platz wie ich, und dafür bist du Zwerg auch noch einen ganzen Kopf kleiner!“
 

„Bleib mal bei den Tatsachen. Einen halben Kopf kleiner, ja?!“, empörte sich Maxime schnaubend und rutschte zugleich wieder zurück auf seine Seite, die funkelnden Augen noch immer auf Raphaels Grinsen gerichtet. „Und jetzt möchte ich schlafen, okay?! Schon seit Stunden habt ihr kein anderes Gesprächsthema als diese bescheuerten Wilderer, und das kotzt mich so langsam tierisch an! Ich bin müde, Mensch!“
 

Charlotte und Raphael wechselten einen kurzen Blick und verdrehten ihre Augen, doch Maxime kehrte seinen Freunden bereits den Rücken zu und zog die Bettdecke hoch.
 

Gerade als Maximes Verstand ins Traumland eintauchen wollte, spürte er einen ziemlich kräftigen Tritt in die Seite. Durch den jähen Angriff rollte fast von der Matratze, konnte sich noch im letzten Moment abfangen und zurück ins Bett drücken.
 

„Hey...-!“
 

„Shht!“, zischte Raphael von hinten und legte seine Hand auf Maximes Mund, der ihn schon eine wüste Schimpfkanonade an den Kopf knallen wollte. „Sei still... Okay, tut mir leid für den Tritt. Aber ich wusste nicht genau, wie weit du weg bist und wie kräftig ich treten muss, damit ich dich erreiche.“
 

Als Antwort knurrte Maxime leise und schnappte im Affekt nach Raphaels Fingern. Der Andere verstand diese Geste sofort. Er wusste, dass die kleine Giftnatter auch keine Probleme damit hatte, um ihn im Notfall sogar die Finger abzubeißen.
 

Langsam zog Raphael seine Hand zurück. Er drückte seinen Kopf in das Kissen und sah Maxime in die Augen. „Hey, ich muss dich etwas fragen. Also, neuerdings gibt es in der Schule so seltsame Gerüchte...“ Der Blondhaarige wendete grummelnd seinen Blick ab und fixierte einen offenbar sehr interessanten Punkt an der Wand. „Ich... habe gehört, dass du was mit diesem Opfer aus der achten Klasse hast. Stimmt das?“
 

„Was... was für ein Opfer?“, fragte Maxime misstrauisch. Doch tief in seinem Inneren wusste er bereits, dass es eigentlich nur eine Person gab, die Raphael mit „Opfer“ meinen konnte. Unwillkürlich schoss ihm das kochend heiße Blut ins Gesicht und seine Wangen begangen vor lauter Scham zu glühen „Redest du von... dem kleinen Blonden? Ähm, der Junge... der letztens von Jaromir und Sebastian in die Mangel genommen wurde?“
 

„Ja, genau der. Die Leute aus der Oberstufe erzählen sich seit einigen Tagen, dass ihr angeblich zusammen seid und in der Schule rum macht. Aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Das passt doch nicht, verdammt. Du stehst nicht auf diese Sorte von Typen. Du magst taffe Männer, die dir zeigen, wo es lang geht und keine mädchenhaften Heulsusen, die du verhätscheln musst. Was... was ist an diesen seltsamen Gerüchten dran, Maxime?! So langsam macht mich das Gerede von den ganzen Leuten irre! Ich will jetzt wissen was wahr ist!“
 

„Das stimmt nicht, nein.“
 

„Was, nein?“, hakte Raphael skeptisch nach. „Auf was für Männer du stehst, oder ob die Gerüchte wahr sind?“
 

„Dass ich was mit Marcel habe! Das ist nicht wahr!“ Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum, dann drückte Maxime die Faust auf seinen Mund und schluckte lautstark. „Tzz, als ob der freiwillig mit mir abhängen würde. Diese doofe Nuss... Er will noch nicht mal mit mir sprechen.“
 

Raphael seufzte und fuhr sich durch die langen, blonden Haare. „Aha, Marcel heißt er also. Na, das ist aber ein überraschend männlicher Name, für so einen schnuckeligen Jungen wie ihn. Nett anzusehen ist er ja wirklich. Also mein Geschmack ist er nicht, aber wer weiß, wie er sich noch in der Pubertät entwickelt. Wie alt ist er noch mal?“
 

„Hey, vergiss es! Ich weiß doch, was dir für Gedanken durch den Kopf gehen. Ich habe ihn zuerst gesehen, hast du das verstanden?“, zischte Maxime gereizt. „Und wenn hier einer einen Anspruch auf Marcel erheben darf, dann bin dass ich! Du hast mir schon oft genug die Kerle vor der Nase weggeschnappt. Diesmal machst du das nicht. Diesmal wirst du schön brav deine Finger bei dir halten und mir bei der Arbeit zusehen.“
 

„Whao, ganz ruhig, Kleiner. Ich wollte dir schon nicht dein Betthäschen ausspannen.“
 

Lachend schüttelte Raphael seinen Kopf und boxte Maxime freundschaftlich gegen den Oberarm. Seine Augen funkelten und es war ihm anzusehen, dass er den Rosahaarigen mit seiner Aussage über Marcel nur ärgern wollte. Sie waren doch beste Freunde. In Wahrheit würde er seine Finger niemals nach einem Mann ausstrecken, den Maxime mochte. So was machte man als bester Freund einfach nicht! Das war ein ungeschriebenes Gesetz!
 

Der nächste Morgen kam schneller als erwartet.
 

Maxime versteckte sein Gesicht in Raphaels Halsbeuge und kniff die Augen zusammen. Gestern Nacht hatte ihn Raphael nach dem mehr oder weniger ernsten „Streit“, einfach in die Arme genommen, und in dieser Position waren sie dann später auch eingeschlafen. Bei diesen Gedanken begann sein Herz wie wild zurasen; so einen engen Kontakt zu Raphael war für Maxime wie pures Gift. Er konnte sich einfach nicht von seinen alten Gefühlen befreien. Ein kleiner Teil von ihm war immer noch in Raphael verliebt und dieser Teil, wurde in solchen Situationen leider immer wieder aktiv.
 

Gähnend rollte sich Maxime auf den Rücken und legte seinen Kopf in den Nacken.
 

Das hellhäutige Gesicht seines besten Freundes sah selbst am Morgen ohne Schminke oder jegliche Kosmetikprodukte, wahnsinnig attraktiv aus. Die langen, hellblonden Haare flossen einem Schleier gleich über das große Kopfkissen und verdeckten seine geschlossenen Augenlider zum Teil. Die schwarzen Wimpern des schönen Jungen waren so dick und lang, dass sie besser zu einer Frau gepasst hätten, anstatt zu einem Mann wie ihm.
 

Die Luft anhaltend streckte Maxime seine Hand aus und legte sie auf Raphaels Wange. Er war verblüfft, wie weich sich seine Haut doch anfühlte - da konnten sogar die Mädchen aus dem Fernsehen einpacken, die immer für irgendeine besondere Creme oder Salbe warben.
 

Noch während Maxime in seinen Träumereien gefangen war, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus, dass hier etwas nicht stimmte. Fast körperlich spürte er die Spannung, die von jetzt auf gleich auf einmal in der Luft lag. Irritiert drehte Maxime seinen Kopf - und blickte in das grinsende Gesicht seiner brünetten Freundin, Charlotte.
 

„Guten Morgen. Ihr gebt da unten aber ein niedliches Pärchen ab.“ Das lächelnde Mädchen beugte sich neugierig über die Bettkante und grinste noch ein Stückchen breiter. Anscheinend war sie schon länger wach gewesen. Charlotte musste Maxime also die ganze Zeit heimlich beobachtet haben! „ Hey, ihr habt doch nichts Unanständiges gemacht, während ich hier in aller Ruhe geschlafen habe, oder?!“
 

„Wer weiß.“ Schnurrend machte Maxime seinen Rücken gerade, vergrub die Finger in der Matratze und zog sich mit einem energischen Ruck nach oben, auf ihr Bett. Charlotte wollte schon einen erschrocken Laut ausstoßen, aber Maxime war schneller und legte ihr rasch die Hand auf den Mund. „Sei still! Oder willst du, dass Raphael aufwacht und uns stört?“
 

Charlotte hielt die Luft an. Augenblicklich wurde sie ruhig und schaute mit einem ängstlichen Blick in azurblaue Augen. „W...was s-soll das... wer-werden?“
 

„Praktisches Lernen...“
 

*xXx*
 

Auf Frau Kirschbaums Idee hin, verbrachten die 3 Freunde und Charlottes jüngerer Bruder ihren restlichen Tag in Hamburg und klapperten sämtliche Geschäfte der Einkaufsmeile ab. Tamino Kirschbaum schlug sich wacker, aber Charlotte selbst wollte schon die Flinte ins Korn werfen, als Raphael den dritten Schuhladen infolge anvisierte und auch Maxime keine Anstalten machte, Einspruch zu erheben.
 

Am Nachmittag hatten sich die Wege der Kinder schließlich getrennt. Charlotte wollte mit ihren Bruder in den uralten Stadtpark gehen und sich die alten Bäume anschauen, Raphael musste für seine Katze neues Futter kaufen, und Maxime nutze die Gelegenheit, um sein ehemaliges Heim zu besuchen.
 

Die Erzieher und Pädagogen freuten sich wahnsinnig über den spontanen Besuch ihres Schützlings. Die nächsten Stunden musste Maxime ein Kreuzfeuer aus Fragen über sich ergehen lassen, und allerhand Dinge über das Leben im Mehrfamilienhaus erzählen. Dabei verschwieg er ihnen aber bewusst die Schwierigkeiten, die er mit seinen beiden Mitbewohnern hatte.
 

Es war schon weit nach 21 Uhr, als Maxime die Eingangstüren des Jugendheims hinter sich zu zog und auf die Straße trat. Tief atmete er aus. Jetzt hatte er es nach langen hin und her endlich nach draußen geschafft. So gerne er die Leute aus dem Heim auch möchte - sie konnten ihn einfach nicht gehen lassen!
 

Maxime zog den Reißverschluss seiner Jacken nach oben. Brrr, inzwischen war es auf der Straße ziemlich frisch und windig geworden. Seine Füße trugen ihn in die Innenstadt, wo es einen direkten Anschluss zur Deutschen Bahn gab.
 

Aber soweit sollte er es gar nicht schaffen...
 

Nach zehn Minuten hielt Maxime vor einer Gasse an und legte seinen Kopf auf die Seite. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Hier draußen stank es seltsamerweise überall nach Schwefel und Rauch...

Grillte hier draußen jemand?

Zur gleichen Zeit keimte aber auch noch ein anderer Verdacht in ihm auf: Da war doch wohl hoffentlich nicht der Brandstifter am Werk, der letztens die Grundschule angezündet hatte...!
 

Maxime stand vor der düsteren Straßengasse und spürte mit Schrecken, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Langsam, und nicht sicher, ob er das wirklich wollte, betrat er die Gasse und tastete gleichzeitig in seiner Hosentasche nach seinem Pfefferspray. In solchen Situationen war er froh darüber, dass er auf Raphael gehört hatte und sich auf sein Anraten hin ein solches Spray zulegte.
 

Der Weg war lang und düster, nach einigen Minuten nahm der Schwefelgeruch zu und Maxime musste sich vor lauter Gestank sein T-Shirt über den Mund ziehen. Etwa 100 Meter weiter, bemerkte er ein warmes Flackern an den gegenüberliegenden Hauswänden.
 

Maxime hielt den Atem an und verharrte in seiner Position. Dann drückte er sich mit den Rücken an die kühle Mauer. Dass, was er hier tat, war dämlich. Und gefährlich. Aber bevor er die Polizei angerufen hatte, könnte der Brandstifter schon längst über alle Berge sein und mit ihm, alle Beweise...!
 

Vorsichtig schob Maxime seinen Kopf um die Ecke und lugte in eine geräumige Sackgasse. In der Mitte brannte ein großes Feuer, das sich hell und warm in den Himmel fraß. Die Flammen leuchteten in allen Rottönen dieser Welt - aber das Feuer befand sich nicht wie ein gewöhnliches Lagerfeuer auf dem Boden, sondern in einem großen Metallgefäß, welches kaum Qualm und Rauch in die Luft entließ.
 

Maxime kauerte sich zusammen und versuchte irgendwo den Brandstifter ausfindig zu machen. Doch nirgendwo konnte er ihn entdecken. Die Sackgasse war bis auf das Feuer, absolut leer. Maximes erster Gedanke war natürlich hin laufen und löschen, aber dann durchriss ein grässliches, gurgelndes und tiefes Knurren die Stille.
 

Im nächsten Moment ertönte ein heftiger Schlag von der Seite und Maxime wäre fast in Ohnmacht gefallen. Als er mit zitterten Knien zurück in die Gasse schaute, erkannte er eine hagere Gestalt am Feuer stehen. Die halblangen, schneeweißen Haare, die der Gestalt in die roten Augen fielen, erkannte Maxime sogar in dem hellen Schein der Flammen. Ganz zu schweigen, von dieser grauen und kränklich wirkenden Hautfarbe...!
 

Das war der Kerl aus dem Bücherladen!
 

Von seinem Versteck aus beobachtete Maxime, wie der Albino zwei braune, vollgepackte Leinensäcke in den Händen trug und sie schnaubend vor der Feuerstelle abstellte. Den Atem anhaltend, ging der Rosahaarige in die Hocke und presste sich noch näher an die Wand. Was war hier los? Was hatte der Albino in den Säcken versteckt?
 

Plötzlich brachte ein zweiter Schlag die Luft zum Vibrieren und der weißhaarige Junge drehte seinen Kopf nach hinten. Er machte einen Schritt zur Seite und eine weitere Person kam aus dem hinteren Teil der Sackgasse gelaufen, welchen Maxime von seiner Position aus nicht erkennen konnte.
 

„Warum veranstaltest du so einen Krach? Möchtest du, dass wir entdeckt werden?“
 

„Quatsch nicht! Sieh zu, dass du endlich die Säcke in die Flammen schmeißt. Wir haben hier nicht ewig Zeit!“, erwiderte der fremde Junge in einem gereizten Tonfall und warf dem Albino einen funkelnden Blick zu.
 

Maxime hatte das kurze Gespräch der beiden Männer belauscht. Nun saß er zitternd da, klammerte sich mit einer Hand an der Mauer fest und drückte die andere auf seinen Mund. Es war nicht die Unterhaltung, die ihn verängstigt hatte, sondern das Gesicht des jungen Mannes. Das Gesicht war blass, etwas kantig, absolut symmetrisch geschnitten und unglaublich attraktiv. Und das Wichtigste; Maxime kannte es! Vor einigen Tagen hatte er es auf Facebook gesehen.
 

Das war Kileys Bruder, Daimon Sandojé.
 

Jetzt rauschten die Gedanken wie wild durch seinen Kopf und Maxime presste den Kiefer zusammen. Was ging hier bloß vor?! Und was hatte Daimon mit diesen weißhaarigen Jungen aus dem Bücherladen zu tun?
 

Wie schon auf dem Foto wirkte Daimon auch in natura alles andere als freundlich und zuvorkommend: Es besaß die gleiche arrogante Aura wie sein Bruder und Daimon war sogar noch größer und kräftiger gebaut wie Kiley. Wo Maxime auch hinsah; nirgendwo hatte der rothaarige Junge ein Gramm Fett zu viel auf den Rippen, dafür strotze sein Körper nur so vor Kraft und Muskelmaße. Schon alleine seine Handgelenke waren so dick wie Maximes Oberschenkel!
 

Der Albino zuckte in diesem Moment seine Schultern. „Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Daimon. Ich habe mir diese Gegend schon ganz bewusst ausgesucht. Hier an dieser Gasse kommt am Abend kaum jemand vorbei, also wird uns hier draußen niemand finden... Beruhige dich mal.“
 

„Ich und mich beruhigen?! Du bist ja witzig, Avalon!“ Daimons Reaktion auf Avalons gute gemeinte Worte, war ein böses Lachen aus beißendem Spott. „Darf ich dich daran erinnern, dass ICH derjenige bin, der DIR gerade aus der Patsche hilft? Aber wenn du so überzeugt von der Sache bist, kann ich auch wieder nachhause gehen und meine Zeit für wichtigere Dinge nutzen... Zum Beispiel trainieren. Oder zocken.“
 

Avalon sah den stämmigen Jungen scharf an, verkniff sich aber jeglichen Kommentar zu dieser undankbaren Aussage. Stattdessen packte er die braunen Säcke am Bund und warf sie wie befohlen in die leuchtenden Flammen. Es dauerte noch einen kurzen Augenblick, bis er das aufkeimende Gefühl in seinem Magen richtig gedeutet hatte und dann riss Avalon seinen Kopf in den Nacken und brach ganz unvermittelt in ein schallendes Gelächter aus.
 

„Hahaha! Trainieren? Wie langweilig! Ach, ich bereue es schon jetzt, dass ich dir von dieser Sache erzählt habe. Ich hätte noch so viele schöne Dinge mit diesen Männern anstellen können. Aber nein, du musst ja immer mehr wie Kim und der Alte werden und alles aufgeben, was irgendwie Spaß macht.“
 

Daimon wirkte nicht sehr begeistert von Avalons plötzlichem Stimmungswandel. Mürrisch rutschten seine Mundwinkel nach unten und er stopfte die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans. „Oh, natürlich. Leichenschändung ist ja auch so ein tolles Hobby...“
 

„Besser das, als Zocken. Ich vertreibe mir meine Zeit immerhin mit sinnvollen Dingen!“
 

„Sinnvoll? Gewichte heben und Liegestütze machen ist sinnvoll!“
 

„Warum willst du Gewichte heben? Du siehst doch sowieso schon aus wie ein Bodybuilder! Junge, wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der eine Hantel heiraten würde, dann bist du das!“

Avalon drehte eine Runde um das Feuer und betrachtete die brennenden Leinensäcke mit kritischen Augen. Danach ging er zurück, schob seine Hand unter Daimons Arm hindurch und schaute nach oben, da der grimmige Rotschopf fast 10 Zentimeter größer war wie er.
 

„So... das waren die letzten zwei Säcke, mein Guter. Mensch, so toll war die Verbrennung jetzt auch nicht! Irgendwie habe ich mir das viel spannender vorgestellt. Früher, in der Zeit der Hexenverfolgungen, war so ein Auftakt noch ein Erlebnis der Extraklasse. Und heute? Ach, im modernen Zeitalter ist alles so schnelllebig und unwirklich. Findest du nicht auch? “
 

Daimon verdreht seine grünen Augen und schüttelte Avalons Hand ab. „Du hast einen Knall, Kleiner! Wann kommst du endlich im Zwanzigsten Jahrhundert an, und vergisst die Vergangenheit?

Mann, keiner Wunder das dich Kim und Jerry immer, wie einen Aussätzigen behandeln... Die denken doch, dass du eine Schraube locker hast.“
 

Der Rothaarige schnipste einen Zigarettenfilter in die Flammen und ließ seinen Blick noch einen Moment auf den Flammen ruhen. Es hasste es, wenn ihn jemand nervte. Es hasste es, wenn jemand seine Hilfe verlangte, ohne hinterher Danke zu sagen. „Wenn die Säcke verbrannt sind, können wieder gehen. Und Avalon? Hoffentlich war dir das heute eine Lehre und du passt das nächste Mal besser auf, bevor du wieder so etwas Dummes anstellst. Wir haben wirklich Glück, dass du nicht beobachtet wurdest, und die Polizei im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt ist. Das nächste Mal könnte es anders ablaufen. Außerdem wird Jeremy dann Ausflippen und dich aus dem Haus werfen.“
 

Plötzlich spürte Daimon, wie sich ein dünner Arm um seine Taille legte. Als er den Kopf senkte, blickte er direkt in das blasse Gesicht des weißhaarigen Jungen, der ihn mit warmen, aber verstörten und wahnsinnigen rot leuchtenden Augen ansah. „Jeremy wird mich nicht raus werfen. Dafür ist der viel zu weich und sanftmütig. Aber es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen machst. Danke Daimon.“
 

Diesmal ließ Daimon die Umarmung zu. Jetzt, wo Avalon so nah bei ihm stand, wurde ihm mal wieder bewusst wie schwach und gebrechlich dieser doch war. „Lass uns nachhause gehen. Wenn wir zu lange weg bleiben, machen sich die Anderen Gedanken und stellen nachher wieder dumme Fragen...“
 

„Okay, und danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich sicher blöd aus der Wäsche geguckt.“
 

„Ja, ja, ist schon gut. Dafür ist eine Familie eben da.“
 

Avalon lächelte auf eine merkwürdige Art und Weise, die man in diesem Fall nur als wissend bezeichnen konnte. Dann wandte er sich mit Daimon im Arm nach rechts und entfernte sich mit zielstrebigen Schritten von der Feuerstelle.
 

Auch nachdem die Geräusche ihrer Absätze schon lange verstummt waren, stand Maxime immer noch zusammengekauert da. Die eine Hand lag nach wie vor auf seinen Mund und mit der Anderen suchte er die Mauer nach einer Stelle ab, wo sich festklammern konnte. Fassungslos von dem Gehörten konnte er sich nicht bewegen. Maxime rieb sich die Augen und wünschte, dass sie sich getäuscht hatten.
 

Das, was er hier gerade beobachtete hatte, war kein gewöhnliches Verbrechen...
 

Wenn Maxime Avalons und Daimons Unterhaltung richtig verstanden hatte, war von >Männern< und, >Leichenschändung< die Rede gewesen. Und wenn sich diese Gedanken in seinem Kopf zu einem Bild zusammenfügten, dann waren Daimon und Avalon nicht nur sehr wahrscheinlich die gesuchten Brandstifter, sondern auch...

Er wagte es nicht diesen Gedanken zu Ende zu spinnen, aber falls sich sein ein Verdacht in der Zukunft bestätigte, dann waren diese beiden Jungen gefährlich. Sehr gefährlich sogar. Sie waren keine gewöhnlichen Straftäter, die sich in dieser Gasse einen üblen Scherz erlaubt hatten, sondern eine wirkliche Bedrohung für Bergedorfs Bewohner... Die beiden Jungen waren gewissenlose Mörder.
 

Der rosahaarige Junge, der sonst auch auf dem Hinterkopf und den Fußsohlen Augen zu haben schien, bemerkte nicht, wie jemand am Fuße der Gasse stand und ihn beobachtete. Wütend ballte dieser Jemand seine Hände zu Fäusten zusammen. Noch in der gleichen Sekunde fasse er einen Entschluss; Er würde diesen Jungen die kommenden Tage unter die Lupe nehmen!
 

So ein nerviger Bengel durfte seinen Liebsten nicht auf die Schliche kommen. Es wäre nicht auszudenken, was das Familienoberhaupt für einen Schrecken erlitt, wenn er erfuhr, dass jemand ihr Geheimnis lüften könnte...!
 

Nein! Soweit durfte es unter gar keinen Umständen kommen.

Er musste seine Familie beschützen. Und wenn es erforderlich war, dann würde er diesen rosahaarigen Gnom genauso in die Flammen werfen, wie es wenigen Minuten zuvor der kleine Albino mit den Leinensäcken getan hatte!
 

*xXx*
 

Maxime sprang leichtfüßig über die Kieselsteine am Boden hinweg, die ihn zu dem großen, weißen Haus am Ende des Weges führten. Er keuchte und stöhnte – die ganze Strecke, vom Bahnhof bis hier her, war er ohne Pause gerannt.
 

Erschöpft blieb er vor der Eingangstüre stehen und lehnte seine Stirn für wenige Sekunden gegen das angenehm kühle Material. Maxime fühlte sich schwindelig und etwas benommen. Er konnte immer noch nicht begreifen, was er in der Gasse gesehen hatte.
 

Die Angst schnürte ihm bei jedem Atemzug die Kehle ein bisschen mehr zu. Die Situation war so erschreckend und surreal, dass Maxime keine Entscheidung treffen konnte. Was sollte er jetzt machen? Was konnte er mit diesem Halbwissen nur anfangen?

Natürlich konnte er auf dem direkten Wege zur Polizei marschieren und dort das Gesehene melden, aber würden ihm die Beamten überhaupt glauben? Wahrscheinlich nicht.
 

Mit hängendem Kopf betrat Maxime das Mehrfamilienhaus. Wie immer schlug ihm lauwarme Luft und der Geruch von Holzleim entgegen – doch diesmal lag auch noch etwas in der Luft... Es roch komischerweise nach Essen!
 

Schnell streifte er zog er seine Schuhe aus und hastete in die Küche. Auf dem ersten Blick sah alles normal aus, doch dann fiel Maximes Blick auf den Essenstisch, und dort sah er dann die Katastrophe; Scarlett saß mit leeren Augen am Tisch und starrte auf etwas, was große Ähnlichkeit mit kleinen, verbrannten Autoreifen hatte.
 

„Was... was soll das sein?“, fragte Maxime schockiert und ging zum Küchentisch. Für den Moment verblüffte ihn der Anblick so sehr, dass er sogar seine Panik wegen Daimon Sandojé´und Avalon vergaß.
 

Trotzig schob Scarlett ihre Unterlippe nach vorne. „Siehst du das nicht? Ich wollte Abendessen machen. In dem Rezept stand, dass das Pfannkuchen werden sollten, aber was daraus geworden ist, kann ich dir nicht sagen. Nach Pfannkuchen sieht das hier jedenfalls nicht aus.“
 

„Das sehe ich auch...“, murmelte Maxime nachdenklich. Er nahm einen der >Pfannkuchen< in die Hand und hielt ihn in die Luft. Langsam beugte er sich nach vorne und schnupperte an dem Höllenteil – ein böser Fehler! Sofort wich Maxime nach hinten und warf das Ding im hohen Bogen zurück auf den Teller. „Pfui Teufel! Das riecht ja nach Kohle! Wie kann man nur so dumm sein und ein einfaches Rezept wie Pfannkuchen vergeigen?!“
 

„Weiß ich nicht! Das ist das erste Mal, dass ich so etwas gemacht habe!“
 

Wütend stand Scarlett auf, schnappte sich den Teller und beförderte die verbrannten Teigwaren in den Mülleimer. Danach kam sie wie ein geschlagener Hund zurück geschlichen.„ Du warst heute nicht Zuhause, keiner wusste wann du zurückkommst. Yuki und ich hatten Hunger als wir von der Schule kamen... Darum habe ich im Internet nach einem einfachen Rezept gesucht und das hier gefunden... Auch wenn ich alles gemacht habe, wie es auf der Seite stand, hat es nicht geklappt und der Teig ist sofort angebrannt, nachdem ich ihn in die Pfanne gegossen habe.“
 

„Und jetzt habt ihr immer noch Hunger?“, schlussfolgerte Maxime nach einen kurzen Blick in die sonst leere Küche, da Scarlett anscheinend nicht weiter reden wollte.
 

Die Antwort war ein zaghaftes Nicken.
 

„Okay, dann mache ich euch noch was.“
 

„Nein! Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen! Warte! Du musst nicht extra für mich kochen!“
 

„Stell dich nicht so an!“, knurrte Maxime gereizt, während er schon vor dem Kühlschrank stand und ein paar Eier aus dem Seitenfach holte. „Willst du bis morgen früh mit leeren Magen ausharren? Das ist doch ungesund!“
 

Nach diesem Machtwort gab sich Scarlett geschlagen und Maxime zauberte innerhalb 10 Minuten eine Pfanne Rührei mit Tomatenstücken und Mozzarella herbei. Als sie zusammen am Tisch saßen und das späte Abendessen verspeisten, bemerkte Maxime plötzlich einen fragenden Blick auf seinem Gesicht ruhen.
 

„Was ist? Warum guckst du so komisch?“
 

„Du bist ziemlich blass.“ Scarlett hob ihre Augenbrauen und musterte Maxime von den Haarspitzen bis zu den Zehen. „Ist dir schlecht? Oder ist etwas Schlimmes passiert als du weg warst?“
 

Der Junge antwortete nicht. Er war kalkweiß geworden und starrte Scarlett mit weit aufgerissenen Augen an. Manchmal war es doch verwunderlich, wie viel einige Menschen bemerkten, obwohl man an Tag vielleicht nur wenige Minuten mit ihnen redete...
 

„Alles in Ordnung?“, wiederholte Scarlett eindringlich und stupste den Angesprochenen mit der Gabel an. „Komm schon, du bist doch auch schon nicht so still. Was ist los mit dir? Hattest du Ärger, während du unterwegs warst?“
 

Maxime nickte mit gesenktem Blick. Seine Lippen zitterten vor Aufregung. Verdammt, was machte er hier bloß?! Mit einen Schlag waren die ganzen Ängste zu ihm zurückgekehrt und brachen wie eine riesengroße, eisige Welle über ihn zusammen.
 

„Ich... ich habe etwas gesehen, wo..wovon ich denke, dass es ziemlich gefährlich sein k-kann.“
 

Scarlett legte ihr Besteck weg und stand langsam auf. Dann ließ sie sich neben Maxime auf den Stuhl sinken und sah, wie der rosahaarige Junge das Gesicht in den Händen vergrub. Seine Schultern zuckten, und Scarlett war sich ziemlich sicher, dass er weinte. Maxime wirkte wie ein Häufchen Elend... wie ein kleines, schutzloses Katzenbaby, dass sie beschützen müsste. So plötzlich, wie Scarletts Wut gekommen war, war sie jetzt wieder verraucht. Maxime tat ihr nur noch leid und sie konnte nicht anders, als ihn in ihre Arme zu schließen.
 

„Shht, ist schon gut. Du brauchst keine Angst haben“, flüsterte Scarlett sanft. „Ich bin bei dir, und hier kann dir nichts passieren. Alles, was gefährlich ist, wird keinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen ohne an mir vorbei zu kommen...“ Sie zögerte noch einen Moment, dann sagte sie: „Ich weiß jetzt aber immer noch nicht was du erlebt hast. Was ist in Hamburg passiert?“
 

Maxime drehte das Taschentuch zwischen seinen Fingern zu einem Knoten und schaute zu Boden. „So genau weiß ich das selbst nicht“ sagte er leise und seufzte. Jetzt war es sowieso schon zu spät. Nun konnte er Scarlett von Daimon und Avalon erzählen, ohne Angst zu haben, dass sie ihn wegen seiner Panik auslachte.
 

Als Maxime ihr die Geschichte zu Ende erzählt hatte, war auch Scarlett sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Sie öffnete den Mund für ein paar Sekunden, wollte etwas sagen, doch dann schloss sie ihn wieder. Dieses Spiel wiederholte sich ein paar Mal, bis die Goldhaarige irgendwann den Kopf schüttelte. „Wie sahen... diese Männer aus?“, fragte sie schließlich leise und irgendwie unpassend an dieser Stelle. „Sahen sie anders aus als gewöhnlich? Ich meine, anders als die Menschen die du sonst kennst?“
 

„Was? Was ist denn das für eine blöde Frage?“
 

„Antworte mir einfach!“
 

Verwirrt blinzelte Maxime die Tränen fort, doch Scarlett schien ihre Worte absolut ernst zu meinen.

Plötzlich war ein seltsamer Zug auf ihrem schönen Gesicht erschienen, welchen er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Scarletts Augen wirkten wie pinke Taschenlappen in der Dunkelheit und ihr roter Mund war zu einer geraden, strengen Linie verzogen.
 

„Bist du taub?“, fauchte das Mädchen plötzlich energisch und ihre blonden Haare schossen vor Wut elektrische Funken in die Luft. „Waren die Kerle menschlich oder nicht?!“
 

„Natürlich waren sie menschlich! Affen sehen anders aus!“, spie Maxime grollend zurück. „Ich weiß nicht genau wo dein Problem liegt, aber dir brennen gerade ein bisschen die Sicherungen durch! Mensch Scarlett, bis gerade habe ich gedacht dass du eigentlich doch ganz nett sein kannst!“
 

Tränen des Zorns schwammen in ihren Augen, als Maxime ausholte und Scarlett wie einen lässigen Käfer von sich weg stieß. Taumelnd verlor sie das Gleichgewicht und landete mit einen lauten Schlag auf den weiß gekachelten Fliesenboden, ehe ihr ein gequältes Keuchen über die Lippen rollte.
 

Maxime stöhnte angespannt auf. Adrenalin schoss wie verrückt vor Wut durch seine Adern. Für einen Moment bewegte er sich nicht, anstatt seiner Mitbewohnerin zu Hilfe zu eilen und überlegte schon, ob er sie einfach dort unten sitzen lassen sollte. Aber nein, so ein Arschloch war er nicht...
 

Er erbarmte sich mit einem Seufzen und reichte dem Mädchen seine Hand. „Tut mir leid, ich wollte nicht dass du dich hinlegst...“
 

Fauchend schlug Scarlett die angebotene Hand weg und rappelte sich ohne seine Hilfe wieder auf die Beine. So schmerzhaft der Sturz auf den Boden war, so schmerzhaft wurde ihr auch wieder bewusst, wie verrückt sich ihre Worte doch in Maximes Ohren anhören mussten...!
 

„Maxime?“, flüsterte sie verschwörerisch und griff nach seinen Händen. „Es... tut mir leid... ich glaube wirklich dass mir eine Sicherung durchgebrannt ist. Die verkohlten Pfannkuchen haben wohl doch einen bleiben Schaden hinterlassen.“ Scarlett lächelte wie die Sphinx. „Entschuldige, wenn ich dich mit meiner Vorliebe für paranormale Aktivitäten verängstigt habe. Sobald ich irgendetwas in diese Richtung höre, kann ich meinen Eifer nicht mehr zügeln...“
 

Maxime nickte flüchtig. Falls man ihn fragte, ob er Scarlett und ihrer absurd klingenden Erklärung glaubte, dann würde er mit einen klaren >Nein< antworten. Aber niemand fragte ihn, also lächelte er milde und verfluchte die Blondine in seinen Gedanken für dieses Lügenmärchen.
 

Sie waren gerade dabei das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, als die beiden ein eigenartiges Leuchten aus dem Augenwinkel bemerkten. Kurz darauf ertönte von draußen ein polternder, dumpfer Schlag. In dieser Sekunde reagierten die beiden Teenager wie ein eingespieltes Team; schnell setzte Maxime den letzten Teller ab, Scarlett schaltete das Licht aus und beiden huschten wie lautlose Schatten zum regennassen Küchenfenster.
 

„Hast du das auch gesehen? Da draußen hat etwas geleuchtet. Vielleicht ein Einbrecher? Einen Bewegungsmelder haben wir nämlich nicht.“, stieß Scarlett flüsternd hervor. Geräuschlos kniete sie sich vor der Glasscheibe auf den Boden, und schob die Ritzen der Jalousien mit den Fingerspitzen etwas weiter aus einander.
 

Die Dunkelheit vor dem Haus war allumfassend. Sie beherrschte ihre Gedanken und umhüllte ihre Herzen wie eine schwarze Decke, gesponnen, aus kalter Angst.
 

„Ja.“, hauchte Maxime zurück. „Und das Poltern klang auch nicht wie ein Auto, das über einen Gullydeckel gefahren ist. Das war etwas anders...“
 

Angespannt hielten beide Kinder die Luft an und drängten sich unbewusst näher aneinander. Normalerweise musste man sich in Bergedorf nicht vor Einbrechern fürchten, aber irgendwann kam bekanntlich immer das erste Mal.
 

Und dann sah Maxime plötzlich den Schatten. Eine fremde Person stand auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig und starrte mit erhobenem Haupt zu ihrem Haus hinüber. Dass sie mittlerweile bis auf die Knochen durchnässt war, schien sie nicht einmal zu bemerken. Reglos stand die Person da, die Arme um die Brust geschlungen, als wollte er etwas in seinem Inneren vor ihren Augen verstecken. Das Gesicht der Person lag fast komplett in der Dunkelheit verborgen. Nur die schmale und blasse Mundpartie wurde von den Schein der Straßenlaternen beleuchtet.
 

Ich glaube ich sehe Gespenster. Ich muss die Polizei rufen!, schoss es Maxime wie ein Befehl durch den Kopf. Aber er blieb sitzen wo er war. Als hätte ihn die dunkel gekleidete Person in einen Bann gezogen, starrte er weiter nach draußen in die Nacht und konnte sich nicht von seinen Anblick losreißen.
 

Dann machte der Fremde auf einmal eine rasche Handbewegung. Plötzlich erschien ein blaues, kaltes Licht an der Stelle, wo sein Zeigefinger und Mittelfinger endeten und blieb in der Luft schweben. Das kleine, blasse Leuchten war vielleicht schwach und gebrechlich, aber trotzdem waren sich die Kinder einig; noch nie hatten sie so etwas Faszinierenderes gesehen wie dieses sonderbare Licht!
 

„Ich habe ein ungutes Gefühl....“, verfasste Scarlett Maximes Gedanken, verstummte jedoch sofort wieder. Sie presste ihre roten Lippen auf einander und starrte den Fremden feindselig in das halb vermummte Gesicht. „... ich hasse es beobachtet zu werden.“
 

Plötzlich begann das blaue Licht in der Hand des Mannes zu flackern. Es ging aus und wieder an. Einmal, zwei, dreimal... wie ein Teelicht im Wind, das verzweifelt um sein Überleben kämpfte. Doch Scarlett wurde bei dem Anblick so blass wie eine Wand, da sie es besser wusste. Das war eine Drohung!
 

Beunruhigt griff sie nach Maximes Hand und zog den rosahaarigen Jungen vom Fernster weg. Ihr schönes, herzförmiges Gesicht sah plötzlich so ernst und kalt aus, dass es Maxime für einen Augenblick glatt die Sprache verschlug. „Ich gehe nach oben zu Yukiko.“, zischelte Scarlett kühl. „Bleib du hier unten und beweg dich nicht. Ich werde etwas unternehmen und diese Person von unserem Grundstück vertreiben. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Das ist doch lachhaft! Ich kann es nicht zulassen, dass jemand meine Mitmenschen mit solch primitiven Mitteln bedroht! Das reicht!“
 

Bevor Maxime fragen konnte, was das um alles in der Welt für eine Gestalt war, die da draußen im Regen stand, war seine Mitbewohnerin auch schon die Treppe nach Oben hochgestiegen. Nicht einmal umgedreht hatte sie sich! Zurück blieb nur ein verwirrter und verdatterter Maxime.

Von der 1. Etage erklang das Geräusch einer zuschlagenden Zimmertüre und dann herrschte wieder gespenstische Stille im Haus. Die meisten Leute würden sich in dieser Situation ihre Taschenlampe schnappen und unter die Bettdecke kriechen, aber da Maxime nun mal der einzige Mann in diesem Haushalt war, hatte er die ehrenvolle Aufgabe seine weiblichen Kollegen zu beschützen...
 

Langsam schlich er zum Fenster zurück und spähte auf die Straße nach draußen.

Der Regen prasselte immer noch laut und unablässig gegen die Glasscheibe, doch der Mann war nicht mehr zusehen...
 

War es der Gestalt also zu blöd geworden im Regen zustehen? War sie deshalb frühzeitig abgehauen?
 

Hoffentlich. Und hoffentlich hatte sie nicht die kaputte Hintertüre an der Seite des Mehrfamilienhauses entdeckt, welche man mit einem gezielten Schlag oder Tritt leicht öffnen konnte. Ängstlich zuckte Maxime bei diesen Gedanken zusammen. Bei seinem Glück würde ihn diese Tatsache noch nicht mal wundern!
 

Mit fahrigen Fingern tastete Maxime in der Hosentasche nach seinem Handy. Wie gerne würde er jetzt Raphael anrufen und ihn hierher bestellen! Diesen Druck hielt er nicht länger aus. Wenn die düstere Gestalt wirklich in das Haus eingedrungen war, konnte er sich tausend schönere Dinge vorstellen, als mit ihm alleine zu sein...!
 

Später am Abend lag Maxime noch lange wach. Unruhig wälzte er sich von links nach rechts, und wieder von rechts nach links. Er wusste nicht mehr ein, noch aus.
 

Neben seiner Hand lag sein Handy auf der Matratze. Das Display war so schwarz wie das Zimmer und Maxime spielte schon die ganze Zeit mit den Gedanken, Raphael anzurufen.

Jetzt, wo er langsam zur Ruhe kam und die Erinnerungen an der Gestalt vor dem Haus von seiner Müdigkeit vertrieben wurden, drängten sich schon wieder die beiden Männer aus der Gasse in seine Gedanken.
 

Sein Gewissen lastete mit jeder verstrichenen Sekunde immer schwerer auf seinen Schultern. Bei irgendjemanden musste er sich doch ausheulen, da war Raphael nun mal die beste Option. In den vergangen drei Jahren waren die Freunde durch dick und dünn gegangen. Raphael hatte ihn schon weinen, kotzen und schreien gesehen. Er wusste immer, wie es ihm ging.
 

...Daimon und Avalon, diese verdammten Dreckskerle! Sie raubten ihm seinen gottgelobten Schlaf!...
 

Zögerlich tippte Maxime Raphaels Namen an und schielte in der gleichen Bewegung auf seinen Wecker. 0.15 Uhr. Okay, dafür würde ihn der Blondhaarige morgen in der Schule umbringen, aber das war ihm das Risiko wert...
 

Nach 10 Sekunden ertönte plötzlich eine raue Stimme aus dem Handy und Maxime spürte, wie langsam die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. „Hey Raphael.“, murmelte er leise. „Kannst du auch nicht schlafen?“
 

„Ähm, ja und nein. Bis gerade eben habe ich geschlafen und jetzt nicht mehr“, antwortete Raphael gedehnt und atmete laut aus. „Warum rufst du so spät an, Prinzessin? Hast du Sehnsucht nach deinem Prinzen?“
 

Grinsend drückte Maxime sein Gesicht in das Kopfkissen und betrachtete das Anzeigebild seines besten Freundes, was immer erschien, sobald er ihn oder einen anderen Freund anrief. „Ehrlich gesagt ja...“, gestand er errötend. „Sorry, dass ich dich geweckt habe. Mir war nur nach Reden zumute. Soll ich wieder auflegen...?“
 

„Nein, nein, jetzt ist es sowieso schon zu spät, jetzt bin ich einmal wach und kann mir auch dein Gesülze anhören. Was gibt es denn? Worüber möchtest du reden?“
 

„Ich weiß es nicht genau. Hast du schon mal eine Situation erlebt, wo du nicht wusstest was du machen sollst, weil du Angst vor den Konsequenzen hattest?“
 

„Natürlich.“, murmelte Raphael in den Hörer und er machte eine kurze Kunstpause. „Das war das erste Mal, dass ich meine Homosexualität infrage gestellt habe und mit einer Frau ins Bett gegangen bin. Der Morgen danach war der schlimmste Morgen meines Lebens. Ich weiß nicht mehr genau wie ich es lebend aus diesen Raum geschafft habe, nachdem ich ihr gestanden hatte, dass ich nichts für die empfinde sondern nur den Sex wollte, aber das war eine Erfahrung für die Ewigkeit. Oh man, die Perle hätte mich erwürgen können...“
 

„Oh, Raphael. Wieso habe ich dich nur gefragt?! Eigentlich müsste ich doch inzwischen wissen, wie unsensibel du bist!“
 

„Tja, du wolltest du doch eine ehrliche Antwort haben!“, rief Raphael und verfiel in lautes Gelächter. „Wenn du eine verständnisvolle Person brauchst, musst du unsere liebe Charlotte anrufen und nicht mich!“
 

„Ich möchte sie aber nicht stören“, erwiderte Maxime mit nur dem Anflug eines Lächelns.
 

„Ach so, aber bei mir ist dir das egal oder wie?“
 

Maxime nickte grinsend und beendete das Gespräch mit einer flinken Handbewegung.



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