Zum Inhalt der Seite

Arbeitstitel: Skalpell und Falling

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Gähnend streckte Lilith sich auf dem Bett und drehte sich auf die andere Seite. Blinzelnd sah sie zum Fenster hinüber und stellte fest, dass die Sonne gerade auf ging. Wie spät war es? Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es erst kurz vor neun Uhr morgens war. Sie gähnte ein weiteres Mal und schloss dann wieder die Augen. Gerade als sie zurück in ihren leichten Schlaf gleiten wollte, bemerkte sie, was sie geweckt hatte. Schnell setzte sie sich auf und sah vor das Bett auf den Boden. Dort lag Valeriu, auf der isolierten Decke, mit Kopfkissen und zugedeckt mit einer anderen warmen Decke. Naja, das hieß, dort müsste er eigentlich liegen. Doch das provisorische Bett war ordentlich gemacht und von ihm keine Spur. Was Lilith also geweckt hatte, war die Abwesenheit seiner Gedanken. Aber wo war er hin?

Sie sprang aus dem Bett und zog sich schnell an, um nur wenige Minuten später, die Treppe hinunter in den Speisesaal zu gehen. Auf dem Weg zog sie sich das Haargummi aus den Haaren und zerwuschelte sie etwas. Eigentlich mochte sie es nicht, ihre Haare zu einem Zopf zu binden. Aber über Nacht machte sie es trotzdem. Das war sie so von klein auf gewöhnt.

Als sie den Speisesaal betrat, streifte ihr Blick automatisch durch den Raum. Valeriu war schnell gefunden, da neben ihm nur zwei weitere Personen an den Tischen saßen. Er saß in der hintersten Ecke, hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick hin ausdruckslos auf dem nicht angeführten Frühstück, auf dem Tisch. Sofort wusste Lilith, dass etwas nicht stimmte und setzte sich zu ihm. Stumm wartete sie, dass er anfing zu reden. Sie wusste nämlich auch, dass er nachdachte und, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, versuchte ein Problem zu lösen. Dabei wollte sie ihn nicht stören. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er den Blick hob uns sie ansah. Lilith zog fragend die Augenbrauen hoch. Er schüttelte den Kopf und schob ihr das Frühstück zu.

„Iss“, war das Einzige, was zu ihr sagte.

Ja, etwas stimmte ganz und gar nicht und sie wollte endlich wissen was. Aber sie würde sich gedulden müssen bis sie wieder in ihrem Zimmer waren.

„Wie hast du geschlafen?“, fragte Lilith, um keine allzu große Aufmerksamkeit auf sie beide zu lenken.

„Wie man eben auf einem Holzboden schläft.“

Valeriu verzog das Gesicht und streckte sich. Lilith schüttelte den Kopf.

„Ich hab dir schon vor drei Tagen angeboten, mit im Bett zu schlafen. Groß genug ist es.“

Wieder verzog er das Gesicht, allerdings vor Unsicherheit und Zweifel.

„Ich…der Boden ist schon okay. Macht mir nichts.“

Lilith zog vielsagend eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Sie wusste dass er nie mit ihn in einem Bett schlafen würde und auch warum das so war. Er ließ diese Nähe einfach nicht zu, konnte sich nicht darauf einlassen, weil er Angst hatte weggestoßen zu werden. Das war schon immer so gewesen, auch wenn es sich über die Jahre etwas gebessert hatte. Immerhin ließ er jetzt zu, dass sie ihn anfasste, was zu Beginn nur der Fall gewesen war, wenn Lilith sie beide teleportierte.

„Iss“, holte Valerius Stimme sie aus ihren Gedanken.

Sie schnaubte.

„Und du?“

„Hab schon, vor gut einer Stunde.“

„So lange sitzt du schon hier?“

Er nichts nur und sie fragte nicht weiter. Valeriu hatte bestimmt einen Grund, warum er sich so verhielt. Schweigend aß Lilith und als sie fertig war, standen sie, wie auf ein geheimes Zeichen hin, auf und gingen in ihr Zimmer.
 

„Also“, meinte Lilith und ließ sich auf das Bett fallen. „Was ist los?“

Valeriu stand am Fenster und sah, mit ernster Miene, zur Straße hinunter. Dann winkte er sie zu sich und deutete auf einen Mann, der an ein parkendes Auto gelehnt da stand und telefonierte.

„Ja und?“

Valeriu schüttelte den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. Lilith verstand und legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände an Valerius Schläfen. Warum auch immer er das verlangte, langsam wurde sie unruhig und nervös. Was zum Teufel war los?

Der steht schon da, seit ich aufgestanden bin und sieht immer wieder zu diesem Fenster, wenn er glaubt es fällt keinem auf. Außerdem…kommt er dir nicht bekannt vor?, wollte Valerius Gedankenstimme wissen.

Lilith sah sich den Mann genauer an. Er trug eine schwarze Winterjacke, hatte sich einen grauen Schal um den Hals geschlungen und eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, unter der dunkelbraune Haare hervorschauten. Sie schätze ihn auf eine normale Größe, allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wie alt er war, da sie sein Gesicht nicht sah. Alles in allem machte er einen wenig Aufsehen erregenden Eindruck. Aber wenn Valerius Verdacht richtig war, dann hatte er viel darauf verwendet, nicht aufzufallen.

Nein, kommt er nicht. Wie auch, ich kann ja kaum etwas von ihm erkennen, antwortete Lilith und sah Valeriu an.

Warte einen Moment.

Sie wusste zwar nicht, was das bringen sollte, nickte jedoch und richtete den Blick wieder nach unten. Sie standen sie drei, vier Minuten und sahen den Mann an. Dann bewegte sich dieser plötzlich. Er sah sich nach links und rechts um und als ihn niemand zu beobachten schien, warf er einen Blick zu ihrem Fenster.

Zum Glück stehen wir so weit hinten, dass er uns nicht erkennen kann, schoss es Lilith durch den Kopf.

Nach kurzem hinsehen wusste sie, was Valeriu meinte. Der Kerl hatte sie gestern Abend auf der Straße angerempelt. Es waren nur Sekunden gewesen und sie hatte ihn gleich wieder vergessen. Doch jetzt erkannte sie ihn wieder. Ein misstrauisches Blitzen erschien in ihren Augen. Abrupt wandte sie sich von dem Fenster ab und lief durch den Raum auf den Schrank zu. Valeriu sah ihr einfach nur hinterher. Auf ihrer Unterlippe kauend holte sie die Jacke hervor, welche sie am Abend zuvor getragen hatte und begann damit ihre Taschen zu durchsuchen…ohne Erfolg.

Wurden sie jetzt schon paranoid? Der Mann telefonierte nur. Warum er das vor der Herberge? Vielleicht wollte er einfach nicht fahren, solange er telefonierte…wenigstens einer, der sich an dieses Gesetz hielt. Es konnte doch auch sein, dass er hier auf jemanden wartete und immer wieder zum Fenster hoch sah, weil er glaubte, dass das das Zimmer der Person war, die ihn warten ließ. Warum sollte er wegen ihnen hier sein?...

Lilith seufzte und zog einen kleinen Gegenstand aus der Brusttasche ihrer Jacke, der da nicht hingehörte. Schweigend zeigte sie ihn Valeriu. Dieser nickte vielsagend. In ihrer Hand lag eine Wanze. Also war dieser Typ wirklich wegen ihnen hier. Lilith machte eine fragende Geste mit dem Kopf, doch Valeriu verneinte stumm und nahm ihr die Wanze aus der Hand. Vorsichtig legte er sie auf den Boden des Schrankes und schloss die Tür. Dann wandte er sich zu Lilith um, welche ein weiteres Mal die Hände an seine Schläfen legte.

Also hören sie uns ab, stellte sie fest.

Wäre auch zu schön gewesen. Sie haben gerade mal drei Tage gebraucht. Das wird immer schlimmer. Wir müssen hier weg. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal wieder normal unterhalten, damit sie keinen Verdacht schöpfen.

Lilith nickte und zog ihre Hände zurück.

„Wie lange bleiben wir noch hier?“, fragte sie laut.

„Noch drei, vier Tage, dann geht`s weiter“, erwiderte Valeriu, hielt allerdings einen Finger hoch.

Lilith nickte, sie hatte verstanden. Sie würden sich noch ausreichend Proviant besorgen und vielleicht noch etwas Geld. Dann würden sie verschwinden. Vielleicht fanden sie ja irgendwo ein Plätzchen, an dem sie sich ausruhen und wenn sie Glück hatten, sogar länger bleiben konnten. Sie hoffte nur, dass dieser Typ, für wen auch immer er arbeitete, ihnen keine allzu großen Probleme machen würde. Langsam ging Lilith zu der schwarzen Tasche und holte etwas Geld heraus.

„Ich geh uns was zu essen holen. Willst du was Bestimmtes?“, fragte sie, als wäre alles wie immer.

„Nein, ich brauch nichts. Aber ich werd mich noch etwas hinlegen. Weck mich, wenn du wieder da bist“, entgegnete Valeriu.

Lilith wusste, dass er sich nicht hinlegen würde, sondern weiter diesen Typen vor der Herberge beobachtete. Es wunderte sie fast, dass er sie alleine einkaufen gehen ließ. Aber das hatte er die Tage zuvor auch gemacht und sie jetzt plötzlich zu begleiten, würde Aufsehen erregen. Sie wussten schließlich nicht, wie lange sie schon beobachtet wurden.

„Dann bis gleich“, verabschiedete sie sich.

Lilith zog sich ihre Jacke und ihren Schal an und verließ die Herberge Richtung Stadtmitte. Weder ihr noch Valeriu, der ihr von Fenster aus nachsah, viel der Mann auf, welcher ihr langsam folgte.
 

Valeriu ließ sich tatsächlich kurz auf das Bett fallen und schloss die Augen, allerdings erst, als er Li nicht mehr vom Fenster aus sehen konnte. Sofort wanderten seine Gedanken zu dem Mann bei dem Auto. Was war das jetzt schon wieder? Setzte die Regierung mittlerweile Agenten auf Mutanten an, um sie auszuspionieren, anstatt sie festzunehmen? Das machte doch keinen Sinn! Warum sollte die Regierung das machen? Sie wollte doch alle Mutanten auslöschen, wie sie in den letzten Jahren bewiesen hatte. Also was sollte das?

Ruckartig setzte Valeriu sich auf und starrte zu dem Fenster. Was wenn diese Männer nicht von der Regierung waren? Es war unter den Mutanten bekannt, dass Trasks Sohn seine Männer auf Mutanten ansetzte, die er als nützlich für seine Experimente erachtete. Aber wie sollte dieser Arsch gerade auf sie beide kommen? Sie hatten sich immer darum bemüht nicht aufzufallen. Klar klappte das nicht immer, aber da waren andere Mutanten doch wesentlich auffälliger. Außerdem sprach noch ein Punkt dagegen. Trasks Männer machten sich nicht die Mühe, sich zu verkleiden. Sie setzten auf die Angst der Mutanten und das diese dadurch Fehler machten. Also zu wem gehörte der Kerl da unten?

Valeriu sah aus dem Fenster und beobachtete den Braunhaarigen weiter. Dieser telefonierte nun nicht mehr, sondern lief, mit gemächlichen Schritten, auf die Herberge zu. Sollte er doch kommen. Valeriu hatte keine Angst, egal für wen dieser Typ arbeitete. So sicher wie das Amen in der Kirche würde er in dieses Zimmer kommen. Aber Valeriu hatte eine kleine Überraschung für ihn. So leicht war er nicht zu fangen. Mit einem fiesen Grinsen legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Auch vor dem Risiko erschossen zu werden hatte er keine Angst. Noch bevor der Agent abdrücken könnte, hätte Valeriu ihm die Hand abgeschnitten.

Tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis er hörte wie die Zimmertür geöffnet wurde. Vollkommen still blieb er liegen, hielt seine Augen geschlossen und sein Atem gleichmäßig. Er lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch, welches ihm verriet, was der Mann machte. Verwundert stellte er fest, dass dieser zum Bett gelaufen kam. Die Schritte verstummten genau neben seinem Kopf und Valeriu musste sich beherrschen, nicht einfach die Augen aufzuschlagen, um zu sehen wen er in den nächsten Minuten töten würde. Er blieb einfach weiter reglos liegen.

„Du kannst dich gut verstellen, dass muss man dir lassen“, erklang eine raue Stimme.

Mist, also wusste dieser Kerl, dass er nicht schlief. Na schön, dann konnte er seine Täuschung auch aufgeben. Valeriu öffnete die Augen und wich vor dem Mann zurück, der ihn aus braunen Augen ansah als wäre er ein Wolf und wartete auf seine Beute. Valeriu ließ sich davon nicht beeindrucken. Dieser Idiot wusste ja nicht, mit wem er sich hier anlegte, zu was Valeriu fähig war. Aber bevor er ihm den Gar ausmachte, würde er noch ein paar Informationen aus ihm herausquetschen.

„Wer bist du, für wen arbeitest du?“

„Wer ich bin muss dich nicht interessieren und meinen Arbeitgeber lernst du noch früh genug kennen. Aber jetzt zur Sache“, antwortete der Mann und richtete eine Pistole auf Valeriu.

Dieser sah ihn fast schon ungläubig an. Das konnte doch nur ein Scherz sein. Informierten die ihre Leute überhaupt, mit welcher Art Mutant sie es zu tun hatten oder war ihnen egal ob sie leben oder sterben würden? Naja, ihm konnte es ja wirklich egal sein.

„Kommst du freiwillig mit oder muss ich dich zwingen?“, drang die Stimme des Mannes an Valerius Ohr.

Augenblicklich erklang sein Lachen. Was glaubte dieser Kerl, mit was er ihn erpressen konnte? Mit der Pistole? Eine Geste von Valeriu und sie würde auf dem Boden liegen, mitsamt der Hand, welche sie gehalten hatte.

„Das würde ich nur zu gerne sehen“, knurrte er und sah sein Gegenüber angriffslustig an.

„Ja?“, erwiderte dieser und holte in Handy aus seiner Jackentasche.

Valeriu beobachtete ihn genau und kniff misstrauisch die Augen zu Schlitzen zusammen. Der Braunhaarige wählte eine Nummer und hob das Handy an sein Ohr. Es dauerte keine vier Sekunden, bis jemand am anderen Ende abnahm.

„Ja, ich bin`s…Habt ihr sie?...Gut…Habt ihr diesem Wildfang auch das Halsband angelegt?...Hervorragend!...Mach mal laut…“

Mit diesen Worten nahm er das Handy herunter und schaltete den Lautsprecher ein. Schon bei seinen Worten war es Valeriu schlecht geworden. Als er jetzt aber Li‘s Stimme aus dem Telefon kommen hörte, die Beschimpfungen in den schillerndsten Variationen um sich warf, brannte eine Sicherung bei ihm durch. Jedes Gefühl, jede Emotion wich aus seinem Körper, bis auf abgrundtiefe Wut und Hass.

Eine schnelle Geste mit der rechten Hand und der Aufschrei seines Gegenübers hallte durch den Raum. Genau so plötzlich wie er angehoben hatte, verstummte der Schrei wieder. Der Mann stand da, starrte entsetzt auf seine Hände, welche, die Pistole und das Handy umklammernd, auf dem Boden lagen. Mit jedem Herzschlag wurde Blut aus seinen Armstümpfen gepumpt, welches in roten Fontänen zu Boden spritzte. Ein Liedschlag später brach er schreiend am Boden zusammen.

Mit zwei Schritten war Valeriu bei ihm und zog ihn am Kragen zu sich hoch, gleichzeitig trat er auf das Handy, um es so zu zerstören.

„He! Sieh mich an!“, knurrte er den Braunhaarigen an.

Dieser starrte nur weiter auf seine Armstümpfe und wimmerte gequält. Zu mehr fehlte ihm anscheinend die Kraft. Valeriu schlug ihm hart ins Gesicht.

„Du sollst mich ansehen! Wo ist sie?! Wo haltet ihr sie fest?!“

Keine Antwort.

Eiskalte Wut erfasste Valeriu und er drückte den Mann am Hals gegen die nächste Wand. Seine Faust krachte direkt neben dem Kopf des Mannes gegen die Wand und ließ den Verputz reißen und abbröckeln.

„Du hast zwei Möglichkeiten“, meinte Valeriu drohend. „Entweder du sagst mir, wo ihr sie festhaltet und stirbst schnell oder ich schneide dich in Scheibchen. Keine Sorge, ich weiß wie ich deinen Tod lange genug hinauszögern kann, damit du vor Schmerzen erst verrückt wirst, bevor du stirbst.“

Um seine Worte zu unterstreichen, schnitt er vom linken Arm des Mannes ein Stück ab, das nicht dicker war als ein Finger. Ein weiterer, grässlicher Schrei erklang und der Mann bäumte sich in Valerius Griff auf. Der kam nicht darum, diesem Mann etwas Respekt entgegen zu bringen. Er hatte schon Männer wegen weit weniger schlimmem in Ohnmacht fallen oder wenigstens heulen sehen.

„Rede!“, blaffte dieser und hob ein weiteres Mal die Hand.

Diese Geste schien auch diesem Möchtegern den Rest zu geben.

„Liefer…wagen…Apo…theke“, presste er hervor und schloss dann die Augen.

Ein weiteres, wütendes Knurren kam Valeriu über die Lippen. Mit einer mehr als wütenden Geste, durchtrennte er die Kehle des Mannes und ließ ihn zu Boden fallen. Im nächsten Moment war Valeriu auch schon aus der Herberge gestürmt und rannte zur einzigen Apotheke im ganzen Ort. Dass er von oben bis unten mit Blut verspritzt war, interessierte ihn gerade genauso wenige, wie die ganzen Leute, die ihm entsetzt hinterher starrten.
 

Der Lieferwagen war schnell gefunden. Valeriu vermutete, dass er Schalldicht war, da er von weitem schon deutlich sah, dass er wackelte, aber weder Geschrei noch sonst etwas in der Richtung hörte. Mit festem Griff packte er den Griff der Ladetür und riss diese auf. Das Bild, welches sich ihm bot, fachte seine Wut und sein Hass nur noch mehr an, machte ihn aber auch etwas stolz. Li machte es ihren Entführern nicht gerade leicht.

Im Inneren des Lieferwagens sah man sechs Männer. Zwei von ihnen hielten Li, an Armen und Schultern, zu Boden gedrückt. Einer saß auf ihren Beinen und hatte deutlich schmerzhaft das Gesicht verzogen. Ein vierter stand über ihr und drückte ihr eine Pistole gegen die Stirn. Nummer fünf und sechs saßen, gegen die Wand gelehnt da und hielten sich entweder eine aufgeplatzte Wange oder eine gebrochene Hand. Beides waren Verletzungen von Tritten.

„Halt jetzt still, du kleines Miststück!“, brüllte der Mann mit der Pistole.

Keiner der Anwesenden schien Valeriu bemerkt zu haben. Sie waren alle zu beschäftigt damit Li zu fixieren, welche es den vieren gar nicht so leicht machte.

„Leck mich doch, du Arsch!“, fauchte sie und spuckte dem Kerl ins Gesicht, der dies unbeeindruckt hinnahm.

„Zu gerne, aber erst später. Jetzt ist dafür keine Zeit“, gab er zurück. „Bleib endlich liegen!“

Er entsicherte die Pistole, was wiederrum Li nicht im Geringsten beeindruckte. Er würde sie nicht erschießen, dass wusste sie genau.

Doch Valeriu blieb nicht so ruhig. Mit diesen Wichsern würde er kurzen Prozess machen. Schlimm genug, dass sie mit einer jungen Frau so umgingen. Aber das hier war Li und die Bemerkung des Typen über ihr, hatte dessen Schicksal noch zusätzlich besiegelt. Ein paar schnelle Gesten von Valeriu und es wurde augenblicklich still im Inneren des Lieferwagens.

Im nächsten Moment war ein dumpfer Aufprall zu hören und zuerst fiel die Hand mit der Pistole zu Boden, dann folgte der Kopf des Mannes und zu Letzt der Rest des Körpers. Von den fünf anderen hörte man vereinzelt gurgelnde Laute und einer schlug die Hände an die Kehle. Zwischen seinen Finger sickerte Blut hervor. Dann brachen alle am Boden zusammen und unter ihren Körpern breiteten sich Blutlachen, wie kleine, rote Seen aus. Lilith Blick glitt über ihre Kleider. Alles war mit Blut verspritzt. Sie spürte sogar wie ihr welches über das Gesicht lief.

Ihr Blick wanderte zu Valeriu. Sie sah ihn fast schon erschrocken an, da er nicht minder mit Blut verschmiert war als sie und stand auf. Dann machte sich Dankbarkeit und Freude in ihren Augen breit. Er hatte sie gerettet. Valeriu stieg in den Lieferwagen und musterte sie.

„Alles okay?“, fragte er, da ihm erst jetzt der blaue Fleck an ihrer Wange und die tiefen Kratzer auf ihrem Handrücken aufzufallen schienen.

„Jetzt ja, dan…“

„Du Monster!“, zerriss ein Schrei hinter ihnen die vorherrschende Stille.

Um den Lieferwagen hatte sich eine entsetzte Menschenmenge gescharrt und von fern konnten Lilith und Valeriu Sirenen hören. Einen Moment sahen sie beide die Frau an, welche so geschrien hatte. Dann wandte Valeriu ihr den Rücken zu und stellte sich so, dass auch Lilith sie nicht mehr ansehen konnte.

„Du musst uns hier weg bringen!“, meinte er und in seiner Stimme schwang immer noch leichte Wut mit.

Lilith schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Tut mir leid, ich kann nicht“, erklärte sie und als er sie nur ungläubig ansah, deutete sie auf ein feines Metallband, welches sich um ihren Hals schlang. „Das Ding haben mir diese Ärsche angelegt. Es unterdrückt irgendwie meine Gabe. Ich kann uns nirgends hin teleportieren, wenn ich es trage. Aber hier muss irgendwo das Werkzeug liegen, mit dem wir…“

„Keine Zeit. Setzt dich auf den Beifahrersitz!“, rief Valeriu und sprang aus dem Wagen.

Lilith tat wie ihr geheißen, setzte sich auf den Beifahrersitz und machte Valeriu die Tür auf. Dieser hatte die Ladeflächentür zugeschlagen und rannte jetzt um den Lieferwagen herum, um sich auf den Fahrersitz zu schwingen. Zu ihrem Glück steckte der Schlüssel und er konnte sofort den Wagen starten. Ohne seine Gedanken wahr zu nehmen, wusste Lilith was in seinem Kopf vorging, denn bei ihr war es nicht anders. Ihre Gedanken wurden auch nur von vier Wörtern beherrscht:

Nichts wie weg hier!

„Anschnallen“, knurrte er und trat ohne Vorwarnung auf das Gas.

Schnell legte Lilith den Sicherheitsgurt an und schloss die Augen, als Valeriu, ohne Rücksicht auf Verluste, durch die Menschenmenge fuhr. Wer nicht schnell genug auswich kam unter die Räder. So schnell es die Geschwindigkeitsbegrenzung des Lieferwagens zuließ raste Valeriu aus dem Ort und die Landstraße entlang.

„Sie waren unschuldig“, kam es plötzlich von Lilith.

„Was? Wer?“

„Die Menschen, die du umgefahren hast…Sie waren unschuldig. Die hatten uns nichts getan.“

Valeriu warf ihr einen vielsagenden Blick zu und sah dann schnell wieder auf die Straße. Sie wusste, was als nächstes kam.

„Meinst du wirklich, die hätten uns gehen lassen? Glaubst du sie wären unschuldig geblieben, wenn wir versucht hätten zu Fuß zu fliehen? Du weißt genau, dass sie versucht hätten uns aufzuhalten.“

Lilith öffnete den Mund, schoss ihn dann wieder und schüttelte den Kopf. Er hatte ja recht. Wie oft hatten sie dieses Szenario schon erlebt? Oft genug, um zu wissen, dass es immer wieder passierte. Aber vielleicht wäre es diesmal anders gekommen…Lilith schüttelte den Kopf über sich selbst. Als ob!

„Du hast ja recht. Entschuldige“, sagte sie.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist nun mal jemand, der versucht in jedem etwas Gutes zu sehen“, entgegnete Valeriu.

Wieder brach Schweigen über sie herein. Lilith wusste, dass er überlegte, wie sie am besten fliehen konnten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre Kräfte nicht einsetzten konnte. Aber es war unsagbar lästig. Sie musste diesen Metallring loswerden. Dann wären sie in Sekundenschnelle wo anders. Mit einem Schnauben schnallte sie sich ab und kletterte in den Laderaum. Irgendwo musste doch dieses Mäppchen mit dem Werkzeug liegen.

„Was machst du?“, wollte Valeriu wissen.

Er sah sie durch den Rückspiegel fragend an.

„Ich such das Werkzeug. Ich will dieses Halsband nicht länger als nötig anhaben. Wer weiß, wie die es schaffen dadurch die Mutationen zu unterdrücken.“

Suchend sah sie sich um, drehte die toten Leiber der Agenten, schob sie weg, durchsuchte ihre Taschen. In der des Mannes mit der Pistole fand sie das Werkzeug endlich. Sie kletterte wieder auf den Beifahrersitz und legte den Gurt an. Dann klappte sie die Sonnenblende herunter und betrachtete den Metallring im Spiegel. Fluchend schlug sie die Sonnenblende wieder hoch.

„Der Verschluss ist hinten“, erklärte sie, noch bevor Valeriu zu einer Frage ansetzten konnte. „Wenn wir halten, musst du es aufmachen.“

„Okay, ich wollte so oder so zu Fuß weiter. Jetzt sind sie noch nicht so nahe, dass sie uns gefährlich werden könnten. Außerdem haben sie in der nächsten Stadt bestimmt schon Polizeisperren errichtet“, erklärte er und brachte den Wagen zum Stehen. „Lass uns erst ein Stück laufen, dass wir von der Straße wegkommen.“

Sie steigen aus, Valeriu sah kurz die Straße hinunter, dann rannten sie los. Wie lange genau sie rannten konnte später keiner von ihnen mehr sagen. Irgendwann kamen sie in einen kleinen Wald und gönnten sich eine Pause. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, zog Lilith das Werkzeugmäppchen aus ihrer Jackentasche und gab es Valeriu.

„Umdrehen“, meinte dieser nur.

Lilith wandte ihm den Rücken zu und nahm ihre Haare nach vorne, sodass sie nicht im Weg waren. Valeriu betrachtete den Verschluss einen Moment. Er war ziemlich simpel. Sechs Schrauben, welche eine kleine Metallplatte über der Naht des Halsbandes festhielten und dieses so verschloss. Aus dem Mäppchen holte er einen kleinen Schraubenzieher heraus und begann damit die Schrauben zu lösen.

Als er die dritte herausdrehen wollte, rutschte ihm der Schraubenzieher ab und kratzte über Lilith Nacken. Sie zuckte zusammen und machte einen kleinen Schritt nach vorne. Sofort sammelte sich ein dünner Strich Blut an dem Kratzer.

„Tut mir leid!“, sagte Valeriu schnell und drückte vorsichtig den Ärmel seines Pullovers auf die kleine Wunde. „Ich zittere ein wenig.“

„Du hast kalt, das ist normal. Warum hast du dir keine Jacke mitgenommen?“

Lilith spürte wie Valeriu mit dem Finger über den Kratzer strich, um das Blut wegzuwischen. Sie war immer wieder überrascht, wie vorsichtig und sanft er sein konnte. Wenn man sich überlegte, dass er mit denselben Händen, mit denen er jetzt das Blut wegwischte, so viel zum Fließen bringen konnte. Dann war sein Finger verschwunden und er löste die restlichen Schrauben.

„Ich hab dich durch das Handy fluchen hören und bin losgerannt. Da war keine Zeit mehr, um mir eine Jacke zu schnappen.“

Er nahm ihr das Halsband ab und drehte es nachdenklich in den Händen. Auf der Innenseite waren weiße Striche und Kreise zu sehen, die aussahen, wie auf einem Mikrochip. Was zum Teufel war das für ein Ding?

„Werf ihn weg, bitte. Ich will das Ding nicht bei uns haben. Vielleicht haben sie ja einen Sender darin versteckt, mit dem sie uns orten können.“

„Ich weiß. Aber wenn wir sie herlocken würden, dann…“

„Nein! Valeriu, das hatten wir schon mal! Wir werden keinen Kampf anfangen, das haben wir uns versprochen!“

Valeriu nickte und warf das Halsband achtlos weg. Lilith hatte recht. Sie hatten sich schon vor Jahren versprochen keinen Kampf anzufangen. Sie wollten schließlich ihre Ruhe und nicht noch öfter davonlaufen müssen. Was unweigerlich der Fall war, wenn sie anfangen würden die Menschen zu bekämpfen.

„Hast ja recht. Lass uns gehen“, meinte er.

Lilith griff nach seiner Hand und überlegte einen Moment, wo sie hin könnten. Dann lächelte sie und nickte Valeriu zu. In der nächsten Sekunde wirbelten silberne Wolken durch die Luft.

Der Knall, welcher erklungen war, kurz bevor sie sich aufgelöst hatten, hing noch eine Sekunden in der Luft und durch die Stille, welche folgte, drang ein lautes Fluchen.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück