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Wir waren zu jung

von

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Draußen prasselte der Regen gegen das Fenster. Obwohl es noch Sommer war, war es erstaunlich kühl.
 

Jean wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
 

Gelangweilt lehnte er sich auf seine Stuhllehne und schaute den Tropfen zu, wie sie in feinen Linien die Scheibe hinab liefen.
 

Ihm gegenüber in dem kleinen Wohnzimmer der Kirschsteins saßen seine Mutter und Karla Jäger, mit der sie gut befreundet war. Sie unterhielten sich gerade über die neusten Geschichten der Nachbarschaft.
 

Obwohl er Frau Jägers Sohn Eren absolut nicht ausstehen konnte, mochte er sie doch ganz gerne. Ihr Mann war Doktor und so hatte sie immer interessante Geschichten zu erzählen, doch heute konnte sich Jean einfach nicht darauf konzentrieren.
 

Mürrisch versuchte er das Gerede der beiden Frauen auszublenden.
 

Er wusste, dass er unhöflich war, doch er konnte einfach nichts daran ändern.
 

Morgen würde Marco fort gehen.
 

Sein bester Freund, weg. Nach Groß Britannien. Würde er ihn bald wieder sehen? Vermutlich nicht.
 

Seufzend riss er sich vom Anblick der Regentropfen los.
 

Prompt handelte er sich einen tadelnden Blick seiner Mutter ein.
 

„Jean“, sagte sie ruhig, doch er bemerkte den scharfen Unterton.
 

„Wenn dir so langweilig ist, geh doch bitte in die Küche oder nach draußen. Aber so ein Benehmen will ich hier nicht sehen.“
 

Jean nickte und stand auf.
 

„Entschuldigung“, murmelte er zerknirscht und bewegte sich zur Tür.
 

Karla Jäger warf ihm einen mitleidigen Blick zu, der ihn nur noch mehr runter zog. Jeder wusste, dass die Bodts wegzogen und jeder wusste, dass Marco und Jean unzertrennlich waren.
 

„Sei nicht so streng mit ihm“, sagte sie nur. „Es ist völlig verständlich, dass er schlecht drauf ist. Immerhin zieht sein bester Freund heute weg.“
 

Er war schon fast aus der Tür, als er das hörte.
 

Abrupt blieb er stehen.
 

„Heute?“, fragte er leise ohne sich umzudrehen. „Die Bodts ziehen erst morgen weg.“
 

Marco hatte ihm auf jeden Fall den Mittwoch genannt.
 

Doch Frau Jäger sah das anders.
 

„Nein, heute ist schon richtig“, meinte sie.
 

„Woher wollen Sie das wissen?“, patze er und drehte sich nun schließlich doch im. Ihre Worte machten ihn nervös.
 

„Jean, nicht in so einem Ton!“, rief seine Mutter, doch Frau Jäger wimmelte sie ab.
 

„Ich habe vorhin Herrn Bodt getroffen, glaub mir, Jean.“
 

Mit ernsten braunen Augen sah sie ihn an. „Sie waren schon halb auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Und ich hab mich schon gewundert, warum du noch hier bist, aber ich dachte, ihr hättet euch vielleicht schon verabschiedet…“
 

Mehr hörte er nicht mehr. Schon rannte er in den Flur, warf einen Stuhl um und eilte dann zur Tür hinaus.
 

Mit schnellen Schritten ging er zu seinem Fahrrad und riss es vom Ständer weg.
 

Dann war er unterwegs.
 

So schnell er konnte trat er in die Pedale. Bis zum Hauptbahnhof brauchte er mindestens eine halbe Stunde, und er betete, dass Marcos Zug noch nicht abgefahren war.
 

Immer wieder musste er sich das blonde Haar aus den Augen streichen. Wegen des Regens konnte er kaum etwas sehen. Hätte er doch bloß an eine Jacke gedacht!
 

Er fror. Doch es war ihm egal.
 

Warum hatte Marco ihm einen falschen Tag genannt? Hatte er sich vertan?
 

Nein, das sah ihm gar nicht ähnlich.
 

Dann.. vielleicht.. hatte er es absichtlich getan?
 

Aber warum? Um den Abschied einfacher zu machen?
 

Oder weil er sich auf sein neues Leben freute und mit seinem Alten hier in München schon abgeschlossen hatte? Und da gehörte Jean ja wohl ganz eindeutig zu..
 

Er fuhr und fuhr und war bald außer Atem.
 

Vorbei ging es an Häusern, an Straßen, an Flaggen, die das neue Symbol Deutschlands zeigten.
 

Er beachtete nicht mal das Rufen eines erzürnten Mannes, als er diesen fast umfuhr.
 

„Verdammt!“, murrte er immer wieder, während die Panik in ihm hoch stieg.
 

Wenigstens ein Mal wollte er Marco noch sehen. Wenigstens „Auf Wiedersehen“ sagen.
 

Als er schließlich in das Bahnhofsgebäude trat fackelte er nicht lange und rannte los.
 

Mit einem schnellen Blick fand er einen Zug, der passte.
 

Ohne lange nachzudenken eilte er zu den Gleisen.
 

Dort angekommen suchte er nach einem vertrauten Gesicht voller Sommersprossen.
 

Doch er fand es nicht.
 

Gerade wollte er aufgeben, da erblickte er es doch: In der Menschenmasse auf der anderen Seite der Schienen stand eine kleine Familie. Alle braunhaarig, Vater, Mutter und drei Kinder. Der Älteste von ihnen hielt eines der kleineren Kinder an der Hand.
 

„Marco!“, schrie Jean, doch es war zu laut.
 

Winkend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen, doch Marco hatte sich zu seinem kleinen Bruder herunter gebückt um ihm die Schuhe neu zu schnüren.
 

„Marco!“, rief Jean erneut und Panik überkam ihn.
 

Er sah schon die Lichter des Zuges, der bald einfahren würde.
 

Dann tat er etwas sehr, sehr Dummes: Er sprang auf die Schienen.
 

Hinter ihm riefen Menschen, doch er ignorierte sie.
 

Er brauchte nur wenige Sekunden um die Schienen zu überqueren und auf den Bahnsteig gegenüber zu klettern. Dann fuhr der Zug ein.
 

Die Menschen um ihn herum sahen ihn erschrocken oder gar wütend an, doch er versuchte einfach nur, weiter zu kommen.
 

Durch das Gedränge schaffte er es nur langsam, obwohl er sich einen Weg frei schubste und drängelte. Empörte Rufe hallten durch die Gegend, sogar einen Klaps auf den Hinterkopf bekam er – doch er ignorierte alles.
 

Wo war er? Wieso fand er ihn nicht?
 

Hätte er nicht schon längst bei ihm sein müssen?
 

„Marco!“
 

Doch nirgends war die Familie zu sehen.
 

Mittlerweile standen ihm die Tränen in den Augen.
 

Die Türen des Zuges wurden geschlossen und ein greller Pfiff ertönte.
 

Da sah er ihn endlich durch ein Fenster des Zuges.
 

Gerade, als seine Faust gegen das Fenster knallte und Marco ihn ansah, setzte der Zug sich in Bewegung.
 

Die Augen seines besten Freundes weiteten sich als er ihn erkannte.
 

Er hörte noch ein dumpfes „Jean!“, dann war Marco verschwunden.
 

Jean hatte nicht die Kraft, um dem Zug hinterher zu rennen.
 

Er stand nur da, während der Bahnsteig sich endgültig leerte.



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