Zum Inhalt der Seite

Die Liebe des Engels

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Hallo Engelchen, was treibt dich hierher?“

Er wandte den Kopf zur Seite und bedachte den Mann, der lässig an der hohen Friedhofsmauer lehnte, mit einem kurzen Blick. Dann setzte er seinen Weg fort.

Lächelnd stieß sich der Dämon von der Wand ab und folgte ihm.

Es war ein großer Friedhof, Generationen von Familien lagen hier begraben, und sie folgten dem Weg bis ans Ende des steinernen Schutzwalls. Den Teil des Gottesackers, der den Kindern vorbehalten war.

Hunderte kleiner Körper waren hier zur letzten Ruhe gebettet worden. Opfer des Hungers, der Krankheit oder anderer Menschen. Manche waren durch Unfälle zu Tode gekommen, andere in grauer Vorzeit bei heidnischen Ritualen geopfert worden.

Es hieß sogar, man hätte bei der Erbauung des Friedhofs neben einigen Katzen auch ein Kind eingemauert. Ob Mädchen oder Knabe wusste niemand mehr zu sagen, doch manchmal hörte man es des Nachts gegen die Steine klopfen, als wolle es sich bemerkbar machen oder suche einen Weg hinaus.

Und manchmal hörte man das Trappeln kleiner Füße auf dem kalten Stein und das Miauen der Katzen, wenn es ihnen nachjagte.

Und in besonders finsteren, nebelverhangenen Nächten, konnte man das leise Schluchzen der einsamen Seele hören, die auf ewig an das steinerne Gemäuer gebunden war.

Doch in jenen Nächten, in denen kein menschliches Wesen sich nach draußen wagte, war der Friedhof ein Ort voller Freude und Kinderlachen.

Dann nämlich erwachten die kleinen Seelen aus ihrem tiefen Schlaf, tanzten mit bizarr anmutender Fröhlichkeit auf ihren Gräbern und spielten wie die Lebenden zwischen den alten verwitterten Steinen Verstecken.

Sie fingen einander, die Mädchen flochten Blumenkränze und nur die Bleichheit ihrer Gestalt erinnerte daran, dass sie längst nicht mehr von dieser Welt waren.

In dieser Nacht jedoch blieb alles still. Ruhig und verlassen lag der Friedhof vor ihnen, strich der kühle Nachtwind sacht über die Gräber.

Der Weg des Engels führte zu einem der vielen steinernen Wächter, die man teils als Schmuck, teils als an Mahnung an die Lebenden errichtet hatte.

Eine Statue in Gestalt eines Knaben, dessen sanft gewelltes Haar ihm bis auf die Schultern fiel. Sein engelsgleiches Gesicht war leicht geneigt, sein Blick auf den Weg gerichtet, der zum Grab führte.

Er hockte dort, als wartete er nur darauf, dass sein Schützling wieder an die Oberfläche zurückkehrte. In den Händen hielt er einen steinernen Kranz aus Butterblumen.

Er strahlte Ruhe und Freundlichkeit aus, wenngleich er nicht lächelte, und doch konnte man sich eines Gefühls tiefer Traurigkeit nicht erwehren, bedachte man, wessen stiller Wächter er war.

Offenbar konnten nicht einmal Engel die Seelen, die an diesem Ort gefangen waren, erlösen.

Der Weißgeflügelte war stehen geblieben und betrachtete die steinerne Statue.

„Da wir nun voneinander wissen, ist es wohl nicht mehr nötig sich zu verstecken“, sagte er und erschienen auf seinem Rücken zwei wunderschöne weiße Schwingen.

Der Dämon lächelte. Er hielt Engel für die wunderbarsten und schönsten Geschöpfe, die Gott je erschaffen hatte. Auch wenn er sie ihnen zum Feind gemacht hatte.

„Er liebte Blumen“, sagte der Weißgeflügelte und legte den Strauß auf die steinerne Grabplatte.

„Ein Freund?“, fragte der Dämon und betrachtete eingehend das Mienenspiel des Engels.

Für einen Moment schloss der Andere die Augen, dann galt sein Blick wieder dem Knaben.

„So könnte man es sagen.“

Schweigen senkte sich über sie und nur gelegentlich ließ der Wind die Grablichter flackern, zerriss der Schrei eines Vogels die Nacht.

„Es heißt“, begann der Engel schließlich wieder zu sprechen, „dass es Nächte gibt, in denen die Seelen der Kinder an die Oberfläche zurückkehren und auch ihre steinernen Wächter wieder zum Leben erwachen.“

Er ging neben der Knabengestalt in die Hocke und betrachtete gedankenverloren das schöne, ebenmäßige Gesicht.

„Aber er tut es nie, wenn ich hier bin“, sagte er leise und strich mit den Fingerspitzen über den Arm der Statue, als wäre sie ein Wesen aus Fleisch und Blut.

„Es ist eine Strafe“, erklärte er mit ruhiger, trauriger und doch seltsam schicksalsergebener Stimme. Dann beugte er sich vor und küsste die kalten Lippen des steinernen Wächters.

Erstaunt sah ihm der Dämon dabei zu wie er sich aufrichtete und seine Gewänder glatt strich.

„Dein Geliebter?“, fragte er und ein Hauch schmerzlicher Wehmut streifte das Gesicht des Engels.

„Er entschied sich dafür, auf ewig die Seelen der Kinder zu beschützen, ihnen Wächter, Begleiter und Spielgefährte zu sein. Er liebte Kinder. Und doch ist es nichts anderes als eine Strafe. Ein Fluch, der uns auf ewig voneinander trennt.“

Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Engels und sacht strich seine Hand über das Haar des Knaben.

„Gott konnte nicht zulassen, dass er sein Herz einem Engel schenkte. Und nun hat ein Dämon es ihm gestohlen.“

„Er hat mir davon erzählt“, sagte der Dämon, der den Geliebten des steinernen Engels wohl kannte.

Ihm selbst hatte sich der Knabe nie gezeigt und niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sein Bruder das Herz dieses scheuen Wesens erobern könnte.

Und doch war es ihm gelungen. Hatte sein jüngerer Bruder den Wächter der Kinder für sich gewonnen und ihn, wie er nun erkannte, seinen himmlischen Geliebten vergessen lassen.

Doch vermutlich war es besser so. Wie viel tröstlicher musste es sein, seiner im Stillen als teurer Freund zu gedenken, als an einer Liebe festzuhalten, die Gott selbst so sehr verabscheut hatte, dass er sie auf ewig voneinander trennte.

Wie lange mochte diese Ewigkeit schon andauern und wie mochte sie sich im Herzen eines Engels anfühlen? Den einzigen Wesen dieser Welt, denen Gott verbot zu lieben.

Er hob den Blick hinauf zum Himmel, der nun wolkenlos und sternenklar war. Dann wandte er ihn wieder dem Engel zu.

„So sehr wollte der Himmelsherr deine Liebe?“

Erstaunt sah der Weißgeflügelte ihn an. So als sei ihm der Gedanke daran noch nie in den Sinn gekommen. Oder als hätte er einfach nicht erwartet, ihn aus dem Munde eines Dämons zu hören.

„Das Herz dieses Knaben ist fort, es gehört nicht mehr länger ihm selbst. Aber was ist mit dem deinen?“

Der schmerzliche Ausdruck verschwand vom Gesicht des Engels, machte erst Erstaunen und dann spöttischem Mitgefühl Platz.

„Was für ein plumper Versuch“, sagte der Weißgeflügelte mit müder Stimme und doch klang ein leises, amüsiertes Lachen mit.

„Eine unerfüllte Liebe ist etwas viel zu grausames für einen Engel“, erwiderte der Dämon mit unerschütterlicher Ruhe.

„Schenk mir dein Herz. Tu es aus Liebe, aus Verzweiflung oder aus Rache. Für den Augenblick soll mir der Grund dafür gleich sein.“

„Das Verlangen der Dämonen“, sagte der Engel leise und noch einmal glitt sein Blick über die steinerne Gestalt des Knaben.

„Komm mit mir“, forderte der Dämon und der Weißgeflügelte löste sich vom Antlitz des einst so Geliebten und folgte ihm.

Ohne Eile wanderten sie über den Friedhof. Ein Fuchs huschte über den Kiesweg, hielt einen Augenblick inne und verschwand dann in der Dunkelheit.

Das Rauschen des Windes in den Bäumen, das leise Rascheln in den Büschen und der ferne Schrei einer Eule waren die einzigen Geräusche, die sie begleiteten.

Die Seelen der Toten schliefen in dieser Nacht.

Ein vergessenes Tuch wehte durch die Luft, verfing sich in einem der steinernen Kreuze und flatterte wie ein Geist im fahlen Licht des Mondes.

Ein plötzlicher Windstoß ließ die Kerzen auf den Gräbern flackern und verlöschen, doch der Engel entfachte die winzigen Flammen von neuem.

Selbst wenn sich heute Nacht keine der Seelen zeigen würde, auch wenn sie hier keine Erlösung fanden, sollten sie doch nicht im Dunkeln wandeln müssen.

Auch wenn die zitternden Flammen der Kerzen und Lampen nur ein winziger Trost sein konnten. Für die Lebenden und für die Toten, die sich so sehr danach sehnten, ins Licht heimkehren zu können.

Der Dämon wartete geduldig und erst als der Engel jedes einzelne Licht, jeden kleinen Funken Hoffnung neu entzündet hatte, setzten sie ihren Weg fort.

Ein stilles Lächeln legte sich auf die Lippen des Dämons.

Wie schön musste es sein, einen so fürsorglichen Beschützer an seiner Seite zu wissen. Selbst wenn der Preis dafür war zu sterben und als verirrte Seele an einen Ort wie diesen gebunden zu sein.

Was bedeutete das Licht einer einzelnen Kerze, wenn das Licht der Hoffnung, das Licht eines Engels auf einen fiel?

Ein Licht, das jede Finsternis durchbrach. Ein Licht, das so hell und schön war, dass es selbst den düstersten Ort der Welt zu erhellen vermochte.

Ein sanftes, gütiges und reinigendes Licht, das die Seele – und sei es nur für einen Moment – von aller Last befreien konnte.

Ein Licht, das dem Herzen Ruhe und Zuversicht zurückgab und eine so reine Liebe ausstrahlte, dass sie das Wesen verbarg, das sie aussandte, sie schenkte. Ein reines Licht, ein unantastbares Wesen.

Wie hätte er nicht danach verlangen können?

Und doch...

Wie schmerzlich musste es sein, wie unfassbar traurig, eine solche Kraft zu besitzen, ein Licht auszusenden, das ihn selbst nie erreichte.

Ein Gefühl von Liebe zu geben, Liebe zu schenken, die ihm selbst verwehrt blieb.

Seelen konnten Dankbarkeit zurückgeben, aber was war das schon im Vergleich zu Liebe?

Dieser Engel fürchtete die Liebe nicht, er sehnte sich nach ihr.

Wie aus Gewohnheit – oder war es Notwendigkeit? – verbarg er es hinter einem Ausdruck der Gleichgültigkeit und Resignation. Verbarg seinen Schmerz vor der Welt und vor all den Seelen, die zu retten ihm nicht erlaubt war.

Und grausam wie sie waren, zeigten sie sich ihm nicht einmal.

Wie viel Schmerz mochte sich hinter diesem schönen, gleichmütigen Gesicht verbergen?

Wie konnte ein Engel ertragen, was kein Dämon je akzeptiert hätte?

Wie grausam ihr Gott doch war. Und wie unangemessen die Maske des Heiligen, die die Menschen ihm aufgesetzt hatten.

Ein Wesen, das seine eigene Schöpfung so eifersüchtig bewachte, dass er ihnen jede Form der Liebe außer der zu ihm selbst verbot.

Und was für mitleiderregende Kreaturen sie waren, da sie sich selbst jede Gefühlsregung verboten.

Was musste der Himmel für ein grausamer, kalter Ort sein.

War dies der wahre Grund, weshalb die Engel so zahlreich auf die Erde kamen?

Und doch konnten sie nicht anders als ihren Schöpfer zu lieben. Auf die gleiche unverstellte und hingebungsvolle Art, wie Kinder ihre Eltern liebten.

Ja, womöglich waren sie alle Kinder geblieben. Deshalb konnten sie töten, ohne Schuld oder Reue zu empfinden. Wie ein Kind, das ein Insekt tötet.

Ihre Fähigkeit in allem etwas Schönes und in jedem etwas Besonderes zu sehen. Ihre Freude an so vielen Dingen, ebenso wie ihre kaum nachvollziehbare Traurigkeit über die unbedeutendsten Kleinigkeiten.

Und die Worte des Vaters als unumstößliches Gesetz.

Doch der Engel der ihn begleitete war kein Kind mehr. Weder äußerlich, noch in seinem Seelenleben. Vielleicht, weil er geliebt hatte.

Die Liebe zu etwas anderem als Gott veränderte die Engel.

Sie begannen anders zu sehen, anders zu handeln, anders zu sein! Sie begannen zu zweifeln und Fragen zu stellen.

Und wenn Gott für sie nicht mehr an erster Stelle stand, waren sie kaum mehr als Menschen – wenngleich mit gefährlichen Kräften.

Es mochte lange her sein, doch was waren Dämonen ursprünglich anderes als gefallene Engel? Diesen Schock, diesen Verlust hatte jenes Wesen, diese sonderbare Kraft namens Gott, nie verwunden.

Und ironischerweise hatten die Engel weit mehr darunter zu leiden als die Dämonen. Immerzu mussten sie gehorchen, leisten, beweisen und ruhte sein wachsames Auge immerzu auf ihnen.

Der immerwährende Verdacht des Verrats, das Misstrauen Gottes seiner eigenen Schöpfung gegenüber war ein Erbe, das ihnen – mehr noch als Adam und Eva – Luzifer hinterlassen hatte.

Zu opfern, was er außer Gott am meisten liebte. Dieser Engel hatte das nicht gewollt und doch hatte der Schmerz des Verlustes ihn nicht zerstört.

Ein Dämon hatte ihm genommen was er liebte – ein Szenario, das auch für den Himmelsherrn unendlich viel schlimmer sein musste als das Liebesspiel zweier Engel – und doch hatte er genug Güte in sich, um zu verzeihen.

Gott, seinem Geliebten und sogar der Kreatur, die er mehr als alles andere hätte hassen müssen.

Gewiss besaß der Engel die Macht, seinem Bruder Schaden zuzufügen und doch wusste dieser bis heute nichts von seiner Existenz.

Wie konnte ein Wesen nur so sehr lieben? So sehr, dass es die schwersten Kränkungen auf sich nahm, ohne je ein Wort darüber zu verlieren.

Wie viele Jahre hatte es gedauert, bis er es hatte akzeptieren können?

Wie viele einsame Stunden waren vergangen, bis der Gedanke daran ihn nicht mehr verzweifeln ließ?

Er warf einen Blick über die Schulter. Der Engel folgte ihm noch immer. Wenn der Wind über die Gräber strich, wirkten seine langen weißen Gewänder in der Dunkelheit wie die Segel eines Schiffes. Einsam und verloren inmitten der trostlosen Schwärze des nächtlichen Ozeans.

Für die Menschen waren Boote ein Symbol des Aufbruchs, eines Neuanfangs, der Freiheit gewesen. Wie wenig dies doch auf ihn zutraf!

Dieser Engel war nicht frei und er ging nirgendwohin. Er existierte einfach. Sein Blick war nach vorn und auf ein Ziel gerichtet, das nur er und vielleicht nicht einmal er selbst kannte.

Und doch wirkte er abwesend, schien er zugleich alles zu bemerken und doch nichts wirklich wahrzunehmen.

Was blieb von einer Welt, wenn das Geliebte darin nicht mehr existierte?

Wohin mit den Gefühlen, der überschäumenden Liebe, die keinen Widerhall mehr fand?

Wie konnte man Seelen heilen, während die eigene an dem Schmerz und der Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren waren, zu zerbrechen drohte?

Was war das für ein Wesen, das all dies still und geduldig ertrug?

Was war das für ein Engel, der einem Dämon folgte, wo doch sein Liebster ihm von einem solchen gestohlen worden war?

Und doch tat er es. Ließ sich führen von etwas, das zu fürchten und zu vernichten ihm geradezu notwendig erscheinen musste.

Und doch wollte er ihn. Wollte er das Herz dieses Engels, bevor dieser es verlor oder zu glauben begann, er besäße gar keines.
 

Die eiserne Kette ließ sich mühelos entfernen und die Gittertür öffnete sich mit einem so markerschütternden Kreischen, als wolle sie nun selbst versuchen, die Toten zu erwecken.

Der Dämon ließ ihm den Vortritt und so stand er nur einen Augenblick später im Inneren des Mausoleums, das ganz aus weißem Marmor erbaut war.

Das Gebäude war, wenngleich kaum mehr als mannshoch und von massiver Bauweise, einem griechischen Tempel nachempfunden.

Säulen stützten die niedrige Decke, in die Wände waren Kammern eingearbeitet worden, in denen die Sarkophage aufbewahrt wurden. In der Mitte des Raumes befand sich ein Altar, dessen Schmuck man jedoch entfernt hatte.

Ein halb vertrockneter Kranz war zur Entsorgung bereits beiseite gelegt worden. Die Kerzenhalter waren im Inneren der marmornen Muscheln drapiert worden, welche der Erbauer in die Wände eingelassen hatte.

Das weiße Tuch und der rote Überwurf, die während der Feierlichkeiten und des Gebets den Altar schmückten, lagen sorgsam gefaltet auf einem niedrigen Marmorblock, der wohl als Sitzgelegenheit diente.

Der Engel ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, dessen lichtdurchflutetes und zugleich erdrückendes Inneres ihn an die Himmelswelt erinnerte.

Er war sich der Toten an diesem Ort wohl bewusst, doch ihre Seelen schwiegen, versunken in tiefem, kummervollem Schlaf.

Der Blick des Dämons ruhte auf ihm, doch schließlich ging der sonderbare Fremde an ihm vorbei und nahm auf dem Altar Platz. Er sah auf die kühle, glatte Oberfläche, ließ seine Hand darüber gleiten und hob den Blick wieder zu dem Weißgeflügelten.

Seine Botschaft war eindeutig und die Intensität seines Blickes musste jedem lebendigen Wesen den Atem nehmen.

Und das, obwohl er noch so vieles verbarg! Der Engel konnte es fühlen und zugleich nicht anders, als über die Wahl des Ortes zu lächeln.

Ein Ort, der ebenso schön wie unpassend war und doch so typisch für einen Dämon.

Selbst die unschuldigsten Engel wussten um die sonderbaren Vorlieben dieser Wesen, die zu fürchten und zu verdammen man sie lehrte, kaum dass sie auf der Welt waren.

Mochten sie auch einmal selbst Engel gewesen sein, waren sie nun nicht mehr als Verbannte. Wesen der Finsternis, die die Nacht dem Tage vorzogen und das Rot des Blutes weit mehr liebten als das Blau des Himmels.

Und doch sehnte sich etwas tief in ihrem Inneren nach diesem Ort. Deshalb suchten sie ihre Opfer in Kirchen und auf Friedhöfen, anstelle von Lazaretten und Schlachtfeldern. Denn es waren Orte, die Gott noch nicht verlassen hatte, die ihm nahe waren.

Deshalb verfluchten sie die Engel und konnten doch nicht anders als ihre Nähe zu suchen.

Denn in der Finsternis, in der sie lebten, gab es kein Licht. Nichts außer den Flammen der Hölle, die ihnen die Augen versengten und ihre Glieder verbrannten.

Es war kein Licht das rettete. Keines das Trost spendete oder Erlösung versprach. Nur Qual. Unerträgliche, nicht enden wollende Qual.

Dämonen waren grausame Wesen und doch nicht mehr als Kinder.

So sehr rangen sie um die Aufmerksamkeit und die Liebe Gottes, der auch ihr Vater war, dass sie vor nichts zurückschreckten um sie zu bekommen.

Eifersüchtig lauerten sie auf alles, das sie für vom Schöpfer geliebt hielten, um es ins Verderben zu stürzen und zu zerstören.

Wenn sie seine Liebe nicht haben konnten, dann sollte sie niemand haben.

Wie oft weinten sie bittere Tränen, wenn sie erkennen mussten, dass ihre Bemühungen aussichtslos waren?

Dass Gott, mochte er ihren Verlust auch noch so sehr betrauern, ihre Vernichtung jeder Versöhnung vorzog?

Wie traurig musste das sein, wenn sich Liebe in Verzweiflung verwandelte und schließlich in Hass verkehrte.

Wie tief musste der Schmerz in ihren Herzen sitzen, wie groß musste er sein, dass er sie alles Menschliche verlieren ließ.

Waren sie denn nicht Gottes Kinder? Hatten sie, die doch nur die Nachfahren derer waren, die den Verrat begangen hatten, denn kein Recht auf Liebe? Sollten sie ewig leben, ohne Hoffnung und ohne Aussicht auf Vergebung?

War denn das Verlangen nach dem Herzen eines Engels etwas anderes als der sehnsüchtige Wunsch Gott näher zu sein? Etwas in den Händen zu halten, das Gott einmal geliebt hatte.

So wie Menschen ein Licht der Hoffnung entzündeten, weil sie das Leuchten ihrer eigenen Seele nicht sehen konnten?

Niemand konnte die Finsternis einer endlosen Nacht ohne Furcht ertragen.

Und was waren Engel anderes, als Lichter in der Dunkelheit?

Lichter, die Wärme, Zuversicht und Hoffnung in die Herzen der Menschen zurückbrachten.

Auch die Seelen, die an diesem Ort gefangen waren, wanderten durch die Dunkelheit, während Furcht und Hoffnungslosigkeit nach ihnen griffen.

Doch das Licht eines einzigen Engels konnte alles erhellen.

Deshalb konnte sein Liebster nicht fortgehen. Wie schön dieser Ort bei Tage auch anmuten mochte, wie trostlos musste er den Kindern – die die Welt der Lebenden viel zu früh verlassen hatten – bei Nacht erscheinen.

Wie lange mochte es gedauert haben, bis sie die Furcht vor der Dunkelheit, in der die Schatten lauerten, überwunden hatten?

Wie oft beklagten die kindlichen Seelen den Verlust ihres Körpers?

Wie oft weinten sie, weil sie nicht fort konnten, die Lebenden suchend und für sie doch für alle Zeit verloren?

Wie qualvoll musste es sein, den Wandel der Jahreszeiten zu beobachten und zu spüren, wie sie immer mehr in Vergessenheit gerieten.

Wie grausam der Moment in dem sie erkannten, dass die Liebe der Lebenden sie nicht mehr erreichte.

Doch jetzt hatten sie ihn und er wollte daran glauben, dass das Licht seines Geliebten sie vor der Verzweiflung bewahrte.

Dass es der Wahrheit entsprach, dass man in manchen Nächten die Seelen singen, statt wehklagen und die toten Kinder lachen hörte. Auch wenn sie diesen Ort vielleicht niemals verlassen würden.

Der Blick des Dämons ruhte auf ihm und als er ihm die Hand entgegenstreckte folgte der Engel ihm.

Wie wenig sie trennte...

Zwei Wesen, die sich nach dem Willen Gottes niemals berühren, ja nicht einmal begegnen sollten.

Er legte seine Hand in die des Dämons und sacht schlossen sich die Finger der fremden Hand um seine.

Dann zog der Dämon ihn sanft zu sich, hob die Hand des Weißgeflügelten an seine Lippen und küsste sie.

Welch sonderbares Gefühl!

Wie lange war es her, dass keine Seele, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut ihn berührt hatte?

Und wie seltsam, obwohl ein Dämon, waren jeder Blick und jede Geste voller Respekt.

„Beweise mir, dass du es ernst meinst“, sagte der Dämon und legte die Hand des Engels auf seine Brust.

Der Herzschlag dieses Wesens schien sich in seinem Körper auszubreiten, erfüllte ihn und brachte sein eigenes aus dem Takt.

Es war kraftvoll und so voller Leben, dass es dem Weißgeflügelten die Tränen in die Augen trieb.

Wenn er dem Dämon gab wonach er verlangte, würde dieses Herz dann ihm gehören?

Konnten diese Geschöpfe, konnte überhaupt irgendjemand einen anderen so ansehen, ohne ihn zu lieben?

Sacht berührten seine Fingerspitzen das Gesicht des Dämons, dann neigte er sich zu ihm herab und küsste ihn.

Ja, sie konnten es, dachte der Weißgeflügelte und schloss die Augen. Dämonen waren Meister der Täuschung und in der Lage absolut alles vorzutäuschen, wenn es sie ihrem Ziel näher brachte.

Und in demselben Maße, in dem ihre Berührung den Engel von Gott trennte, mochte sie den Dämon ihm näher bringen.

Ob der Dämon Gott hasste?

Es gab nichts, womit man den Himmelsherrn so sehr verhöhnen konnte wie damit, einen Engel zu schänden.

Der Weißgeflügelte spürte, wie sich ein Arm um seine Taille legte, spürte die Kraft, die ihm innewohnte und schauderte, als der Dämon ihn an sich zog und küsste.

Es waren leidenschaftliche, aber zärtliche Küsse, die sich wunderbar anfühlten und die er zuließ, die er erwiderte und die die Sehnsucht in seinem Herzen zu einem Feuer anwachsen ließen.
 

Plötzlich fand sich der Weißgeflügelte auf dem Altar wieder. Den kalten Marmor in seinem Rücken, den Dämon, dessen brennende Blicke seine Seele erzittern ließen, über sich.

Die Hand des Dämons strich über sein Haar, sein Gesicht, an seinem Hals herab und verharrte schließlich, als der Stoff des Gewandes ihr weitere Zärtlichkeiten verwehrte.

Ob der Dämon eine Waffe trug?

Einen Engel auf einem Altar zu opfern, sein rotes Blut auf dem weißen Marmor – wie bizarr, wie beängstigend schön musste das in den Augen eines Menschen oder eines Dämons erscheinen.

Konnte ein Engel einen Dämon lieben?

Oder würde der bloße Versuch einer Verbindung den Weißgeflügelten vernichten?

Die Hitze der fremden Lippen brannte auf den seinen und er nahm ihr Feuer begierig in sich auf.

Der Engel hielt die Augen geschlossen, ließ keinen Laut in sein Bewusstsein dringen und überließ sich ganz dem Fühlen.

Er spürte die Hände des Dämons, die wie suchend über seine Kleidung strichen. Seine Lippen, die sich nur von ihm lösten, damit er gelegentlich Atem schöpfen konnte. Seine Zunge, die begierig forschend jeden Winkel seines Mundes eroberte. Die raubtierhafte Schärfe seiner Eckzähne, die ihn jedoch verschonten.

Was für ein sonderbar friedlicher Dämon. Ein Wesen, das Leidenschaft und Zärtlichkeit verband, Verlangen mit Geduld mischte.

Wie sonderbar, dass der Dämon ihm sein Herz nicht mit Gewalt zu entreißen versuchte.

Obwohl er es so leicht hätte herausreißen und verschlingen können.

Doch der Weißgeflügelte spürte nicht einmal Feindseligkeit.

Dieser Dämon hatte nicht den Wunsch ihn zu töten, selbst wenn es seine Absicht war, ihn dem Himmelsherrn abspenstig zu machen.

Was für ein seltsames Geschöpf er war, dass er einen Engel lieber lebendig als tot sah.
 

Wie sonderbar einem Engel zu begegnen, der wusste was Hingabe bedeutete. Besonders, da sie nicht Gott galt.

Doch dieser hier wusste es, kannte sie, und das machte es für den Dämon nicht leicht sich zu beherrschen.

Die Kleidung des Himmlischen war wie dazu gemacht, alles Schöne zu verbergen und der Fantasie zugleich jeden Spielraum zu lassen, den sie sich wünschte.

Die Haut des Engels war kalt, doch er konnte das Feuer spüren, das in ihm brannte.

Ein Feuer, das schon immer in ihm gewesen war und das er neu entfacht hatte.

Ein Dämon konnte einen Engel nicht berühren, ohne ihn zu beschmutzen und er konnte ihn nicht lieben, ohne ihn zu schänden. So stand es geschrieben in den göttlichen wie auch den dämonischen Schriften.

Wenn das stimmte, konnte er das Herz des Engels nicht für sich gewinnen, ohne ihn zu etwas zu machen, das nie wieder zu dem werden konnte, als das es geboren worden war.

Verdunkelte er die Welt des Weißgeflügelten im gleichen Maße, in dem dieser das Licht in seine Welt brachte?

Und doch konnte er nichts dergleichen fühlen, wenn er den Engel berührte. Keine der verheißenen Verunreinigungen, die seine schwarze Seele auf ihm hätte hinterlassen sollen.

Keine noch so kleine Trübung jenes sanften Lichtes, das die Fähigkeit besaß, jede noch so verzweifelte Seele zu retten.

Wie sehr er seinen Bruder um das Licht beneidet hatte, das der Knabe ihm schenkte und das ihn immerzu begleitete, ihn umgab wie ein leichtes, süßes Parfüm und das ihn erstrahlen ließ, wie eine geläuterte Seele.

Wie sehr er ihn um diese tiefe, selbstlose Liebe, die Vergebung die es schenkte, beneidet hatte.

Er wollte sie auch, diese Vergebung. Dieses Licht, das seinen Weg erhellte, seine Seele reinigte und alle Last von ihr nahm.

Dieses friedvolle, alle Sünden vergebende Licht.

Und nun hielt er es selbst in den Händen. War es hier bei ihm und leuchtete in der Dunkelheit.

Wie nur? Wie konnte er es berühren, ohne es zu vernichten? Wie konnte er es an sich bringen, ohne es zu trüben?

Wie konnte er das Herz eines Engels gewinnen, ohne ihn zu zerstören?

Der Körper des Weißgeflügelten kannte das Verlangen, doch wie konnte er es der zitternden Seele in seinem Inneren erklären?

Würde sie zuhören, wenn er es ihr sagte? Würde sie sich von ihm leiten, sich lehren lassen? Und würde es sie zerstören, wenn er sie zwang?

Der Engel fühlte keine Angst, doch seine Seele zitterte aus Furcht vor der Dunkelheit wie ein Kind.

Engel waren Geschöpfe des Lichts. Sie waren Licht und obwohl es ihre Aufgabe war, die Dunkelheit zu erhellen, ertrug ihr kindliches Herz die Finsternis nicht.

Denn nur die Finsternis konnte sie verderben. Sie war die Einzige, die sie berühren konnte, während sie für alle anderen unantastbar blieben.

Nur die Dunkelheit vermochte sich in ihr Innerstes einzuschleichen, Hass und Verzweiflung in ihrem Herzen zu säen und sie in Dämonen zu verwandeln.

Nur die Finsternis konnte einen Engel wirklich töten, seine unsterbliche Seele vernichten. Und dieses Wissen, war in ihre Seelen eingraviert – als die größte Angst, die zu empfinden sie fähig waren.

Dieser Engel jedoch war ein Wesen, das seinem Verstand folgte. Anders war die Ruhe, die er trotz seiner angsterfüllten Seele bewahrte, nicht zu erklären.

Wenn er gewollt hätte, er hätte die Seele des Engels berühren können. Der Weißgeflügelte verbarg sie nicht, schützte sie in diesem Augenblick nicht einmal besonders, beinahe so als wüsste er nicht, dass der Dämon sie zerschmettern konnte.

Doch vielleicht spürte der Engel es auch. Nichts war in der Lage Gefühle so direkt aufzunehmen wie eine Seele.

Dämonen konnten einander, konnten Menschen und sogar Engel betrügen, aber niemals die Seele eines Himmelswesens.

Es sei denn, sie wollte betrogen werden.

Ja, er hätte sie berühren können, wollte sie berühren und wagte es doch nicht.

Er wusste was geschehen würde, vielleicht, weil seine eigene Seele es ihm eingab.

Licht würde ihn durchfluten, Wärme, ein Gefühl der Befreiung und des Friedens. Wenn er aber die Seele gegen ihren Willen berührte, konnte das entsetzliche Folgen haben.

Die Seele eines Engels besaß genug Kraft, um einen Dämon zu vernichten, ihn vollkommen auszulöschen.

Eine Seele die Angst empfand, war unberechenbar und zugleich so zerbrechlich wie Glas.

Eine falsche Berührung und sie konnte wie ein Spiegel in tausend Scherben zerspringen.

Sacht schob der Dämon eine Hand unter die Kleidung des Engels und strich sie zur Seite, bis eine der bleichen Schultern frei lag.

Es war nur ein winziges Detail, doch es faszinierte ihn. Zärtlich küsste er die nackte Haut, spürte den Weißgeflügelten unter der Berührung seiner Lippen schaudern und vernahm die ungewöhnliche Tiefe eines Atemzuges.

Doch der Engel wies ihn nicht ab. Verschloss die Augen vor ihm und vielleicht auch vor dem was geschah, aber er ließ ihn gewähren.

War jemals ein Dämon einem Engel so nahe gekommen, ohne befürchten zu müssen von ihm getötet zu werden?
 

Und wieder küsste ihn der Dämon. Schulter, Schlüsselbein, Hals, Wange und schließlich seine Lippen.

Ein Kuss, dessen Intensität sich von den anderen unterschied und die Seele des Engels auf sonderbare Weise berührte, obgleich er sie nicht einmal erreichte.

So viel Verlangen lag darin, so viel Kraft und Glut in den Berührungen seiner Hände, dass der Weißgeflügelte nicht anders konnte als sie zu fürchten. Wo doch jedes noch so leise Gefühl der Sehnsucht einem Verrat an seinem Schöpfer gleichkam.

Und doch wusste er, dass der Dämon siegen würde. Er selbst würde ihn siegen lassen.
 

Der Dämon spürte die Hand des Weißgeflügelten über seinem Bauch und fühlte die Kraft, die von ihr ausging.

Als er den Blick hob, sah er direkt in die Augen des Engels.

„Das genügt“, flüsterte der Weißgeflügelte atemlos und der Dämon war klug genug ihn nicht herauszufordern, die höfliche Warnung nicht zu missachten.

Er richtete sich auf, doch vom Anblick des Engels vermochte er sich nicht zu lösen.
 

Eine Weile sahen sie einander schweigend an, dann setzte der Weißgeflügelte sich auf.

Das brachte sie einander wieder sehr nahe, was den Engel in seinem Entschluss wanken ließ.

Erzürnt über seine eigene Schwäche wandte er den Blick ab, stieg von dem marmornen Altar herab und breitete sein Schwingen aus, bereit diesen Ort zu verlassen.

„Du hast wirklich wunderschöne Flügel“, erreichte ihn die Stimme des Dämons, kaum dass er sich mehr als zwei, drei Schritte von ihm entfernt hatte.

Der Engel wandte sich um und sah den Dämon wie zuvor in entspannter Haltung auf dem Altar sitzen. Er schien nicht wütend zu sein, obgleich er allen Grund dazu gehabt hätte. Welch eine Beleidigung musste es für ein stolzes Wesen wie einen Dämon sein, auf diese Weise zurückgewiesen zu werden.

Als ihre Blicke sich trafen erhob sich der Dämon und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

„Ich besitze auch welche, weißt du“, sagte der Dämon und breitete seine Schwingen aus.

Wie gebannt starrte der Engel auf die großen, dunklen Flügel.

Seinen Geliebten ausgenommen, konnte er sich nicht erinnern jemals zuvor etwas so Wunderschönes gesehen zu haben.

Sie besaßen nicht die Erhabenheit der weißen Engelsflügel, doch sie strahlten auf eine Weise Wärme aus, wie er sie nie zuvor gespürt hatte.

Ihre Farbe changierte zwischen einem warmen, lebensspendenden Erdton und einem so tiefen schwarz, wie es sonst nur die Totenvögel kleidete.

Nichts an ihnen wirkte bedrohlich und so gab er dem Verlangen nach sie zu berühren, kehrte zu dem Dämon zurück und streckte die Hand nach einer der großen, dunklen Schwingen aus.

Die Daunen fühlten sich wunderbar weich an, die Schwungfedern glitten wie Seide durch seine Finger.

„Weißt du, was du da berührst?“, fragte der Dämon mit rauer Stimme und ein Blick in die dunklen Augen ließ erahnen, wie viel Kraft ihn diese Selbstbeherrschung kostete.

Flügel waren kein Teil des Körpers. Sie erwuchsen aus der Seele eines Wesens und waren direkt mit ihr verbunden.

Sie zu berühren bedeutete, einen Teil der Seele des anderen zu berühren. Sie zu verletzen verursachte ihrem Träger unbeschreibliche Schmerzen und konnte sogar Narben auf seiner Seele zurücklassen.

Und einen Engel seiner Flügel zu berauben, konnte seine Seele in den Wahnsinn treiben, so qualvoll war ihr Verlust.

Doch die Seele war eine Ansammlung reiner Energie. Ertrug sie den Schmerz und überwand den Schock einer Verletzung, konnte sie neue Flügel hervorbringen. Schöner und reiner als zuvor, so hieß es.

Doch wie viel konnte eine gemarterte Seele ertragen?

Wie viel Licht konnte die Seele eines Dämons ertragen?

Doch der Schwarzgeflügelte wirkte weder abweisend noch schmerzerfüllt. Nur sein Gesichtsausdruck verriet, dass der Engel einen sehr empfindlichen Teil seines Körpers, seiner Seele, berührt haben musste.

Der Weißgeflügelte spürte die Wärme, die vom Körper des Dämons ausging und die so wunderbar war, dass er es kaum ertragen konnte von ihr getrennt zu sein.

Er sah wie der Dämon die Hand nach ihm ausstreckte und ließ es zu, dass er ihn ein weiteres Mal an sich zog.

Eine Weile verharrten sie so, schweigend, reglos, eng aneinander geschmiegt. Den Körper des anderen fühlend, seinen Geruch in sich aufnehmend.

Stumm lauschte er dem Herzschlag des Dämons, der sich mit dem fernen Rauschen des Windes in den Bäumen mischte.

Der Weißgeflügelte spürte sein eigenes Herz vor Aufregung flattern wie ein junger Vogel und doch fühlte er sich in der Umarmung des Dämons so sicher und geborgen wie nie zuvor. Konnte er weder in den Gesten noch den Worten des Schwarzgeflügelten Täuschung oder Verrat erkennen.

Als der Engel den Kopf hob und sich ihre Lippen erneut zu einem gefühlvollen Kuss trafen, verschwand rasch jede anfängliche Scheu.
 

Ihm war, als würde das Licht zu einem Teil von ihm, als der Engel sich an ihn schmiegte, die Arme um seinen Hals legte, eine Hand in seinem Haar vergrub und ihn auf eine Weise küsste, die nichts anderes war, als eine Offenbarung der tiefen, unerfüllten Sehnsucht seines Herzens.

Wie gern wollte der Dämon sie stillen! Und er ließ es den Weißgeflügelten wissen, antwortete ihm in derselben Sprache.

Und beinahe schien es, als würde der Engel sich – allen stillen Ängsten und Zweifeln zum Trotz – darauf einlassen.

Doch schließlich mussten sie sich trennen um Atem zu schöpfen und das gab dem Verstand des Weißgeflügelten die Gelegenheit zurückzukehren und sich gegen jedes Gefühl zu behaupten.

Der Dämon spürte, wie der Engel ihm entglitt, dass er verschwinden würde, doch er war nicht bereit ihn gehen zu lassen.

„Nicht hier“, flüsterte der Weißgeflügelte nach einem weiteren, leidenschaftlichen Kuss und begriff der Dämon, was er ihm schon zuvor zu sagen versucht hatte.

Es war nicht genug, aber weiter durfte ein Engel an einem Ort wie diesem nicht gehen.

Nicht in Gegenwart der Toten und niemals auf einem Altar.

Das war etwas, das er nicht tun konnte, selbst wenn es bedeutete aufzugeben, wonach er sich so sehr verzehrte.

Was für ein wunderbares, liebenswertes Geschöpf!
 

Der Dämon wollte ihn nicht gehen lassen, doch der Engel konnte spüren, dass er es dennoch tun würde.

Wieder spürte er die Lippen des Schwarzgeflügelten an seinem Hals, spürte die Hand, die seine Schulter entblößte, den Arm, der ihn noch immer umfing und hielt.

Er ließ den Dämon gewähren, als dieser erneut seine Schulter küsste und sein Zeichen auf ihm hinterließ.

Der Engel musste es nicht sehen, es nicht fühlen oder die nur im Geiste des Dämons gesprochene Zauberformel hören. Er wusste es und obwohl es verwerflich war, erschien es ihm wie ein Geschenk.

Er spürte die Kühle auf seiner Haut, als sich der Schwarzgeflügelte von ihm löste und als er die Augen öffnete, trafen sich ihre Blicke.

„Dank dieses Zeichens, werde ich immer wissen wo du bist. Selbst wenn du in den Himmel zurückkehren solltest.“
 

Ja, selbst dann würde dieses Zeichen auf dem Körper des Engels für ihn sichtbar sein. Wenn auch nicht mehr, als ein fernes Licht in dichtem, undurchdringlichem Nebel.

Erstaunen legte sich auf die Züge des Weißgeflügelten, dann verwandelte es sich in ein Lächeln.

„Aber flieg nicht zu hoch hinauf“, sagte der Engel sanft und strich mit den Fingerspitzen sacht über die Wange des Dämons, „sonst ergeht es dir wie Ikarus, der der Sonne zu nahe kam. Deine Flügel werden verbrennen und du wirst zur Erde stürzen.“

„Wie eifersüchtig dein Gott doch ist“, antwortete der Schwarzgeflügelte und erwiderte das Lächeln.

Eine Weile standen sie schweigend da, sahen einander in die Augen und genossen die Gegenwart des anderen.

Dann hob der Engel die Hand, strich eine Feder aus seinem Flügel, als könne er den Schmerz nicht fühlen und gab sie dem Dämon.

Mit einem Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht nahm er sie entgegen.

Dann entfernte sich der Engel von ihm, wich die Wärme seines Körpers von der Haut des Schwarzgeflügelten und ließ ein Gefühl der Sehnsucht in seinem Herzen zurück.

Einige Sekunden lang ruhte der Blick des Dämons auf ihm, sah er dem Weißgeflügelten nach, wie er langsam die Stufen, die ihn zum Eingang des Mausoleums führten, emporstieg.

Ein letztes Mal sah der Dämon die großen weißen Schwingen sich öffnen, dann verschwand der Engel lautlos in der Nacht.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Gouda-kun
2014-11-13T14:08:51+00:00 13.11.2014 15:08
Hallöchen "Engelchen" :-*

Hier hast du mir ja nur vor eine Fanfic vor die Nase geworfen? Süße Story, nette Charakter und an sich auch flüstig zu lesen.

Das einzige, was ich dir als Kritikpunkt geben könnte, das nach einem Gesprochenen Satz am Ende ein Punkt hin kommt. Das ist etwas angenehmer für den Leser. Aus meiner Sicht zumindtens.

"Wie eifersüchtig dein Gott doch ist.“, antwortete der Schwarzgeflügelte und erwiderte das Lächeln.

Anstonsten... Mach weiter so!

Lg Gouda



Zurück