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Doors of my Mind 2.0

Ihr Freund. Mein Geheimnis
von

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Blut ist dicker, als Wasser,… aber kein besserer Kleister

Kapitel 21 Blut ist dicker, als Wasser,… aber kein besserer Kleister
 

Auf Mayas Wange zeigt sich eine heraus gezwungene Träne und sie glänzt vor Scheinheiligkeit. Es ist eine Farce. Die Träne stoppt an ihrem Wangenknochen, während sich ihre Lippen für einen Moment verräterisch aufeinanderpressen. Mein Vater blickt zwischen mir und meiner Schwester hin und her und nimmt dann die Brille ab. Ein Seufzen. So laut und so schwer, dass es fast den Sauerstoff verdrängt. Erneut vollführt er diese verräterische Geste der Nervosität, doch diesmal kommt auch das leichte Zwicken an seiner Nasenwurzel dazu. Kein gutes Zeichen. Auch er verliert langsam die Geduld. Ich kann es verstehen. Ich sehe, wie meine Mutter das Besteck auf ihrem Teller hin und her schiebt. Sie platziert es fein säuberlich in der 20 nach 8-Stellung. Sie braucht eine Pause. Der stille Versuch Ordnung ins Chaos zu bringen.

Mein Onkel Tom hat mir vor Jahren die wichtigsten gastronomischen Etiketten beigebracht. Er leitete jahrelang ein gutgehendes Restaurant und machte aus mir einen geheimen Meister im Tischdecken, was allzu gern von meiner Mutter genutzt wird. Nun sehe ich auf ihre schlanken Finger, die leicht zittern. Der Blick meiner Mutter wandert zu ihrem Mann. Sie scheint genau zu erlesen, dass er mit dieser Situation vertrauter ist als sie. Sie überlässt ihm die ersten Worte.
 

„Ihr zwei seid unfassbar. Was bitte geht in euren Köpfen vor?", entfährt es meinem Vater, nachdem er seiner Frau einen entschuldigenden, aber wenig erklärenden Blick zugeworfen hat. Auch zwischen den beiden wird es zu weitreichenden Diskussionen kommen, dessen bin ich mir sicher. Und das ist das Letzte, was ich je wollte.

Mein Vater schließt seine Augen, streicht sich mit den Fingern über den Nasenrücken und es entflieht ihm ein schweres, ermattetes Raunen.

„Maya, dein Verhalten ist unter aller Sau und deine ständigen Provokationen, Mark, sind im höchsten Maß unangebracht..." Er hat seine Brille vor sich auf den Tisch gelegt und blickt uns mit wütenden Augen entgegen.

„Mark hat mir hinterrücks den Freund ausgespannt", platzt es aus ihr heraus. Ich schlucke schwer. Diese Worte klingen tatsächlich schrecklich, aber entfachen meine Wut.

„Weil du, nur mit Raphael zusammengekommen bist, weil du wusstest, dass ich ihn mag", belle ich zurück.

„Entschuldigt mich...", sagt meine Mutter leise. Sie rückt ihr Besteck auf dem Teller zu Recht. Fein säuberlich auf 20 nach 4. Sie ist fertig. Ein kurzes Zögern, doch dann verlässt sie den Raum. Wir anderen Drei bleiben mit gemischten Gefühlen zurück. Bei mir ist es vor allem der Schmerz und er nimmt stetig zu. Maya scheint noch immer nicht zu begreifen, was sie anrichtet.

„Warum seid ihr auf mich sauer? Mark belügt und täuscht euch schon seit Jahren", zickt Maya los und deutet mit ihrem manikürter Finger auf mich. Die quietschpinkfarbene Lackierung lässt massig Klischees in meinem Kopf aufploppen. Barbie gegen Goliath. Mister Fantastic gegen Lillifee. Hulk gegen Schlumpfine. Das wären die Comicbattle schlechthin.

„Und du kannst natürlich kein Wässerchen trüben", kommentiere ich diese Lächerlichkeit. Sie macht mich so wütend. Mayas Lippen kräuseln sich, als sie ihren Mund zu einem seltsamen Gebilde verzieht.

„Seiner eigenen Schwester den Freund klauen... Blut sollte dicker sein, als..."

„Als, was... Maya? Du spielst hier die Unschuldige und bist nichts weiter, als eine intrigante Furie. Du hast ihn dir absichtlich ausgesucht, um mir eins auszuwischen", unterbreche ich sie aufgebracht, merke erst jetzt, dass ich aufgestanden bin und meine Hände zu Fäusten balle. Dieses miese Stück. Sie zog seit Wochen ihre Spielchen durch, ergötzte sich an meinem Leid und keine Lüge war ihr zu dreckig. Wie kann sie es wagen, sich jetzt auf den Zusammenhalt einer Familie zu beziehen?

„Es reicht!" Mit einem heftigen Knall schlägt die flache Hand meines Vaters auf die Tischplatte. Die Erschütterung spüre ich deutlich an meinen Knöcheln, die sich gegen das harte Holz drücken. Leises Klirren der Gläser ist zu hören und auch das Besteck ergibt sich den Vibrationen. Ein Brotkrümel hüpft von meinem Tellerrand und kommt neben meiner geballten Hand zum Liegen. Ansonsten herrscht augenblicklich Stille. Ich spüre, wie mein Puls nach oben klettert. Unaufhörlich. Laut.

„Mark, setzen", bellt er. Ich gehorche. „Was denkt ihr euch eigentlich? Ihr seid zwei erwachsene Menschen. Habt ihr eigentlich in den letzten Monaten irgendwann mal über eure Aktionen nachgedacht?", schmettert er uns entgegen. Ich habe im Grunde nichts anderes getan, als darüber nachzudenken. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Ich schweige. Maya ist nicht so schlau.

„Aber Mark hat...", setzt sie an und unser Vater würgt sie sofort ab.

„Maya, spar dir das. Ich will nicht wissen, was Mark möglicherweise getan hat oder wer von euch beiden, sich zuerst auf den Schlips getreten gefühlt hat. Ich will, dass ihr beide einfach mal eure Köpfe einschaltet." Ich verkneife mir einen Fingerzeig auf die überempfindliche Zicke neben mir. Maya fühlt sich jedes Mal angegriffen und das sogar dann, wenn es gar nicht direkt um ihre Person geht. Für mich ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr gigantisches Ego, doch nicht so gefestigt ist, wie sie es allen vormachen will. Mayas Lippen formen sich zu einem unverstandenen Gebilde und sie verschränkt genervt die Arme vor der Brust. Sie versteht den Ernst der Lage nicht.

„Aber es ist und bleibt Betrug", schimpft Maya erneut.

„Ich weiß", entfährt es mir zu meinem eigenen Entsetzen bitterlich. Raphael ging mit mir fremd. Ich kann es drehen und wenden bis ich schwarz werde, aber de facto haben Raphael und ich sie hintergangen. Mehrmals. Auch mein Vater greift sich seufzend an die Stirn und Maya lässt sich bestätigt zurück in den Stuhl fallen. Ich sehe in die Richtung in die eben meine Mutter verschwunden ist. Das heftige Bedürfnis ihr nach zu gehen und zu erklären, vermehrt sich mit jeder weiteren Sekunde. Also stehe ich auf.

„Wo willst du hin, Mark. Wir sind noch nicht fertig". Mein Vater hält mich zurück, als ich mich Richtung Tür wende. Ich hatte heute meine Ansprache schon. Ich brauche keine Weitere.

„Ich möchte mit ihr reden", erkläre ich. Der wütende Gesichtsausdruck weicht. Er nickt und fixiert dann meine Schwester. Mit ihr ist er noch nicht fertig. Ich verspüre nicht einmal den Hauch von Genugtuung. Nur unendliche Schwere. Auf der Treppe werfe ich einen Blick auf mein Handy. Drei neue Nachrichten. Shari. Sie würde gern von mir hören. Raphael. Auch er möchte, dass ich mich bald möglich melde. Jake. Als ich den Namen des Schwarzhaarigen sehe, schiebe ich das Telefon augenblicklich zurück in meine Hosentasche. Ich habe mich nicht noch mal bei ihm gemeldet und habe es auch erstmal nicht vor.
 

Vor dem Schlafzimmer meiner Eltern bleibe ich stehen. Die Tür ist einen Spalt breit geöffnet und ich schöpfe ein wenig Hoffnung. Vielleicht wird sie mit mir reden und ich kann ihr alles erklären. Ich kann dennoch kaum atmen. Meine Fingerknöchel stoßen gegen den Türrahmen. Ein Klopfen. Es ist zu leise, um wirklich hörbar zu sein. Ich halte die Luft bewusst an. Keine Reaktion. Ich atme aus.

Meine Fingerspitzen tippen gegen das kühle Holz der Tür. Nur minimal öffnet sie sich weiter, doch es reicht um zu erkennen, dass meine Mutter mit dem Rücken zu mir auf dem Bett sitzt. Auf der Schlafseite meines Vaters. Es ist nur ein feines Zucken, was durch ihren Körper geht, als sie merkt, dass ich eintrete. Sie regt sich erst richtig, nachdem ich mich neben sie auf das Bett setze und auf das gerahmte Foto in ihrer Hand blicke. Eine Momentaufnahme von Maya und mir. Wir müssen 4 und 6 Jahre alt sein. Das kleine, blonde Mädchen hängt an meinem Hals. Ein Grinsen auf unseren Lippen. Ich weiß, dass es während eines Urlaubs entstand. Wir besuchten die Großeltern von Papa in Russland. Es war das erste und letzte Mal, dass wir dort gewesen sind. Ich kann mich kaum daran erinnern. Außer an zwei Dinge. Den säuerlichen Gewürzgurkengeruch, der überall an meinen Großeltern klebte. Vor allen an ihren rauen, schmalen Händen, die mir andauernd durch die Haare strichen und dabei den Geruch auf mir verteilten. Und ich erinnere mich an Mayas bereits damals langes, blondes Haar, das mir beim Schlafen andauernd im Gesicht herum gekrabbelte. Ich schwöre, dass ich das eine Mal das Gefühl hatte ein Haarknäuel auszuwürgen. Damals teilten wir uns ein Bett und irgendwann versuchte ich, mit einer komplett stumpfen Bastelschere ihre Haare zu kürzen. Es ging schief, sorgte aber verständlicherweise für wenig Begeisterung und viel Ärger.

„Ist es wahr?" Die Stimme meine Mutter ist nur ein Flüstern. Ihr Daumen streicht über unsere beiden Gesichter. Ich würde am liebsten erfragen, was genau sie meint, denn ihre Frage kann auf einiges abzielen.

„Ja", sage ich knapp. Leugnen wäre sinnlos, egal, was sie auch meint. Sie stellt das Foto wieder zurück ins Regal und legt ihre schlanken Hände in den Schoss. Sie schweigt und ich spüre die stillen Schläge, die sich durch meinen Körper peitschen, wie ein mahnender Schatten. Sie soll schreien. Sie soll schimpfen. Sie soll bitte etwas sagen.

„Ich habe nicht gewollt, dass du es so erfährst.", flüstere ich. Sie greift nach einer Strähne ihres offenen Haares. Sanftes Hellblond umschmeichelt die zarte Haut ihrer Hände. Meine Mutter hat schöne und sehr junge Hände, trotz ihres Alters.

„Du vertraust mir und deinem Vater nicht", stellt sie leise fest, entlässt die Strähne zurück in die sanfte Welle ihres Haarschopfes. Kein Vertrauen, das wiegt wohl am Schlimmsten. Auch mein Vater hat heute Morgen ähnliches angemerkt, als er in meiner Wohnung aufgetaucht ist. Die Erschütterung in seiner Stimme, als er begriff, dass ich es aus Verunsicherung über ihre Reaktion verschwiegen habe, war vernichtend.

„So ist es nicht...", beginne ich und merke selbst, wie inhaltlos es in ihren Ohren klingen muss. Sie schaut mich an und ich senke unwillkürlich meinen Blick, spreche aber weiter.

„Bitte, sei nicht sauer. Ich wusste einfach nicht, wie ich es euch sagen soll."

„Mark, nicht nur, dass du uns verheimlichst, dass du schwul bist, sondern du bandelst auch noch mit Raphael an?", erfragt sie vorwurfsvoll und bringt damit noch mal alles auf den Punkt. Sie klingt, als würde sie es noch immer nicht richtig verstehen. So, als ergeben diese Worte keinen wirklichen Sinn für sie. Und das, obwohl sie so klar und deutlich sind.

„Es ist nicht so, wie es klingt... Ich..." Ich breche ab. Auch, wenn meine Gründe für die Fixierung auf Raphael stichhaltig sind, sind sie dennoch keine ausreichende Erklärung für viele Geschehnisse. Ich war Raphaels und Mayas Beziehung gegenüber rücksichtslos. Ohne Frage. Ich bin ein schlechter Bruder, aber Maya eine ebenso schlimme Schwester.

Allerdings habe ich mich trotz der Tatsache, dass Raphael mit meiner Schwester liiert war, an ihn heran geschmissen und das ohne große Skrupel. Doch sehe ich nicht ein der alleinige Böse in ihren Augen zu sein.

„Du hattest es immer etwas leichter, als deine Schwester. Du konntest dich schon immer besser durchsetzen und verteidigen. Dich hält nichts auf, aber Maya...Sie..." Ihr Blick wandert zurück zu dem Foto.

Wir waren beide als Kinder sehr zierlich und relativ klein. Maya, wie auch ich. Im Grunde sind wir es auch heute noch, obwohl ich glücklicher Weise eine ordentliche Größe und einen halbwegs vernünftigen Körperbau erreicht habe. Neben Raphael wirke ich wahrscheinlich immer noch schrecklich zierlich. Mein Blick fällt auf das Foto. Im Herbst nach dieser Aufnahme kam ich in die Schule und seitdem hat sich unser geschwisterliches Verhältnis nur weiter verschlechtert. Es gab viele Diskussionen, ob ich wirklich schon eingeschult werden sollte. Seltsamer Weise erinnere ich mich noch genau an die Worte des Arztes, der mich damals untersuchte. Ich würde es durch meine Statur schwer haben, aber als ich ihm sagte, dass ich schon jemand finde, der mir den Ranzen trägt, hat er nur noch gelacht und meine Einschulung genehmigt. Wirklich keine Glanzleistung, aber bei Familienfeiern wird noch heute darüber gelacht.

Im Gegensatz zu mir hatte Maya viele schulische Probleme. Eine verspätete Einschulung. Sie blieb einmal sitzen und so macht sie erst dieses Jahr ihren 10. Klasseabschluss. Maya ist nicht die Hellste, aber sie hat auch nie etwas daran ändern wollen. Sie lebt mit der Rolle des kleinen, unschuldigen Mädchens wirklich gut und sie spielt sie perfekt. Dass auch meine Mutter nach all den Jahren Farce noch immer darauf anspringt, ärgert mich zutiefst. Erneut gleiten ihre Fingerkuppen über blonde Haarspitzen.

„Wieso ausgerechnet Raphael? Er ist der Freund deiner Schwester. Wo bleibt dein Anstand, Mark" Unwillkürlich seufze ich schwer bei der Betitelung. Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Sofort setze ich mir ein lebenslanges Verbot diese drei Worte in diese Kombination je wieder in den Mund zu nehmen. Ich richte mich auf und sorge zum ersten Mal dafür, dass sie aufblickt.
 

„Mein Anstand? Mich trifft nicht die alleinige Schuld. Raphael hat sich von ihr getrennt. Und durch deine und Maya Aktionen war er gezwungen weiterhin auf heile Welt zu machen", sage ich verteidigend, „Ich werde mich nicht mehr dafür entschuldigen, dass ich Gefühle und Bedürfnisse habe. Ich war nicht derjenige, der Raphael ins Spiel brachte. Genauso wenig habe ich gewollt, dass das alles so geschieht. Ich möchte nicht mehr von dir hören, dass ich der Ältere bin und dass ich auf Maya Rücksicht nehmen muss. Das muss ich nicht und ich will es nicht. Maya hat mir wehgetan. Nicht aus Versehen, sondern ganz bewusst", gebe ich wütend von mir.

„Mark,..."

„Nein, Mama, lass mich ausreden. Maya ist nicht mehr das kleine, hilfsbedürftige Mädchen von früher, aber du und auch Papa seid anscheinend zu blind um, das zu sehen...", setze mich auf und gehe zur Tür. Davor bleibe ich stehen. Unbewusst greife ich an meinen Hals, spüre das schmale Silberkettchen und denke an Raphael. So lange habe ich mich danach gesehnt, ihm nahe zu sein. Seine Haut unter meinen Fingern spüren und den Geschmack seiner Lippen zu kosten, zu genießen. Auch jetzt, wo sich all diese Vorstellungen bereits erfüllt haben, spüre ich dieses wundervolle Kribbeln in meinen Gliedern, welches sich von meinem Inneren in die kleinsten Winkel meines Körpers ausbreitet. Aufgeregtes Kitzeln und unglaubliches Verlangen. Die Neugier und die Vorfreude. Sie erfassen mich nur, weil ich mir für einen kurzen Augenblick in Gedanken rufe, dass er an meiner Seite ist und dass es kein Wunsch ist, sondern Realität.
 

Ich ziehe die Kette von meinem Hals, blicke auf das eingravierte Datum und lächele, als mir die Erinnerung den lauen Windhauch durch die Haare kitzeln lässt. Der Geruch von Laub. Der satte Rotton der 5-fingrigen Ahornblätter. Raphaels wunderschönes Grün, was sich an diesem Tag in meinen Kopf brannte und welches ich seither nicht mehr vergesse. Mein Blick haftet an dem kleinen Silberanhänger, ich wende mich zu meiner Mutter um und sehe auf. Sie kämpft mit ihren Gefühlen, denn sie schaut noch immer in die andere Richtung. Sie bettet den Arm gegen ihren Bauch, den anderen sachte darauf abstützt, spielt sie mit dem Anhänger ihrer Kette. Ihr nervöser Tick. Wir haben alle einen. Ich gehe zu ihr zurück und halte meiner Mutter die Kette. Nach kurzem Zögern streckt sie ihre Hand danach aus. Das feine Silber gleitet in ihre Handfläche und sie sieht mich verwundert an.

„Was ist das?" Ein Flüstern. Die Kühle ist aus ihrer Stimme verschwunden und hat einer ermatteten Ruhe Platz gemacht.

„Sie war in dem Umschlag, den du mir am Morgen von Raphaels Abreise gegeben hast." Ich weiß, dass sie sich daran erinnert. Sie wird daran denken, wie sie mir beruhigend über den Arm streichelte und ich bin mir sicher, dass sie damals ahnte, dass ich ihr etwas Wichtiges verschwieg. Ihr Blick wandert über mein Gesicht und dann zurück auf die Kette. Sie breitet sie aus, sodass sie an ihrer Hand hinabfällt und der Anhänger mit dem eingravierten Datum zu ihr gewandt liegen bleibt.

„An dem Tag sind Raphael und ich uns das erste Mal begegnet", ergänze ich, ohne dass sie es erfragen muss. Lange sieht sie auf den kleinen Anhänger. Sie versteht seine Bedeutung und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass Fehler geschehen sind. Das es, so wie es mein Vater meinte, besser hätte laufen können. Aber einer Sache bin ich mir nun noch sicherer. Raphael und ich gehören zusammen und der Gedanke stärkt mich.

„Papa hat vorhin gesagt, dass es hätte besser laufen können und er hat Recht. Ich hätte viel früher ehrlich sein sollen, aber es hätte im Grunde nichts an der Situation geändert. Du hast mich eben gefragt, wieso ausgerechnet Raphael. Die Gefühle für ihn schleppe ich schon so lange mit mir umher, dass ich manchmal das Gefühl hatte, daran zu zerbrechen. Als Maya ihn dann mit nach Hause brachte, da sah ich mich meinem schlimmsten Albtraum gegenüberstehen." Ich schlucke den Klos in meinem Hals runter, bevor ich weitersprechen kann. „Ich habe versucht, mich für sie zu freuen. Ich habe versucht, es zu vergessen und irgendwann wollte ich es nur noch verdrängen...glaubt mir, ich habe so vieles versucht." Ich denke an Jake und an den Schmerz, den ich ihm verursacht habe, weil ich es nicht schaffte, loszulassen. Ich denke an die Schuld, die ich empfinde, weil ich recht daran getan habe, diesen winzigen Funken Hoffnung für mich zu behalten. Meine Gefühle werden erwidert.

„Und dann gab er mir die! Ich hoffe, du weißt, dass es weder mein, noch Raphaels Anliegen war, euch vor den Kopf zu stoßen. Wir haben mit unseren eigenen Gefühlen zu kämpfen und wir..." Ich breche ab, suche nach den richtigen Worten. „Wir wollen einfach nur glücklich sein. Zusammen." Ich warte keine Erwiderung ab und verlasse das Schlafzimmer meiner Eltern.
 

Ich ziehe mich für einen Moment ins Badezimmer zurück, stütze meine Arme auf den Waschbecken ab und starre auf das klinische Weiß. Dreimal atme ich tief durch und stelle dann das Wasser an. Erst kalt, dann lauwarm, heiß und am Ende noch einmal eiskalt. Mit jeder dieser Temperaturen spritze ich mir Wasser ins Gesicht. Es wird nur minimal besser.

Als ich die Treppe runtergehe, kommt mir das Böseste aller Übel entgegen. Mayas blonde Mähne scheint mich schier zu blenden und entfacht das schwelende Feuer in meinem Inneren erneut. Ich stoppe sie auf dem Treppenmittelstück. Für einen Moment weiten sich erschrocken ihre blauen Augen.

„Bist du jetzt glücklich? Hat es dir die Freude bereitet, die du dir erhofft hast?" Das Gesicht meiner Schwester bleibt regungslos. Ich interpretiere die Reaktion als Gleichgültigkeit. Zu dem macht sie Anstalten, einfach an mir vorbeizugehen, doch ich halte sie am Arm zurück. Mein Griff ist fest und sicherlich auch schmerzhaft.

„Was hast du dir hiervon versprochen, Maya?", bohre ich weiter, nachdem sie auf meine vorangegangenen Fragen nicht antwortet. Ich will eine klare Antwort. „Mach den Mund auf, verdammt! Eben konntest du nicht genug dumme Dinge von dir geben!", provoziere ich weiter.

„Du tust mir weh!", kommt es lapidar von ihr und das erzürnt mich nur noch mehr. Mein Griff wird noch etwas fester. Sie zieht scharf die Luft ein. Ihr Gesicht zeigt deutliche Schmerzen und ich lasse sie los.

„Ich will wissen, warum du mir das antust, verdammt!", sage ich ungehalten.

„Weil du es nicht anders verdient hast!", entfährt es ihr und ich zucke zurück. „Egal, was du machst. Es ist immer richtig und gut. Grade zu perfekt und das kotzt mich schon immer so an", murmelt sie vor sich hin, sieht einen Moment auf ihre schlanken Finger, die sich streichelnd gegen die malträtierte Stelle an ihrem Arm legen.

„Wie bitte?", frage ich ungläubig und kann nicht verhindern, dass ich klinge, als wäre das, was sie sagt, einfach nur lächerlich. Wie soll ich es auch ernstnehmen?

„Du hast einfach nie Probleme. Alles scheint dir zu gelingen, obwohl du nie einen Finger dafür krumm machst." Ein Leben ohne Probleme wäre mal eine willkommene Abwechslung für mich, denn davon bin ich seit Jahren meilenweit entfernt. Anscheinend lebt meine Schwester in einem Paralleluniversum. Es würde einiges erklären, wie ihren abnormen Schminkwahn.

„Erzähl doch keinen Unsinn. Anscheinend hat dir der jahrlange Make-up-Missbrauch wirklich das Gehirn verklebt." Ich lasse meine Hand fassungslos über mein Gesicht gleiten.

„Siehst du! Immer hast du nichts anderes, als Beleidigungen für mich übrig."

„Natürlich, schließlich willst du mir gerade weiß machen, dass dein sorgenloses, behütetes, kleines Mädchenleben voller Stolpersteine ist. Maya, dir werden doch immer alle Probleme abgenommen." Unwillkürlich greift der Gedanke von vorhin. Sie müsste noch nie für irgendetwas die Verantwortung übernehmen. Sie weiß nicht, wie es ist.

„Das ist nicht wahr! Ich habe doch nie eine Chance bekommen. Seit Jahren höre ich immer nur dasselbe. Nimm dir ein Beispiel an Mark. Mark hat es geschafft. Mark hat es richtig gemacht. Schon als Kinder hieß es immer Mark, Mark, Mark. Ich kann es nicht mehr hören", schmettert sie mir entgegen.

„Um Himmelswillen Maya, du brauchst eine Therapie, wenn du nur wegen diesem Schwachsinn soweit gehst", donnere ich ihr fassungslos entgegen. Sie fühlt sich unverstanden. Verletzter Stolz und nichts als billige Eifersucht sind die Gründe für all diesen Ärger? Ich kann es nicht fassen.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein? Was geht nur in deinem Kopf vor?", lege ich noch immer etwas ungläubig nach und nutze dabei unwissentlich dieselben Formulierungen, wie mein Vater.

„Aber so ist es doch! Alle. Sie alle wollen immer dich und du musst nicht mal etwas dafür tun! Die Schule. Unsere Verwandten. Mama und Papa! Raphael", schleudert sie mir mit fester Stimme entgegen! Das kann doch nicht wahr sein. So hat sie es all die Jahre gesehen?

„Das mit Raphael war perfekt. Er war so perfekt und mit ihm an meiner Seite hatte ich endlich einmal etwas, was du nicht hattest, was, indem du nicht besser warst." Nun bricht ihre Stimme doch. „Und dann hast du angefangen ihn mir wegzunehmen." Diese Worte sind voller Zorn und zeigen das Ausmaß ihrer negativen Gefühle für mich.

„Ich habe gesehen, wie Papa den Brief von Raphael an dich geöffnet hat. So einen Gesichtsausdruck habe ich noch nie bei ihm gesehen und da wusste ich es. Als er ihn geschockt mit den anderen Briefen liegen ließ, habe ich ihn gelesen." Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie hat die Briefe. Sie hat sie ebenfalls gelesen.

„Raphael war immer gut zu mir, aber ich habe die ganze Zeit über gemerkt, dass irgendwas nicht so war, wie es sein sollte. In den Briefen hat er dir all das geschrieben, was ich immer von ihm hören wollte. Er hat mich nicht so gewollt und du bist schuld daran", schreit sie mich nun direkt an. Ihre flache Hand schlägt gegen meine Brust. Als sie es ein zweites Mal versucht, halte ich sie zurück. Das Wissen darum, dass sie anscheinend wirklich in Raphael verliebt gewesen ist, verursacht mir ein reißendes Gefühl in der Brust.

„Du hast die Briefe...gib sie mir. Bitte."

„Wieso kriegst du immer alles?", brüllt sie mich an, ohne auf meine Bitte einzugehen.

„Maya, die Briefe…"

„Ich habe die dämlichen Briefe nicht mehr. Ich habe sie zerrissen! Wieso wirst du immer mehr geliebt, als ich?"

„Maya, das ist doch Blödsinn."

„Nein, das ist es nicht! Als ich herausfand, dass du diese seltsame Neigung hast, da dachte ich zum ersten Mal, dass es endlich etwas gibt, was dein perfektes Bild bröckeln lässt. Mama und Papa würden endlich verstehen, wie verkorkst du bist und sie würden endlich begreifen, was du für eine Enttäuschung du hinter deiner gut funktionierenden Fassade bist", setzt sie zickig fort. In meinem Kopf wiederholen sich ihre letzten Worte. Meine Fassade. Meine Feigheit. Es ist alles so unglaublich absurd. Aber so oder so, sie hat einen Fehler in ihrer Rechnung. Denn erst durch ihr blindes, egoistisches Handeln hat sie mich und Raphael letztendlich zusammengebracht.

„Ich wollte, dass du mich und Raphael siehst und leidest. Ich hatte endlich mal die Oberhand! Und Raphael... Ich hätte lieber gleich mit ihm schlafen sollen, dann wäre er dir vielleicht niemals nähergekommen! Ich wollte so gern, dass er dich nicht mehr ausstehen kann, aber... Es konnte doch keiner ahnen, dass Raphael tatsächlich Gefühle für dich hat. Es ist so lächerlich", schmettert sie mir all ihrem verdrehten Hass entgegen. Bei den letzten Sätzen ist ihre Stimme eiskalt.

„Schluss jetzt!" Mayas Augen weiten sich, als mit einem Mal die Stimme unserer Mutter unseren Streit unterbricht. Ich schaffe es nicht, zu ihr aufzusehen. Ich bin viel zu geschockt von Mayas Worten. Sie hasst mich. Es schmerzt. Auch, wenn ich nie einen Hehl daraus gemacht habe, dass Maya und ich nicht die besten Freunde sind, habe ich niemals gewollt, dass ihr etwas passiert oder dass sie von jemand verletzt wird. Auch von mir nicht.

„Mama,..." setzt Maya an, doch sie wird unterbrochen. Als ich endlich zu meiner Mutter schaue, sehe ich, dass sie Maya mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen gebracht hat. Ihre Schritte sind ruhig und bedacht, als die Stufen zu uns hinab kommt und vor uns stehen bleibt. Sie hat es alles gehört. Ein ersticktes Schluchzen und Maya beginnt zu weinen. Wie typisch. Auch meiner Mutter rinnen Tränen über die Wangen. Sie sind nur ein feines Glänzen auf ihrem ebenmäßigen Gesicht, gefüllt von Schmerz und Niedergeschlagenheit, die sich in der Feuchtigkeit spiegeln. Das Schluchzen neben mir wird immer stärker. Maya weint bitterlich. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie sie sich die Treppe hinaufschiebt. Weglaufen konnte sie schon immer gut. Niemand hält sie zurück. Laute, dumpfe Schritte und dann fällt ihre Tür ins Schloss. Meine Mutter kommt auf mich zu. Ihre schlanke Hand streckt sich nach mir aus. Fingerspitzen streichen durch mein braunes Haar. Sie zieht mich näher und haucht mir einen Kuss auf die Stirn. Die liebevolle Geste ist so durchtränkt von Enttäuschung, dass sie mich erzittern lässt.

„Dein Vater und ich reden mit ihr", flüstert sie mir beschwichtigend zu, während sie meinen Kopf sanft in ihre Halsbeuge bettet. Ich rieche die Reste ihres blumigen Parfüms und schließe meine Augen, verdränge im selben Moment die aufblitzenden Erinnerungen an Kindheit und Zufriedenheit.

„Ich denke, es ist besser, wenn du erstmal gehst, Mark. Wir brauchen alle etwas Abstand", sagt sie ruhig. Erneut ein Kuss, den sie sanft auf mein Haar setzt. Ich nicke, auch wenn ich sofort das Bedürfnis verspüre, mich weiter vor ihr zu erklären. Doch ich finde so schnell nicht die richtigen Worte. Ich nicke nur und greife nach meiner Jacke, die immer noch auf dem Treppengeländer liegt.

Ich höre, wie auf der Straße eine Autotür zuschlägt und dann sehe ich zu meinem Vater, der etwas entfernt im Türrahmen zur Küche lehnt. In seinen Händen hält er das Telefon. Auch sein Blick ist getrübt.

„Ich habe Mist gebaut. Das weiß ich. Aber ich will mich nicht mehr rechtfertigen müssen", sage ich leise. Ich weiß nicht, an wen genau ich meine Aussagen richte. Nur der Gedanke daran, dass ich endlich eine Chance bekomme, mit Raphael zusammen zu sein, stärkt mich. Ich will das Glück genießen und mein Leben so leben, wie es mir vorstelle. Die Bindung zu meinen Eltern ist tief und ich glaube fest daran, dass wir auch das schaffen. Auch, wenn es möglicherweise etwas dauert. Ich wende mich zur Tür. Es ist mein Vater, der mich noch einmal zurückhält.

„Es tut mir leid, Mark... Wir klären das mit ihr. Gib uns allen etwas Zeit." Auch er zieht meinen Kopf in seine Halsbeuge, streicht mir bei jeder seiner Versicherungen durch die schlecht frisierten Haare und lächelt mit entgegen. Ich habe ja keine andere Wahl.
 

Die kühle Luft umfängt mich, als ich aus der Tür trete. Ich schließe sofort meine Augen, spüre, wie sich ein seltsames Gefühl in meiner Brust ausbreitet. Ich weiß einen Moment lang nicht, ob es mich zerreißt oder zerdrückt. Der kuriose Mix aus Zuversicht, Linderung und Trauer breitet sich unaufhörlich in mir aus, wie ein Flächenbrand. Ein ziehendes Kribbeln in meinem Kiefer kündigt eine Heulattacke an. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich bin zu müde und geschafft. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und sehe auf die Uhr. Es fahren nur noch wenige Busse und den Aktuellen habe ich um 2 Minuten verpasst.

„Mark,..." Nun blicke ich auf. Raphael kommt langsam auf mich zu. Mein Vater muss ihn angerufen haben und das Reißen in meiner Brust lässt mich für einen kurzen Moment aufatmen. Ich setze mich in Bewegung. Mit jedem Schritt, den ich auf den anderen Mann zu mache, bilden sich mehr Tränen in meinen Augen. Doch erst als er mir seine Hand hinhält und mich mit einer Bewegung in seine Arme zieht, brechen die Dämme endgültig. Raphael fragt nicht, sondern lässt mich einfach nur weinen. Seine Hand streicht mir beruhigend über den Rücken und mit der andere schiebt er wieder und wieder eine unbändige Haarsträhne hinter mein Ohr. Meine Haare haben ihren eigenen Willen. Er beginnt mir zärtliche Worte zu zuflüstern, die ich zunächst nicht einmal verstehe, aber seine angenehme Stimme reicht vollkommen aus, um mich langsam zu beruhigen. Sein sanftes Brummen, welche sich durch meine Gehörgänge arbeitet und irgendwann auf meinem gesamten Hals Gänsehaut hinterlässt. Baritoner Wohlklang in Reinform. Erst als mir langsam kalt wird, höre ich wieder aufmerksamer hin.

„...Anthropogenese, die...", murmelt Raphael leise. Ich spüre, wie sein warmer Atem dabei durch meine Haare streicht und meine Kopfhaut kitzelt.

„Was?", frage ich etwas verwundert, während Raphael seinen Kopf hebt und das Streicheln seiner Hand stoppt.

„Wieder aufnahmefähig?", fragt er, ohne mir den Begriff zu erläutern. Nur mit einem sanften Lächeln auf seinen Lippen schaut er mich an. Anscheinend muss er schon die Hälfte der Zeit studiumsbezogene Begriffe vor sich hingemurmelt haben und ich habe es nicht mitbekommen, weil mich allein schon seine schöne Stimme beruhigt hat. Ich schniefe leicht, ziehe einen Flunsch und zucke kurz mit den Schultern.

„Na komm, lass uns fahren. Du bist schon ganz kalt." Er nimmt meine Hand in seine und haucht einen Kuss auf meine klammen Finger.

„Zu mir oder zu dir?", frage ich leise, benutze bewusst dieses provozierende Klischee um zu zeigen, dass es mir besser geht. Auch, wenn es nicht so ist.

„Dann zu mir. Ich habe wenigstens etwas zu Essen im Kühlschrank." Wir müssen auf jeden Fall unsere Definitionen von Essen klären. Ich denke an das viele gesunde Grünzeuge und verforme mein Gesicht unbewusst zu einer Grimasse. Raphaels Augenbraue zieht sich nach oben, denn er weiß genau, woran ich denke.

„Ich habe auch ein Stück Schokolade für dich", beschwichtigt er mich. Mir ist nicht nach etwas Süßem und dennoch nicke ich es dankend ab.

„Lass uns vorher kurz bei mir vorbeifahren. Ich brauche Kleidung zum Wechseln." Ich sehe noch einmal zum Haus meiner Eltern und spüre sofort diese unangenehme Schwere in meiner Brust. Es wird seine Zeit brauchen bis wieder Normalität im Hause Dima einkehren wird. So sehr man sich ein redet, dass man auf alles gefasst ist, so sehr irrt man auch.

Als ich mich setze, streicht mir Raphael kurz über die Wange. Eine aufmunternde Geste, die ihren Auftrag nicht verfehlt, aber einfach nicht vollständig erfüllt, weil sie es in diesem Moment nicht kann.

„Was ist Anthropogenese?", frage ich leise, greife den Begriff wieder auf, den Raphael mir zu geflüstert hat. Ich will eigentlich nur, dass er redet. Seine Stimme beruhigt mich sehr. Auch seine Nähe. Sein Blick ist verwundert.

„Bitte, erzähl es mir." Ein Funken des Verstehens und dann beginnt er zu erklären.

„Sie ist ein Ausschnitt der Phylogenese, die die Entstehung und Veränderung der Arten in Form der biologischen Evolution beschreibt. Beides sind Begriff aus dem Bereich der Sportmotorik." Während der Fahrt erläutert er mir sachlich und leise alle Grundbegriffe der Sportmotorik. Ontogenese und deren endogene und exogene Einflussfaktoren. Ich schließe meine Augen, schlafe, aber nicht ein. An fast jeder Ampel spüre ich Raphaels Hand, die sich auf meinen Oberschenkel legt. Wohlige Wärme. Angenehmes Kribbeln. Beruhigende Nähe. Ich bin jedes Mal enttäuscht, wenn sie wieder verschwindet. Dass wir bei meiner Wohnung ankommen, merke ich nicht. Erst als Raphael meine Tür öffnet, blicke ich ihm verschlafen entgegen. Ich bin wohl doch eingeknickt.

„Wir können auch hierbleiben, wenn du zu müde bist." Ich verneine das Angebot und steige aus.

Mein Blick wandert zu dem parkenden grauen Auto vor uns. Unbewusst fahre ich das Kennzeichen ab. Es ist ein Außerstädtisches. Ich kenne es, aber mein Kopf ist zu schwer um ernsthaft darüber nachzudenken, zu wem es gehört. Ich starre trotzdem einen Moment auf das Fahrzeug, so lange bis ich Raphaels warme Hand an meinem kühlen Gesicht spüre. Ein letzter Blick und dann schiebt mich Raphael fast die Treppe hinauf. Wahrscheinlich würde er mich auch über die Schulter werfen und hochtragen. Es würde kaum einen Unterschied machen, denn ich fühle mich gerade, wie ein träger Sack ranziger Kartoffeln. Ich denke an das Kennzeichen des Autos. JH. Mein Handy beginnt in dem Moment zu klingeln, als uns Jake auf der Treppe entgegenkommt. Als er uns sieht, lässt er das Telefon sinken.
 

„Buonasera,...", begrüßt er uns auf Italienisch und ich habe das Gefühl, als hätte man mir den Sack Kartoffeln gerade über den Kopf geschüttelt.



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Von:  Morphia
2015-08-02T07:11:35+00:00 02.08.2015 09:11
Ich glaub Mark hat noch gerettet, was zu retten ging, als er die Kette von Raphael seiner Mutter gezeigt hat.
Es ist wirklich unfassbar, was eifersüchtige Geschwister alles anstellen und das aus so dummen Gründen.
Ich bin gespannt, wie es jetzt mit Jake weiter geht.
Von:  Inan
2015-08-01T22:24:12+00:00 02.08.2015 00:24
Der Abend hat Marc jetzt den Rest gegeben.
Dafür wissen nun endgültig alle, dass sein Interesse an Raphael zuerst da war.
Ein bisschen kann ich Maja schon verstehen, allerdings wiegt das den Schaden, den sie angerichtet hat, nur mäßig auf. Kommunikation und so xD
Zumindest ist der Konflikt mit Jake schon irgendwie geklärt, sonst hätte Marc jeden Grund, postwendend zu türmen, schließlich ist das bestimmt der schlimmste Tag des Jahres für ihn.
Schönes Chapter :3



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