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Doors of my Mind 2.0

Ihr Freund. Mein Geheimnis
von

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…öffnet sich eine andere Tür

Doors of my Mind 2.0 - Ihr Freund. Mein Geheimnis
 

Kapitel 1 …öffnet sich eine andere Tür
 

Ich höre das sanfte Kratzen von Graphit auf Papier. Es ist gleichmäßig und monoton. Beruhigend und zugleich nervenzerreißend. Ich vernehme das zarte Knistern der bröckelnden Graphitsplitter, die über die raue Oberfläche streichen. Ich mal mir die schnellen und eindeutigen Bewegungen aus, die die Spitze über das weiße Papier vollführt. Es klingt, wie das Füllen mit einer Schraffur. Formen, Figuren und Muster. Ungestüm sind die Bewegungen und ich ersinne, was sie definieren. Vielleicht ist es der feine Schwung einer Rundung, so unendlich weit und grenzenlos. Eleganz in vollendeter Form. Oder vielleicht die grade Vollkommenheit eines Winkels mit der perfekten Harmonie eines punktuellen Moments. Ich sehe, wie die Linien ineinander verschmelzen und fantastische Formen bilden. Sie erschaffen Fläche und Konturen. Sie sind Abstrakt und zu gleich offenbaren sie Reinheit und Funktionalität. Ein leiser Seufzer perlt von meinen Lippen und ich höre das Rollen eines Stiftes, der am Ende splitternd zu Boden fällt. Das Geräusch des Aufschlags hallt lautstark durch meine Gehörgänge und in Zeitlupe sehe ich ihn fallen. Das Auftippen der Spitze. Graphit splittert. Die schlanke Gestalt des sechskantigen Holzes erzittert in der Luft. Der Stift neigt sich zur anderen Seite und prallt leise auf dem stumpfen Ende des Radiergummis ab. Wieder und wieder das wechselhafte Spiel, bis er still liegen bleibt.

Plötzlich rollt er auf mich zu.
 

Ich schrecke auf und sehe mit rasendem Herzen auf. Ein kurzes, ersticktes Geräusch perlt von meinen Lippen und mein Vordermann dreht sich zu mir um. Seine Augenfarbe kann ich in der Dunkelheit des Hörsaals nicht definieren, aber das genervte Funkeln sehe ich deutlich. Ich presse meinen Mund zusammen und schaue ihn entschuldigend an. Vielleicht habe ich geschnarcht? Ich sehe mich kurz um, aber keiner der anderen Studenten ist auf mich aufmerksam geworden. Mit der Hand fahre ich mir durch die zerzausten Haare und ich schaue auf meine mehr als dürftigen Mitschriften. Die Müdigkeit zerrt an meinen Nerven, denn ich habe gestern Abend zu lange in meinem Lehrbuch geblättert. Behalten habe ich auch nichts. Also in zweierlei Hinsicht ein klarer Fehlschlag. Als ich wieder aufschaue, sehen mich diesmal wirklich einige der anderen Studenten an und als ich zur Leinwand gucke, blicke ich direkt in das strenge Gesicht meines Professors. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie still es mit einem Mal geworden ist.

„Herr Dima, wären sie so freundlich uns zu erläutern, was der Aspekt der formalen Schlüssigkeit ist.“ Ich fühle mich erwischt und überrumpelt. Außerdem ist es mir ein Rätsel, warum sich wirklich jeder sofort meinen Namen merkt. Ein Fluch und ein Segen. Im Moment lähmender Fluch.

„Ähm, ja. Also, im Prinzip sagt das nur aus, dass man an dem Produkt selbsterklärend erkennen muss, wofür man es verwendet“, stottere ich zusammen und sehen mit Erleichterung, wie der Professor zustimmend nickt. Ich atme aus. Doch was behalten. Ich sacke sachte in mich zusammen und schließe beruhigt die Augen.

„Ich hoffe, dass ich nun ihre Aufmerksamkeit zurückerlangt habe.“ Warnend. Schlagartig sind meine Augen wieder offen.

„Sir, Sie hatte sie ja nie verloren!“, kontere ich und ignoriere die Blicke der anderen Studenten. Er schmunzelt, wirft eine allgemeingültige Definition an die Leinwand und setzt seine Erläuterung fort. Ich suche nach meinem Stift. Erst nach einer Weile kapiere ich, dass er runtergefallen ist und versuche mich an dem ausgeklappten Tisch vorbeizuschieben. Ich gebe auf, als ich mir zum dritten Mal die Rippen stoße. In meiner Tasche finde ich einen Kugelschreiber und beginne, mit der Spitze auf meinem Papier herum zu tippen. Ich beende meine Grundlagenvorlesung zum Thema Gestaltungsprozesse mit einem beschämenden Gefühl in der Brust und bin heilfroh, dass mich im Flur niemand auf meinen Fauxpas anspricht.
 

Die ersten Wochen meines Studiums für Produkt- und Industriedesign sind mittlerweile vergangen und ich schlafe bereits jetzt während der Vorlesungen ein. Traumhaft, hallt es sarkastisch durch meinen Kopf. Aber nur ein Symptom einer ganzen Reihe von Unwegsamkeiten, die mich hierhergebracht haben.

Ich habe eine Weile gebraucht um mich für diesen Weg zu entscheiden, denn obwohl ich lange felsenfest davon überzeugt war nichts anderes studieren zu wollen, gab es nun etwas, was mich abhielt. Raphael. Mein schlimmstes und schönstes Problem studiert ebenfalls hier. Der Mann, den ich seit Jahren begehre und der Freund meiner kleinen Schwester. Vor 5 Monaten erhielt Raphael durch ein Stipendium die Möglichkeit an einem College in Kalifornien zu studieren. Er entschied zugehen und ließ mich mit allerhand Fragen und seltsamen Gefühlen zurück.

Trotz seiner Freundin waren wir uns nähergekommen, tauschten Berührungen und Küsse aus. Es waren die zurückhaltenden und unsicheren Berührungen eines durcheinandergebrachten Mannes. Doch sie weckten Hoffnungen in mir, die ich als Gespinst und Leichtsinn abgetan habe. Ich bin die Fantasie, die er nur hinter verschlossener Tür gefrönt. Heimlich und ungreifbar. So wie auch Raphael für mich immer weit entfernt schien. Wahrscheinlich sind seine Gefühle für mich der Ausdruck einer sonderbaren Ausnahme, die sich im Grunde für ihn nicht erklären lässt. Es sind Gefühle und Empfindungen, die einer Erklärung bedurften, die er mir damals nicht geben konnte und nicht geben wollte. Als Konsequenz dieser Verirrungen erfolgte seine Flucht.

Die Entfernung war ein kurzer Moment des Aufatmens. Doch nach nur wenigen Tagen schlugen meine Gefühle zurück, wie ein achtlos geworfener Boomerang.
 

Meine Finger streichen über die schmale Kette um meinen Hals und ich berühre den Anhänger, der unter meinem Shirt verborgen liegt. Raphaels letztes und verwirrendes Geschenk an mich. Ich sah sie zum ersten Mal um seinem eigenen Hals. Feingliedrig und filigran. Ein schmaler, silberner Anhänger, in dem ein Datum eingraviert war, welches ich zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht zu ordnen konnte. Ein Tag und ein Monat. Ein wunderschöner, warmer Tag im Herbst.

Bevor er ging, ließ er noch eine Jahreszahl hinzufügen und sorgte dafür, dass ich sie erhielt. Das vollständige Datum machte mir deutlich, dass er den Tag unseres ersten Zusammentreffens um seinen Hals trug und entfachte meine mühsam niedergerungen Gefühle erneut. Diese Geste öffnete eine Tür, die ich für geschlossen hielt. Nur einen Spalt. Ich habe Raphael vergessen wollen. Die Gefühle für ihn verdrängen wollen, doch ich schaffe es nicht. Immer wieder schleicht er sich in meine Gedanken und in meine Träume. Ich rede mir ein, dass die Entscheidungen, auf dieselbe Uni zugehen wie er, der Weg des geringsten Widerstandes ist und nichts mit seinem Hoffnung schürenden Geschenk zu tun hat. Schließlich kenne ich die Uni. Meine Familie und meine Freunde leben hier in der Nähe und gerade diese brauche ich in der letzten Zeit besonders. Außerdem habe ich jahrelang nichts anderes gewollt als Produktdesign zu studieren. Meine erste Erfahrung war die Neuinterpretation von Eierbecher. Mein Lehrer fand es sehr belustigend.

Welche Rolle Raphael in der Scheinheiligkeit meiner Begründung spielt, ist mir selbst nicht ganz klar. Er ist fort, aber egal wo ich bin, er ist gefühlt immer da. Auch wenn ich versuche ihn zu vergessen, gelingt es mir nicht, weil meine Schwester ständig und zu jeder Zeit über ihn spricht. Zu Beginn hörte ich ihre Telefonate, sah ihre Briefe und sie rissen mir mit jedem Wort die Wunden weiter auf.

Oft bin ich einfach aufgestanden und verließ den Raum, trotz Mayas fragenden und manchmal verdächtigen Blick. Vielleicht auch deswegen. Seither gehe ich ihr mehr oder weniger aus dem Weg. Zum einen, um das Gespräch über Raphael zu vermeiden und zum anderen um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass ihr ein dummer Kommentar über meine Homosexualität herausrutscht. Sie ist die Einzige aus meiner Familie, die darüber Bescheid weiß und diejenige, die es hätte am besten nie erfahren sollen.

Aus einem inneren Bedürfnis heraus, bin ich, trotz des Widerstandes meiner Eltern, ausgezogen und in einer kuscheligen 1-Raum-Wohnung untergekommen. Meine Art des Abstands. Meine Art der Flucht. Es reicht mir. Vorerst.
 

Nach der Vorlesung bleibe ich unschlüssig und ziellos vor dem Hörsaal stehen. Ich ziehe den Rucksack von meinem Rücken nach vorn, vor meine Brust und krame nach meinem Telefon. Ich kann es nicht finden und hocke mich hin, schiebe Zettel und Stifte hin und her. Himmlisch, wo kann es sein? Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich eine Bewegung, die unaufhaltsam näherkommt. Doch anstatt neben mir stoppen, reißt das Etwas mich zu Boden. Ich ächze und stöhne auf, als der angelaufene Kerl quer über mir liegen bleibt. Ein helles Lachen ertönt und es braucht ein weiteres lautes Ächzen, bis er sich endlich aufsetzt.

„Du bietest keine komfortable Pufferzone!“, witzelt er kehlig lachend.

„Ich fungiere normalerweise auch nicht als Airbag. Schon mal was von Bremsen gehört?“, motze ich angesäuert und verteile Polierstaub auf meinen Knien. Paul richtet sich auf und hilft mir wieder zurück auf die Beine. Seine blonden Wuschelhaare umrahmen sein bebrilltes Gesicht. Er grinst breit und schiebt sich die verrutschte Brille zurück auf seine Nase.

„Entschuldige bitte, aber ich bin gestolpert.“, erläutert er mit einem nasalen und übergenervten Tonfall. Ich hebe amüsiert meine linke Augenbraue und sehe auf seine Schuhe. An beiden Seiten sind die Schnürsenkel geöffnet.

„Ja, kein Wunder. Anscheinend hast du den Kindergarten geschwänzt, als man dir das Schnürsenkelbinden beibringen wollte“, sage ich und deute auf seine Füße. Sein Blick folgt meinem Finger.

„Ich habe bestimmt vergessen hinzugehen. Ich war damals schon soo busy und hatte schon immer die Aufmerksamkeitsspanne eines Maikäfers. Oh, du hast Kekse.“ Er grinst und ich lache.

Paul und ich haben uns an einem schönen, sonnigen Sonntag auf dem Uni-Campus kennengelernt. Ich war frustriert und verkatert und Paul, wie er mir später mitteilte, war notgeil und voller Zucker. Tolle Kombination, wie wir mittlerweile herausgefunden haben. Damals hatte ich noch nicht hier studiert. Mittlerweile sehen wir uns jeden Tag.

Er beugt sich runter, stopft die Enden seine Schnürsenkel nur in die Seiten der Schuhe und sieht wieder auf. Ich hebe eine Braue und stelle mir vor, dass er beim nächsten Mal eine alte Frau umrennt und ihr damit alle Knochen bricht. Entsetzlich. Mich schockieren der Gedanke und die Tatsache, dass es mich irgendwie belustigt.

„Morgen bei mir, dann gebe ich dir einen Exkurs, in 'Schuhschleifen für Anfänger- Wie binde ich mir die Schuhe selbst'. Ich mach es auch kurz und knapp, versprochen“, kommentiere ich.

„Steht, aber erstmal, heute Abend 20 Uhr in der Te-Club. Und bring die indische Göttin mit.“ Damit sieht er auf die Uhr und rennt weiter. Ich sehe nur noch, wie seine Hand winkend nach oben geht und schlucke meine Fragen herunter. Das macht er ständig. Anweisungen geben, ohne auch nur einen Grund anzudeuten oder ein Thema zu benennen. Ich denke an Shari, meiner besten Freundin und der eben angesprochenen indischen Göttin. Sie sitzt mit Sicherheit brav in irgendeiner ihrer Vorlesungen und nickt eifrig. Sie hat viel Freude daran in den staubigen, alten Hörsälen sitzen. Ich schüttle kurz den Kopf und krame erneut nach meinem Handy. Diesmal finde ich es und entdecke auch, die von Paul angesprochenen Kekse. Mein Tag ist gerettet.

Das Display zeigt mir zwei entgangene Anrufe von meiner Mutter. Ich beschließe sie zu ignorieren. Im selben Moment meiner naiven Rebellion klingelt mein Telefon. Anscheinend kann meine Mutter seit neusten auch Hellsehen. Ich seufze und gehe ran.

„Hey Mama!“ Meine Stimme ist gewürzt mit verspieltem Übermut.

„Na, bekomme ich dich endlich ans Telefon, Schatz.“ Sie klingt erfreut und verärgert zu gleich.

„Ja, weißt du, die Professoren mögen es nicht, wenn man während der Vorlesung telefoniert, aber ich sage ihnen beim nächsten Mal einfach, dass ich rangehen muss, weil es meine Mama ist. Das hören die bestimmt gern und sicher nicht zum ersten Mal. Allerdings werde ich dann die Uni wechseln müssen, wenn du verstehst.“

„Scherzkeks. Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, dass du mich ruhig zurückrufen kannst.“

„Stell dir vor, dass hätte ich durchaus getan, wenn ich die Zeit dazu habe.“ Sie weiß, dass ich nicht lüge und dennoch versteht sie nicht, warum ich nicht sofort zurückrufe. Welcher Kerl in meinem Alter macht das auch? Trotzdem gestehe ich mir ein, dass ich es immer vor mich herschiebe. Unbewusst natürlich. Ich höre sie theatralisch seufzen. Ihr Versuch, mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen, fruchtet.

„Wie geht es euch?“, frage ich mitfühlend und interessiert.

„Dein Vater hat ein wenig Stress auf Arbeit, aber ansonsten ist alles gut. Ich versuche seit Tagen meinen Sohn zu erreichen, aber was soll ich sagen, die Jugend!“, plaudert sie euphorisch. Bei ihrem kurzen, aber amüsanten Vorwurf, seufze ich theatralisch um ihren Vermerk zur Kenntnis zu nehmen. „Tante Elli ist Sonntag zu Besuch und ich wollte fragen, ob du auch vorbeikommst. Nur ein wenig Kaffee und Kuchen.“ Ich fahre mir ermattet durch die Haare und atme leise tief ein.

„Diesen Sonntag?“, frage ich vorsichtig.

„Ja, Mark, ich meine nicht den Sonntag in 4 Wochen.“ Ich grinse blöd.

„Entschuldige, aber das kommt sehr plötzlich.“

„Heute ist Dienstag“, sagt sie berechtigter Weise und ich sehe keine Chance mehr, mich herauszureden. Mein Terminkalender ist leider nicht so ausgebucht, wie ich es in diesem Moment gern hätte.

„Außerdem haben wir Post für dich, denn anscheinend haben noch nicht alle mitbekommen, dass du ausgezogen bist“, erläutert sie vorwurfsvoll. Ich bin verwundert. Ich kriege nie Post.

„Also?“

„Ja.“ Nur eine Reaktion zur Kenntlichmachung meiner Anwesenheit. Meine Mutter versteht es als Zusage.

„Sehr schön. Tante Elli wird sich sehr freuen. 16 Uhr. Bitte versuche pünktlich zu sein.“, trällert sie lieblich und ich kann mir nur schwer ein weiteres Seufzen unterdrücken.

„Ich kann nichts versprechen.“, stelle ich in Bezug auf meine erwartete Pünktlichkeit klar. Ich stelle mir vor, wie sie mit dem Kopf schüttelt. Sie muss langsam mit mir verzweifeln.

„Pass auf dich auf, Schatz!“

„Bye, Mum.“ Damit lege ich auf, sehe mich um und schultere meinen Rucksack. Ich laufe unentschlossen in die Mensa. Dort kaufe ich mir einen Becher Tee und sehe auf die Uhr. Noch läuft Shari's Vorlesung. Ich schlürfe missmutig an meinem Kräuter-Gepansche und sehe mich um. Ich könnte sie ablenken gehen. Sie wird mich nachher sicher verhauen und Bio ist echt langweilig. Andererseits ist mir bereits jetzt langweilig. Ein bisschen Bio wird mich schon nicht umbringen, also laufe ich los.
 

Ich muss einmal quer über den Campus laufen, ehe ich bei der Fakultät für Biologie ankommen. Als ich mich im Hörsaal umsehe, kann ich meine beste Freundin direkt am Ausgang erblicke. Der Weg hat es sich gelohnt. Ihre langen, schwarzen Haare sind zu einem beeindruckenden Etwas zusammengedreht. Ein paar geflochtene Strähnen schlingen sich um ein ebenso bemerkenswertes Knotenirgendwas, welches etwas schief auf ihrem Hinterkopf liegt. Es sieht nach harter und konzentrierter Arbeit aus. Und das wirklich atemberaubendste ist, dass es nur von einem Bleistift gehalten wird! Leise lasse ich mich hinter ihr auf einen der Stühle fallen und ziehe an einem der geflochtenen Zöpfe, der sich bereits aus dem Wirrwarr gelöst hat. Ich schaffe es ihn bis zur Hälfte herauszuziehen, bevor sie sich etwas grimmig umdreht. Ich grinse.

„Sunchhen“, begrüße ich sie flüsternd auf Bengalisch und die grimmige Miene verschwindet. Seit wir uns näher kennen, begrüße ich sie jedes Mal auf einer neuen Sprache und in dieser Sprache verabschiede ich sie auch. Es ist ein kleines Ritual zwischen uns. Mittlerweile habe ich schon die ulkigsten Sprachen durch und mich auch schon gedoppelt. Life sucks.

„Hast du endlich neue Begrüßungen gelernt? Gut, ich konnte das Nǐ hăo, nicht mehr hören“, kichert sie mir entgegen und haucht einen Kuss auf meine hingehaltene Wange.

„Gut, dass du keine Chinesin bist, dann würdest du es täglich von einer Milliarde anderen Chinesen hören müssen.“, entgegne ich theatralisch.

„So, wie ich das Namasté von den einen Milliarden Indern hören würde?“ Touché. Sie sieht mich unbeeindruckt.

„Ähm…Ich hatte anderes zu tun, als neue Sprachen zu lernen. Das weißt du“, sage ich erklärend und irgendwie verteidigend. Ich musste bis Mitte des Sommers eine repräsentative Mappe zusammenstellen, mit der ich dann zum Eignungstest durfte. Allein das hätte mein Totschlagargument gegen die Uni sein sollen und für das freie wilde Leben als Stripper.

„Ja, ich weiß, was du immer zu tun hast“, sagt sie frech und meine die vermehrt aufgetretenen Verzweiflung, die ich diesen Sommer hatte. Ich habe sie ganz schön genervt. Dann rette mich Jake vor meinem durch Raphael verursachten Delirium. Er macht es noch immer. Jedenfalls dann, wenn er da ist. Nur ist er das leider selten. Seine Arbeit zwingt ihn dauernd zu Stadtrundfahrt in Städte, die ich nicht mal mag. Ich stupse meiner Blume verhalten gegen die Schulter und verdränge die missmutigen Gedanken.

„Paul will uns heute Abend im Te-Club sehen.“ Ich stütze mich auf die Lehne des Stuhls vor mir und schaue auf die projizierten Folien. Shari studiert Biologie mit dem Schwerpunkt Genetik und biochemischen Prozessen. Einen Moment lang starre ich auf die schematische Darstellung einer tierischen und pflanzlichen Zelle und fühle mich in die 9. Klasse zurückversetzt. Ihre Professorin wirkt so alt, wie die antiquierten Abbildungen.

„Warum?“, fragt sie flüsternd.

„Als ob er mir das gesagt hat.“, entgegen ich und sehe sie empört an. Sie unterdrückt ein leichtes Kichern.

„Hm, ich dachte, wir kochen heute Abend zusammen. Meine Eltern denken, ich bin bei dir und ich will sie ungern belügen.“ Bei der Erwähnung ihrer Eltern denke ich sofort an die massive Gestalt ihres Vaters und obwohl sie mich mittlerweile akzeptieren, macht er mir noch immer eine Heidenangst. Ihre Eltern wissen neben Shari als einziges über meine sexuelle Gesinnung Bescheid. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie mich in ihrer Nähe dulden. Ihre Mutter mag mich. Sie drückt mich jedes Mal, wie einen kleinen Jungen an ihre Brust, der unbedingt Aufmerksamkeit braucht. Ich finde zwar nicht, dass ich es nötig habe, aber trotzdem ertappe ich mich jedes Mal dabei, wie ich mich in ihrer wohligen Wärme suhle, wie ein Erfrierender. Es fühlt sich gut an, ehrlich und ich habe ständig das Bedürfnis, dämlich und zufrieden zu kichern.

„Oh ja, ich möchte deinem Vater nicht begegnen, wenn er es rausfinden würde.“, sage ich angsterfüllt und spüre sogleich einen Schlag gegen den Arm.

„Du hast doch nicht, immer noch Angst vor ihm?“

„Natürlich. Hast du ihn in der letzten Zeit mal angesehen? Dein Vater macht auch nicht sehr viel dafür, dass ich keine Angst mehr habe. Eher im Gegenteil.“

„Du spinnst, ja!“

„Nein! Ich schwöre. Erst letztens hat er, und ich bin mir sicher, absichtlich vor meiner Nase mit einem Messer rumhantiert, das länger war als mein Arm. So richtig fakirmäßig.“ Ich deute mir einen Turban und ein Messer an.

„Fakire schlafen und sitzen auf Nagelbrettern!“, berichtigt mich Shari und zieht ihre schwungvolle Augenbraue nach oben. Ich stocke und merke, wie meine Erzählung bröckelt.

„Okay, ja. Er macht mir einfach Angst. Egal, ob er was Spitzes, Stumpfes oder Kissenartiges in der Hand hat. Selbst wenn er einen Welpen in der Hand hätte, würde ich dem Brate nicht trauen. Zufrieden?“, flüstere ich ihr entgegen und Shari verkneift sich ein vergnügtes Lachen.

„Spinner!“ Sie tätschelt mir den Kopf und schüttelt dann ihren. Ich sehe wieder nach vorn und bleibe für ein paar Minuten beleidigt.
 

Gemeinsam bringen wir die letzten Minuten der Vorlesung hinter uns. Ich höre sogar ein wenig zu. Peroxisom. Mikrotubuli. Nach Intermediärfilamente bin ich dann raus. Im Flur drückt mir Shari ihre Tasche in die Hand und richtet ihre Haare. Ich schaue ihr unverhohlen dabei zu, denn es ist wahrlich imponierend. Wie sie blind alles in Ordnung bringen kann, ist mir ein Rätsel.

„Meinst du, du bekommst noch heraus, was Paul von uns will?“, hakt Shari nach und ich brauche einen Moment um mich von ihrer künstlerischen Handarbeit zu lösen. Sie schaut mich an und ich zucke mit den Schultern.

„Ich kann es versuchen, aber nichts versprechen. Und was machen wir im äußersten Fall?“

„Na ja, wenn es etwas Wichtiges ist, dann können wir ja kurz im Club vorbeischauen und wenn nicht, dann lasse ich dich Paprika schnippeln“, erläutert sie. Klar und deutlich. Ich frage mich, ob es gut oder schlecht ist, dass sie mich die Paprika schneiden lassen will. Ich gucke misstrauisch.

„Geht klar, aber du machst die Zwiebeln.“

„Keine Frage. Ich habe dich einmal Zwiebel schneiden sehen und das hat mir gereicht. Nie wieder!“, gibt sie mit einem erschrockenen und mitleidig von sich. Ich erinnere mich an den Tag. Es war schrecklich dramatisch. Ich hatte noch nie so viel geweint und geblutet. Alles gleichzeitig. Irgendwann hatte ich nicht mehr gewusst, ob ich wegen den Zwiebeln oder den Schmerzen weinte. Ich bin seither traumatisiert. Auch Shari denkt an diesen Moment zurück. Ihr Blick zeigt mir eine bunte Mischung an Gefühlen. Mitleid, Unglaube und Belustigung. Zu guter Letzt folgt ein vergnügtes Kopfschütteln. Mein Handy beginnt zu vibrieren und Shari tastet nach ihrem.

„Also, du versuchst Paul zu erreichen und ich gehe jetzt in meine Vorlesung.“ Eine weitere knallharte Anweisung. Sofort stehe ich stramm und salutiere.

„Aye Aya Ma´am“, gebe ich folgsam von mir. Sie stupst mir gegen den Arm.

„Ich will dich an einen Tag mal ernst erleben“, gibt sie resigniert von sich und nimmt mir ihre Tasche aus der Hand.

„Ein komplett ernster Tag ist ein vergeudeter Tag, Ma´am“, führe ich quakenden fort. Ich fühle mich, wie ein philosophischer Glückskeks und grinse auch so. Shari patscht mir leicht gegen die Stirn.

„Ob du je erwachsen wirst? Schreib mir, wenn du Genaueres weißt.“ Shari greift nach meiner Hand, drückt sie und lächelt.

„Namasté“, flötete sie und huscht davon.

„Biday.“, antworte ich und sehe ihr lächelnd dabei zu, wie den Flur entlangeilt. Noch während ich ihr nach sehe, angele ich mein Handy aus der Tasche und erblicke freudig eine neue Nachricht von Jake.

-Denke an dich. Bin nächste Wochen wieder in der Stadt. Haben wir ein Date?- Date. Eigentlich Sex. Ich lächele und denke an die warmen, fürsorglichen Augen. Das wohlige Gefühl, welches er in mir verursacht, weil er wahrhaftig und ehrlich ist.

Meine Hand wandert zu der schmalen Kette um meinen Hals und Raphael kommt mir in den Sinn. Er ist nicht da und dennoch beherrscht er schon wieder meine Gedanken. Ich kann mich nicht richtig von ihm lösen, obwohl ich vieles dafür tue. Wahrscheinlich braucht es einfach seine Zeit. Das sagt Shari mir ständig. Im Grunde ist es etwas Gutes, dass er weggegangen ist. Noch einmal lasse ich meine Finger über den Anhänger wandern und tippe Jake eine Zusage für unser Date.
 

Danach versuche ich Paul zu erreichen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis er rangeht und erst nachdem sich Fusseln an meinem Mund gebildet haben, rückt er mit dem Grund für das vorgeschlagene Treffen raus. Er hat keinen. Jedenfalls keinen triftigen. Nur einen fluffig ausgedachten.

„Nee.“, erwidere ich auf die erneut gestellte Frage nach unserer Anwesenheit.

„Kommt schon, Leute! Ich weiß, das Shari heute ihren Ausgehabend hat und ich dachte, dass ihr den auch einmal außerhalb deiner Wohnung verbringen könntest. Was treibt ihr eigentlich immer?“, äußert er sich mehr als zeternd. Ich verdrehe die Augen.

„Wir lackieren uns die Fingernägel und Schneiden uns gegenseitig die Haare. Was glaubst du, was wir tun?“

„Ich weiß, was ich tun würde.“

„Paul, nein, das will ich nicht hören. Verkneife es dir.“, warne ich den anderen.

„Okay, dann eben nicht. Ich habe noch ein paar mehr oder weniger schlüssige Theorien. Mit welcher soll ich anfangen?“

„Erspare es mir, bitte! Wir kochen und quatschen über alte Zeiten.“

„Wie ein altes Ehepaar“, kommentiert er entgeistert.

„Was ist daran falsch?“, frage ich irritiert.

„Na ja, möglicherweise die fünf Jahrzehnte, die ihr noch nicht erlebt habt“, deutet Paul an. Darüber muss ich nun doch lachen.

„Kommt schon, lasst uns ein bisschen feiern. Auf den Putz hauen. So lange wir wirklich noch jung sind.“ Pauls Stimme strahlt. Er hat ein Talent zum Animieren, doch das fruchtete heute bei mir nicht.

„Äh, nein.“

„Ach komm, wovor hast du Angst?“

„Vor dem großen Mann mit Turban, der mich bei Shari erwartet, wenn ich sie nicht rechtzeitig nach Hause bringe.“ Nun höre ich Paul zischend die Luft einziehen. Danach beginnt er zu lachen und bin mir sicher, dass etwas Verständnis in seinem Gelächter mitschwimmt. Er hat Sharis Vater nur ein einziges Mal flüchtig im Auto gesehen. Das hat wohl gereicht.

„Beim nächsten Mal, vielleicht“, versuche ich ihn zu beschwichtigen und höre am anderen Ende des Hörers ein leises Murren.

„Ja, hoffentlich erwische ich euch beim nächsten Mal nach euren mehrstündigen Mittagschlaf. Dann seid ihr besser drauf.“

„Wir sind immer gut drauf. Mach uns das nächste Mal ein besseres Angebot! Grüß alle von mir.“

„Geht klar und Mark, ich merke mir das.“

„Was?“, frage ich verwundert.

„Das mit dem nächsten Mal. Dann gibt es keine Ausrede!“

„Ich erzittere!“, erwidere ich furchtlos. Damit legen wir auf und ich schreibe Shari die freudige Nachricht über unser stattfindendes Dinner. Prompt sendet sie mir eine lange Einkaufsliste zu.
 

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Kommentar der Autorin:

Bei dieser Geschichte handelte es sich um eine Fortsetzung zu meiner Story ‚Doors my Mind- Der Freund meiner Schwester‘.

http://www.animexx.de/fanfiction/autor/560075/333258/

Schaut doch auch dort mal vorbei, wenn ihr mögt. :)



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Onlyknow3
2014-10-31T17:28:42+00:00 31.10.2014 18:28
Sorry karo, jedes mal wenn ich am lesen war kam was dazwischenb und ich musste auf hören. Heute hab ich es geschaft, das erste Kapitel der Fortsetzung zu lesen, und bin echt überrascht, wie locker Mark eigendlich die Distanz zu Raphael nimmt, ich dachte da wäre mehr verzweiflung in ihm, aber wer weiß ob das nicht noch kommt, wer weiß ob nicht doch noch was aus ihm und Jack wird. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  _-Haira-_
2014-10-24T13:05:00+00:00 24.10.2014 15:05
Hey ho :)

Ich freue mich ebenfalls dass es weiter geht und bin gespannt was noch alles auf ihn zu kommt!

Liebe Grüße
Von:  -Ray-
2014-10-22T20:14:08+00:00 22.10.2014 22:14
Huhu schön das es weiter geht ich freu mich 😊 jetzt muss ich trotzdem mal blöd Nachfragen: Also er ist ausgezogen und studiert in der anderen Stadt? Oder ist er nur ausgezogenen und studiert in der Heimatstadt? Und wo wohnt Shari? Vllt kommt das ja noch aber ich dachte für den Fall dass ich auf dem Schlauch stehe frag ich noch mal nach 😉 bis bald Ray
Antwort von:  Karo_del_Green
22.10.2014 23:44
Hey Hey, lieben dank für dein schnelles kommie :)
Zu deiner Frage oder den Fragen: Mark ist ausgezogen, wohnt aber noch in seiner Heimatstadt und studiert auch dort. ^^ und shari sitzt weiterhin bei ihren Eltern fest. Hihi! ^__^

Herzlichen Dank das du meine Story weiter verfolgst. :D

Lieben Gruß,
Del


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