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Kapitel 7


 

Kapitel 7
 

 
 

 

Es ist Samstag und ich habe einen Kater. Ein Gefühl, dass ich sogar ziemlich vermisst habe.

 

Was noch schlimmer ist: Ich vermisse den samstäglichen Radau meines Zuhauses. Das Radiogedudel aus dem Zimmer meiner Schwester, die Anschleich- und Überzeugungsversuche Anna-Marias vor dem Familienfrühstück. Selbst Karls dämliches Gesicht beim Zeitungslesen. Wobei er das wohl nun mehr nicht mehr machen würde, denn er würde es wahrscheinlich vorziehen, seinen eigenen Sohn böse anzustarren, wegen all der miesen Dinge, die ich getan habe…

 

Richard hat mir tatsächlich mal wieder frische Brötchen hingelegt, er selbst liegt auf dem Sofa, liest ein Buch, als ich den Raum betrete; und als ich mich an den Tisch setzen will, fällt mir noch etwas auf: Dort liegt ein neuer Zeichenblock und neue Stifte, ein neuer Farbkasten und hochwertigere Pinsel als die, die ich momentan besitze.

 

„Tob dich aus“, sagt Richard, als er meinen Blick offenbar bemerkt.

 

„…sind die von Anna-Maria?“, frage ich ratlos.

 

„Nein, die sind von mir. Für dich. Sieh’ es als Belohnung fürs Lernen an.“

 

„…danke…“, murmele ich, mein Geschenk anstarrend, und bin mal wieder völlig durcheinander von den Gefühlen, die mich zu überwältigen versuchen. Jedenfalls ist das Klopfen meines Herzens mal wieder so unfassbar laut, dass ich fast nichts anderes mehr hören kann und auf meiner Haut prickelt es merkwürdig. Außerdem scheint irgendwas in meinem Innern mir zuzuflüstern, dass es eine gute Idee wäre, sich in Richards Nähe zu begeben – was ich eigentlich partout nicht will!

 

Eilig setze ich mich hin, frühstücke hastig, räume dann ebenso schnell auf, damit Herr Vogt nicht meckert, schnappe mir meine Zeichenutensilien und verziehe mich auf das Zimmer, das mir zugewiesen worden ist.

 

Erst als ich anfange zu Zeichnen, fällt diese verflixte Anspannung langsam von mir ab. Doch die Fragen, diese fürchterlichen Fragen bleiben.

 

Ich verstehe Richard einfach nicht. Verflucht, ich verstehe mich selbst ja noch nicht einmal mehr!

 

Malen, Malen, Malen – einfach nur Zeichnen.

Und die Welt um mich herum vergessen.

Das klappt wunderbar.

 

Fast.

 

Denn am selben Abend treffe ich mich mit Evelyn. Wir wollen ins Kino gehen und danach noch ein paar Drinks in Billigkneipen trinken, um unseren Erfolg zu feiern. Sie sieht gut aus, Kerle starren ihr nach, als sie auf mich zugeht in ihrem schicken, schwarzen Minikleid und weißem dicken Schal, die Haare gelockt, das Gesicht hübsch geschminkt. Wir gucken einen Horrorfilm und sie klammert sich an mich und beschimpft mich aufs Übelste, um ihre Furcht loszuwerden, was bei mir fast schon hysterische Lachanfälle auslöst. Eigentlich war sie es, die den Film ausgesucht hat, aber nun will sie es mir in die Schuhe schieben und das ist einfach unheimlich niedlich, auf diese freakige Art und Weise. Wir haben Spaß, reden über heiße Typen, lästern über Mitschüler– doch schon nach dem ersten Drink in der ersten Ekelkneipe endet diese ausgelassene Fröhlichkeit. Denn Evelyn muss nach Hause. Alyssa ist krank und verlangt nach ihrer Mutter.

 

Das war’s also mit unserem zelebrieren.

 

„Es tut mir echt leid, Vik“, entschuldigt sie sich, aber ich kann das verstehen und lasse sie zu ihrer Kleinen eilen, panisch wie sie ist.

 

Da stehe ich also wieder alleine an meinem geliebten Hauptbahnhof und beobachte das aufgeregte Treiben, während tausende Erinnerungen auf mich niederprasseln. Wie ich mit Linda Bier beim Edeka gekauft, mit Bartosch vor dem McDonald’s rumgeblödelt habe vor einer krassen Party; wie ich mal wieder Zeit im Buchladen totgeschlagen habe, um mich vorm familiären Dinner zu drücken, wie Bastian mich damals noch enthusiastisch hier empfangen hat mit tausend Küssen und Umarmungen…

 

Jede Ecke der Shopping- und Fressmeile scheint plötzlich verknüpft zu sein mit enorm vielen Episoden meiner Vergangenheit und ich kann mich gegen das Erscheinen jener nicht wehren.

 

Der Krawattenladen kurz vor dem Ausgang lässt mich an meinen Vater denken; Anna-Maria kauft sie so oft für ihn in diesem Geschäft. Als ich noch jünger war, hat sie mich nach so manchen Shopping-Trips hier mitgeschleppt - und ich habe es immer gehasst, ihr zugesehen, wie sie sich zwischen einer hässlicher und einer noch hässlicheren Krawatte nicht entscheiden hat können – und mein Vater hat sich jedes Mal tierisch darüber gefreut und das neue Ding gleich zum nächst besten Anlass getragen.

Aus der kleinen Douglas-Filiale strömen eklig süße Düfte und ich muss an Vanessa denken, wie sie sich fast jedes Mal zum Geburtstag oder Weihnachten Gutscheine für eben diesen Laden gewünscht hat, um sich mit noch mehr Parfüm und Make-Up einzudecken, damit Jungs total auf sie abfahren und sie sich gegen ihre vermeintliche Konkurrenz durchsetzen kann.

Als ich an dem kleinen Stand mit riesigen, herzförmigen Waffeln am Stiel in Schokolade getunkt gehe, denke ich unweigerlich erneut an Anna-Maria, die diesen Stand liebt und immerzu versucht, die Leckerei zuhause ebenso fluffig hinzukriegen wie hier. Bislang ist ihr das noch nicht gelungen – aber ihre Schokomuffins letztens waren echt der Hammer.

 

Und dann ist da noch der Wegweiser zur S-Bahn-Linie, die mich fast direkt vor die Haustür meiner Mutter bringen könnte. Doch momentan zieht mich nichts dorthin. Offenbar ist ihre Wohnung noch immer besetzt von irgendeinem Heinz, Michael oder Rolf.

 

Ich zittere leicht.

Diese Bilder tun mir nicht gut.

Ich kann die Gefühle ausstehen, die sie in meinem Innern verursachen.

Eine Mischung aus Freude und Entsetzen, Melancholie und Angst.

Deswegen steige ich in wieder in „meine“ S-Bahn und fahre zurück. Zurück zu Richard. Denn: Wo soll ich sonst hin?

 

Das Licht im Flur brennt, als ich die Wohnung betrete, und ein Paar unbekannter Schuhe weist darauf hin, dass Herr Vogt nicht alleine ist. Ich horche, kann aber weder Anlage, noch Fernseher, noch irgendeine Art Konversation aufschnappen. Erst als ich mich vorsichtig und aufmerksam dem Schlafzimmer nähere, erreichen mich Laute, die unweigerlich davon zeugen, dass Richard ganz bestimmten Besuch hat.

 

Schmerzhaft zieht es sich in meiner Brust zusammen.

 

Im Grunde genommen bräuchte ich nicht zu spionieren, nicht nachzusehen, um zu wissen was geschieht. Das Stöhnen und Ächzen, das Rascheln und Pochen – all das zeichnet schon ein überaus deutliches Bild der Realität hinter der geschlossenen Tür. Trotzdem kann ich mich nicht zurückhalten, gehe leicht in die Hocke und spähe durchs Schlüsselloch, nur um das serviert zu bekommen, was ich schon eben vor meinem inneren Auge erblickt habe, doch scheinbar muss ich mich davon überzeugen:

 

Tigris in seiner Standard-Sturmmaske, um seine Identität zu schützen. Irgendein anderer, gut gebauter Typ auf allen Vieren. Die aufgestellte Kamera, die den harten Sex aufzeichnet.

 

Sekunden vergehen, in denen ich mich innerlich einfach nut tot fühle. Ich spüre nichts, einfach nur nichts. Dann nimmt das Geschehen eine 180-Grad-Wendung und es läuft mir eiskalt den Rücken runter.

 

Mir wird schlecht, ich kann nicht atmen, Panik wallt in meiner Brust auf.

 

Ich kann in diesem Moment gar nicht sagen, was mit mir los ist, ich weiß nur eines: Ich muss hier raus. Und sobald sich dieser Gedanke in meinem Kopf formiert hat, renne ich auch schon. Die Tür knallt ins Schloss und mir ist scheißegal, dass es die beiden X-Tuber im Schlafzimmer das ganz sicher mitbekommen haben.

 

Meine Beine tragen mich hinaus in die kalte Nacht, ich renne bis ich wirklich keine Luft mehr bekomme und mein Kopf hochrot ist, erst dann werde ich langsamer, stoppe aber erst, als ich nach fast einer Viertelstunde die Elbe sehen kann. Mein Kopf leer, das Gefühl der Panik noch immer nicht verklungen, vor mir die durch das kleine Loch erspähten Bilder, dir mir eigentlich so bekannt vorkommen und doch vollkommen neu erscheinen.

 

Ich starre auf den dreckigen Fluss, bin völlig allein am weiten Strand, der im Sommer Hunderte anzieht. Der Wind ist kalt und meine Sicht verschwimmt plötzlich.

 

Weil Tränen ungehindert aus meinen Augen fließen.

 

Ich raffe endlich, was mein Körper mir die ganze Zeit über hat sagen wollen: Ich gottverfickter Idiot habe mich in dieses schizophrene Arschloch verliebt. Das ist los. Warum auch immer, keine Ahnung, aber es ist nun mal so. Und als ich die beiden eben gesehen habe, ist eine Sicherung durchgebrannt. Das, was ich spüre, ist Eifersucht und Verzweiflung. Ich will Richard – aber ich bin ihm nicht genug.

 

Ich schluchze, laut und ungehalten, weitere Tränen kullern meine Wangen hinab  – und dann halte plötzlich inne. Die Welt steht still, als hätte jemand einfach auf „stopp“ gedrückt. Ich lasse einen unschönen Gedanken zu:

 

Genauso muss sich Bastian damals gefühlt haben.

 

Als er dieses beschissene Video von Kurt und mir gesehen hat. Er muss genau dasselbe, heftige Stechen in seiner Brust gespürt haben, das Brennen hinter seinen Augenlidern, das unangenehme Kribbeln auf seinen Armen, das Zittern seines gesamten Körpers. All das, was ich jetzt verspüre.

 

Und dann ist da dieses Gefühl, das ich nicht mehr zu unterdrücken vermag: Es tut mir wirklich leid. Es tut mir so unendlich leid, was ich Bastian angetan habe. Erst jetzt, so viele Wochen danach, begreife ich erst, was ich ihm wirklich angetan habe. Dass ich nicht nur seinen Stolz und seine Gefühle verletzt habe – sondern, dass ich ihm regelrecht das Herz aus der Brust gerissen habe.

 

Das erste Mal ist es mir nämlich nicht egal, dass ein Kerl, mit dem ich gevögelt habe, jetzt mit einem anderen Mann im Bett ist. Das erste Mal fühle ich mich durch einen Partner… verraten. Und es tut weh. Es tut verdammt weh. So einen Schmerz habe ich glaube ich das letzte Mal verspürt, als meine Eltern sich haben scheiden lassen…

 

Bastian muss mich sehr geliebt habe, und ich habe ihn wie ein Stück Abfall behandelt. So wie es jetzt Richard mit mir tut.

 

Ich entlasse die Luft aus meinen Lungen und starre den Fluss an, das kleine erleuchtete Schiff, das beinahe lautlos an mir vorbeizieht.

 

In diesem Moment wird mir so deutlich wie noch nie zuvor, wie allein ich eigentlich bin. Dass ich wirklich niemanden habe, an den ich mich mit diesen Sorgen wenden kann. Niemanden, dem ich mein Herz ausschütten könnte.

 

Auch das tut unheimlich weh.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich allein am Strand stehe und heule, es ist mir auch egal. Ich bleibe allein. Lediglich zwei Teenager mit einer Pulle Billigschnaps ziehen an mir vorbei und ich bin heilfroh, dass sie mich keines Blickes würdigen. Das könnte ich jetzt nicht ertragen.

 

Leer, ausgebrannt und frierend mache ich mich irgendwann auf den Weg zurück und bete, dass Richard schon schläft. Als ich mein Handy zücke, um mit einem Kartendienst, den Weg zurück zu finden, erschrecke ich ihm ersten Moment. Er hat versucht mich zu erreichen, gleich fünf Mal hat er versucht mich anzurufen. In einer Whatsapp-Nachricht fragt er mich, ob ich vorhin zuhause gewesen bin – und wie es mir jetzt geht.

 

„Scheiße geht es mir, du behinderter Penner“, murmele ich heiser unter meiner Nase, tippe aber, dass alles okay ist und ich nur was vergessen hätte und er sich bitte keine Sorgen machen soll, schließlich sei er nicht mein Vater.

 

Trotzdem wartet eben dieser Typ, der nicht mein Vater und ganz offensichtlich auch nicht mein „Partner“ ist, auf mich, und fängt mich auf Höhe der Küche ab.

 

„Ich hab noch ein bisschen Spaghetti Bolognese über, soll ich es dir warmmachen?“

 

Ich kann ihn nicht ansehen und die Milde seiner Stimme macht mich aggressiv. Ich will nicht mit ihm reden, nicht im selben Raum sein wie er.

 

„Nein, danke“, kriege ich gerade noch so gemurmelt, den Blick gesenkt. Auf die Zunge beißend versuche ich mich an ihm vorbeizuschieben, da packt er mich am Arm, um mich offensichtlich aufzuhalten. Das gelingt ihm auch. Denn dieser Körperkontakt ist zu viel für mich, er packt mich mir der Hand an, mit den er erst vorhin den Typen in seinem Schlafzimmer festgehalten hat. Ich raste aus, schreie ihn an, beschimpfe ihn so krass, wie ich ihn zu meinen besten Zeiten noch nicht beschimpft habe.

 

Der einzige Unterschied: Richard unterbricht mich nicht.

 

Nachdem ich ihn wahrscheinlich zum fünften Mal als gefühlskaltes Arschloch und Hurensohn genannt habe, versagt meine Stimme schließlich, weil ich bitterlich weine.

 

Meine Nase läuft und ich bin so perplex, dass ich meine Tränen nicht habe zurückhalten, dass ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle habe können, sodass ich auch gar nichts mehr schreien könnte.

 

„Willst du mir jetzt sagen, was los ist?“, fragt Richard nach einer Weile des Schweigens, in der wir uns einfach nur angesehen haben und ich mich minimal beruhigt habe.

 

Ich schluchze, wische mit die Tränen aus den Augen und sage schließlich: „Ich hab’ mich in dich verliebt, du Arschloch.“

 

Sekunden vergehen, in denen man nur das Hochziehen meiner Nase hören kann. Dann schließlich seufzt Richard.

 

„Viktor“, sagt er ruhig und milde und wartet, bis ihn ihm in die Augen sehe, bevor er weiter fortfährt. Mein Herz klopft so wild in meiner Brust, dass ich denke, es könnte jede Sekunden meine Rippen durchbrechen und ihm entgegenschleudern. „Das ist keine Liebe… das ist nur Sex.“ Er macht eine kurze Pause, dann: „Du denkst, du hast dich in mich verliebt, weil ich derzeit der einzige Mensch bin, der dir richtigen Halt gibt und dir nahe steht.“

 

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll und Richard fährt fort: „Und das ist genau das, wonach du dich sehnst – nach Nähe, denn aufgrund all deiner Kapriolen stehst du jetzt ganz alleine da. Und das macht dir Angst.“

 

Ein Klumpen Wut formt sich in meinem Bauch, weil ich mich plötzlich an das erste Erlebnis mit Tigris erinnere. „Und das törnt dich ja so unfassbar an, ja?! Deswegen stürzt du dich immer wieder auf mich?! Dann trag’ auch die Konsequenzen deines Handelns wie ein Erwachsener, das ist es doch, was du mir immer wieder eingetrichtert hast, oder nicht?!“, blaffe ich ihn an und Richard verzieht etwas genervt das Gesicht. Dennoch bleibt er ruhig.

 

„Das erste Mal habe ich mich wirklich auf dich gestürzt, weil du, wie ich es dir auch schon damals gesagt habe, scheiße heißt bist, und ja, ich habe genossen, es dich zu brechen – kann ich dich aber daran erinnern, dass du in den letzten beiden Eskapaden die führende Hand warst, im wahrsten Sinne des Wortes?“, wieder macht er eine kurze Pause und fährt dann fort, als ich nichts darauf entgegne, „Und da du weißt, dass ich dich, wie eben noch einmal gesagt, scheiße heiß finde, und eben auch nur ein Mann bin, würde ich niemals ein Angebot deinerseits abschlagen. Aber mehr als Sex ist es nun mal nicht. Auch für dich nicht.“

 

„Sag’ mir nicht, wie ich mich fühle!“, pfeffere ihm ins Gesicht, doch er lacht nur kalt.

 

„Ich versuche nur, dir zu helfen.“

 

„Das heißt, du schläfst mit mir, weil ich scheiße heiß bin“, äffe ich ihn nach, „und weil es Spaß gemacht hat, mich psychisch fertig zu machen und dich das auf so ne psychoart total antörnt, aber im Grunde genommen hasst du mich?“

 

Richard seufzt schwer. „Viktor… ich hasse dich nicht. Ja, du bist nervig und ziemlich unterbelichtet und benimmst dich wie ein kleines Kind, das habe ich dir auch schon zehntausend Mal gesagt. Fakt ist aber, dass du Karls Sohn bist und das allein sorgt dafür, dass ich dich niemals hassen könnte.“

 

Karl. Da ist er wieder, dieser dämliche, abgefuckte, spießige Karl.

 

„Ich habe Karl – und dir – helfen wollen, das will ich noch immer“, spricht er weiter, „weil ich deinen Vater liebe.“

 

Da ist es. Die brutale Wahrheit. Direkt in mein Gesicht geschleudert.

 

„Hat es dich auch angetörnt, mich zu ficken, weil ich sein Fleisch und Blut bin?!“, spucke ihm giftig ins Gesicht und ernte dafür das, was ich nicht mehr habe sehen wollen: Richards psychopathisches Grinsen. Und die Antwort, die ich befürchtet hatte:

 

„Ja, hat es.“

 

„…du bist so krank…“, murmele ich und will mich umdrehen und im Gästezimmer einsperren, weil mir das alles wieder zu viel wird, aber Richard lässt mich nicht; er packt mich abermals am Oberarm und zwingt mich, ihm wieder in die Augen zu blicken.

 

„Ich habe nie behauptet, Mutter Theresa zu sein und vielleicht hast du Recht, vielleicht bin ich wirklich krank – auch da habe ich nie das Gegenteil behauptet.“ Ich kann nichts anderes tun, als mit dem Kopf zu schütteln, während seine Worte in mein Hirn dringen und sich dort verfestigen.

 

Richard spricht weiter, ohne mich loszulassen: „Was ich dir die ganze Zeit über sagen will, ist eigentlich, dass du dir deine Gefühle für mich nur einredest. Denk doch noch einmal ganz in Ruhe darüber nach. Ja, du findest mich heiß, so wie ich dich heiß finde, aber das reicht doch nicht. Was haben wir denn beide gemeinsam? Was findest du so toll an mir? Ich kann dir sagen, was du so toll an mir findest: Dass ich dich mit Essen versorge, mit einem Wohnsitz, dass ich dir mit dem Amt und der Wohnung helfe. Aber dir muss eines klar sein: Ich tue das nicht, weil ich dich liebe, sondern weil ich es Karl versprochen habe. Klar will ich, dass es dir besser geht und ich finde immer noch Karl hat überreagiert was die Filmchen angeht, aber das tut nichts zu Sache.“

 

Ich schlucke einen dicken Kloß hinunter und kann die Gefühle, die ich gerade durchlebe, nicht benennen; ich schweige, lasse ihn weitersprechen.

 

„Du denkst, dass du mich liebst, weil niemand sonst außerhalb deiner Familie dir jemals in diesem Ausmaß geholfen hat.“ Doch, flüstert mir eine Stimme ins Ohr, Bastian ist immer für dich da gewesen, hat dir Dinge ausgegeben und dich festgehalten, wenn es dir schlecht ging. „Aber im Grunde genommen verbindet uns nichts, und würden wir nicht in dem Maße zu tun haben, wie wir es aufgrund deiner Situation nun mal haben, würdest du nichts außer Geilheit für mich empfinden, wenn überhaupt, und mich genauso behandeln, wie all deine Video-Partner; eben als einen heißen Mann, mit dem du ungehemmten Sex hast, mit oder ohne Kamera. Und im Grunde genommen weißt du das auch.“

 

Seufzend schließe ich die Augen und kämpfe gegen einen weiteren Tränenfluss. Richard hat mich mittlerweile losgelassen, aber ich laufe nicht weg, verharre dort wo ich stehe, mitten im Flur. Seine Worte tun weh. Wahrscheinlich sind sie so schmerzhaft, weil ich eine Portion Wahrheit in ihnen erkennen kann, die sich wie ein eiserner Pfeil mitten in mein Herz bohrt und das Wahrheitselixir, mit dem er vergiftet worden ist, sich dort unaufgehalten ausbreitet. Mir ist kalt, eiskalt.

 

„Viktor, nenn mir drei andere Eigenschaften, die du an mir gut findest, wegen denen du mich liebst…“, fordert er mich auf und starrt mir in die Augen.

 

Ich öffne den Mund, will ihm schon aus Trotz beweisen, dass sie existieren, aber ich kriege keinen Ton heraus.

 

Ich hasse seine spießige Wohnung, wie penibel er ist und wie ihn schon ein falsch platziertes Teelicht auf dem Wohnzimmertisch aus der Fassung bringen kann. Sein Musikgeschmack ist grauenvoll, dieser Blueskram geht ja noch, aber diese Elektroscheiße a la David Guetta, die er oft beim Lesen hört ist zum Kotzen. Selbst in Hausklamotten sieht er noch wie geleckt aus und wie pissfreundlich er immer am Telefon ist. Wenn ich sein Staubsaugervertreter-Lächeln denke, das er auch über Weihnachten bei meiner Familie an den Plan gelegt hat, habe ich einfach nur das Bedürfnis, ihm in die Fresse zu schlagen.

 

Und dann ist da noch dieser kolossale Unterschied von rund 20 Jahren… Mir wird erneut eiskalt.

 

„Siehst du“, sagt er jetzt ruhig, aber irgendwie auch zufrieden.

 

Außerdem hat das miese Arschloch mich ausgenutzt – hallt es in meinem Kopf. Wie sagte er noch?

 

„…je gequälter dein Gesichtsausdruck nach unseren Unterrichtsstunden und Karls Strafen wurde, desto mehr habe ich mich zu dir hingezogen gefühlt…“ und „dieser Schrecken in deinen Augen, nachdem ich dich mit dem Gürtel traktiert habe, oder dein Aufschrei nach der Lineal-Lektion. Das war göttlich, wie aus dem selbstsicheren, egoistischen Rebellen mit der Riesenklappe immer weiter der eingeschüchterte, kleine Junge wurde, dem man den Lollipop und Teddybär weggenommen hat, und der das erste Mal im Leben ein hartes Nein hören musste…“

 

Selbst ernannter, beschissener Samariter, der Schutzbefohlene – oder wie auch immer – schamlos missbraucht, um seine eigene perverse Geilheit auszuleben.

 

Irgendwie geht es mir nach diesem Gedankengang etwas besser. Als wäre ein kleiner Stein des riesigen Klumpens an meinem Herzen abgefallen. Und dennoch: Als ich ihn kurz wieder ansehe, ist da doch wieder dieses Verlangen, ihn zu küssen. Ach, scheiße, Mann!

 

Vielleicht bin ich ja auch krank? Vielleicht geilt es mich ja auch auf, mit jemanden zusammen zu sein, der mich nur ausnutzt und unterdrückt und wie ein Stück Dreck wegwirft? Ich seufze.

 

„Lass dir das alles durch den Kopf gehen“, meint Richard schließlich und mustert mich eindringlich.

 

„Halt jetzt einfach deine Fresse“, pfeffere ich ihm entgegen.

 

„Das klingt schon besser“, meint dieser nur ruhig, schaut mich dabei immer noch weiter an. „Wenn du so darunter leidest, dass du allein bist, solltest du vielleicht den ersten Schritt zu einer Veränderung machen…“, meint er noch, dann dreht sich um und lässt mich allein im Flur zurück.

 

Ich brauche eine Weile, um meine Glieder wieder in Bewegung zu setzen. Es fühlt sich an, als wären meine Füße aus Blei, so schwer fällt es mir, mich ins Gästezimmer zu manövrieren. Dort lasse ich mich aufs Bett plumpsen und starre einfach so vor mich hin.

 

Im Grunde genommen weiß ich, dass Richard Recht hat.

Nur mein Herz scheint das nicht zu kapieren.

 

Es ist früh am Morgen, als ich endlich in einen unruhigen Schlaf abdrifte. Mein Kopf fühlt sich schwer an, als ich aufwache, meine Kehle trocken.

 

Ich bin heilfroh, dass Richard nicht da ist, als ich in die Küche schlendere, um mir Kaffee zu kochen. Mit dem Becher in der einen, einer Kippe in der anderen, stehe ich regungslos auf den Balkon und schaue die städtische Landschaft an. Meine Gedanken kreisen rund um das gestrige Gespräch, analysieren jedes einzelne Wort, dass Richard an mich gerichtet hat, verknüpfen es mit meinen eigenen, ich denke an den Sex mit ihm, die Nachhilfestunden, das Lächeln, das er nur Karl entgegenbringt, an Giulia, an die Tigris-Videos.

 

Egal wie wann es wendet und dreht: Es ist einfach nur krank. Krank, krank, krank. Und ich bin mittendrin in dieser kranken Geschichte und möchte einfach nur noch raus. Ich bin verwirrt, was meine Gefühle für ihn angeht. Dass er Recht hat, möchte ich gar nicht abstreiten. Nur wie ich diese vermeintlich falschen Gefühle für ihn wieder loswerden soll, ist mir schleierhaft.

 

Und noch etwas gibt mir denken: Richards letzter Satz.

 

Ich zermatere mir den Kopf den gesamten Tag darüber. Eigentlich weiß ich, was er damit meint, aber offensichtlich bin ich ein Feigling. Erst am Abend, als Richard schon längst wieder zuhause ist, mir aber gepflegt aus dem Weg geht, setze ich mich an den kleinen Schreibtisch, reiße mich zusammen und zeichne drauf los.

 

Nach zwei Stunden bin ich fertig und sogar recht zufrieden mit dem Werk. Es ist ein Bild meiner Schwester. Vanessa hatte mich früher stets darum gebeten, ein hübsches Bild von ihr zu malen. Stattdessen habe ich sie mit fürchterlich frechen Karikaturen abgespeist, oder ihren Kopf auf dicke Monsterkörper gesetzt. Ein Mal habe ich ihr ein Schweinsgesicht gemacht und es mit ihrem Namen versehen auf ihren Schreibtisch gepackt, kurz bevor sie mit ihren Freundinnen nach Hause gekommen ist.
 

Sachen auf die, so schwer es mir fällt das zuzugeben, ich in diesem Moment alles andere als stolz bin.

 

Dass sie mich quasi bei Karl verpfiffen hat, wundert mich gar nicht, so wie ich sie in den letzten Jahren behandelt habe. Mich wundert auch nicht, dass sie geschockt ist, wegen der Videos. Alles, was ich will, ist ihr folgendes zu sagen:

 

„Sorry, für alles.“

 

Schreibe ich in die E-Mail, mit der ich ihr das eingescannt Bild schicke.

 

Ich habe sie in einem schicken schwarzen Abendkleid gezeichnet – so habe ich sie schon öfter am Wochenende weggehen sehen; auf hohen Schuhen, die Haare offen und leicht gewellt, mit einem kleinen Handtäschchen in der Hand, glücklich und zufrieden mit sich selbst, nicht erfüllt von diesem Selbsthass, zerfressen von Selbstkritik.

 

Nur eine halbe Stunde später, als ich bereits dabei bin, wegzudösen, klingelt mein Handy und mein Herz erstarrt, als ich Vanessas Namen auf dem Display lese. Ich überlege einige Sekunden lang, nehme das Gespräch dann aber doch an.

 

„Viktor?“, ertönt es am anderen Ende der Leitung, ich schlucke.

 

„…hey…. Wie geht es dir? Hast du mein Bild bekommen?“, antworte ich mit zittriger Stimme und eine unschöne Pause entsteht.

 

„Bist du immer noch bei Richard?“, hakt sie nach, meine Fragen übergehend.

 

„Ja.“

 

Erneut ist es still, einige Sekunden lang, doch die fühlen sich wie eine Ewigkeit an.

 

„Kann… ich weiß es ist schon spät und so, aber kann ich noch kurz vorbeikommen? Mein Freund kann mich fahren.“

 

„…ja… ähm, klar, Richard wird schon nix dagegen haben“, sage ich – da legt sie schon auf.

 

Perplex starre ich das Handy in meiner Hand an und schalte schließlich das Licht wieder an. Meine Knie zittern. Wann haben das letzte Mal meine Knie gezittert? Und erst Recht im Zusammenhang mit meiner Schwester? Die Schweißperlen auf meiner Stirn kann ich auch nicht negieren, von denen sich immer mehr bilden, je mehr Zeit verstreicht. Nervös laufe ich im Flur auf und ab; mein beschissener Mitbewohner ist offenbar schon schlafen gegangen. Doch das stört mich nicht im Geringsten.

 

Ich kriege fast einen Herzinfarkt, als die schrille Türklingel ertönt und ich den Buzzer betätige. Das Licht im Treppenhaus geht an und ich höre, wie Vanessa die Treppenstufen erklimmt; es klickt und klackert und mit jedem dieser Geräusche werde ich zunehmend nervöser.

 

Am Telefon klang sie nicht gerade begeistert. Eher kalt und abweisend. Ich wappne mich für das, was kommen kann – eine lange Schelte, ein abschließendes Gespräch, in dem sie mir in die Augen schauen und sagen kann: „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Weil mein beklopptes „sorry“ wahrscheinlich einfach zu spät kommt.

 

Ich halte die Luft an, als sie die letzten Meter zurücklegt und auf mich zukommt. Ihre Augen bohren sich in die meinigen. Die Lippen aufeinanderpressend lasse ich sie herein und schließe die Haustür leise; dann schaue ich sie wieder an – und Vanessa macht ihren typischen Tussi-Hundeblick, den Kopf so schief gelegt, die Augen geweitet, ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen. Normalerweise würde ich sie jetzt aufziehen, aber in diesem Augenblick empfinde ich einfach nur… Freude, dass sie mich so anschaut. Im nächsten Moment hüpft sie auch schon auf mich zu, und umarmt mich so fest, dass ich zunächst glaube ich würde ersticken.

 

Tue ich aber nicht.

Ich schlinge die Arme um meine Schwester und merke dabei, wie krass ich sie eigentlich vermisst habe. Und dann kann ich nicht mehr: Ich lasse alles raus. Den Schmerz der vergangenen Tage, Wochen, Monate. Den Schmerz wegen unseres Vaters, unserer Mutter, wegen Richard. Wegen mir. Ich heule wie ein Schlosshund und Vanessa hält mich die ganze Zeit über fest, streichelt über mein Haar und wispert „Schhhh… alles gut, ich bin bei dir.“

 

Und das tut so verdammt gut.

 

Wir sitzen bis in die frühen Morgenstunden einfach so dar in „meinem“ Zimmer und reden. Über alles.

 

Vanessa erzählt mir, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass unsere Mutter uns so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, wie sehr sie trotzdem unter der Scheidung gelitten hat, wie sie in Anna-Maria schließlich eine neue Chance auf ein intaktes Familienleben gesehen hat - und wie sehr sie wegen meinem Rumgezicke wegen Frau Zetel genervt war.

 

„Ich hab so oft versucht, mit dir darüber zu reden, aber du hast immer abgeblockt und mich angezickt“, sagt sie und ich nicke stumm. Denn so war es.

 

Sie redet über die Angst, die sie stets um mich hatte, wenn ich mich nachts wer weiß wo rumgetrieben habe und mein Aussehen immer „heftiger“ wurde. Vanessa spricht über unseren Vater – und entschuldigt sich unter Tränen, dass sie ihm die Videos gezeigt hat. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, hat überreagiert und es im Nachhinein zutiefst bereut.

 

„Ist schon okay…“, spreche ich ihr zu und schenke ihr ein ernst gemeintes Lächeln. Dann jedoch muss ich ihr eine erste Frage stellen: „…hasst du mich jetzt, weil ich… auf Männer stehe?“

 

Vanessa schleudert mir eines der kleinen Kissen ins Gesicht und lacht. „Auch wenn du denkst, ich bin spießig, bin ich nicht so spießig. War halt nur der erste Schock, weil ich immer dachte, du würdest diese Scheiße nur rumerzählen. Mich schockt eher, dass du das öffentlich ins Internet stellst, aber gut – das ist deine Sache.“

 

Sie gratuliert mir, dass ich das Probehalbjahr bestanden habe, sie verspricht mir, Karl zu bearbeiten ebenso wie unsere Mutter und sie sagt, dass wir „auf jeden Fall“ in Kontakt bleiben müssen und bittet mich, ihr sofort Bescheid zu geben, wenn das mit der Wohnung klappt.

 

Als sie geht und ich ihr nachsehe wird mir schmerzhaft etwas eigentlich sehr offensichtliches bewusst:

 

Die ganzen letzten Jahre über bin ich ein egoistischer kleiner beschissener Punk und Chaot gewesen, der auf die Gefühle seiner Mitmenschen geschissen hat.

 

Richard hatte von Anfang an Recht. Alle hatten Recht, nur ich nicht.

 

Und mit diesem Eingeständnis – und der Tatsache, dass ich noch im Tatverlauf die freudige Botschaft in Form einer Wohnungszusage bekomme – beginnt, könnte man tatsächlich behaupten, eine neue Phase in meinem Leben.

 



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