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Kapitel 3

 

In der Bahn, die mich zu den verhassten und mir aufgezwungenen Extrastunden der Woche bringt, schlafe ich ein und ich penne so tief, dass ich glatt vier Stationen zu weit fahre. Somit komme ich auch zu spät zu dem in Trennung lebenden, ach so armen und so teuflisch gebildeten Männchen, das mich mit verschränkten Armen und bösem Blick empfängt.

 

„Ich hab meine Bahn verpasst“, sage ich.

 

„Wohl eher zwei oder drei“, sagt Richard, als ich mich an ihm vorbeischiebe, um dann meine Schuhe auszuziehen. „Du siehst zerstört aus“, stellt mein Nachhilfelehrer fest, nachdem wir uns gesetzt haben.

 

„Dann mach‘ mir doch nen Kaffee!“, fahre ich ihn genervt an. Jetzt, wo ich wieder hier bin, gefangen zwischen den bereits mit schlechten Erfahrungen behafteten Wänden, ist meine gute Laune der vergangenen Tage plötzlich schon wieder futsch. Als hätte jemand einfach auf „Löschen“ geklickt.

 

Richard zieht eine Augenbraue nach oben. „Prinzessin, wie wäre es, wenn du dir einfach selbst einen Kaffee machst, wenn du schon nicht ‚bitte‘ sagen kannst, hm?“, zieht er mich dann nur auf und fixiert mich mit seinen braunen Augen.

 

„Oh, darf ich jetzt etwa doch die Küche betreten? Erweiterst du meinen Laufbereich, ja?!“

 

„Wow, du kannst Dinge ja doch miteinander kombinieren. Respekt! Da scheint ja doch noch ein bisschen Hirn unter der Schädeldecke zu sein.“ Richards sarkastischer Ton ist schneidend.

 

Wütend stehe ich auf und mein Stuhl kippt dabei fast um. „Möchtest du vielleicht auch einen?“, frage ich ihn voller Hohn und auf Richards Gesicht stiehlt sich wieder dieses gespielte, aufgesetzte, ach so künstliche Lächeln.

 

„Sehr gern, Barbie. Kaffeefilter und Pulver findest du in dem Schrank direkt über der Maschine. Ich sehe mir währenddessen mal deine mitgebrachten Übungszettel an.“

 

„Prinzessin oder Barbie, entscheide dich, Mann!“

Zur Küche stampfe ich regelrecht, als Richard daraufhin nur müde lacht.

 

Natürlich ist sie total aufgeräumt, alles blitzt und blinkt. Die gesamten Schränke sind schneeweiß und glänzen, der Boden besteht aus schwarzen Fliesen. Verschiedene Sorten Öl stehen da, hochwertig gefertigte Pfannenwender, Kartoffelstampfer und Kochlöffel, edle Salz- und Pfeffermühlen. Wie spießig.

 

Während ich nach dem Kaffeepulver greife und es in die ebenso geleckte Maschine packe, wird mir fast schlecht. Eigentlich will ich gar keinen Kaffee. Gegessen habe ich heute auch noch nichts. Wie auf Kommando knurrt mein Magen; mir ist immer noch schwindlig. Es ist noch schlimmer, als es bei meinem ersten ungewollten Besuch hier war. Ich könnte Kotzen, Schlafen und Ausrasten – und zwar gleichzeitig.

 

Wenige Minuten später knalle ich meinem Freizeitpädagogen die ebenso weiße Tasse mit der braunen Flüssigkeit vor die Nase; ein bisschen Kaffee schwappt über den Rand und kleckert auf den Tisch. Richard schnalzt genervt mit der Zunge und als ich mich wieder hinsetze, gibt er mir tatsächlich mit einem zusammengerollten Heft eins auf die Rübe.

 

„Au!“, zische ich und er schüttelt nur genervt den Kopf. „Spinnst du?!“ Doch Richard geht gar nicht auf diese Aussage ein, sondern schiebt mir einen der Übungszettel zu, den ich schon in der Schule ausgefüllt hatte. Einige der Antworten und Lösungen hat er in rot angestrichen.

 

„Das sind verdammt viele Fehler.“

 

„Ach, was!“

 

Mr. Oberschlau versucht mir das Falschgemachte zu erklären, aber meine Augen fallen zu, meine Wut bringt mich dazu, jede seiner Verbesserungen säuerlich zu kommentieren und mein Bauch knurrt unentwegt weiter. Nach nicht einmal zehn Minuten knallt Richard das Matheheft erzürnt auf den Tisch.

 

„So wird das nichts!“, meckert er in tiefem Ton und steht abrupt auf; ich zucke zusammen und will schon meine Hände schützend über meinen Kopf halten, weil ich befürchte, dass er mir nun eins mit dem dicken Buch überziehen will, aber mein Nachhilfelehrer braust lediglich an mir vorbei.

 

Etwas irritiert bleibe ich auf meinem Platz und schaue zu, wie er da in der Küche hin und her läuft. Da ich nur einen Teil des Raumes einsehen kann, habe ich keine Ahnung, was er da genau macht, er sagt mir ja auch nichts. Ich seufze und starre dann die Wand an und binnen Sekunde nicke ich tatsächlich auch schon ein.

 

Ein dumpfes Klirren direkt vor mir holt mich in das Hier und Jetzt zurück. Ich starre auf ein frisch gemachtes, dickes Sandwich. Bacon und grüner Salat ragt zwischen den frischen Scheiben Brot heraus. Mein Magen macht sich abermals bemerkbar, doch von der Übelkeit verspüre ich nichts mehr. Richard stellt mir noch ein XXL-Glas gefüllt mit sprudelnder Cola hin.

 

„Iss was, sonst wird das hier heute nichts und wir haben nicht mehr viel Zeit, dir Verstand in deinen Kopf rein zu prügeln“, sagt er ruhig.

 

Ich würde ja gerne etwas Patziges antworten, oder ihm ins Gesicht spucken, aber der Hunger siegt. Genüsslich, und anders kann ich es gar nicht beschreiben, beiße ich in dieses Stückchen Paradies und frage mich im nächsten Moment auch schon: Wie kann ein simples Sandwich nur so geil sein? Ich schmecke Remoulade, Schnittlauch, süße Tomate, das herzhafte Fleisch, das knusprige Brot - und sogar der beschissene Salat hat eine eigene Note!

 

Richard sitzt einfach nur da und blättert in meinen Schulheften herum.

 

Zugegeben. Seine Aktion hier überrascht mich. Sie hat mich sogar gänzlich aus dem Konzept gebracht, weswegen ich nicht parieren konnte. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mir wieder droht, mich anschreit, mir erneut versucht eine Tracht Prügel zu erteilen. Die Erinnerung daran verursacht bei mir immer noch Bauschmerzen.

 

„Hat’s geschmeckt?“, fragt er mich, als mein Teller leer ist und ich mir den Softdrink reinkippe.

 

„Ja“, sage ich. „Aber denk ja nicht, dass ich dich jetzt irgendwie netter finde.“

 

„Keine Sorge, das wäre mir nie in den Sinn gekommen“, sagt er nur trocken.

 

Nach einer halben Stunde Matheunterricht in der Richard mir viel zu nahe rückt und sein herb-süßliches Parfüm in meine Nase steigt, klingelt es plötzlich an der Tür.

 

„Ich bin gleich wieder da, setz dich an die nächste Aufgabe“, befiehlt er mit einem gebieterischen Ton, der mich ankotzt.

 

„Ich sitze doch schon, und wie ich noch näher an das Buch rücken soll, ist mir rätselhaft“, witzele ich, aber das beachtet der Arbeitskollege meines Vaters gar nicht mehr. Ich höre eine weibliche Stimme und versuche zu lauschen. Ich höre lachen und dann nur noch ein gar herzliches „Kein Problem, Frauke“, dann taucht der Wunderpädagoge schon wieder auf.

 

„Hör zu, du versuchst jetzt alle Aufgaben vom aktuellen Zettel zu lösen, während ich meiner Nachbarin ein wenig zur Hand gehe“, erklärt er mir.

 

„Oh, willst du es Frauke jetzt eben schnell so richtig besorgen, Dr. Love?“, hauche ich lasziv und lege meinen Kopf schief, um ihn anzugrinsen.

 

„Bist du so lange nicht mehr flachgelegt worden, dass du jetzt deine notgeilen Gedanken wirklich auf alles projizieren musst?“, kommt es umgehend von Richard, der dann auch fies grinst, sich umdreht und bereits verschwunden ist, bevor ich etwas dazu sagen kann.

 

„Arschloch“, murmele ich und mein einziger Zeuge ist die Fruchtfliege, die ich im nächsten Moment auch schon zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetsche.

 

Fünf Minuten vergehen. Zehn. „Wohl doch kein Quickie…“, flüstere ich, während ich mir meinen hübschen Kopf weiterhin über der ersten, verflixten Matheaufgabe zerbreche; und weil ich so konzentriert bin, springe ich vor Schreck auch fast auf, als plötzlich der ganze Tisch zu vibrieren scheint. Richards stumm geschaltetes Handy klingelt.

 

Ich starre das Gerät an.

Ich drehe mich zum Flur um.

Nichts.

Abermals fällt mein Blick auf das klingelnde Ding, dann schnappe ich es mir auch schon und traue meinen Augen nicht.

 

Auf dem Display des großen, flachen Smartphones kann ich ganz deutlich den Namen Giulia lesen.

 

Heilige Scheiße!

Mein Herz fängt an zu klopfen und die schelmischen Gedanken überschlagen sich bereits.

Mein Daumen fährt über das grüne Telefonsymbol; das Gespräch läuft.

 

„Hallo, hier ist Richards Handy, er kann gerade nicht rangehen – darf ich ihm von der hübschen Madame etwas ausrichten?“, säusele ich regelrecht in das Ding und warte auf eine Antwort. Zunächst passiert nichts; ich höre nur jemanden den Atem ausstoßen. Dann ein eisiges: „Wer ist da?“, das mir ein grausames Lächeln auf die Lippen pinselt.

 

„Hier ist Richards Lebensgefährte“, antworte ich der jetzt bestimmt verdutzten Frau, der Richard bestimmt noch hinterher trauert. Vielleicht rechnet er sich sogar noch Chancen mit ihr aus? Wer weiß das schon ganz genau. Auf jeden Fall kann ich sagen: Das wird lustig.

 

Einige Sekunden lang passiert erneut nichts. Dann höre ich Giulia Vogt Luft holen. „Was fällt dir ein, an Richards Telefon zu gehen, wenn ich anrufe!“, schreit die Frau mit italienischem Namen in den Hörer und ihre Stimme überschlägt sich dabei. „Erst macht du meine Ehe kaputt und jetzt übernimmst du noch meine Wohnung, oder was?! Du mieses Stück Scheiße! Weißt du, wie respektlos das mir gegenüber ist?! Und dann lügt ihr beiden mich auch noch die ganze Zeit an, es sei vorbei, das wäre nur ein einmaliges Ding gewesen und jetzt wohnst du bei ihm, oder was?!“

 

ach du heiliger Bimbam!

 

Als ich herzhaft loslache, und fast zu Boden falle, weil ich es nicht aushalten kann, reißt Richard mir das Handy aus der Hand. Wann ist der denn wieder aufgetaucht, frage ich mich; aber eigentlich ist es mir egal. Ich muss mir den Bauch festhalten, so heftig muss ich lachen. Aus Verwunderung, Schock und dem Glück, das mir das Schicksal namens Frauke eingefahren hat.

 

Richards donnernde Stimme verebbt nachdem eine Tür laut ins Schloss fällt. Ob er wohl in sein Schlafzimmer gegangen ist, um seine ehemalige Gattin zu besänftigen, die er – ganz offensichtlich – mit einem Mann betrogen hat?

 

Ich muss mir die Tränchen aus den Augenwinkeln wischen.

Ich fasse es einfach nicht!

Das ist unmöglich!

Und doch ist es eben passiert!

 

Es dauert fast eine ganze halbe Stunde, ehe Richard sich vor mir aufbaut. Ich habe mich etwas beruhigt und lächele eiskalt.  „Was wohl Karl dazu sagen würde?“, sage ich – da holt Richard mit der geballten Faust aus und schlägt so hart zu, dass ich zu Boden falle.

 

Schmerz rast durch meine rechte Gesichtshälfte und legt gleichzeitig einen Schalter in meinem Kopf um. Obwohl ich weiß, dass ich keine Chance habe, rappele ich mich auf und stürze mich wie ein Tier auf ihn; schwere Hände legen sich auf meine Schultern und schieben mich durch den Raum, bis mein Rücken unliebsam gegen die kalte Wand knallt. „Verdammt!“, fluche ich, mein halbes Gesicht immer noch gelähmt vom Schmerz. Richard ist stark. Zu stark.

 

„Was fällt dir ein, an mein Telefon zu gehen und meiner Ex-Frau so eine Scheiße aufzutischen, du Arschloch?!“, schreit Richard mich gar ein wenig hysterisch an. „Wann wird dir endlich klar, dass ich nur ein Wort an Karl richten müsste, und er dich sofort rausschmeißen würde?“

 

Ich antworte nicht, weil mir noch immer schwindelig ist von diesem heftigen Schlag, den mir dieser miese Pseudo-Lehrer verpasst hat und ich versuche, meine Gedanken zu sortieren.

 

„Ist dir das klar?! Nur ein Wort!“, brüllt er mich weiter an.

 

„Ja, mir ist schon klar, dass du mich erpressen willst, entspann’ dich“, murmele ich durch zusammengepresste Zähne – und kann mir trotz der Schmerzen und der bedrückenden Atmosphäre gerade dennoch nicht das vage Grinsen verkneifen. Denn schließlich habe ihn, Richards schwachen Punkt; der mir so eine große Angriffsfläche bietet.

 

Und als Richard mich loslässt und wütend durchs Zimmer stampft, gehe ich einen Schritt auf ihn zu und sage lächelnd: „Dir ist aber auch klar, dass ich dich erpressen könnte? Ich meine“, setze ich an, als Herr Vogt stehen bleibt und mir seinen Kopf zudreht; seine Augen zu gefährlichen Schlitzen verengt, „ich glaube kaum, dass der spießige Karl es gutheißen würde, mich in der Obhut eines männergeilen Kerls zu lassen, oder? Ich meine, du kannst es jetzt nicht mehr leugnen. Du hast Giulia mit irgendeinem Kerl betrogen“, füge ich zuckersüß an – und grinse teuflisch.

 

Kurz werden Richards Gesichtszüge hart, doch dann entspannen sie sich plötzlich wieder. „Du hast da etwas nicht verstanden, Viktor“, sagt er und er erlaubt es einem kalten Lächeln seine Mundwinkel nach oben zu ziehen. „Ich will dich nicht erpressen und du kannst mich nicht erpressen.“

 

„Achja, ist das so…?“ Ich verschränke die Arme vor der Brust.

 

 „Ja, das ist so“, sagt er ernsthaft und bleibt direkt vor mir stehen. Eine ganze Weile starrt er mir einfach so in die Augen. Dann lächelt er fies. „Es geht mir nicht darum, dass du Karl von einem der wahren Gründe meiner Scheidung erzählst. Denkst du Dummerchen denn wirklich, er würde es glauben; und denkst du Giulia würde es Karl gegenüber zugeben, dass ihr Mann sie mit einem Kerl betrogen hat? Da kennst du meine Ehefrau aber sehr schlecht.“ Er lacht kalt. „Mir geht es darum“, fährt er fort, als ich ihm ins Wort fallen will, „dass du dir noch so einen fatalen Fehler wie gerade eben nicht mehr leisten kannst, denn dann ist meine Geduld vollkommen aufgebraucht – und du verlierst alles. Ein Anruf, ich brauche dieses Telefon zu nehmen, deinen Vater anzurufen und zu sagen, dass es vorbei ist. Und dann ist alles vorbei. Kapiert?“

 

„Du bluffst ziemlich gut“, antworte ich ihm.

 

„Du denkst, ich bluffe?“

 

„Ja, das habe ich doch eben gesagt. Hörst du mir etwa nicht zu?“, provoziere ich ihn im giftigen Ton. Da wirbelt Richard herum, stampft hinüber zum Tisch und packt sein Mobiltelefon. Er betätigt einige Tasten – und dann schon ertönt das Freizeichen; demonstrativ hält Richard das auf Lautsprecher geschaltete Telefon in meine Richtung.

 

„Hallo Richard, ist alles in Ordnung bei euch?“, höre ich dann schon die Stimme meines Vaters fragen.

 

Scheiße.

 

„Nein, nein, nein, nein!“, flüstere ich und gehe ein paar Schritte auf Richard zu. Dieser Mistkerl….

„Bitte nicht“, wispere ich. Einige Sekunden starrt Richard mich mit hochgezogener Augenbraue an. Dann antwortet er Karl.

 

„Ich wollte dir nur sagen, dass dein Sohn sich heute besonders Mühe gibt, mir auf die Nerven zu gehen“, sagt er und grinst triumphierend. „Ich würde vorschlagen, du halbierst sein Taschengeld, damit er es nicht mehr so oft versaufen kann. Heute kam er hier an mit einem Mordskater, sodass wir die ganze erste Stunde absolut nichts erledigen konnten.“

 

Ich höre meinen Vater seufzen. „Das stimmt nicht!“, werfe ich ein, doch mein Vater und Richard sagen – auch noch gleichzeitig: „Halt die Klappe!“

 

Und damit habe ich verloren. Richard legt auf. „Ich hoffe, wir verstehen uns?“

 

Mein Herz klopft in einem wilden Takt der heftiger ist als das neue Lied meiner Lieblingsrockband. In meinem Hals zieht es sich zusammen und ich habe unwissentlich meine Hände zu Fäusten geballt. Wieder ist da dieses krasse Bedürfnis, Richard eine zu ballern; aber ich habe mittlerweile gecheckt, dass ich einfach zu schwach bin und dass es deswegen aussichtslos ist, meinen Lehrer zu attackieren.

 

Ich kann nicht fassen, was da gerade schon wieder passiert ist. Mit jedem Treffen wird es einfach unheimlicher. Schlafe ich? Wenn ja, kann ich dann bitte jetzt aufwachen?

 

„Haben wir uns verstanden?!“, donnert Richards tiefe und aufgebrachte Stimme durch den Raum und ich spüre mich selbst nicken. „Dann setz’ dich jetzt. Wir haben schließlich noch einiges vor heute.“

 

Irritiert blicke ich ihn an. „Du… Du hast jetzt echt vor, mit dem Unterricht weiterzumachen?!“

 

Richards Augen erscheinen mir dunkler als sonst, als er mich anstiert und ich hasse diese Empfindung der seichten Angst, die mich dabei überkommt und zwingt, seinen Worten Folge zu leisten und meinen Arsch auf den mir zugewiesenen Stuhl zu befördern. Was mich dann aber innerlich fast zur Weißglut treibt ist die Tatsache, dass es meinem Hobbylehrer binnen weniger Minuten gelingt, seine Wut abzulegen, sich zu beruhigen und sich wieder zu fangen – und den Rest dieser beschissenen Lehrstunde verhält er sich so, als wäre absolut nichts zwischen uns geschehen. Es geht nur noch um diese dummen Übungszettel.

 

Später als sonst entkomme ich meiner sonntäglichen Nachhilfestunde nach einer eisigen Verabschiedung; Richard hat mir dieses Mal sogar eigene Hausaufgaben aufgegeben und sollte ich sie bis zu unserem Treffen in sieben Tagen nicht erledigt haben, „wird das Konsequenzen haben, mein Freund“, so die Worte meines Lehrers. Und was unter Richards Konsequenzen fällt, zählt zu sogenannten Höllenqualen.

 

Erst in der Bahn nach Hause kann ich ausatmen. Erst als ich die Tür zu meinem Zimmer zuknalle, weil Mrs. Stock im Arsch sich schon wieder über irgendein Verhalten meinerseits beschwert, läuft mein Gedankenstrom wieder frei und mir wird dann erst klar, was heute eigentlich wirklich passiert ist.

 

Ich zünde mir eine Zigarette an.

Richard hat seine Frau betrogen. Mit einem Kerl!

 

Ich stoße den weißen Rauch aus meiner Lunge.

Ergo, steht Richard auch auf Schwänze.

 

Ich lege mich aufs Bett.

Halleluja!

 

Moment. Ich halte inne. Halleluja?

 

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob mir das wirklich gefallen soll. Klar, die Vorstellung, wie so ein heißer Kerl wie Richard einen Mann vernascht, ist definitiv nicht abstoßend – Richard ist nun mal auch mit seinen rund 40 Jahren verdammt attraktiv; ich habe ihn jetzt lange genug anstarren können, habe ihn in verschiedenen Outfits begutachtet und kann mit Sicherheit sagen: Unter diesen Klamotten liegt ein scharfer, trainierter Körper. Dann ist da noch seine tiefe, männliche Stimme, das markante Gesicht, die schokobraunen Augen hinter den teuren Designergläsern mit denen er sicherlich nicht aussieht wie eine Brillenschlange und… Das ist jetzt nicht wahr! Ich liege hier doch nicht tatsächlich rum und himmele meinen Pseudo-Lehrer an, der ein sadistisches, verlogenes Arschloch ist und dazu auch noch mein Vater sein könnte!

 

Ein weiterer Zug an meiner Zigarette schafft es auch nicht, mich jetzt zu beruhigen.

 

Schließlich ist das ein Freund meines Vaters und wenn Karl wüsste, wie Richard wirklich drauf ist, dann hätten die zwei bestimmt nichts miteinander zu tun. Richard bescheißt meinen Alten und selbst wenn mir das normalerweise egal wäre, das aufgesetzte, soziale Leben meines Erzeugers interessiert mich nämlich nicht die Bohne, ist es jetzt ganz anders; schließlich bin auch ich involviert.

 

„Gott, was für ein Wichser…!“, murmele ich und drücke den Rest der Zigarette in dem Miniaschenbecher aus, der auf dem Bettrand steht.

 

Kein Wunder, dass Richard auf meine Anspielungen in seine Richtung nicht schockiert oder abwertend reagiert hat. Dass ihn ein Kerl anmacht, ist ihm ja offenbar nicht fremd. Die gesamte Situation hat sich durch den heutigen Vorfall geändert. Und ich muss erstmal drauf klar kommen.

 

Seit Langem bin ich einfach nur verwirrt und ideenlos.

Hinzu kommt noch diese Rastlosigkeit. Ich starre mein Handy an. Und dann fällt mir Bastian ein.

 

Der Junge freut sich richtig, meine Stimme zu hören und wir verabreden uns prompt zu einem Kinobesuch; nur eine Stunde später blicke ich dann auch schon in das Paar blau-grüner Augen, das mich schon auf der Tanzfläche am Freitag in den Bann gezogen hat. Bastian sieht auch heute zum anbeißen aus in seiner super engen, schwarzen Jeans und den knallroten Chucks. Er grinst frech und nachdem ich ihm keck einen guten Abend gewünscht habe, zieht er mich schon in eine starke Umarmung und presst seine Lippen forsch auf meine.

 

Ganz schön besitzergreifend der Kerl, stelle ich fest, als wir Hand in Hand zur Kinokasse gehen und er mich auch nur kurz und widerwillig loslässt, um für unsere Karten zu blechen. Wir ziehen uns eine US-Komödie mit platten Witzen rein und während des gesamten Streifens ruht seine Hand entweder auf meinem Oberschenkel, meinem Knie oder er legt seinen Arm einfach um meine Schulter; und immer wieder kommt sein Mund mir nahe. Bastian schlabbert mein Ohr ab, meinen Hals und zwischendurch knutschen wir auch mal hemmungslos rum.

 

Gefällt mir. Es lenkt mich ab von allem.

 

Außerdem ist Bastian mir extrem sympathisch. Wir blödeln herum und er lädt mich noch auf eine Tiefkühlpizza zu sich nach Hause ein. Er wohnt in einer WG in Altona, drei Leute, alles Studenten – wobei Bastian sich gerade ein Semester Pause gönnt, wie er mir erzählt. „Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das BWL-Studium wirklich durchziehen will, bin da eher so reingerutscht, weißte“, sagt er und lächelt leicht, während die Eieruhr in der kleinen Küche tickt.

 

„Kann ich sehr gut verstehen“, entgegne ich grinsend und als ich ihm von meinem Metzgerei-Kellner-Werdegang erzähle, macht er eben nicht wie viele andere, ein abwertendes Gesicht, sondern meint sogar: „Ist doch geil, dass du jetzt erstmal den Abschluss nachholst - und danach kannste immer noch sehen, was dir liegt. Oder eben nicht.“

 

Wir liegen auf jeden Fall auf seinem pechschwarzen Ikea Bett und der Lattenrost quietscht ein wenig, als Bastian sein gesamtes Gewicht auf meinen Körper verlagert und seine Zunge schon wieder in meinen Mund schiebt. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Ganz im Gegenteil, ich beteilige mich an dieser geilen Aktion sogar enthusiastisch.

 

Seine Hände sind überall und auch wenn sein Vorgehen im Gesamten sehr langsam und zärtlich wirkt, ist das Geschehen einfach nur abgefahren. Unsere warmen Körper so eng aneinander gepresst, unser Stöhnen beinahe synchron und seine Finger auf meinem Arsch. Der Typ kann so gut küssen, das macht mich fast wahnsinnig. So sinnlich habe ich Sex schon lange nicht mehr erlebt!

 

Erschöpft lässt er sich neben mich fallen und ich starre immer noch ein wenig in Ekstase die weiße Decke an.

 

„Da sind Spinnenweben“, sage ich noch immer irgendwie neben mir stehend und deute auf die Ecke.

 

Bastian lacht und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Es ist schon spät. Willst du nicht über Nacht bleiben?“, schlägt er dann plötzlich vor und unsere Augen treffen sich. Verdammt. Er ist echt niedlich. Ich nicke.

 

Wir frühstücken Cornflakes mit Vanille-Sojamilch und Bastian macht den ekligsten Kaffee, den ich jemals in meinem Leben getrunken habe, aber ich genieße diesen Morgen trotzdem, denn Bastian ist echt witzig und sieht sogar in seinem Edeka-Fummel noch rattenscharf aus. Er wollte in seinem Urlaubssemester mal was total Banales machen, sortiert jetzt Montag bis Freitag Dosen und Tüten in die Regale in der Filiale bei ihm um die Ecke ein und macht sonst was da. „Ist ein beschissener Job“, sagt er, als ich ihn dort abliefere, „aber irgendwie hilft das, den Kopf freizukriegen.“

 

Dass er mich regelrecht vor den Augen seines Arbeitgebers knutscht, ist ihm scheißegal und es ist wahrscheinlich genau diese Einstellung, die mir so imponiert. Also sage ich auch zu, als er mich fragt, ob wir am Freitag wieder etwas zusammen unternehmen wollen. Ich schwebe quasi auf Wolke 7, als ich nach Hause komme und auch niemand meiner Familie da ist; diese Ruhe ist wundervoll.

 

Doch gerade weil nichts los ist und ich mich faul auf dem Sofa breitmache, um mich durch das Vormittagsprogramm zu zappen, kommen all diese verwirrenden Gedanken zurück und fressen sich einen Weg durch die Erinnerungen an das kürzlich erst mit Bastian Erlebte.

 

Ich komme auf die Sache mit Richard einfach nicht klar.

 

Mies gelaunt schleppe ich mich Tag für Tag zum Unterricht und gehe danach auch noch jeden Abend wie ein braver Schuljunge direkt nach Hause, weil einfach niemand Zeit zum Partymachen hat. Ich surfe im Netz herum, ziehe fast jeden Abend ein verlängertes Beauty-Programm durch, färbe mir die Haarspitzen aus Langeweile knallrot, kritzele in meinen Blocks herum und kreiere abgefahrene Monster, gehe Anna-Maria auf die Nerven, fetze mich total mit Vanessa, weil sie meint, ich würde zu laut Musik hören und verklickere meinem Vater schließlich, wer die Jungfräulichkeit seiner Tochter auf dem Gewissen hat.

 

Alter, was es für ein Drama gibt, ich könnte stundenlang einfach so dasitzen und Popcorn fressen! Karl brüllt Vanessa so laut an, dass unsere Nachbarn das wahrscheinlich noch mitbekommen. Eigentlich total bescheuert, ich meine, meine Schwester ist 17, verdammt! Ich hab das erste Mal gebumst, da war ich… ja, wie alt war ich da? Vielleicht 14? Oder 15? Und ich war noch nicht einmal in einer Beziehung, während meine kleine Schwester ja schon einige Monate lang mit diesem Deniz am rumturteln und Händchenhalten ist.

 

Trotzdem bereue ich meinen Verrat nicht wirklich. Vanessa ist ne miese Zicke und das wird ihr sicherlich eine Lehre sein, mich so anzufahren wegen dem „bescheuertem Rumgetrommel deiner Asi-Punks, die sich als Musiker bezeichnen wollen“.

 

„Du bist so ein Arschloch!“, schreit sie mich an, als sie nach oben stürmt. Kurz darauf fällt ihre Zimmertür krachend ins Schloss und ich gehe grinsend ins Bad, um mir eine Gesichtsmaske aufzutragen. Der Freitag naht und ich muss schließlich blendend aussehen, wenn ich Bastian gegenübertrete. Unsere Zusammenkunft beschert mir auch endlich wieder etwas bessere Laune. Bastian ist geil, er kann gut küssen und er fickt gut und deswegen freue ich mich unheimlich auf Freitagabend.

 

Ich bin so hibbelig, dass ich kaum etwas vom Unterricht mitbekomme und als endlich so weit ist, stürme ich aus dem Gebäude und haste zum Hauptbahnhof, wo Bastian bereits auf mich wartet.

 

„Alter, das Rot ist ja der Hammer!“, ruft dieser aus, als er mich sieht. Dann zieht er mich in einen aufregenden Kuss und seine handvoll Freunde schaut dabei zu, wie wir uns einen fast schon brutalen Zungenkampf liefern. Ich habe mir Mühe gegeben bei meinem Styling. Passend zu der neuen Farbe in meinem Haar habe ich meine ebenso knallrote Röhrenjeans ausgegraben und trage, um das Treiben noch bunter zu gestalten, eine tiefblaue Jacke mit großen, silbernen Knöpfen, die ich mir erst vor einige Monaten zugelegt habe, noch bevor es kalt geworden ist. Das schwarz-weiße Palituch ziert meinen Hals.

 

„Scheiße, siehst du gut aus“, wispert Bastian in mein Ohr, nachdem er mich seinen Kommilitonen und Bekannten vorgestellt hat, mit denen wir dann gemeinsam über die Reeperbahn ziehen. Eine Männertour, wir werden in einen der zahlreichen, dreckigen Läden geschleppt in denen irgendwelche Tussis halbnackt tanzen. Geile Show, aber Bastian scheint das nicht wirklich anzumachen, er fummelt mir lieber am Arsch rum, während ich die Brüste der Tänzerin anstarre. Dann gehen wir noch in einen Pub, eine Bar und enden in demselben Club, in dem Bastian und ich uns kennengelernt haben; dort tanzen wir den Rest der Nacht, bis wir rausgeschmissen werden, weil der Laden dicht mach.

 

Dicht sind wir alle allerdings schon alle seit Mitternacht.

 

Wir stolpern zur Station und Bastian fragt gar nicht erst, sondern zieht mich in die Bahn und letztendlich dann auch in sein Bett. Ich zeige ihm einige meiner Filmchen. Dieses Mal ist unser Zusammensein deutlich härter als das erste Mal und wahrscheinlich wecken wir seine Mitbewohner auch durch unser Rumgestöhne und Geächze und das penetrante Gequietsche des Bettes, aber das ist uns beiden einfach scheißegal, weil es sich so gut anfühlt!

 

Nur am nächsten Morgen geht es uns beiden nicht mehr so toll. Bastian muss die ganze Zeit kotzen, weil er zu viel Alkohol durcheinander getrunken hat und ich kann kaum laufen, weil er mich gestern so durchgenudelt hat. Wir frühstücken erst um 16 Uhr, schlafen danach wieder ein und als ich das nächste Mal aufwache ist es draußen schon stockfinster und nach einer ausgiebigen Dusche geht mir der Arsch plötzlich dann auch auf Grundeis.

 

Mir fällt nämlich ein, dass ich weder die Übungszettel der Woche ausgefüllt, noch Richards Hausaufgaben gemacht habe.

 

„Scheiße!“, fluche ich laut und ziehe mich hastig an.

 

Bastian bietet an, mich nach Hause zu bringen und mir dazu auch noch bei meinen Aufgaben zu helfen, aber ich lehne ab. Ich hasse es, Besuch mit nach Hause zu bringen. Das generiert nur unerwünschte Aufmerksamkeit meines Vaters, aufdringliches Snack-Servieren von Anna-Maria und es bringt Vanessa dazu, eine lebende Wanze zu werden und die ganze Zeit an der Wand zu meinem Zimmer zu kleben. Und da meine Familie nicht wirklich weiß, dass ich beim Rumhuren keinen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein mache, ist es eine total beschissene Idee, mit Bastian zuhause aufzutauchen.

 

Ich meine: Ich hab’s schon öfter durchblicken lassen, dass ich was mit Kerlen habe. Aber niemand zuhause glaubt das und mittlerweile glaube ich, dass es sogar besser ist. Und Richard denkt sicherlich auch nicht daran, es Karl zu verklickern.

 

…was Karl nur zu Richards wahrer Natur sagen würde… Argh. Ich bin so sauer!

 

Und diese Hausaufgaben von Richard sind auch einfach nur scheiße. Ich schaffe nicht alles zu bearbeiten und fahre mit einem mulmigen Gefühl nach Blankenese.

 

Richard, heute mal ohne Brille, sieht sich die Papiere stillschweigend an. Ich beobachte ihn dabei, wie er mit einem Rotstift, ganz der Fulltime-Lehrer Sätze und Ergebnisse anstreicht, ohne mich auch nur ein einziges Mal dabei anzusehen.

 

Erst nachdem er sich in aller Ruhe die Zettel angeschaut hat, beachtet er mich wieder.

 

„Streck deine Hand aus“, meint er plötzlich und ich runzele die Stirn. Was will er von mir? „Hand her“, wiederholt er und streckt mir seine entgegen, sein Blick fordernd. Als ich reagiere und meinen rechten Arm in seine Richtung ausstrecke, wickeln sich seine Finger ruppig um mein Handgelenk und er presst meinen Arm gegen die Holztischplatte, meine Handfläche nach oben zeigend.

 

Dann greift er plötzlich in dieses bescheuerte schwarze Federmäppchen, das er seit einiger Zeit zu unseren Stunden auf den Tisch platziert, und zieht ein Lineal aus Holz heraus.

 

„Au!“, kreische ich schon im nächsten Moment, als eben dieses Lineal auf meine ungeschützte Handfläche nieder braust. Instinktiv versuche ich meine Hand nur eine Sekunde später wegzuziehen, doch Richards Finger krallen sich viel zu stark in mein Fleisch und bevor ich ihn anschreien kann, schlägt er mich erneut mit dem Lineal und das Holz trifft mich beinahe an derselben Stelle, an der es mich schon eben getroffen hat. „Spinnst du?!“, brülle ich und versuche ihm das Lineal mit meiner anderen Hand abzunehmen, aber er schlägt auch da einfach zu, ich zucke zurück und er trifft zum dritten Mal meine Handfläche. „Verdammt, Richard!“

 

„Verdammt, Viktor!“, kontert er spitzt und hält das Lineal hoch. Giftige Augen treffen mich, als ich ihn ansehe. „Willst du mich verarschen, Viktor?“, zischt er und deutet mit dem Maßinstrument auf den Stapel meiner kläglichen Hausaufgaben. „Hm?“

 

Ich schweige, denn ich weiß mal wieder nicht, was ich sagen soll. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Dieser Mann ist wahnsinnig. Und das in keinem positiven, oder gar sexualisiertem Sinne. Ich glaube, er macht mir sogar Angst. Ein Geständnis, das mir nicht leicht fällt, auch wenn ich es nur mir selbst gegenüber ablege.

 

Richard fährt fort. „Dir fehlt es an Disziplin. Denkst du, ich erkenne nicht, dass du diese Aufgaben auf den letzten Drücker gemacht hast? Glaubst du, ich checke nicht, dass du dir dabei absolut keine Mühe gemacht hast und das alles hier, nach all dem was bis jetzt schon geschehen ist, noch immer nicht ernst nimmst? Musst du wirklich erst auf der Straße landen, um zu kapieren, dass es hier um deine Zukunft geht, um deine Lebenserhaltung?! Planst du ein Hartz-IV-Dasein? Dann kannst du teures Spielzeug wie Gaming-Laptops und deine ganze Piercing-Geschichte aber vergessen. Willst du das vergessen? Willst du für jeden Monat nur ein paar hundert Euro haben und dir selbst im Supermarkt Gedanken machen müssen, ob dein Geld überhaupt noch für Nudeln reicht?“

 

Ich presse meine Lippen zusammen; schon wieder ist da dieser Impuls, der mich am liebsten meine Faust ausholen lassen will, aber ich bin paralysiert und dort, wo Richard mich noch immer festhält, beginnt meine Haut unangenehm zu kribbeln.

 

Es klatscht wieder viel zu laut und ich zucke zusammen, als der Schmerz sich über meine Handfläche verteilt, dort wo das Lineal mich abermals getroffen hat.

 

„Hör auf damit!“, zische ich letztendlich zwischen zusammengepressten Zähnen.

 

„Dir mangelt es an Disziplin und scheinbar bist du ein Fall für die alte Schule. Dir ins Gewissen zu reden hilft ja offenbar nicht. An dir prallt die Wahrheit einfach ab. Du verschließt dich regelrecht vor ihr. Aber es wird Zeit, die Scheuklappen abzulegen, mein Freund!“

 

Ich seufze genervt – und ernte damit noch ein paar Schläge mit dem Lineal; erst dann lässt Richard meine Hand los.

 

„Wichser“, murmele ich, als ich meine malträtierte Handfläche massiere.

 

„Möchtest du noch eine Runde Disziplin bekommen?“, fragt mein Nachhilfelehrer mit eisiger Stimme, das Lineal wieder in seiner Hand. Ich weiß, dass er es ernst meint. Alles Wahnsinnige und Abwegige was dieser Mann von sich gibt scheint er todernst zu meinen.

 

„…nein…“

 

„Dann entschuldigst du dich jetzt bei mir und wirst mich nie wieder so nennen. Du wirst mich überhaupt nicht mehr beschimpfen. Wenn du noch einmal Arschloch, Wichser oder sonst eine Abscheulichkeit in meiner Richtung abgibst, prügel’ ich dir deinen Arsch windelweich, sodass dir mein Willkommensgruß mit dem Gürtel wie eine nette Abwechslung erscheinen wird. Haben wir uns verstanden?“

 

Diese Bilder, die ich eigentlich verdrängt haben wollte, graben sich ihren Weg durch mein Gedächtnis und machen sich breit in meinem Bewusstsein. Es gibt plötzlich nichts anderes in meinem Kopf mehr. Mir wird schlecht. Deswegen bleibt mir auch nichts anderes übrig als „Entschuldigung“ zu sagen.

 

„Entschuldigung angenommen“, entgegnet Richard fast schon feierlich und so zufrieden mit sich selbst, dass ich ihm am liebsten noch viel schlimmere Abscheulichkeiten als Wichser oder Arschloch entgegenschleudern würde.

 

So etwas wie Hurensohn. Oder Pimmelzwerg. Oder Hodenkobold. Oder Schweinsfotze. Oder Steckdosenbefruchter. Oder puffgezeugte Arschgeburt. Meine Lippen gleiten in ein zufriedenes Grinsen. In meinem Kopf kann ich ihn so viel beschimpfen, wie mir lieb ist. Wenigstens ein bisschen Genugtuung.

 

„So, Barbie, auf geht’s“, ordnet er an und schlägt das Buch auf.

 

„Okay.“ Du Fickfehler, Teflongesicht und Arschnase.

 

Den Rest der Stunde verbringe ich damit, meine Lust zum Töten zu unterdrücken und Aufgaben zu lösen. Letztendlich verstehe ich sogar einige Sachen. Das ist für Richard allerdings nur Anlass, mir dieses Mal noch mehr Hausaufgaben mitzugeben, aus irgendwelchen Büchern, die er rausgekramt hat. Ätzend.

 

Gut dass Bastian mich anruft, als ich in der Bahn sitze. Wir treffen uns, gehen etwas essen, trinken ein paar Bier; wir labern über Filme und Musik, TV-Serien und Klamottenläden. Letztendlich lande ich wieder in seinem Bett; er küsst mich stürmisch und all diese mir nachhängenden Gedanken an Richard und das Lineal – seinen Gürtel und das abgefuckte Telefonat mit seiner Ex gebunden an diese seltsame Offenbarung – werden für diesen Moment weit, weit weggedrängt.

 

„Willst du nicht bleiben?“, fragte Bastian mich, während er mit meinem Haar herumspielt.

 

„Ich brauche frische Klamotten und morgen treff’ ich mich noch mit Evelyn vor der Schule, das wird mir zu stressig.“

 

„Na, gut. Rufst du mich an?“

 

„Klar.“

 

Ich glaube, der Kerl ist ernsthaft in mich verschossen. Selbiges sagt mir auch Evelyn, während Alyssa wie von der Tarantel gestochen durchs Wohnzimmer rennt und sich dabei ständig auf die Fresse legt, erstaunlicherweise aber nicht anfängt zu plärren, wie viele Kinder es wohl tun würden, sondern debil lacht. Süß die Kleine. Verdammt verrückt.

 

„Seid ihr denn jetzt zusammen oder nicht?“, fragt sie mich.

 

„Kein Plan. Bist du mit dem süßen Typen aus’m Halo zusammen, mit dem du dich ständig triffst?“, lenke ich ab.

 

Evelyn lacht. „Ich treffe mich nicht ständig mit ihm, außerdem ist das bei mir was anderes, ich muss mir das gut überlegen, ich hab die Kleine und ich will ihr nicht irgendwelche Kerle vorstellen, mit denen ich dann vielleicht mal n Monat oder so zusammen bin, die soll doch nicht denken, ihre Mutter ist ne Schlampe.“

 

„Bist du aber, oder?“, necke ich.

 

Meine Freundin verpasst mir einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter. „Nur weil du rumhurst, musst du nicht davon ausgehen, dass ich das auch mache!“, meint sie, aber ich dummes Grinsen verrät sie. „Ich hab halt so was wie ne Fick-Beziehung mit Mehmet.“

 

„Fick-Beziehung“, wiederhole ich das Wort, „vielleicht haben Bastian und ich das auch?“

 

„Ich dachte, du hast ne Fick-Beziehung mit diesem Kurt.“

 

„Das auch…“

 

„Noch irgendwer?“, fragt sie schelmisch grinsend.

 

Noch nicht.“

 

„Du wirst immer schwuler.“

 

„Wie bitte?“

 

„Na, du fickst in letzter Zeit nur noch mit Kerlen.“

 

„Ist ja auch geil.“

 

„Finde ich auch.“

 

Am liebsten würde ich die Schule schwänzen, mich mit einem Bier und ner Pizza aufs Sofa lümmeln und einfach nichts tun, aber meine Freundin zerrt mich regelrecht zum Unterricht, nachdem wir ihre Kleine bei Omi abgeliefert haben. Vielleicht ist das auch besser so. Und das sage ich nicht wegen Richard, sondern weil mir meine Zukunft tatsächlich irgendwie wichtig ist und dieser Penner braucht es nicht ständig zu wiederholen; das geht mir langsam richtig auf den Sack.

 

Ebenso wie diese ständige Fragerei meines Vaters. Was habt ihr heute Interessantes gelernt? Was macht die Mathematik? Wie läuft’s in Deutsch? Wie geht’s deiner Freundin Evelyn, gefällt ihr die Schule auch? Bla, bla, bla. Neuerdings hat auch Anna-Maria angefangen, sich vage zu erkundigen und damit sie nicht heulend zu meinem Vater rennt, der wer weiß was für neue Ideen von Richard in den Kopf gepflanzt bekommt, bemühe ich mich so gut es geht zu antworten, ohne ausfallend zu werden.

 

Das sieht Mrs. Stock im Arsch wohl irgendwie als Friedensangebot an und um ihren Willen deutlich zu machen, beginnt sie mir Brote zu schmieren und verpackt von ihr hergestelltes Mittag- und Abendessen in Tupperware, damit ich es mir nach der Schule warmmachen kann. Ich weiß nicht, was sie getan hat, ob ihr mein Dad einen Kochkurs geschenkt hat oder sie sich endlich mal in der Küche konzentriert, aber die Sachen die sie so fabriziert schmecken in letzten Zeit gar nicht mal so scheiße.

 

Den Nudelauflauf mit Gorgonzola schnabulierend sitze ich vorm Rechner und versuche nicht die ganze Zeit auf meinen favorisierten Porno-Seiten rumzusurfen, sondern mich auf meine Übungszettel und die Aufgaben von Richard zu konzentrieren.

 

Bei dem Gedanken an diesen Mann und die mir blühende Nachhilfestunde in zwei Tagen wird mir mal mordsübel. Mir passt es nicht, dass dieser Mistkerl mich in der Hand hat, obwohl ich es doch eigentlich bin, der sein finsteres Geheimnis kennt.

 

Dass Richard seine Giulia mit nem Kerl betrogen haben soll, raffe ich noch immer nicht. Wahrscheinlich, weil ich versuche, nicht daran zu denken.

 

Ist es ein Arbeitskollege gewesen? Ein Flirt in einer Schwulenbar? Ist es ein alter Freund gewesen, mit dem schon mal was während der Schulzeit gelaufen ist, das jetzt nachgeholt werden musste? Hat er etwas Neues ausprobieren wollen und ist im Internet fündig geworden? Ist es vielleicht ein Freund seiner Ehefrau gewesen? War es wirklich nur eine einzelne Episode oder haben sie es öfter getrieben?

 

Treibt Richard es noch immer mit Kerlen?

 

Ich wälze mich von einer Seite auf die andere. Vielleicht hätte ich heute Abend lieber auf die Piste gehen sollen, anstatt wie ein braver Schuljunge nach der Schule den Heimweg anzutreten, die Hausaufgaben zu erledigen und nun schlaflos in meinem Bett zu liegen.

 

Richard macht mich wahnsinnig und ich kann das nicht ausstehen.

Er verwirrt mich und er macht mir wirklich Angst. Dieser Mann scheut vor nichts zurück. Was hat er mir schon alles angetan? Er hat mir den Hintern versohlt, mir einen Kinnhaken verpasst, mir was auf die Rübe gegeben und mich mit dem Lineal misshandelt. Hinzu kommt natürlich noch, dass er meinen Vater gegen mich aufgebracht hat, mir meinen Sonntag genommen hat und mich psychisch unter Druck setzt – er macht mich fertig.

 

Und all das kann ich niemandem erzählen. Es reicht schon, dass Kurt das mit dem Gürtel weiß. Ob er mir das mit dem Kerl glauben würde? Wahrscheinlich nicht. Das hört sich zu sehr nach einer von mir selbst gestrickten Geschichte an. Ich seufze schwer.

 

Diese Gedanken treiben mich in den Wahnsinn…

 

Es ist arschkalt, als ich mich am Samstagmorgen mit Bastian treffe; er wollte unbedingt mal mit mir frühstücken gehen. Er erzählt mir von einigen Edeka-Stammkunden und dass er über Weihnachten zu seinen Großeltern nach München fahren wird. Ich erfahre mehr über ihn: Dass er gerne Snowboard fährt, dass er Schwimmen hasst, dass er am liebsten Zartbitterschokolade isst, dass er irgendwann mal in die USA will und noch so einige Kleinigkeiten, die ich mir leider nicht merken kann.

 

Wir gehen shoppen und als er meine Hand greift, protestiere ich nicht. Wir legen uns beide ein neues Paar Hosen zu, ich kaufe mir noch eine neue Winterjacke. Wir gehen Kaffee trinken, decken uns mit Kosmetika ein und gönnen uns noch ein dickes Burger-Menü bei Jim Block, dem wohl trendigsten Fast-Food-Laden Hamburgs, jedenfalls unserer Meinung nach. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof, am späten Nachmittag, fallen mir noch ein paar coole Sneaker im Schaufenster auf, die ich prompt anprobiere. Mein Bargeld ist alle, also zücke ich meine EC-Karte, doch so Gott es will, das Lesegerät macht Probleme und will die Transaktion nicht durchführen.

 

Ich lasse das Paar zurücklegen und renne zusammen mit Bastian durch den kalten Schneeregen zur nächsten Sparkasse – und raste aus!

Auf meinem Konto sind noch genau fünf Euro und bei näherer Betrachtung, weiß ich auch wieso: Mein Alter hat mir anstatt der normalen 500 Euro Taschengeld, nur 250 überwiesen. So eine Scheiße! Ich hatte vergessen, wie ernst Karl es meint. Wegen Richard. Und dessen beschissenen Methoden. Und meiner Zukunft. Ich verdrehe die Augen.

 

„Alles okay?“, fragt Bastian mich.

 

„Nein, ich kann mir diesen Monat nur noch eine Schachtel Zigaretten leisten und das war’s…!“, entgegne ich angenervt.

 

„Komm, ich geb’ dir eine aus“, lenkt er beschwichtigend ein, aber ich kann mich einfach nicht beruhigen. Am liebsten würde ich jetzt nach Blankenese fahren und Herr Vogt eine reinhauen, sein Auto zerkratzen, seine Wohnung verwüsten und laut in die Welt hinausschreien, dass er seine Ehefrau mit irgendeiner Schwuchtel betrogen hat. „Vik?“

 

„Sorry, ich bin grad derbe angenervt!“, meine ich nur. „Ich meine, die Party heute kann ich vergessen!“

 

„Keine Sorge, Baby…“, schnurrt Bastian und legt seine Arme um mich, sein Mund direkt an meinem. „Ich geb’ dir heute einfach alles aus, Hauptsache du bist dabei, okay?“ Ich hab noch nicht einmal geschafft ihm zu antworten, da schiebt er schon brüsk seine Zunge in meinen Mund und lässt seine Hände in die Hosentaschen an meinem Arsch, spielerisch hinein kneifend.

 

„Aber nur, wenn wir jetzt erstmal zu dir fahren und du mir das Hirn aus dem Schädel bumst, okay?“, antworte ich.

 

Schließlich kann ich so endlich aufhören über all den Mist nachzudenken und habe auch noch Spaß dabei. Bastian brauche ich das jedenfalls nicht zwei Mal zu sagen, schon in der Bahn kann er seine Finger nicht von mir lassen und wir ernten viel zu viele missbilligende Blicke und ein paar schwachsinnige Kommentare eben von Schwachmaten, die ihre Männlichkeit bedroht sehen; wenigstens artet es nicht aus und wir schaffen es heile in die WG.

 

„Ey, versucht dieses Mal leise zu sein, okay?“, ruft uns noch Bastians Mitbewohner erheitert aus der Küche zu, dann schon fällt die Tür ins Schloss und ich muss kichern.

 

„Sei bloß nicht leise! Ich steh total drauf, wenn du so abgehst!“, raunt Bastian mir noch ins Ohr, bevor er uns beide aus den Klamotten schält und ungeduldig das Kondompäckchen aufreißt. Er geht ganz schön rau mit mir um, aber genau das brauche ich auch gerade. Hemmungslosen, rauen, heftigen Sex; und natürlich bin ich nicht leise.

 

Auch auf der Party schreie ich mir die Seele aus dem Leib, als wir alle mitgrölen zu dummen Partyliedern. Linda und ihre Leute sind auch da, wir tanzen, wir springen umher und ich habe dank Bastian immer ein Bier in der Hand. Er knutscht mich ab und packt mich überall an. Die Bässe der Musik bringen mein Hirn zum Vibrieren; keine Ahnung wie ich plötzlich in Bastians Bett lande, aber genau hier wache ich auf und all meine Glieder tun mir weh.

 

„Scheiße, scheiße, scheiße…!“, murmele ich, als ich auf Bastians großer Digitaluhr über seinem Bett erkennen muss, dass ich in genau einer Stunde bei Richard antanzen muss.

 

Bastian pennt noch, als ich unter die Dusche springe. Wenigstens habe ich eine frische Hose, die die ich mir gestern gekauft habe. Ich stibitze mir noch einen der kleineren Pullover aus Bastians Kommode und packe mich auch in die neue Winterjacke ein, dann düse ich los. Als ich Hauptbahnhof bin, gebe ich auch die letzten fünf Euro für ein belegtes Brötchen aus, das zum Kotzen schmeckt und richtig satt werde ich davon auch nicht.

 

Mir ist schon wieder schwindlig, als ich diese verhassten Treppen hinaufsteige, meinem Untergang entgegen. Dass ich wieder verkatert bin, wird Richard an die Decke bringen – aber wenigstens bin ich nicht zu spät, und sogar fünf Minuten zu früh da. Als mein Nachhilfelehrer mir die Tür öffnet, weht der Geruch frischen Kaffees direkt in meine Nase, mein Magen knurrt.

 

„Na du siehst ja wieder frisch aus“, bemerkt Richard abwertend, nachdem er mich von oben bis unten gemustert hat. „Ich hatte es schon geahnt“, fügt er an, und als ich diesen beschissenen „Lehrraum“ betrete, bin ich schon wieder sprachlos. An meinem Platz stehen ein riesiger Teller mit reich belegten Sandwiches, eine große Flasche Wasser, daneben eine Cola und sogar noch ein Teller mit Keksen. „Bedien dich, solange gehe ich deine mitgebrachten Papiere durch, dann sehen wir uns deine Fehler genau an und arbeiten weiter.“

 

Ich bin ein wenig verdutzt, von dieser freundlichen Art, die Richard plötzlich an den Tag legt, aber ich möchte mich nicht beschweren: Ich haue rein. Ist mir egal, wenn der Typ sich einschleimen will: Hauptsache ich kriege jetzt was richtiges zu Beißen, sonst stehe ich diesen Tag definitiv nicht durch.

 

„Schmeckt’s?“, will er plötzlich wissen, als ich mich schon über die Kekse hermache.

 

Ich nicke. „Danke“, füge ich noch zuckersüß und völlig übertrieben an. Richard verzieht kurz das Gesicht, sagt aber nichts mehr bezogen aufs Essen, sondern: „Dieses Mal hast du gar nicht so viele Fehler gemacht, Barbie.“

 

„Oh, ist das etwa ein Lob?“, necke ich ihn lasziv.

 

Richard sieht mich skeptisch an. „Dafür musst du wenigstens 70 Prozent richtig bekommen und das, mein Freund, liegt noch in weiter Ferne.“

 

„Aber Gott sei Dank bist du ja hier und rettest mich!“, flöte ich und klappere gespielt mit meinen Wimpern, während ich ihn ebenso theatralisch anschmachte. Dafür ernte ich aber nur ein weiteres Mal einen Schlag mit dem zusammengerollten Heft auf den Kopf.

 

„Reiß dich zusammen“, ist alles, was Richard sagt, bevor er mit der Lektion des Tages loslegt und wir uns mit hässlichen Zahlen und Formeln und Zusammensetzungen beschäftigen. Er bleibt ruhig, wahrscheinlich weil ich ruhig bin, weil ich tatsächlich fasziniert davon bin, dass ich einige von meinen Fehlern verstehe und auf dem Papier beheben kann. Außerdem bin ich natürlich immer noch im Arsch vom Feiern…

 

„Wir machen eine kleine Pause“, bestimmt Richard nach einer Stunde und steht auf. „Willst du noch Kaffee?“ Ich nicke. „Okay, ich setze noch welchen auf.“

 

„Ich gehe mal eben ins Badezimmer.“ Da darf ich schließlich hin.

 

Wie immer ist es viel zu sauber, der Wasserhahn blinkt regelrecht. Ob Richard eine Putzfrau hat? Vielleicht ist er auch einfach pedantisch. Oder er hat keine Hobbys. Bis auf das Klugscheißen als Nachhilfelehrer.

 

Als ich den Flur betrete, höre ich Richard mit jemandem sprechen. Seine Stimme dringt aus einem der verschlossenen und für mich nie einsehbaren Zimmern. Vorsichtig schleiche ich mich heran; es ist die Tür am Ende des Flurs, an die ich schließlich mein Ohr halte, um mehr zu erfahren. Wortfetzen erreichen mich, die ich nicht zusammensetzen kann, und das ärgert mich.

 

Wahrscheinlich ist es dieser Ärger, der mich dazu bringt, diesen gar verbotenen Flur hinunter zu tapsen. Ich lege die Hand auf die Türklinke. Schlafzimmer? Arbeitszimmer? Gästezimmer? Diese Frage will ich beantwortet haben, die Tür geht auf und…

 

„Hey!“, zischt Richard streng und ich wirbele herum. Da steht er, das Telefon noch an sein Ohr gedrückt und starrt mich aufgebracht an. „Ich rufe zurück“, sagt er in den Hörer, dann stampft er schon auf mich zu, packt mich an meinem Arm und zerrt mich zurück an den Tisch, ich kann gar nicht reagieren, so sehr bringt er mich mal wieder aus dem Konzept. Er schiebt mich brüsk zurück auf meinen Stuhl und stiert mich wütend an.

 

„Ich dachte, ich habe mich klar ausgedrückt, als ich dir gesagt hab’, der Rest der Wohnung geht dich nichts an?“ Seine Stimme schneidet die Luft. Richard faltet die Hände ineinander.

 

„Sorry?“, meine ich. „Diese dumme Neugier“, füge ich ironisch an nehme dieselbe Haltung wie er an, einfach, um ihn ein bisschen auf den Geist zu haben. Habe ich heute schließlich noch nicht gemacht. Außerdem ist dieser Hornochse der Grund für mein finanzielles Problem. Arsch.

 

„Lenk deine Neugier mal lieber auf deine schulischen Aktivitäten“, sagt er kalt.

 

„Ich lenke meine Neugier lieber auf meine sexuellen Aktivitäten“, entgegne ich locker und schaue ihm direkt in die Augen.

 

Richard sieht mich amüsiert an. „Du bist wirklich notgeil, oder? So schwer, jemanden aufzureißen?“

 

„Wetten, ich hab mehr Sex in einer Woche als du in einem gesamten Monat? Ich meine…“, durch meine dunkle Mähne streichend mache ich eine kurze Pause, „deine Frau ist weg, der Kerl mit dem du gefickt hast war offenbar tatsächlich nur eine Ausprobier-Nummer, jetzt bist du verwirrt was deine Bedürfnisse und Gelüste angeht, und die Welt ist so ungerecht; wetten, du kriegst ihn nicht einmal mehr hoch?“ Mit einer Kopfbewegung deute ich auf seinen Schritt. „Deswegen bist du auch so frustriert.“

 

Richard lacht. Kalt und – zu meiner Zufriedenheit – auch ein wenig verärgert. Er schüttelt den Kopf und schiebt mir das aufgeklappte Bio-Buch vor die Nase.

 

„Komm, weil du scheinbar so ein Experte bist, möchte ich, dass du mir die Fragen hier beantwortest. Wenn du alles richtig beantwortest, kannst du gehen. Ein Fehler – und du bleibst noch mindestens bis acht hier.“

 

„Bis acht? Bist du bescheuert?!“, fahre ich ihn an wie eine aufgescheuchte Katze.

 

Mein Nachhilfelehrer grinst und verschränkt die Arme vor der Brust. „Und plötzlich ist die Selbstsicherheit dahin…“, kommentiert er meine Reaktion.

 

„Tse!“, mache ich und setze mich an die Aufgaben. Nach einer Viertelstunde bin ich fertig und Richard geht meine Antworten durch. Als er den Rotstift mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen zieht, weiß ich, dass mein Schicksal besiegelt ist.

 

„So, Barbie – dann haben wir ja jetzt noch ein bisschen Zeit. Worauf hast du Lust? Noch ein wenig Mathe?“

 

„Sex“, antworte ich und Richard rollt mit den Augen.

 

„Ganz ehrlich, ich glaube meine Großmutter hat mehr Sex als du. Wer ständig davon redet – der kann nicht genug davon haben, ganz im Gegenteil“, meint er trocken.

 

„Du bist so frigide…“, schnurre ich und Richard knallt mir das Mathebuch vor die Nase.

 

Ich komme erst gegen neun nach Hause und im ersten Moment weiß ich gar nicht, was los ist, so aufgebracht und unmöglich führt Karl sich auf; pampt mich an, dass ich meine Schuhe nie richtig hinstelle, dass ich nicht alles aufesse was Anna-Marie mir vorbereitet habe, dass ich ihm nie sage, wo ich bin, und schließlich meckert er rum, weil Richard ihm wohl verklickert hat, ich hätte gegen seine Regeln verstoßen und Karl solle noch härter durchgreifen.

 

Und das tut Karl dann auch, informiert mich, ich müsse meine Handyrechnung von nun an selbst zahlen – und dass ich Internetverbot habe, und zwar bis Weihnachten; dieser blöde, blöde, blöde Nussknacker und Penner hat tatsächlich das WLAN-Passwort geändert! Und wenn ich diese ganze Scheiße, die ich mir reinziehe, über mein Handy ziehe, dann explodiert die Rechnung und momentan habe ich – ums noch einmal zu sagen – nichts mehr auf der Bank!

 

„Vanessa! Gib mir das scheiß Passwort!“, schnauze ich meine kleine Schwester an, aber sie schlägt mir ihre Zimmertür vor der Nase zu, klemmt dabei fast meinen Finger ein und kreischt zurück: „Leck mich!“

 

„Bah, das ist ja widerlich!“, rufe ich noch durch die Tür, ernte aber nur einen genervten, mädchenhaften Aufschrei und irgendetwas prallt gegen das Holz, wahrscheinlich ein Buch.

 

Ich hab also kein Geld mehr und keinen Internetzugang. Herrlich. Ein Gespräch mit Karl bringt nichts. „Du benimmst dich wie ein Kind, also behandele ich dich auch wie eins!“, ist alles, was er dazu sagt, mit grimmiger Miene, die mich einfach zu sehr an seinen dämlichen Freund Richard erinnert. Und am nächsten Morgen in der Küche fügt er noch hinzu: „Du allein gibst dein Geld für Scheiße aus, also leb damit. Du zahlst keine Miete, du musst dir dein Essen nicht selbst finanzieren, ich zahle dir sogar deine dämliche Fahrkarte – und glaub mir, alles was ich im Monat für dich ausgebe, ist weit mehr als das Kindergeld was auf dein Konto fließt. Wann erkennst du eigentlich endlich, wie gut du es hier hast?“

 

Weihnachten kommt näher, und damit auch die Ferien – und ich habe kein Geld.

 

Die Hölle auf Erden beginnt.

 

Evelyn geht ins Halo – und ich kann nicht mit.

Linda geht Bowlen – und ich kann nicht mit.

Bartosch startet eine Sauftour – und ich kann nicht mit.

 

Zuhause habe ich nichts mehr zu tun. Mit meinem dämlichen Smartphone surfe ich schon nach wenigen Tagen mit gedrosselter Geschwindigkeit und so braucht selbst meine Facebook-App gefühlte Stunden, um zu laden. Mir fehlt meine Canon, Handybilder von mir selbst zu schießen, ist einfach nicht dasselbe. Und das Hochladen, wegen des eben beschriebenen Problems, ist eh nicht möglich.

 

Das Schlimmste ist, dass ich mir meine Zigaretten nicht mehr leisten kann. Bastian hat mir jetzt schon drei Packungen ausgegeben, aber er gibt mir schon Essen aus, wenn wir uns Treffen, er kauft mir Bier und Cocktails und bezahlt den Disco-Eintritt und reich ist der Junge eben auch nicht und muss schließlich STOPP sagen, weil er sich sonst die Fahrkarte nach München nicht leisten kann.

 

Ich bin geladen. Alle gehen am Samstag weg, selbst meine kleine Schwester ist zu irgendeiner dummen Party eingeladen, und was mache ich? Ich ziehe mir uralte Zeichentrickfilme rein und stopfe Chips, Schokolade und Lasagne gleichzeitig in mich hinein. Seitdem ich kaum noch rauche, esse ich fast ununterbrochen. Ich glaube sogar, dass ich ein wenig zugenommen habe, auf jeden Fall sitzen meine Hosen irgendwie anders.

 

Unter Karls strenger Aufsicht darf ich mich wenigstens mit meinem Laptop ins Wohnzimmer setzen, um ein bisschen was für meine Übungszettel und diese beschissenen Hausaufgaben von Richard im Netz rauszufinden. Dieses Mal fülle ich alles aus, streite mich unheimlich mit Karl, weil er mir ständig über die Schulter schaut, um sicherzustellen, dass ich auch nichts im WWW mache, das auch nur ansatzweise mit meinem Privatleben zu tun hätte, und mich das unheimlich nervt.

 

Wenigstens erwartet mich bei Richard mal wieder ein kleines Buffet, gegen das ich nicht protestiere und als ich gierig alles verschlungen habe, sagt mein Nachhilfelehrer sogar: „Du wirst besser, good job!“ Ich falle fast vom Stuhl. Auch weil er mir keins auf den Kopf verpasst, oder sein dämliches Lineal rausholt oder mir mit einem Anruf bei meinem Vater droht. Vor-Weihnachtsstimmung, oder so.

 

In der befindet sich offensichtlich auch Karl.

Nachdem ich Bastian mit einem tiefen Zungenkuss am Bahnhof verabschiedet habe und mit einem komischen Gefühl nach Hause fahre – ich habe nichts anderes zu tun – verkündet mein Vater mir, dass Richard an unserem Dinner zu Heiligabend teilnimmt.

 

„Ja stimmt“, sage ich mitleidig, „er ist ja soooo allein.“ Karl ignoriert meine Aussage und ich bin so gelangweilt, dass ich tatsächlich anfange ein Buch zu lesen, das Vanessa mir gnädigerweise geliehen hat. Am 24. Dezember bin ich tatsächlich schon beim dritten Band von „Harry Potter“ und unheimlich genervt von Mrs. Stock im Arsch, die mir an diesem Tag schon zum dritten Mal mein Outfit diktiert; am liebsten würde ich mir die abgefucktesten Klamotten meiner Sammlung schnappen, nur um ihr auf den Geist zu gehen. Der Gedanke an das Duo Richard-Karl stimmt mich jedoch um und ich schlüpfe tatsächlich in den von Frau Zetel bereitgelegten, glattgebügelten, dunklen Anzug.

 

Ich sehe seltsam gut darin aus. Am liebsten würde ich das Bild Bastian schicken. Aber mein Handy lässt mich fast gar nichts mehr normal machen.

 

Als ich die Treppe hinuntergehe, schellt die Türglocke. Karl lässt Richard hinein und ich erstarre. Nicht, weil Richard unverschämt gut aussieht in einem edlen Anzug mit weinroter Krawatte. Nein. Es ist die Art, wie er meinen Vater ansieht. Ich sehe Richard Vogt zum ersten Mal ehrlich lächeln; er strahlt regelrecht, als Karl und er sich umarmen und sich auf diese freundschaftliche Art auf die Schulter klopfen und Begrüßungsformel austauschen. Seine Augen schimmern auf diese aufregende Weise und seine Wangen sind in ein leichtes Rot gefärbt.

 

Heilige Scheiße.

Es ist so offensichtlich.

Richard ist verschossen.

Und Karl hat keinen blassen Schimmer.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  z1ck3
2017-10-16T21:22:43+00:00 16.10.2017 23:22
Scheiße und er kann es wieder nicht benutzen...


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