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Josephine Klick - Allein unter Cops

von

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Clemens hatte alle Fensterscheiben abgeklebt und sein Funkgerät rausgesucht, nachdem Fritz mit ihm über das Megafon Kontakt aufnahm. Mich beruhigte die Stimme von Fritz. Sie waren hier und würden mich retten.
 

Solche Situationen kannte ich nicht. Bisher war ich noch aus jeder Lage selbst rausgekommen, aber diese Sache hier schien ohne fremde Hilfe aussichtslos zu sein.
 

„Hallo? Haaallo...“, sprach Clemens ins Funkgerät. Er musste auf der Sequenz des Polizeifunks senden, denn kurz darauf antwortete ihm Alex.

„Herr Bremer, hier ist Alexander Mahler. Ich bin von der Kripo.“

„Hallo Alexander, bist du einer von den Bullen, die mich gestern festgenommen haben?“

„Korrekt“, bestätigte Alex kurz.

„Das hier ist eure Kollegin.“ Es war keine Frage von Clemens - mehr eine Feststellung.

„Ja, lassen Sie sie gehen“, antworte Alex betont ruhig, auch wenn ich die Anspannung in seiner Stimme nur zu deutlich hören konnte. Geiselnahmen waren für alle Beteiligten immer ein heikles Thema. Zu wenige davon nahmen ein gutes Ende.
 

„Wollt ihr sie wiederhaben? Die ist hübsch, ne...? So blaue Augen und alles...“ Warum versucht Clemens die Männer zu provozieren?

„Sie lassen Sie jetzt sofort gehen, ist das klar?“ Alexanders Stimme klang energischer und bestimmter als zuvor.

Ob die Verstärkung schon da war? Was war ihr Plan? Würden sie schießen, obwohl alle Scheiben abgedeckt waren? Dieses Risiko gingen sie gewiss nicht ein.
 

„Gefällt sie euch auch so gut wie mir? Seid ihr scharf auf eure Kollegin? Seid ihr geil auf sie?“ Alex antwortete nicht. Es erregte Clemens zusehends mit meinem Partner über mich zu sprechen – mit ihm zu spielen.
 

„Hallo? Hallo Alexander? Sind Sie geil auf Ihre Kollegin?“

Keine Antwort. Was sollte er auch zu einer kranken Person wie Clemens sagen?

„Ja oder nein?“, hakte Clemens weiter nach. „Wir sind Männer, da gibt es nur ja oder nein.“

Er wartete einen kurzen Augenblick, aber noch immer erwiderte Alex nichts. „Alexander haben Sie schon mal masturbiert und haben dabei an Ihre Kollegin gedacht?“
 

Mir wurde schlecht bei seinen Worten. Mein Magen drehte sich und ich musste mich für einen Moment von ihm abwenden. Als mein Blick erneut seinen traf, erkannte ich das Glitzern in seinen Augen. Er war in seinem Element.
 

„Sagen Sie die Wahrheit und dann lasse ich sie frei...“ Mein Atem stockte nur für einen Augenblick. Wie naiv von mir nach all der polizeilichen Erfahrung zu glauben er würde es ernst meinen. Er spielte mit uns. „Wenn Sie lügen...“ warnte er.

„Sie lassen sie jetzt sofort gehen, ist das klar?“, forderte Alex.

„Falsche Antwort, Mensch“, brüllte Clemens aufgebracht in das Gerät und ich zuckte zusammen. „Zum Thema jetzt...“
 

„Nein, ich bin nicht geil auf meine Kollegin.“ Alex klang wieder ruhig und gesammelt. Clemens wandte sich an mich.

„Stimmt das?“, fragte er enttäuscht.

Ich nickte und wisperte ein leises `Ja´.
 

„Den Anderen“, forderte Clemens. „Kann ich den Anderen mal sprechen...? Hallo... Hallo? Haaallooo...“ Ein Moment verging.

„Ja, hier ist Fritz“, hörte ich Fritz übers Funkgerät sagen. Er klang atemlos und hitzig.

„Hallo Fritz.“ Clemens klang erfreut. „Sind Sie geil auf Ihre Kollegin?“

Mein Atem stockte, als ich auf die Antwort wartete. Es verging gefühlt eine Ewigkeit bis ich Fritz hörte, der offensichtlich um Beherrschung kämpfte.
 

„Jetzt hör mir mal zu du perverses Schwein, wenn du ihr was antust, dann bringe ich dich um. Ich bringe dich um, hast du mich verstanden?“ Fritz brüllte die letzten Worte über das Funkgerät. Ich konnte das Echo draußen hören.
 

Clemens lachte laut auf, bevor er sich zu mir drehte und mich erneut mit diesem wahnsinnigen Blick ansah. „Das werte ich jetzt mal als ein ganz, ganz klares `Ja´“, sprach er in den Funker. „Der steht auf dich“, flüsterte er mir halblaut vom Funk abgewandte zu.

Ich sollte nicht weiter darüber nachdenken. Immerhin kam es von einem Verrückten, aber im Moment klammerte ich mich an alles was mich beruhigte und wärmte.
 

„Hier spricht Manfred Klick“, hörte ich plötzlich die Stimme von meinem Vater. Was um Himmels wissen machte er hier? Er war wirklich der letzte Mensch, den ich im Moment hier haben wollte. „Lassen Sie meine Tochter frei. Sie können bekommen was Sie wollen, aber lassen Sie meine Tochter frei.“ Er klang flehend und meine Brust zog sich bei seinen Worten zusammen.

„Familientreffen...“, flüsterte Clemens ganz aufgeregt.
 

„Josephine.... Geht´s dir gut?“, hörte ich erneut die besorgte Stimme meines Vaters. Clemens drückte mir den Funksprecher in die Hand.

„Ja, es geht mir gut“, antwortete ich knapp. Was sollte ich auch sonst auf diese Frage antworten?

„Wirklich?“ Ich stöhnte innerlich. Das konnte er doch nicht ernst meinen.

„Nein, man“, brüllte ich halb wütend, halb verzweifelt. „Ich sitze hier neben einem Frauenmörder, angekettet und er fuchtelt die ganze Zeit mit seinem Messer rum. Natürlich geht es mir nicht gut.“ Meine Stimme zitterte. Ich wollte jetzt nicht mit ihm reden - nicht jetzt, nicht so.
 

„Ich will dir doch nur sagen, Josephine, dass ich dich liebe.“ Seine Stimme brach und mir tat die Schroffheit meiner Worte beinahe leid.

„Ja, das ist lieb“, erwiderte ich schwach.

„Familienprobleme?“, fragte Clemens neugierig. Dieser Typ widerte mich an. Was ergötzte er sich so am Leid anderer?
 

Wieder erklang die Stimme von meinem Vater. „Wir wollen doch alle, dass du zurückkommst.“

Musste er wirklich so einen Moment wählen um über dieses verhasste Thema zu sprechen? Darüber hätten sie früher nachdenken können - vielleicht bevor mir das Herz aus der Brust gerissen wurde und ich Bielefeld verlassen musste...
 

„Papa, dafür ist es jetzt gerade ein bisschen spät. A! Weil ich gleich tot bin. Und B! Wäre ich sowieso nicht zurückgekommen.“

Mein Vater wandte sich wieder an Clemens. „Herr Bremer, nehmen Sie doch mich als Geisel. Sie können doch bekommen was Sie wollen, freies Geleit! Sie können Geld bekommen! Aber bitte, bitte lassen Sie meine Tochter frei.“
 

Die Selbstzufriedenheit stand Clemens ins Gesicht geschrieben. „Was ist denn da zwischen euch vorgefallen?“, fragte er aufgeregt.

Sein Benehmen widerte mich so an, dass ich für einen Moment meine Angst vergaß. Ich musste wohl noch die Funktaste gedrückt halten, denn ich hörte mein eigenes Echo, als ich ihn anbrüllte. „Man, das geht Sie einen Scheißdreck an!“
 

Ich atmete schwer und versuchte mich wieder einigermaßen zu beruhigen.

„Josephine...“, drang die Stimme von Fritz ganz ruhig und sanft durch meine Gedanken. „Hörst du mich?“ Er wirkte fokussiert, wie ich es von ihm bei allen Einsätzen kannte.
 

„Erzähle uns die Geschichte“, forderte er mich auf.

„Fritz, bitte hör auf!“ Warum tat er das? Ich wollte nicht darüber sprechen. Seit Berlin mein neues Zuhause war, mied ich darüber zu reden oder auch nur darüber nachzudenken. Konnte man mich nicht einfach mit der Vergangenheit abschließen lassen?
 

Fritz bat mich erneut darum. „Erzähle uns die Geschichte von Anfang an, okay?“ Seiner Bitte klang ein fordernder Unterton nach. War es Teil eines Plans? Aber gerade Fritz war die letzte Person, der ich diesen Teil meiner Vergangenheit erzählen wollte.
 

Im selben Moment erinnerte ich mich an gestern als Fritz, Alex und ich vorm Einsatz im Auto saßen. Nachdem ich mich aus Nervosität heraus über die Sorgen der beiden lustig machte, hatte sich Fritz zu mir umgedreht und mich ernst angesehen.

„Nichts jaja, verdammt!“, fluchte er. Er atmete tief durch und sagte mit ernster Stimme: „Josephine, du machst nie was ich dir sage. Nie! Aber dieses Mal machst du es! Bitte!“
 

Ich war auf seine Bitte gestern Abend nicht eingegangen, aber heute würde ich ihm nichts abschlagen. So schwer es mir auch fiel, aber wir waren ein Team. Ich konnte mich auf ihn verlassen. Egal was er damit bezwecken wollte, ich musste darauf vertrauen.
 

„Gut, Fritz. Ich erzähle sie dir“, begann ich mit zitternder Stimme. „Ich erzähle sie euch allen da draußen. Und auch dir noch einmal, Papa.“ Ich atmete kurz durch um die nötige Kraft zu tanken. „Vor einem halben Jahr bin ich zu einem Einsatz gerufen worden. Ich war auf der Wache. Es war ein schöner Tag. Ich war glücklich, sollte am nächsten Tag heiraten. Dann kam der Anruf: Ein Freigänger ist nicht zurück in die Haftanstalt gekommen. Er wurde in einer Wirtschaft gesehen. Ich kannte den Wirt. Man kennt sich ja ...“
 

Ich erzählte, wie ich ins Wirtshaus kam und nach dem Freigänger fragte. Der Wirt wirkte nervös, behauptete aber nicht zu wissen, wo der Häftling sei. Er blickte verstohlen zu einer Tür. Auch wenn er versuchte mich aufzuhalten, ging ich ins Zimmer und fand nicht nur meine Kollegen sondern auch meinen Vater und meinen Verlobten feiern.
 

Der Mann, den ich einen Tag später heiraten wollte, hatte sich über eine Nutte gebeugt und ihr die Muschi geleckt. Wie konnte ich so jemanden heiraten? Wie konnte ich diesen Kollegen jemals wieder in die Augen blicken? Wie konnte ich meinem Vater jemals wieder vertrauen?
 

„Was habt ihr denn erwartet?“, fragte ich meinen Vater verletzt. „Dass ich einfach so weitermache?“ Die Geschichte noch einmal zu durchleben wühlte mich innerlich auf und mir traten Tränen in die Augen.
 

Clemens klebte während der ganzen Geschichte regelrecht an meinen Lippen und hoffte jetzt wohl noch weitere Details zu erfahren. Dass sich langsam auf der Motorhaube geräuschlos ein Schatten aufbaute, registrierte er nicht. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, bereitete mich aber auf das Eingreifen meiner Kollegen vor. Nicht einmal einen genauen Umriss konnte ich erkennen, aber wer außer Fritz würde so eine Aktion starten?
 

Dann ganz plötzlich ging alles rasend schnell. Ich hörte einen Schuss, das Klirren von zerbrochenem Glas und den Aufschrei von Clemens. Der Schuss hatte wohl nur harmlos seinen Kopf gestreift. Er reagierte schnell, schmiss das Auto an, lies den Motor aufheulen und fuhr rückwärts. Meine Hände waren zwar angekettet, aber ich versuchte mit meinem Fuß ihn am Weiterfahren zu hindern. Jedoch erreichte ich nur das Lenkrad und verdrehte es. Clemens verlor die Kontrolle über den Wagen und wir knallten gegen hartes Metall. Als das Eisen sich verbog und mir klar wurde, dass es nur die Brüstung der Brücke sein konnte, erwartete ich jeden Moment in die Tiefe zu stürzen. Aber der Wagen kam zum Stehen.
 

Im nächsten Moment riss Fritz die Tür von Clemens auf und zerrte ihn aus dem Wagen. Ich sah das Glühen und den Zorn in seinen Augen.

„Ihr bleibt zurück!“, rief Alex im Hintergrund. Durch die offene Autotür erkannte ich, wie Fritz ausholte und Clemens mit der Faust eine verpasste. Dieser ging sofort zu Boden. Alex hielt Fritz auf, der Clemens ein weiteres Mal schlagen wollte. „Fritz ist gut!“, brüllte Alex ihn an und beugte sich über Clemens.
 

Fritz ließ die beiden zurück und rannte zur mir ums Auto. Wenige Sekunden später riss er die Tür auf. Für einen Augenblick sah er mich einfach nur atemlos an, als wenn er sichergehen wollte, dass ich es auch wirklich war. Als er mich dann endlich anlächelte konnte ich die Erleichterung in seinem Blick sehen.
 

Das Auto schwankte, aber ich war so überglücklich Fritz zu sehen, dass ich dem keine weitere Beachtung schenkte. Die Sanftheit mit der Fritz mich ansah blendete für einen kleinen Augenblick alles andere aus.
 

„Hey“, sagte er beruhigend.

„Hey.“

„Es wird alles gut“, versprach er mir. „Kannst du rauskommen?

„Das ist hier mit so einem Vorhängeschloss gesichert.“ Ich zeigte ihm die Kette, die mich mit einem Schloss gefangen hielt.

„Wo ist der Schlüssel? Hat er ihn?“

„Weiß ich nicht... Ich weiß es nicht“, flüsterte ich. Fritz fluchte leise und blickte übers Auto zu Alex.

„Alex“, rief er gehetzt. „Alex, der Schlüssel. Der Schlüssel vom Vorhängeschloss.“

„Wo ist der Schlüssel?“, schrie Alex Clemens an. Der gab jedoch keine Antwort. Fritz sah mich wieder an.
 

„Wir benutzen einen Schneidbrenner. Wir holen dich hier raus.“ Ich schüttelte den Kopf. Dafür hatten wir keine Zeit. Mir war wieder bewusst geworden wie viel Querlage das Auto bereits hatte und wie sehr es schwankte. Merkte er das nicht?

„Komm, das dauert doch alles viel zu lang. Schieß doch einfach“, forderte ich ihn auf.

„Nein, das gibt ´nen Querschläger“, sagte er abwehrend. Wie konnte sich Fritz über solche Dinge Gedanken machen? Tot oder angeschossen, ich würde liebend gerne die zweite Variante wählen.
 

„Ich habe ihn“, hörte ich Alex rufen.

Fritz sah mich an. „Höre mir zu. Wir holen dich hier raus, okay?“ Ich wollte nicht, dass er geht, aber er ließ mir keine Zeit es ihm zu sagen. Ich konnte nur hoffen, dass er Recht behielt. Die Tür ging zu und ich blieb allein zurück. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber meine Nerven lagen blank.

Mir ging es durch Mark und Bein, als ich im nächsten Moment das Biegen von Eisen hörte, das dem Gewicht des Wagens nachgab. Ich spürte, wie sich das Auto immer weiter nach hinten neigte.
 

Es war ein schreckliches Gefühl zu fallen ohne Halt, ohne Sicherheit, eingesperrt und angekettet in einem Wagen. Ich schrie laut auf, verstummte aber, als der Wagen auf der Wasseroberfläche aufschlug. Der Aufprall ging mir durch alle Glieder. Ich versuchte verzweifelt, mich von den Ketten zu lösen.
 

Wir holen dich hier raus, hallten die Worte von Fritz in meinem Kopf. Als sich das Auto schnell mit Wasser füllte und ich immer tiefer sank, fragte ich mich, wie er das anstellen wollte. Er meinte es ernst, das wusste ich. Aber was sollte er tun?
 

Wie tief war die Spree, wenn es sich überhaupt um die Spree handelte? Ich kannte nicht einmal den Ort an dem ich sterben würde.
 

Das Auto sank immer tiefer. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern und der Wagen würde von eiskaltem Wasser durchflutet sein. Die Panik ergriff mich und ich zerrte immer wieder an meinen Ketten, versuchte verzweifelt sie zu lösen, aber es hatte einfach keinen Sinn. Ich konnte mich nicht befreien.
 

Mir lief das Wasser übers Kinn und ich holte noch einmal tief Luft. Ich kann mich danach nicht mehr an viel erinnern. Der Sauerstoff ging mir langsam aus und mir wurden schwindelig. Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit, wehrte mich gegen die Bilder, die durch meinen Kopf gingen, gegen die Erinnerungen, gegen die Gesichter. Ich wollte mich nicht von dieser Welt verabschieden. Es gab noch so viel mehr für mich. So viele neue Gesicht, die ich nicht zum letzten Mal gesehen haben wollte.
 

Jemand zerrte an meiner Schulter, zerrte mich aus dem Auto. Aber ich war zu schwach um mich zu bewegen. Durch das kalte Wasser war ich wie gelähmt. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, aber sei verweigerten sich meinem Befehl. Wir glitten durchs Wasser und plötzlich spürte ich einen Windzug im Gesicht. Wir hatten die Wasseroberfläche durchbrochen. Jemand presste mich an sich.
 

„Josephine“, keuchte er atemlos.

Es war Fritz! Fritz hatte mich gerettet. Er hatte mich fest umgriffen als er meinen Oberkörper leicht schüttelte. „Josephine, atme! Atme, verflucht nochmal.“

Atmen? Er hatte Recht. Ich atmete nicht. Ich kämpfte innerlich mit dem Lähmungsgefühl. Fritz schüttelte abermals meinen Oberkörper, diesmal deutlich stärker.

„Bitte“, flehte er. „Josephine, bitte!“
 

Ich hustete los und obwohl sich meine Lunge endlich wieder mit Sauerstoff füllte hatte ich das Gefühl zu ersticken. Meine Arme schlugen wild um sich, als ich nach Halt suchte. Fritz zog mich enger an sich und ich spürte, wie er gleichzeitig mich gegen etwas drückte. Es konnte nur der verklinkerte Brückenpfeiler sein.
 

„Josephine, ganz ruhig. Atme langsam ein und aus...“ Ich versuchte mich zu beruhigen und atmete einige Male tief durch. „Gut so“, lobte er mich mit sanfter Stimme. „Hör zu Bielefeld, ich bringe dich jetzt ans Ufer. Wir haben es gleich geschafft, okay?“

Mein Atem hatte sich zunehmend normalisiert. Aber noch immer waren meiner Glieder durch die Kälte wie gelähmt. Ich bewunderte Fritz, der mit gleichmäßigen Bewegungen uns dem Ufer immer näher brachte.
 

Am Ufer angekommen war auch Fritz am Ende und zerrte uns mit letzter Kraft aus dem Wasser.

„Alles gut?“, fragte er selber noch ganz außer Atem. Fritz hielt meine Schultern fest, als wir uns langsam aufrichteten. Ich konnte nur langsam nicken während ich ihn dankbar ansah.
 

Er lächelte mir erleichtert zu. In seinem Gesicht sah ich soviel Wärme, dass ich für einen Augenblick vergaß, wie sich die Kälte durch meinen ganzen Körper zog.

„Oh Bielefeld, dass war knapp...“
 

Es war nicht zu glauben, was gerade passiert war. Er war mir nachgesprungen, hatte mich ans Ufer gebrachte und mir das Leben gerettet. Dieser verrückte Mann. Ich fiel in seine Arme und hielt ihn fest. Fritz erwiderte die Umarmung und drückte mich fest an sich.
 

Dieses Gefühl von Geborgenheit füllte meinen ganzen Körper. Ich wollte ihn nicht loslassen, aber er musste spüren wie ich zitterte. Fritz nahm etwas Abstand. Dann lehnte er seine Stirn für einen Moment an meine, bevor er sich von mir löste.
 

„Komm“, sagte er. „Komm, wir gehen!“

Vom Ufer gingen wir hoch zur Straße. Alex kam uns entgegen. Er blieb stehen und starrte uns für einen Moment an.

„Josephine...“, sagte er nur. Ich nickte ihm zu. Er blickte erleichtert, doch sein Lächeln verschwand als er Fritz ansah. Ich wollte schon fragen was los war, aber Fritz zog mich noch etwas enger an sich und führte mich in eine andere Richtung.
 

„Lass uns zum Krankenwagen gehen. Du brauchst eine warme Decke.“ Ich blickte erschöpft zu Boden und folgte ihm. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Fritz stütze mich, obwohl es ihm nicht anders gehen sollte. Woher nahm er die Kraft? Er lehnte jeden ab, der ihn ablösen wollte.

„Geht schon“, sagte er und brachte mich zum Krankenwagen. Dort bekamen wir warme Decken und wurde ärztlich versorgt.
 

Die Leute sprachen mit mir, stellten mir Fragen. Ich antwortete, ohne zu wissen, was ich sagte. Die Geräusche wurden zu dumpfen Lauten, die ich nicht zuordnen konnte, mein Schädel brummte und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Eine wärmende Hand ergriff meine und vertrieb die Dunkelheit.
 

„Josephine“, sagte eine tiefe beruhigende Stimme. „Es ist jetzt alles gut.“ Ich blickte zu Fritz. Er lächelte mir zu. „Hörst du? Alles wird jetzt gut.“ Kraftlos lehnte ich meine Stirn an seine Schulter. Ich war ihm so dankbar.
 

Obwohl wir versorgt waren, saßen wir noch eine Weile in Decken eingehüllt aneinander gelehnt da und verarbeiteten jeder für sich die Geschehnisse.

Ich dachte an Alex und meinen Vater, die sicherlich mit uns reden wollten. Als ich mich versuchte aufzurichten, hielt mich Fritz fest.
 

„Fritz?“, fragte ich ihn überrascht. Ich konnte ihm ansehen, dass er noch nicht los wollte. „Alexander wartet bestimmt auf uns.“ Ich versuchte erneut aufzustehen und dieses Mal ließ er mich widerwillig los. Fritz richtete sich auf und wir gingen gemeinsam zu Alex, der auf uns zukam.

„Ist alles okay?“, fragte mich Alex.

„Ja, ist nur arschkalt“, versuchte ich zu witzeln. Alex rang sich ein gequältes Lächeln ab. Alex und Fritz wirkten angespannt und ich verstand nicht warum. Der Fall war doch geklärt, oder?
 

Gerade als ich nachfragen wollte kam mein Vater mit einem heißen Getränk auf mich zu. Ich schüttelte sanft den Kopf.

„Später Papa, ja?“, sagte ich ruhig. Er wusste, dass es mir gut ging. Alles Weitere konnten wir nach Dienstende klären.

„Ja, natürlich“, nickte er mir zu und blieb zurück, als meine Kollegen und ich unseren Weg fortsetzten.
 

„Was ist mit Clemens?“, fragte ich Alex.

„Wir haben ihn“, antwortete Alex nach kurzem Zögern knapp.

„Oh, Gott sei Dank!“, entgegnete ich erleichtert, wurde aber kurz darauf skeptisch. Warum benahmen sie sich dann so seltsam? Irgendwas war hier faul.
 

Robert und Heiko aus dem zweiten Revier kamen uns entgegen. Aber anstatt mich zu befragen, wie ich es erwartete, gingen sie direkt auf Fritz zu.

„In meinen Augen bist du ´n Held“, sagte Robert und entfernte Fritz seine Dienstwaffe.

„Und wir müssen dich jetzt festnehmen“, ergänzte sein Partner Heiko und zückte die Handschellen. Hatte ich das gerade richtig gehört? Festnehmen? Aber warum?
 

Fritz sah mich wissend an und wehrte sich nicht, als Heiko ihm die Handschellen anlegte und er zum Wagen geführt wurde. Was passiert hier gerade? Warum unternahm keiner was dagegen?
 

„Fritz“, rief ich ihm hinterher. Er drehte sich zu mir um und sah mich für einen kurzen Augenblick einfach nur an. Als er mir kurz zulächelte wirkte es beinahe entschuldigen. Verzweifelt und verwirrt sah ich zu Alex. „Was ist denn passiert?“
 

Im selben Moment erblickte ich einen Sanitäter, der auf der anderen Straßenseite jemanden mit einer weißen Plane abdeckte - überall war Blut.

In dem Moment ahnte ich Schreckliches – Clemens war tot. Was um Himmelswillen war hier passiert? Natürlich musste man nur Eins und Eins zusammenzählen. Aber warum sollte Fritz ihn töten?
 

Ich blickte zu ihm. Noch immer sah er mich sanft an. Er musste den Schock in meinen Augen sehen, dass ich nicht glauben konnte, was sich hier vor meinen Augen präsentierte. Mit ruhiger Stimme sagte er: „Wir sehen uns später, okay?“ Dann lächelte er mich noch einmal an, bevor die Kollegen ihn zum Wagen brachten.
 

Mich überfluchtete es. Alle Geräusche um mich verstummten. Ich sah nur noch Fritz, der gerade wegen mir verhaftet wurde. Bevor er einstieg, blickte er noch einmal zurück. Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken. Aber selbst Alex konnte mir in diesem Moment weder Trost noch Halt geben. Wo brachten sie Fritz hin? Was passierte jetzt?
 

Das Auto setzte sich in Bewegung und ich konnte nur hinterher starren. Ich verlor den Blickkontakt und mich überfiel eine schreckliche Kälte.

„Fritz“, flüsterte ich lautlos. „Du Idiot.“ Meine Beine gaben nach und ich fiel auf den Asphalt.

„Josephine“, rief eine Stimme und hielt mich fest. Alex schüttelte meine Schultern. Um mich herum war nur noch Nebel, kalter grauer Nebel.

„Josephine.“

„Josephine.“

Ich schreckte von meinem Sitz hoch, als jemand meine Schulter schüttelte. Verschlafen rieb ich kurz meine Augen, bevor ich hochblickte.

„Alex? Wie lange habe ich geschlafen?“

Er sah auf seine Uhr, bevor er antwortete. „Nicht lange. Vielleicht eine halbe Stunde.“

„´Ne halbe Stunde?“, fragte ich erschrocken. Verflucht nochmal. „Ist was passiert? Gibt es Neuigkeiten?“

„Nein, er wird noch verhört.“
 

Ich schnaubte. „Wie lange soll das denn noch gehen?“

„Die Kollegen sind genauso involviert wie wir, also wurde ihn der Fall abgenommen. Jetzt gibt es eine unabhängige Untersuchung. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob es ein Straf- und entsprechend ein Disziplinarverfahren geben wird. Du musst dich bereithalten. Wir sind die nächsten die befragt werden.“ Alex wirkte unruhig und ging wie ein eingesperrter Tiger auf und ab.
 

„Alex, ist alles in Ordnung?“ Er blickte sich einen Moment um. Es saßen noch weitere Kollegen vom Einsatz im Aufenthaltsraum und warteten auf Ihre Vernehmung. Alex hockte sich vor mir hin und legte seine Hände an die Lehne meines Stuhls. Sein Blick wirkte ernst.
 

„Josephine“, begann er mit gesenktem Ton. „Dir ist doch klar, wie solche Befragungen ablaufen.“ Ich nickte ihm zu, bevor er fortfuhr. „Alles was du heute sagst, kann über die Zukunft von Fritz entscheiden. Egal welche Probleme ihr in der Vergangenheit miteinander hattet, erinnere dich daran, was er heute für dich getan hat.“ Die letzten Worte klangen in meinem Kopf nach, wie ein Echo. `Was er heute für dich getan hat...´
 

Fritz hatte jemanden getötet um mich zu retten. Egal ob Serienmörder oder nicht, jeder Polizist fürchtete sich vor dem Moment in dem er ein Leben beenden musste. Noch dazu hatte er Clemens nicht bei einem unkontrollierten Schusswechsel getötet. Alex hatte mir alles erzählt. Was Fritz heute für mich getan hat... war Wahnsinn. Sein ganzes Leben setzte er damit aufs Spiel.
 

Ich wollte zu ihm, ihn umarmen, mich bei ihm bedanken und im selben Moment wollte ich ihm eine knallen. Fragen, warum er soweit für mich gegangen war.

„Josephine“, unterbrach Alex meine Gedanken. Ich schüttelte die Gedanken ab um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.

„Ja, ich verstehe was du meinst.“
 

Wir wussten alle nicht, was Fritz erwartete. Keiner von uns war je ein ähnlicher Fall untergekommen. Ewald recherchierte bereits und suchte die Akten zu ähnlichen Fällen raus. Vor etwa zwei Stunden hatte Ewald uns die ersten Ergebnisse übers Telefon geliefert. Die Ausgänge waren so unterschiedlich gewesen, dass Waldi keine Prognose aussprechen wollte. In den meisten Fällen wurde der Polizist jedoch suspendiert. Mein einziger Wunsch im Moment war, dass Fritz nicht ins Gefängnis musste.
 

Alex nickte mir zu. Er stand wieder auf und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Er wirkte erschöpft, als er seinen Kopf abstützte. Ich verstand die Angst um seinen Partner, seinen besten Freund. Wir beide würde alles tun, um Fritz da rauszuholen.
 

„Frau Klick?“, rief ein Beamter, der gerade ins Zimmer trat.

„Das bin ich“, sagte ich und stand augenblicklich auf. Er beäugte mich einen kurzen Moment, bevor ich aufgefordert wurde ihm zu folgen. Ich tätschelte beruhigend die Schulter von Alex und folgte dem Beamten. Er führte mich über den Gang in ein großes Büro, wo Polizisten einige Beteiligten verhörten, die am Tatort gewesen waren. Ich erwartet ebenfalls hier befragt zu werden, aber der Beamte brachte mich in einen Verhörraum. Verwirrt sah ich ihn an.
 

„Wieso werde ich hier verhö-...“

„Nehmen Sie bitte Platz“, unterbrach er mich und legte eine Akte auf den Tisch vor mir. „Es wird gleich jemand da sein.“ Er ließ die Tür ins Schloss fallen.
 

„Es wird gleich jemand da sein“, äffte ich ihn leise nach. „Unhöflicher Schnösel.“

Ich setzte mich hin und sah mich im Raum um. Ein Teil der Wand vor mir war verspiegelt. Wer waren die Beobachter dahinter? Ich fühlte mich wie ein Tatverdächtiger, der sich gleich kritischen Fragen stellen musste. Hatten die Leute hier vergessen, dass ich die Geisel war?
 

Nach kurzer Zeit ging die Tür auf. Ein Mann der mit seiner Körpergröße und den breiten Schultern beinahe die ganze Tür ausfüllte trat in den Raum und kam auf mich zu. Seine dunklen lockigen Haare umrahmten sein ernstes Gesicht. Er musste etwas älter sein als ich – vielleicht 36 oder 37 Jahre. Er wirkte nicht wie ein Kommissar. Dazu sah sein Anzug viel zu teuer aus.
 

„Frau Klick“, begrüßte er mich knapp, aber freundlich. „Ich bin Falk Altenburg, der Chefermittler in diesem Fall“, sprach er weiter, nahm die Akte vom Tisch und wedelte damit vor meiner Nase rum.

Er musste aus dem Polizeipräsidium sein. Nur dort rannten sie so gestriegelt und gebügelt umher.
 

„Ich will gar nicht lange drum rum reden“, begann er und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. „Wir wissen beide, warum wir hier sind.“ Er legte die Akte wieder auf den Tisch und stütze sich mit beiden Ellenbogen am Tisch ab. Der Chefermittler beugte sich zu mir vor, aber ich wich nicht aus und tat es ihm gleich. Diesem kleinen Dominanzkampf am Anfang wollte ich nicht gleich nachgeben. Ich kannte die Maschen der Kollegen.
 

„Um den Vorfall von meinem Kollegen Herrn Munro aufzuklären“, sagte ich möglichst ruhig, beinahe flüsternd. Er wirkte zufrieden mit meiner Reaktion und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
 

Im Plauderton fuhr er fort. „Herr Munro plädiert auf Notwehr“, setzte er an. Ich war erstaunt, dass er mir solche Details anvertraute. Welche Taktik verfolgte er? „Schwer nachzuvollziehen, denken Sie nicht auch? Notwehr - wie Ihnen auch bekannt sein wird - bedarf einer gewissen Gefährdung seines Lebens. Nach den Aussagen der Kollegen war sein Leben zu keinem Zeitpunkt gefährdet.“ Er setzte nicht nach, wartete auf meine Reaktion.
 

„Damit mögen Sie durchaus Recht haben, Herr Altenburg“, begann ich. „Aber wer sich genauer mit den Ereignissen beschäftigt, wird eine erweiterte Form der Notwehr erkennen. Wenn mein Kollege in Gefahr ist, aber unfähig sich zu verteidigen, kann ich im Sinne der Notwehr für meinen Partner handeln. In diesem Fall hat Herr Munro das für mich übernommen. Ich bin ihm dafür sehr dankbar, sonst würden Sie mich jetzt im Leichenschauhaus besuchen.“
 

„Mir ist bewusst, dass Herr Munro Ihnen das Leben gerettet hat. Ebenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass Sie ihm dankbar sind. Bedenken Sie aber, dass er dafür einem Menschen das Leben genommen hat auf eine überaus bedenkliche Weise. Nicht mit einer Schusswaffe, sondern mit einem Messer. Das verkompliziert das Ganze erheblich.“ Er öffnete die Mappe und legte drei Fotos vor mir auf den Tisch.
 

Alle drei stammten von Clemens mit aufgeschnittener Kehle. Ich musste schlucken, ließ mich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Ich hatte schon andere Bilder gesehen. Das hatte mich abgehärtet. Ich könnte ihm sagen, dass es dieser Frauenmörder verdient hatte zu sterben. Aber das würde nur den Verdacht auf Selbstjustiz erwecken. Und ich wollte Fritz helfen und nicht schaden.
 

„Über die Art und Weise“, begann ich in einem ruhigen Ton, als ich die Bilder langsam wieder zum Chefermittler zurück schob. „Kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Ich werde wohl einige Sekunden zuvor in den Fluss gestürzt sein und war daher mit anderen Dingen beschäftigt.“ Ich stockte kurz und überlegte, ob es klug war noch mehr zu sagen, konnte mich aber nicht stoppen.
 

„Es würde mich verwundern, wenn die anderen Kollegen sich erlauben würden, detaillierte Aussagen dazu zu treffen. Immerhin standen die Kollegen etliche Meter vom Tatort entfernt. Allein Herr Munro und noch vielleicht Herr Mahler können dazu ausschlaggebende Aussage treffen. Wenn ich mir die Meinung erlauben darf: Ich gehe davon aus, dass ein Großteil der Kollegen dem Auto hinterher gesehen haben.“
 

Falk Altenburg verzog seinen Mund merklich und ich musste in mich reingrinsen. Hatte ich ins Schwarze getroffen? Ob überhaupt einer der Männer eine Aussage dazu getroffen hatte? Ich selber würde eher dem Auto hinterher sehen, als dem bereits gefassten Täter. Das war reine Selbstanalyse.
 

„Herr Munro hat dem Verstorbenen bereits vorher gedroht ihn umzubringen. Laut berichten von den Kollegen, reagiert er auf die Frage und hier zitiere ich `ob Herr Munro Sie geil fände´ sehr intensiv und emotional. Können Sie dazu etwas sagen?“
 

„Herrn Mahler wurde die gleiche Frage gestellt. Beide sind ein eingespieltes Team. Jemand übernimmt den ruhigen Part und der andere kitzelt die Nerven vom Täter. Herr Munro ist bisher, in allen Fällen in denen es notwendig war, dieser Rolle gerecht geworden.“
 

„Sie sagen also, dass es nur eine Taktik der Kollegen war?“, fragte mich Herr Altenburg mit einem ungläubigen Unterton und beugte sich wieder dichter zu mir hinüber.

„Ich sage“, setzte ich an und ließ mich auch dieses Mal von seiner Nähe nicht einschüchtern. „Dass ich keinen Grund sehe, etwas anderes zu erkennen. Beide Kollegen haben stets sehr professionell mit mir gearbeitet und sich nicht von Emotionen, sondern von rationalen Dingen leiten lassen. Ich bin diejenige im Team die versucht über Emotionen und Bachgefühl Fälle zu lösen. Und eine Taktik zu haben, spricht doch für die Kollegen.“
 

Ich machte eine kurze Pause, beugte mich dann noch ein Stück vor, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten, bevor ich im Flüsterton fortfuhr. „Genauso wie Sie versuchen durch Körpernähe taktisch Unsicherheit in mir zu schüren und Dominanz auszustrahlen, haben die Kollegen für Geiselnahmen ihre ganz eigene Vorgehensweise.“
 

Einen Augenblick sah er mich einfach nur an. Hatte ich Herrn Altenburg etwa aus dem Konzept gebracht? Ich war mit mir zufrieden, spürte aber, dass er noch nicht alle Trümpfe ausgespielt hatte. Es war wichtig auf der Hut zu bleiben.
 

Langsam lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und schwieg mich weiter an. Ich erwiderte seinen Blick ohne mich verunsichern zu lassen.

„Möchten Sie etwas zu Trinken, Frau Klick?“

„Wenn die Befragung noch länger dauert, nehme ich einen Kaffee, sonst reicht mir auch ein Wasser.“ Herr Altenburg nahm das Telefon neben sich in die Hand und wählte eine Nummer. Es dauerte nicht lange bis sich jemand am anderen Ende meldete.

„Einen Kaffee für Frau Klick und für mich ein stilles Wasser. Danke.“
 

Das war wohl seine Art mich wissen zu lassen, dass er noch lange nicht mit mir durch war. Wenn es wirklich noch eine ganze Weile dauerte, brauchte ich wirklich einen Kaffee.

„Ihr Kaffee müsste gleich hier sein.“

„Sehr freundlich, danke!“ Ich bemühte mich ihn anzulächeln, wusste aber, dass es aufgesetzt aussehen musste.
 

„Wo Sie gerade über das Thema Emotionen gesprochen haben“, begann er. „Glauben Sie, dass Herr Munro für Sie mehr als kollegiale Gefühle hegt?“ Die Frage warf mich aus der Bahn. Ich versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen. Für einen kurzen Moment war es mir selber durch den Kopf geschossen, aber das konnte einfach nicht sein. Fritz war an mir auf diese Weise nicht interessiert. Wir hatten Ewigkeiten gebaucht um als Teamkollegen einigermaßen miteinander klar zu kommen. Da konnte nicht mehr sein.
 

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich etwas zögernd. Ihm musste klar sein, dass ich ihn richtig verstanden hatte. Dennoch ging er auf meine Frage ein.

„Glauben Sie, dass Herr Munro versucht hat SIE als Frau zu retten oder eine Kollegin?“

Seine Frage machte mich nachdenklich. Ich wollte glauben, dass er versucht hatte mich zu retten und nicht irgendjemanden, aber das wäre wohl die falsche Antwort. Zum Glück öffnete sich just in dem Moment die Tür und die Getränke wurden gebracht. Es gab mir Zeit über eine passende Antwort nachzudenken.
 

„Nun, Frau Klick? Was denken Sie?“ Vor meiner Antwort nahm ich in aller Ruhe einen Schluck Kaffee. Ich stellte das wärmende Getränk auf den Tisch und sah ihn unvermittelt an.

„Ich denke eine `Was wäre wenn -These´ ist irrelevant, Herr Altenburg. Weder sollte sie vor einem Untersuchungsausschuss Relevanz haben, noch würde ein Gericht sich mit solch wilden Fantasien beschäftigen wollen. Konzentrieren wir uns also auf die Fakten. Ein Partner oder auch Teamkollege schwebte in Lebensgefahr. Herr Munro hat reagiert um diese Person zu retten. Das ist es, was ich sehe. Es hat dabei keine Rolle gespielt, dass ich diese Person war. Wir sind Kollegen, die sich vertrauen.“
 

„Sie glauben also nicht, dass Herr Munro aus Emotionen heraus gehandelt hat?“, hakte er nach.

„Herr Munro ist keine Maschine“, begann ich und musste aufpassen mich nicht im Ton zu vergreifen. „Natürlich wird er Emotionen gehabt haben, wie jeder normale Mensch, wie jeder gute Polizist. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit sind es nicht die Emotionen, die Sie ihm unterstellen. Vielleicht war es Verantwortungsgefühl, aber das vermag ich nun wirklich nicht einzuschätzen. Da kann Ihnen Herr Munro gewiss mehr sagen.“
 

Er nickte schwach und machte sich ein paar Notizen. Ob er die wirklich brauchte oder mir nur Zeit geben wollte, konnte ich nicht sagen. Aber ich hatte das Gefühl ihn für dieses Gespräch zumindest geknackt zu haben.
 

Ich wurde noch lange befragt, aber die kritischen Fragen waren überstanden. Die entscheidenden Themen konnte ich natürlich nicht beantworten. Zum Zeitpunkt des Tatvorganges war ich gerade anderweitig beschäftigt. Aber je länger die Befragung anhielt umso deutlicher wurde mir, was sie versuchten Fritz zu unterstellen. Das Wissen machte mich nervös. Fritz würde in großen Schwierigkeiten sein, wenn sie die Notwehr nicht anerkannten und ihn der fahrlässigen Tötung für schuldig erklärten.
 

„Sind wir durch?“, fragte ich nach, als er die Unterlagen zusammenpackte und in die Akte legte. Er nickte zustimmend und erhob sich.

„Lassen Sie sich von mir nach draußen begleiten.“ Er ging dicht hinter mir, öffnete die Tür für mich und wir traten wieder in das große Gemeinschaftsbüro. Die Schreibtische hatten sich geleert. Es waren nur noch wenige Kollegen vom Einsatz anwesend die befragt wurden.
 

„Wurde Herr Mahler schon befragt?“, wandte ich mich an Herrn Altenburg. Er schüttelte nur den Kopf.

„Die Hauptbefragungen obliegen alleine mir, Frau Klick.“ Er lächelte selbstzufrieden. Am Schreibtisch der Sekretärin blieben wir stehen.

„Bereiten Sie bitte den Raum für Herrn Mahler vor“, bat er sie.

„Natürlich“, erwiderte sie und machte sich gleich auf den Weg. Seit wir mit dem Verhör durch waren wirkte er entspannter und beinahe freundlich.
 

„Haben Sie auch Herrn Munro befragt?“ Die Frage hatte meine Lippen verlassen, bevor ich darüber überhaupt wirklich nachdenken konnte. Aber ich musste es einfach wissen. Er nickte mir zu. „Wie geht es ihm?“

„Er ist nicht sehr gesprächig, Ihr Kollege.“ Herr Altenburg klang unzufrieden. „Das macht die Untersuchung nicht einfacher.“

„Was passiert jetzt?“, wollte ich wissen. Wir standen noch immer am Schreibtisch der Sekretärin und er machte keine Anstalten mit mir zu Alex zu gehen.
 

„Wenn alle Kollegen zu dem Fall befragt worden sind, sichten wir die Unterlagen und beraten uns. Es kann sein, dass Herr Munro in Untersuchungshaft bleiben muss, bis die Staatsanwaltschaft die Untersuchungen abgeschlossen hat. Wenn er Glück hat, kommt er mit Freigang und einer Suspendierung für den Zeitraum der Untersuchung davon. Das kommt aber ganz auf die Ergebnisse der Befragungen an. Nach Ende der Untersuchungen wird dann entschieden, ob ein Strafverfahren eingeleitet wird oder nicht.“
 

„Wonach sieht es derzeit aus, Herr Altenburg? Untersuchungshaft oder Suspendierung auf Zeit?“

Ich war mir nicht sicher, ob es ein Fehler war die Frage zu stellen. Er musste mir meine Unsicherheit ansehen. Ich war überrascht, als er mich mit einem beruhigenden Lächeln anblickte und mit sanfter Stimme auf meine Frage einging.
 

„Wissen Sie Frau Klick, ob Sie es glauben oder nicht, aber ich bin einer von den Guten. Ich bin immer daran interessiert gute Beamte im Dienst zu halten. Aber ich muss sicher gehen, dass es zukünftig keine weiteren Vorfälle wie diesen geben wird. Das ist mein Job. Aber Sie haben Ihre Sache gut gemacht.“ Ich senkte meinen Kopf als ich vor Erleichterung lächeln musste.

„Josephine...?“ Ich erstarrte bei der Stimme für einen Moment. Dann schnellte mein Kopf rum.

„Fritz“, rief ich erleichtert aus. Er stand am anderen Ende vom Raum. Ein Beamter ging hinter ihm und einer vor Fritz. Er hatte noch immer Handschellen um. Gott, sie behandelten ihn wie einen Schwerverbrecher. Ich wollte zu ihm, besann mich aber, als ich Herr Altenburgs Hand auf meine Schulter spürte.
 

„Herr Munro“, sprach Herr Altenburg in einer eiskalten, klaren Stimme, die mir Gänsehaut verursachte. So hatte er mit mir nicht einmal während der ganzen Befragung nicht gesprochen. Woher kam dieser Wandel? „Wie ich sehe, werden Sie in Ihr Nachtquartier gebracht.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach. „Wir hatten gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Ihrer Kollegin. Sehr interessant.“ Ich sah wie sich die Hände von Fritz ballten. Er sah von mir zu Herrn Altenburg.
 

„Meine Kollegin hat mit der Sache nichts zu tun“, knurrte Fritz. Bevor Herr Altenburg ihn noch weiter provozieren konnte, wandte ich mich an Fritz.

„Fritz, natürlich habe ich was damit zu tun.“ Ich versuchte eine möglichst neutrale Stimme zu wahren.
 

„Immerhin war ich die Geisel. Ich weiß zwar nicht was Herr Altenburg so interessant an dem Gespräch fand, aber es ist gut verlaufen.“ Ich versuchte Fritz mit meinen Augen zu sagen, wie dankbar ich war. Aber es schien nicht bei ihm anzukommen. Er sah mich verwirrt an. Vielleicht weil meine Stimme so kühl klang? Aber gerade jetzt konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen.

„Und Fritz“, redete ich weiter. „Alexander und ich wissen beide sehr zu schätzen, wie kollegial du bist.“ Ich musste schlucken. Es waren nicht die Worte des Dankes, die ich ihm sagen wollte. Aber die Einzigen, die ich momentan sagen konnte.
 

Auch Fritz schluckte „Josephine, ich...“

„Heute nicht Fritz“, unterbrach ich ihn und fühlte mich dabei so schlecht. „Es wurde heute schon genug gesagt. Wir sind alle müde. Lass uns drüber schlafen und ein anderes Mal weiterreden, okay?“ Ohne auf eine Zustimmung von Fritz zu warten, zwang ich mich Herrn Altenburg anzusehen.
 

„Lassen Sie uns gehen. Ich möchte Herrn Mahler nicht noch länger warten lassen.“ Er wirkte überrascht, nickte aber sofort und setze seinen Weg mit mir fort. Er drehte sich beim Gehen noch einmal kurz zu Fritz um.

„Schlafen Sie gut Herr Munro. Wir sehen uns morgen früh.“ Es kam keine Antwort. Wir gingen zum Aufenthaltsraum. Waldi saß neben Alex und beide durchwühlten Akten. Ich wollte nicht, dass Herr Altenburg unsere Recherche mitbekam.
 

„Alex, du Workaholic“, versuchte ich zu scherzen. „Herr Altenburg würde dich jetzt gerne zur Befragung mitnehmen. Ich kümmere mich um die Berichte, die dem Chef noch fehlen.“ Ich ging auf die beiden zu und nahm Ihnen schnell die Mappen ab. „Danke Waldi, dass du uns die Sachen vorbei gebracht hast.“ Alex und Waldi verstanden schnell.

„Du weißt doch wie der Chef ist, wenn die Fälle nicht ordentlich abgeschlossen sind“, sagte Waldi.

Alex stand auf und ging auf Herrn Altenburg zu. Beide nickten sich kurz zu und verschwanden im Gang.

„Das war knapp“, stöhnte ich auf und sank auf den Stuhl. Nach kurzem Durchatmen wandte ich mich Waldi zu.

„Was haben wir?“
 

Ewald zeigte mir die Fälle jetzt noch einmal im Detail. Ein Fall, der mich vorher weniger interessiert hatte, zog jetzt meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ein Beamter hatte den Geiselnehmer erschossen, obwohl nur eine indirekte Gefahr drohte. Er selbst hatte den Geiselnehmer damals nach einem Sexualdelikt ins Gefängnis gebracht. Der Beamte fürchtete, dass es vom Täter eine Art Rache war seine Kollegin als Geisel zu nehmen und er wollte eine Flucht verhindern.
 

Den Mann Fluchtunfähig zu machen durch einen Schuss ins Bein hätte völlig genügt. Aber da er seine Partnerin nicht gefährden wollte, hatte er sich für einen Kopfschuss entschieden. Der Geiselnehmer war sofort tot. Was in der Untersuchung raus kam änderte alles. Die beiden waren nicht nur dienstliche Partner. Ihm wurde irrationales Verhalten vorgeworfen und in Untersuchungshaft gesteckt, bis der Fall geklärt war. Die Staatsanwaltschaft warf ihm fahrlässige Tötung vor. Nach Abschluss des Falls musste er mehrere Therapien über sich ergehen lassen und wurde vom Dienst dauerhaft suspendiert. Er kam zwar auf Bewährung frei, aber seine berufliche Karriere war für ihn beendet.
 

Wurde ich deswegen so genau zu unserer Beziehung befragt? Verglich man uns mit diesem Fall? Es würde Fritz umbringen vom Dienst suspendiert zu werden und es würde Alex umbringen auf seinen Partner dauerhaft verzichten zu müssen. Und mich... Ich schüttelte meinen Kopf. Das durfte nicht passieren. Ich musste sie davon abhalten. Sie durften die Ereignisse nicht missverstehen. Fritz hatte es getan um einen Kollegen zu retten, oder? Er hätte das Gleiche für Alex gemacht, richtig?
 

„Ist alles okay, Josephine?“ Ich spürte die Hand von Waldi auf meinen Rücken, als ich mich vorbeugte und mein Gesicht in meinen Händen vergrub. Ich stöhne innerlich. Was für eine verzwickte Situation.

„Ja, schon, irgendwie...“, erwiderte ich verkrampft. Ich wandte mich zu Waldi „Kann ich diese Akte behalten?“

„Klar, warum nicht...“, sagte er nur etwas verwirrt.

„Danke Waldi“, erwiderte ich.
 

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Ich würde gerne noch auf Alex warten“, entgegnete ich kopfschüttelnd.

„Wir sehen uns dann morgen auf dem Revier?“

„Vermutlich nicht. Der Chef hat mir eine Zwangspause verordnet.“

„Vielleicht ist das besser so. Du solltest du erholen und keinen Kopf ein wenig frei kriegen.. Montag wissen wir bestimmt mehr.“ Ich wollte nicht diskutieren, aber ich würde gewiss nicht bis Montag warten, um Neues zu erfahren. Spätestens morgen früh stand ich hier auf der Matte und forderte Antworten von Herrn Altenburg.

„Vermutlich“, erwiderte ich wenig überzeugt.
 

Ewald verschwand und ich wartete auf Alex eine gefühlte Ewigkeit. Ich ging zur Sekretärin um nach den Stand zu fragen als Alex mir entgegen kam.

„Josephine.“

„Alex, da bist du ja“, sagte ich erleichtert. „Seid ihr fertig?“ Alex nickte nur. Er sah genauso erschöpft aus, wie ich mich fühlte. „Dann lass uns gehen.“

„Frau Klick, Sie sind ja noch hier.“ Ich drehte mich widerwillig zu Herrn Altenburg.

„Was spricht dagegen? Ich habe auf meinen Kollegen gewartet. Wir werden jetzt los, wenn Sie erlauben.“
 

„Natürlich. Wir haben für heute die Befragungen abgeschlossen. Morgen werden wir uns zum weiteren Vorgehen verständigen. Ich gehe davon aus, dass Sie morgen wieder hier sein werden?“

„Nennen Sie mir Ort und Zeit und wir werden hier sein“, mischte sich Alex ein. Herr Altenburg lachte leise.

„Gut zu wissen, dass Herr Munro so loyale Kollegen hat. Wir beginnen um neun Uhr mit der Besprechung“, begann er Alex zu informieren, bevor er sich mir zuwandte.

„Wir können ja zusammen Mittag essen gehen, Frau Klick.“ War das eine Provokation?
 

„Vielen Dank für ihr Angebot, aber ich möchte keine Probleme verursachen. Ich denke zu einer unabhängigen Untersuchung gehört es auch, eine gewisse Distanz zu wahren, denken Sie nicht auch, Herr Altenburg?“ Er nickte mit einem wissenden Lächeln.
 

„Für Wahr, Frau Klick.“ Stimmte er zu. „Wir sollten alle unseren Platz kennen, solange die Untersuchungen zum Fall nicht vollständig abgeschlossen sind.“ Ich war mir sicher auf was er anspielte und nickte ihm zu.

Er wandte sich an Alex. „Und Herr Mahler, die Besuchszeiten für Ihren Kollegen Herrn Munro sind übrigens morgen von Zehn bis Zwölf. Da die Befragungen abgeschlossen sind, können Sie Ihren Kollegen natürlich auch wieder sprechen. Gute Nacht.“ Er wandte sich von uns ab und verließ das Großraumbüro.
 

„Was meinte er denn damit?“, begann Alex verwirrt.

„Ach er hat nur auf meine Befragung angespielt. Ich erklär dir das morgen. Ich bin echt fix und alle, lass uns losfahren.“

Wir gingen zum Auto und Alex schmiss den Motor an.

„Wie ist deine Befragung verlaufen?“, wollte Alex wissen.

„Ganz gut, denke ich. Aber lass uns morgen über die Details sprechen, okay? Fahren wir zusammen hin?“

„Klar, ich kann dich morgen früh abholen“, bot mir Alex an.
 

„Hat dir der Chef auch frei gegeben?“, fragte ich nach.

Alex knurrte bevor er antwortete. „Ist ja nicht so, dass ich eine Wahl gehabt hätte.“

Ich nickte. „Ich auch nicht.“ Den Rest der Fahrt schwiegen wir.

Auf dem Gehöft angekommen ließ er mich vor dem Haus raus. Ich stieg aus dem Auto und drehte mich noch einmal zu ihm.
 

„Soll ich dich dann morgen um neun abholen?“

„Nachher trifft es wohl besser“, scherzte ich und zeigte auf die Uhr. „Aber ja, neun Uhr klingt gut. Dann sind wir rechtzeitig da.“

„Dann morgen um neun.“

„Alles klar. Danke fürs Bringen. Fahr bitte vorsichtig. Nacht, Alex.“

„Danke, dir auch.“
 

Es brannte noch Licht im Wohnzimmer als ich das Haus betrat.

„Josephine?“, kam es aus dem Wohnzimmer.

„Ja, Papa?“

„Ein Glück, dass du Zuhause bist.“ Er kam mir entgegen. Er wirkte erleichtert und lächelte.

„Ich bin sehr müde, Papa. Lass uns morgen reden, ja?“

„Natürlich. Wollen wir zusammen frühstücken?“

Ich schüttelte meinen Kopf und konnte sofort die Enttäuschung in seinen Augen sehen. “Ich werde dafür keine Zeit haben. Ich muss gleich morgen früh wieder ins Revier.”
 

„Du willst nach einem Tag wie heute gleich wieder arbeiten?“

„Nein, Papa“, sagte ich. „Aber Alex und ich fahren zu Fritz. Morgen werden erste Informationen bekannt.“ Er schwieg einen Moment.

„Du hast sehr gute Kollegen, Josephine“, sagte er leise. Er klang bedrückt, aber im Moment konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen.

„Ich weiß. Lass uns ein anderes Mal darüber reden, okay?“

„Okay. Dann schlaf gut, Josephine.“

„Du auch, Papa.“
 

Als ich in meinem Bett lag, ging mir noch vieles durch den Kopf. Wie würde die Untersuchung wohl ausfallen? Ich hatte Angst meine Augen zu schließen, hatte Angst wieder im Auto zu sitzen während es sich mit Wasser füllte und ich drohte zu ertrinken. Ebenso gingen immer wieder die Bilder durch meinen Kopf, wie Fritz mich sanft anlächelte, gerade nachdem er einen Menschen getötet hatte um mich zu retten. Wie musste es ihm gehen? Ich war mir sicher nicht die einzige mit einer schlaflosen Nacht zu sein.

Das Klingeln vom Wecker dröhnte in meinen Ohren und ich stöhnte gequält auf. Allein der Wunsch, endlich zu wissen was mit Fritz war, ließ mich völlig erschöpft und übermüdet aufstehen.

Bevor ich die Hupe vom Auto hörte, schaffte ich noch mich im Bad fertig zu machen und ein Brot zu schmieren.
 

Am Auto angekommen öffnete ich die Tür. Alex lächelte mich erschöpft an.

„Morgen, Josephine.“

„Morgen, Alex“, erwiderte ich, setzte mich aber nicht in den Wagen. „Kann ich heute bitte fahren?“, fragte ich. Er sah mich erstaunt und ich gab ihm die nötige Erklärung bevor er wieder ein `vergiss es´ loslassen konnte. „Ich möchte, dass du dir auf dem Weg ne Akte ansiehst. Du stimmst mir bestimmt zu, dass es beim Fahren wohl schlecht geht.“
 

Er überlegte kurz, nickte mir dann zu und schnallte sich ab. Alex nahm auf dem Beifahrersitz Platz und ich setzte mich auf die Fahrerseite. Ich drückte ihm die Akte in die Hand.

„Lies sie dir in Ruhe durch. Du hast sie bestimmt schon gesehen, oder?“ Während ich vom Hof fuhr, überflog er kurz den Fall.
 

„Waldi hatte mir die gestern gezeigt. Aber ich fand nicht, dass sie uns weiterhelfen würde. Es gibt doch keinerlei Parallelen zu der Sache mit Fritz.“ Ich nickte ohne ihn anzusehen.

„Das dachte ich vor meinem Verhör auch. Aber die Fragen von gestern, ähnelten einfach zu sehr dem Protokoll vom 4. Juni. Lies dir das durch!“ Alex überflog das Protokoll, indem die Kollegin befragt wurde. In diesem Gespräch hatte sich heraus gestellt, dass die beiden ein Paar waren.

„Solche Fragen hat dir der Altenburg gestellt?“
 

„Ja, er wollte wissen, ob ich mit Fritz eine rein dienstliche Beziehung führe, ob ich glaube, dass er nicht nur einfach versucht hat eine Kollegin zu retten, sondern speziell mich. Er wollte wissen, ob ich mir vorstellen kann, mit welchen Gefühlen Fritz wohl diese Entscheidung getroffen hat. Alex, Herr Altenburg hat nach einem Motiv gesucht und nicht nach dem Grund für Notwehr. Besonders nachdem Kollegen berichtet hatten, dass er Clemens vorher schon während der Geiselnahme gedroht hat, ihn zu töten. Ich sehe da schon einige Parallelen zu dem Fall hier.“

„Aber das ist doch Wahnsinn“, sagte Alex etwas atemlos.

„Das finde ich auch.“ Alex schwieg einen Moment und sah nachdenklich aus dem Fenster. Ich drehte mich zu ihm.
 

„Alex? Alles klar?“, er räusperte sich und schlug die Akte zu.

„Ja, alles gut. Ich will nur endlich wissen, wie es für Fritz weitergeht.“

„Glaube mir, dass will ich auch“, stimmte ich zu. „Wie verlief deine Befragung gestern?“

Alex berichtete mir von seinem Gespräch mit Herrn Altenburg. Einige Äußerungen von Alex machten mir Bauchschmerzen. Ich wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, also sagte ich nichts weiter dazu. Er würde es sich selber denken können. Zumindest hatte er Fritz als einen verlässlichen Kollegen beschrieben, der einen stabilen Gemütszustand hatte. Und vielleicht lag ich auch völlig falsch mit meinen Vermutungen.
 

„Es wird schon gut gehen, Alex“, versuchte ich ihm und auch mir Mut zuzusprechen. Im Augenwinkel konnte ich sehen wie er stumm nickte und wieder aus dem Fenster sah. Alex musste sich nicht nur um Fritz sorgen. Sollte das Urteil negativ ausfallen, musste auch Alex mit einem Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung rechnen.
 

Viertel vor Zehn waren wir da. Mich überraschte es nicht, als der Chef uns entgegen kam.

„Sie sind früh“, begrüßte er uns.

„Sie auch“, erwiderte ich. „Wollen Sie Fritz besuchen?“

„Ich habe heute schon mit ihm gesprochen“, ließ er uns wissen. Alex und ich sahen ihn verwirrt an.

„Aber die Besuchszeiten fangen doch erst um Zehn an“, sagte ich.
 

Er lächelte mich an. “Ich bin der Chef. Ich brauche keine Besuchszeiten.“ Sein Lächeln verschwand langsam und sein Blick wurde ernster. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Josephine?“

„Natürlich“, entgegnete ich überrascht.

„Alleine“, sagte er eindringlicher und sah dabei zu Alex. Der nickte nur und suchte den nötigen Abstand.
 

„Josephine“, begann mein Chef. „Sie haben gestern eine gute Befragung abgeliefert.“

„Sie waren dabei?“ Ich war überrasch, aber eigentlich sollte mich das nicht wundern.

„Es waren einige Beobachter im Nebenzimmer“, erklärte er. „Sie sind schwer zu knacken, Josephine.“ War das ein Lob?

„Danke, Chef. Aber Herr Altenburg ist schwer einzuschätzen.“

„Das ist wohl wahr”, stimmte er mir zu und hielt einen Moment inne. „Fritz hat nach Ihnen gefragt“, sagte er schließlich. Ich konnte es nicht vermeiden, aber mein Puls schnellte augenblicklich in die Höhe. „Mehrfach“, ergänzte er und sah dabei nachdenklich aus. „Er wirkte besorgt und wollte wissen, wie es Ihnen geht.“
 

Besorgt? Er hatte mich doch gestern gesehen und wusste, dass es mir gut ging. Aber als ich unsere Begegnung wie ins Gedächtnis rief, erinnerte ich mich an meine kühlen Worte und seinen Gesichtsausdruck dabei.

„Ich wollte ihn jetzt sowieso besuchen.“

Irgendwas schien den Chef zu beschäftigen. Bevor er weitersprach sah er sich kurz im Flur um.

„Vielleicht sollten Sie ihn heute nicht besuchen“, sagte er leise.

„Wieso?“ Seine Aussage verwirrte mich.

„Fritz hat gute Chancen das Ganze einigermaßen unbeschadet zu überstehen“, begann er.

„Und Sie glauben, dass mein Besuch dem im Weg stehen könnte?“, fragte ich und hörte selber, wie kindisch und beleidigt ich klang.
 

„Josephine“, sprach er im ruhigen Ton. „Was glauben Sie, was die Kollegen, die mit der Untersuchung beauftragt wurden, drei Stunden lang besprechen?“ Als ich darüber nachdachte, dämmerte es mir langsam. Sie würde sich natürlich nicht zum Fall drei Stunden lang besprechen. Waren die Besuchszeiten deswegen genau auf den Zeitpunkt der Besprechung gelegt worden? Wurden die Besuche von Fritz beobachtet? Was erhofften sie sich dadurch? Egal wie sehr ich Fritz sehen wollte, ich musste jetzt das tun, was das Beste für ihn war.
 

„Ich verstehe, Chef.”

„Ich wusste doch, dass Sie ein schlaues Mädchen sind”, sagte er erleichtert.

„Aber Alex wird Fritz besuchen dürfen?”

„Ja und deswegen muss ich mit ihm auch nochmal sprechen. Sie entschuldigen mich?”

Er ließ mich stehen und ging zu Alex. Beide begannen ihr Gespräch. Immer wieder sah Alex etwas ungläubig zu mir rüber, nickte dem Chef aber zu.

„Wir hätten dann alles geklärt“, kam der Chef mit Alex auf mich zu.
 

„Du gehst du jetzt zu Fritz?“, fragte ich Alex der zustimmend nickte. „Kannst du mich danach anrufen?“

„Ich melde mich sobald ich kann“, versicherte er mir.

„Danke.“

„Sie sollten jetzt wirklich gehen. Ich rufe Ihnen ein Taxi, Josephine.“

„Okay“, sagte ich schwach und folgte dem Chef den Flur entlang. Bestimmt wollte er sicherstellen, dass ich nach Hause fuhr und nicht ins Revier.
 

„Frau Klick, Sie wollen schon gehen?“, hörte ich die Stimme von Herrn Altenburg hinter mir bevor wir das Gebäude verlassen konnten. Widerwillig drehte ich mich um. Der Chefermittler kam uns entgegen.

„Wollte nur kurz Herrn Amann nach den aktuellen Stand fragen“, sagte ich knapp.

„Den weiten Weg für eine Frage? Hätte ein Anruf nicht genügt? Oder wollten Sie Herrn Munro einen Besuch abstatten?“
 

„Nein, dass wollte ich nicht. Herr Mahler wird ihn besuchen. Außerdem bin ich mir sicher, dass Herr Munro bei Ihnen in guten Händen ist. Wenn Sie mich entschuldigen, ich habe noch einige Fälle aufzuarbeiten.“ Ich wedelte mit der Akte umher, steckte sie anschließend aber in meine Tasche.

„Sie arbeiten nach so einem Tag wie gestern?“

Ich seufzte gespielt theatralisch. „Das Verbrechen wartet nicht, Herr Altenburg.“

„Da haben Sie vermutlich Recht“, stimmte er mir zu. „Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wollte nur gerade Herrn Amann abholen.“

„Ich bin sofort da“, entgegnete mein Chef. Er klopfte mir kurz auf die Schulter. „Alex meldet sich später bei Ihnen.“ Ich nickte und verließ das Gebäude.
 

Als ich im Taxi saß gab ich dem Fahrer meine Adresse, entschied mich aber bereits nach der nächsten Kreuzung doch zum Revier zu fahren.

Karin und Waldi staunten nicht schlecht mich im Büro stehen zu sehen.

„Josephine?“, fragte Karin. „Was mach du denn hier? Du hast doch heute frei.“

„Ich weiß“, entgegnete ich, ging auf Waldi zu und legte ihm die Akte auf den Tisch. „Ich wollte nur die Akte zurückgeben.“ Das stimmte natürlich nur zu Hälfte. Ehrlich gesagt, wollte ich nicht nach Hause. Aber das konnten sich die beiden vermutlich denken.
 

„Hat sie denn geholfen?“, wollte Waldi wissen.

„Ich denke schon“, gab ich zurück. Ich setzte mich auf meinen Bürostuhl. „Und was ist bei euch so los?“

„Ach heute ist es ruhig“ Karin lächelte mich an. „Kein Chef da, keine offenen Fälle. Da schafft man endlich mal den ganzen Papierkram.“

„Kann ich euch mit irgendwas helfen?“ Beide schauten mich für einen Moment fragend an. Ich konnte aber sehen, dass sie mich verstanden.
 

Karin schnaubte. „Du bist echt ein unverbesserlicher Fall. Aber ich glaube, warte mal kurz...“ Sie blickte zu Ewald. „Waldi, hast du die Videodateien schon aufgearbeitet?“ Ewald sah sie erstaunt an, zögerte einen Moment, schüttelte aber dann den Kopf. „Hervorragend“, setzte Karin an. „Du kannst also gerne die ganzen digitalen Aufzeichnungen von den letzten Fällen zuordnen. Die Videodateien müssen auch noch umbenannt und archiviert werden.“
 

Ich nickte zustimmend. „Wird erledigt“, rief ich übertrieben euphorisch aus. Waldi verdrehte die Augen und Karin lachte.

„Am Besten schnappst du dir die Kopfhörer von Fritz.“

Bei seinem Namen, verstummte meine Euphorie. Es war Irrsinn. Ich wollte in diesem Moment an seiner Seite sein und ihn unterstützen, aber man hatte uns noch keine Minute gegeben, um miteinander zu reden. Ich musste mich einfach ablenken, bis ich endlich Gelegenheit bekam mit ihm zu sprechen.
 

Ich fuhr den Rechner von Fritz hoch und nahm auf seinem Stuhl Platz. Der kleine Fußballtisch stand unaufgeräumt neben seinem Schreibtisch. Neben dem Monitor stand ein Bild von seinem kleinen Sohn Ben und ihm. Er hatte Ben fest im Arm und beide lachten vergnügt. Es versetzte mir einen Stich. Ich hatte Fritz noch nie so unbeschwert gesehen. Irgendwie wirkte er oft traurig, als wenn ihn etwas beschäftigte. Der Gedanke ergriff mich, dass ich den Fritz kennen wollte, der so unbeschwert in die Kamera lächelte.
 

Ich schüttelte die Gedanken ab und versuchte mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Dateien der letzten Fälle sortierte ich nach Datum und legte diese dann in den entsprechenden Ordnern ab. Als nur noch Videodateien im Hauptordner waren, setzte ich mir die Kopfhörer auf. Es tat gut die Stimmen von meinen Kollegen zu hören. Natürlich wusste ich nach wenigen Sekunden um welchen Fall es sich handelte, aber die Stimmen von Alex und Fritz beruhigten mich. Die wenigen Befragungen, die ich durchgeführt hatte, übersprang ich schnell und sortierte sie den entsprechenden Ordnern zu.
 

Die beiden waren ein Team. Ich könnte niemals Fritz für Alex ersetzen. Und das wollte ich auch nicht. Ich brauchte Fritz genauso in unserem Team.

„Fritz“, hörte ich die Stimme von Alex durch die Kopfhörer rauschen. Ich blickte auf den Monitor, konnte aber nichts erkennen. Die Kamera filmte noch, aber es war kein Zeuge im Zimmer. Nur der leere Tisch und der Stuhl waren zu sehen. Immer wieder flackerte ein Schatten durchs Bild. Ich konnte Schritte hören. Jemand musste die ganze Zeit auf und ab gehen.
 

„Warum sagst du ihr es nicht einfach, Fritz?“

„Was soll ich ihr denn sagen? Dass ich mir ihre Akte aus Bielefeld besorgt habe, um in ihrem Privatleben zu schnüffeln? Dieses Ding liegt jetzt schon fast seit einem halben Jahr in meinem Rolley. Ich will das nicht mehr.“ Ich schluckte bei seinen Worten. Er hatte meine Akte? Ich selber hatte meine Akte nie gesehen und wusste daher auch nicht was darin stand. Was hatte er dadurch in Erfahrung gebracht?
 

Enttäuschung machte sich in mir breit und ich überlegte das Video einfach zu löschen und nach Hause zu fahren. Ob er mich gerettet hatte oder nicht, er schien mir immer noch nicht zu vertrauen. Meine Neugier ließ mich jedoch weiter dem Gespräch folgen. Wenn er schon in meine Akte gesehen hatte, warum sollte ich nicht auch ein privates Gespräch von den beiden mit anhören? Vor allem, wo es doch offensichtlich um mich ging.
 

„Wir hatten keinen leichten Start, Fritz. Sie wird das verstehen. Gerade als Team ist es doch wichtig die andere Person einschätzen zu können. Denkst du nicht auch so? Mit Ihren Alleingängen hat Sie uns am Anfang ganz schön zu schaffen gemacht.“
 

„Aber so ist es nicht mehr“, wandte Fritz ein und überraschte mich damit. So war es nicht mehr? Natürlich hatte es sich gebessert, aber ich hatte mir trotzdem in den letzten Ermittlungen genügend Alleingänge erlaubt. Es war kein leichter Start gewesen, dennoch hatte ich meine Partner nicht ausspioniert.
 

„Wir arbeiten schon viel besser im Team“, gab Fritz zu bedenken. Es wunderte mich, dass er meine Partei bei dem Thema ergriff. „Du hast doch selber gesagt, dass sie für unsere Ermittlungen wichtig geworden ist.“

„Stimmt.“ So etwas sagte Alex über mich? Von ihm klang das beinahe wie ein Kompliment.

„Und ich bin da ganz deiner Meinung“, sagte Fritz weiter. Dank der Aussagen hatte fast den Grund für meine momentane Wut vergessen. Als ein lauter Knall durch den Kopfhörer schallte und die Hände von Fritz auf dem Tisch landeten, zuckte ich zusammen. Er ballte seine Hände zu Fäusten.

„Aber ich hasse den Gedanken“, begann er und machte eine Pause. Instinktiv hielt ich die Luft an. „Dass die Vollidioten von der Zweiten Bielefeld als Lockvogel benutzen wollen. Das schmeckt mir gar nicht. Warum hat sie dem Scheiß auch zugestimmt?“
 

Ich hörte Alex neben der Kamera seufzen. „Vermutlich, weil sie mal wieder die Welt versucht zu retten?“

„Nicht sehr hilfreich, Alex“, stöhnte Fritz.

„Sie will vermeiden, dass es ein weiteres Opfer gibt. Das ist eben Bielefeld.“

„Aber es ist gefährlich“, schnaubte Fritz und verschwand wieder aus dem Bild. „Wenn Bielefeld bei dem Einsatz nur ein Haar gekrümmt wird, reiß ich den Idioten den Arsch auf.“
 

„Fritz“, ermahnte Alex ihn.

„Ich meine das ernst“, entgegnete Fritz.

„Ja, das fürchte ich auch“, keuchte Alex. „Aber Fritz, keiner von uns will, dass Josephine was passiert. Wir werden schon auf sie aufpassen.“

„Ich will mir gar nicht ausmalen, was ich tun wür-“ das Video fing plötzlich an zu rauschen, der Ton verklang und wenig später war alles schwarz und das Video zu Ende. Ich starrte den Monitor noch einige Sekunden an. Hatte der Akku der Kamera schlapp gemacht? Genau in diesem Moment? Was für ein Mist, dachte ich. Zu gerne hätte ich gewusst, wie es weiter ging.
 

Ich schüttelte meinen Kopf. Vielleicht sollte ich froh sein. Der Zorn über die Akte war verflogen. Ich zog mir das Video auf mein Handy und löschte anschließend die Datei vom Rechner.

Die beiden hatten sich echt Sorgen um mich gemacht - vor allem Fritz. Seine Sprüche im Auto hatte ich nicht voll genommen, aber er meinte sie wirklich ernst. Mir taten meine Alleingänge mittlerweile selber Leid. Wir waren ein Team, ich konnte mich auf die beiden verlassen und ich wollte, dass auch die beiden sich auf mich verlassen konnten. In Bielefeld hatte ich nie solche Kollegen gehabt. Ich war dankbar für die neue Chance hier in Berlin und ich wollte niemanden mehr aus diesem Team missen. Bei dem Gedanken musste ich lächeln. Entwickelte ich etwa Heimatgefühle für dieses hässliche Berlin?
 

Ich blickte verstohlen zum Rolley als ich wieder an meine Akte dachte. Am Liebsten wollte ich gleich nach dem Ding suchen, aber ich konnte nicht einfach im Rolley von Fritz wühlen. Ich musste also warten bis Karin und Waldi Feierabend machten. All zu lange sollten die beiden heute wohl nicht arbeiten - immerhin war heute Freitag.
 

Ich vertrieb mir die Zeit mit weiteren Videos und der Ablage. Es tauchten immer wieder kleine Privatgespräche von den beiden auf. Jemand musste dringend ihnen erklären, wie die Kamera sich ausschaltete. Als ich ein Video öffnete in dem Fritz über Stefanie schimpfte, löschte ich es augenblicklich. Es war genug für einen Tag gewesen. Jeder verdiente seine Privatsphäre.

Was tat Waldi mit diesem Videos? Ich hoffte für ihn, dass die Aufnahmen ein Versehen waren? Aber warum hatte er sie nicht gelöscht?
 

***
 

„Du solltest jetzt auch Schluss machen. Eigentlich solltest du ja heute gar nicht hier sein“, sagte Karin, als sie sich gerade ihre Jacke anzog. Beide machten gleichzeitig Feierabend.

„Ich ordne nur noch schnell die restlichen Videos zu und dann bin ich auch weg. Keine Sorge, ich schlage mir nicht wieder die Nacht um die Ohren“, sagte ich lächeln, bevor mein Blick zu Waldi ging und ich ihn ermahnend ansah. „Und darüber lieber Waldi, reden wir Montag noch mal“, ließ ich ihn wissen und zeigte auf den Monitor.
 

Er blickte mich schuldbewusst an. „Ich kann doch nichts dafür, wenn die Jungs ständig-“

„Lass uns Montag darüber reden, okay?“, unterbracht ich ihn.

„Jaaah“, sagte er gedehnt, willigte aber nicht ganz freiwillig ein.

„Also dann euch beiden ein schönes Wochenende.“

„Danke, Josephine. Dir auch. Erhol dich endlich mal“, sagte Karin bevor sie das Zimmer verließ. Waldi folgte ihr.
 

Ich wartete noch einen Augenblick für den Fall, dass einer von beiden noch was vergessen hatte. Aber das Zimmer blieb leer. Langsam beugte ich mich vor zum Rolley und versuchte die erste Schublade zu öffnen. Aber sie war verschlossen. Ich fluchte leise. Wenn Fritz den Schlüssel bei sich hatte, würde ich nicht an die Akte kommen.

Mir fiel ein, dass Alex und Fritz immer für den Notfall ein Schlüsselbund mit allen Ersatzschlüsseln hier im Büro lagerten. Wo konnte der wohl sein?
 

Ich wanderte im Zimmer umher und suchte nach dem Schlüsselbund. Lange dauerte es nicht, bis ich fündig wurde. Jedoch musste ich einige Schlüssel ausprobieren bis ich endlich den richtigen fand.

„Na, geht doch!“, murmelte ich ungeduldig, als ich endlich das Klacken vom Schloss hörte. Die Akte lag gleich ganz oben im ersten Fach ohne Beschriftung. Aber auf dem Deckblatt der ersten Seite stand mein Name. Ich packte sie in meine Tasche ohne weiterzulesen. Schnell schloss ich den Rolley wieder ab und legte das Schlüsselbund zurück. Die letzten Videos verschob ich schnell in die entsprechenden Ordner und fuhr den Rechner runter.
 

Warum hatte mich der Mahler eigentlich noch nicht kontaktiert? Alex war doch sonst immer so verlässlich. Als ich mein Handy aus der Tasche wühlte, musste ich feststellen, dass es aus war. Verflucht nochmal, war mein Akku etwa leer? Warum hatte ich das nicht eher kontrolliert... Was war das heute eigentlich mit technischen Geräten und deren Akkus? Karin hatte zum Glück immer ein Ladegerät auf Arbeit. Ich holte von ihrem Schreibtisch das Kabel und versorgte mein Handy mit Strom.
 

Es dauerte einige Momente bis mein Telefon endlich soweit war. Zehn Anrufe in Abwesenheit und zwei Sprachnachrichten standen auf dem Display. Sieben Anrufe waren von Alex, drei von meinem Vater. Verdammt. Ich hörte die erste Sprachnachricht ab...

„Josephine“, hörte ich die Stimme von meinem Vater. „Melde dich doch bitte wann du nach Hause kommst. Ich hab dich lieb.“
 

Ich hatte immer noch keine Lust mit ihm zu reden. Aber damit er sich keine Sorge machte, schickte ich ihm schnell eine SMS. „Mir geht es gut. Mache dir keine Sorgen. Wird heute spät. Josephine.“ Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, hörte ich die zweite Sprachnachricht ab.

„Josephine, verflucht nochmal. Warum gehst du eigentlich nicht an dein Handy? Versuch dich seit ner Stunde zu erreichen.“ Die Nachricht kam von Alex. Er klang etwas gehetzt. Ich hielt den Atem an. Was hatte die Untersuchung ergeben?
 

„Josephine, hör zu. Die lassen Fritz raus.“ Alex machte eine kurze Pause. Im selben Moment atmete ich zitternd aus. Fritz war frei? Ich spürte wie die Erleichterung mich durchströmte.

Ich musste mich erstmal sammeln. Er hatte nicht gesagt, dass Fritz frei war. Sie würden ihn aber rauslassen. Das hieß doch zumindest, dass es vorrübergehend keine Untersuchungshaft gab, oder?

Bevor ich mir weiter was zusammenreimen konnte, fuhr Alex fort.
 

„Also zumindest bis die Untersuchungen abgeschlossen sind und sich entscheidet ob jemand klagt. Der Chef hat dafür gehaftet, dass Fritz jederzeit für die Ermittler zur Verfügung steht. Er kommt in etwa ner halben Stunde raus und dann fahren wir ins Büro. Seine letzten Fälle sollen beleuchtet werden. Du weißt ja wie das läuft. Die werden bestimmt ein psychologisches Gutachten erstellen wollen.“ Das war doch gut, oder? Keine Untersuchungshaft, zumindest solange niemand klagte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass die Staatsanwaltschaft sich einmischte oder Frau Bremer?
 

„Wirst du da sein, Josephine?“, fragte mich Alex in der Sprachnachricht. „Melde dich bei mir! Vielleicht bis später.“ Ich schaute auf die Uhr. Er hatte mir vor ca. einer Stunde auf die Mailbox gesprochen. Sie mussten jeden Moment da sein. Ich hörte Schritte auf dem Gang und mein Herz fing an laut zu pochen. Ich spürte deutlich, wie es gegen meinen Brustkorb schlug und mir in den Ohren dröhnte.
 

Als die Tür aufging, stand ich wie angewurzelt da. Zunächst betraten einige Beamte den Raum, die ich nicht kannte. Dann sah ich meinen Chef, Herrn Altenburg, Alex und ...

„Fritz“, rief ich aus, ohne darüber nachzudenken. Ich war so froh ihn zu sehen. Er war im Türrahmen stehen geblieben und lächelte mich zögernd an.

„Josephine.“

Fritz war raus und stand vor mir, ohne Handschellen und mit einem erleichterten Blick. Dennoch sah er mich zögernd an. War mit ihm alles in Ordnung? Vielleicht war er enttäuscht, dass ich ihn gestern nicht besucht hatte oder verunsichert, weil unsere Begegnung nach dem Verhör seltsam verlaufen war. Aber ich wollte in diesem Moment nicht darüber nachdenken. Ich war einfach nur froh ihn endlich zu sehen und wollte zu ihm gehen und ihn umarmen, aber die Worte des Chefs klangen wieder in meinen Ohren und hielten mich zurück.
 

Ich räusperte mich kurz. „Ich freu mich, dass sie dich endlich rausgelassen haben“, sagte ich zu Fritz und war selber erstaunt, wie verkehrt sich meine Stimme anfühlte. „Karin und Waldi hatten schon nach dir gefragt.“ Selbst die Erleichterung in Fritz´ Blick ließ nach und das zögernde Lächeln auf seinen Lippen erblasste vollständig. Ich senkte schuldbewusst meine Lider für einen Augenblick, straffte mich aber dann. Es war jetzt keine Zeit dafür.

Mein Blick ging durchs Zimmer. Es sah aus, als wenn sich das gesamte SEK in unseren Räumen versammelte.
 

Ich blickte Herrn Altenburg an. „Aber nicht, dass es für Sie zur Routine wird mich jeden Tag aufzusuchen.“

Er lachte nur. „Ich freue mich auch Sie zu sehen, Frau Klick. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir wohl in nächster Zeit noch öfter das Vergnügen miteinander haben. Ermittlungen sind nicht von heute auf morgen abgeschlossen.“ Er wandte sich an die Beamten. „Nehmen Sie die Akten der Fälle mit, an denen Herr Munro beteiligt war und die nicht älter als ein halbes Jahr sind. Ebenfalls brauchen wir eine Kopie der Festplatte...Vielleicht möchten Sie uns ja helfen, Frau Klick?“, fragte er an mich gewandt.
 

Ich stimmte zu und öffnete den Kollegen die relevanten Aktenschränke. Ich war mir sicher, dass sie zur Sicherstellung des Materials alle weiteren Schränken auch durchsuchen würden, aber da mussten sie sich dann selber zurecht finden. Ein Glück waren wir heute mit der Ablage fertig geworden.

Ich ging zum Rechner von Fritz und schaltete ihn an. Als die Passwortabfrage aufleuchtete, hielt ich inne. Sein Passwort kannte ich natürlich, aber das musste Herr Altenburg nicht wissen.

„Gibst du bitte dein Passwort ein, Fritz?“ Er zögerte einen Moment, kam dann aber ohne eine Miene zu verziehen rüber. Während er sein Passwort eingab, ging ich mit meiner Handtasche zum Schreibtisch von Alex.
 

Mit etwas Abstand beobachte ich die zwei Beamten, die sich am Rechner von Fritz zu schaffen machten. Die restlichen Helfer stapelten die Akten in Kartons.

Der Chef stand mit Fritz und Alex am Eingang und beobachtete ebenso wie ich das Geschehen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie Fritz immer wieder zu mir rüber sah. Ihn musste irgendwas mächtig beschäftigen – so gequält wie er wirkte. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Wenn ich dafür verantwortlich war, musste ich es aus der Welt schaffen. Mir kam ein Gedanke und ich zog die Akte aus meiner Tasche, die den perfekten Vorwand lieferte.
 

„Herrn Altenburg“, rief ich dem Chefermittler zu. Er wandte sich zu mir „Ich nehme an, dass Herr Munro sich frei bewegen darf oder steht er unter Beobachtung?“ Die Frage sollte beiläufig klingen, aber er hatte ein gutes Gespür für Menschen und begriff schnell, dass sich mehr dahinter verbarg als reine Neugier.

„Er kann sich innerhalb von Berlin frei bewegen, solange er für uns erreichbar bleibt. Warum fragen Sie, Frau Klick?“

„Weil wir im Moment sowieso nur rumstehen und ich lieber die Zeit nutzen möchte, mit meinen beiden Kollegen mal unter vier Augen zu reden.“
 

Er sah mich skeptisch an. „Darf ich fragen, worum es geht?“

Wie sehr ich gehofft hatte, dass er die Frage nicht stellen würde. Aber das war jetzt sowieso egal. Wie viel Ehre und Privatsphäre war mir schon geblieben, nachdem ich über Funk wer weiß wie vielen Leuten den Grund für meinen Umzug verraten hatte. Es würde nicht lange dauern, bis die restlichen Reviere davon erfuhren. Mit Sicherheit wusste Herr Altenburg auch bereits darüber Bescheid. Wenn ich also schon in den sauren Apfel beißen musste, konnte ich ihn mir wenigsten auch zu nutze machen.
 

„Wissen Sie, Herr Altenburg“, begann ich und schluckte bevor die nächsten Worte meinen Mund verließen. „Nachdem mein Verlobter aus Bielefeld mich einen Tag vor der Hochzeit mit einer Nutte betrogen hat, habe ich versucht mit den Kollegen in Berlin neu anzufangen - ohne meine Vergangenheit. Es gab aber leider durch mein Verhalten einige Missverständnisse, die ich aus dem Weg räumen will. Seit dem Vorfall gestern konnte ich noch nicht mit beiden reden, möchte das aber jetzt nachholen. Haben Sie damit ein Problem?“
 

Damit mich auch die Jungs verstanden holte ich aus meiner Tasche meine Akte. Fritz erkannte sie sofort und erstarrte. Natürlich, dachte ich mir. Immerhin lag sie bereits seit einem halben Jahre in seinem Rolley - für ihn zum Durchstöbern. Fritz – du Idiot! Warum bist du nicht einfach auf mich zugekommen?
 

Als Herr Altenburg die Akte sah, verriet sein Blick alles. „Gucken Sie nicht so neugierig“, tadelte ich ihn und mir war es völlig egal in welchem Ton ich mit ihm sprach. „Die Akte geht Sie nichts an. Es ist nämlich meine eigene und die ist sowieso schon älter als ein halbes Jahr. Sie hat also keinen Wert für Ihre Untersuchung.“

Ich ging auf ihn zu und schlug die erste Seite auf. „Sehen Sie: Josephine Klick steht gut lesbar auf dem Deckblatt. Wenn Sie uns jetzt also entschuldigen? Ich habe Klärungsbedarf mit meinen Kollegen. Sie werden uns doch kein Teammeeting unter vier Augen verwehren, oder Herr Altenburg?“
 

Meinen Standpunkt und die Forderung musste ich so deutlich gemacht haben, dass er darauf nichts erwidern konnte. Ich nahm es als stille Zustimmung. Also schnappte ich mir mein Hand und ging mit der Mappe auf die beiden Männer zu.

„Kommt ihr?“, fragte ich beide und ging an Ihnen vorbei. Ich war mir sicher, dass sie mir folgen würden.
 

„Bleibt in der Nähe“, rief unser Chef uns noch hinterher.

„Wir sind im großen Besprechungsraum“, informierte ich ihn. Ich wartete nicht auf seine Reaktion und verließ das Zimmer. Als wir einen guten Abstand zum Büro hatten, spürte ich auf meiner Schulter eine Hand.

„Josephine“, begann Fritz behutsam, aber ich unterbrach ihn.

„Jetzt nicht, Fritz“, sagte ich und schüttelte seinen Hand ab. Ich wollte es vermeiden, aber mein Inneres war aufgewühlt und ich wusste nicht, ob ich wütend oder traurig war. Am Besprechungsraum angekommen blieb ich stehen und drehte mich zu den beiden um.
 

„Alex, lässt du mich kurz mit Fritz alleine reden? Ich muss da noch eine Sache klären?“ Alex wirkte verunsichert, erklärte sich aber damit einverstanden. Er verschränkte die Hände vor der Brust und deutete mit seinem Kopf an, dass wir endlich reingehen sollten.

Fritz ließ ich als erster eintreten. Hinter mir schloss ich die Tür und ging an Fritz vorbei. Am Tisch in der Mitte des Raumes blieb ich stehen und legte die Akte hin. Mein Blickte senkte sich und langsam verschwamm sie vor meinen Augen. Ich wollte nicht weinen und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
 

Fritz trat hinter mich und riss mich an den Schultern rum. „Josephine, jetzt hör mir mal zu“, begann er energisch, geriet aber ins Stocken, als er meine Tränen sah. Langsam richtete ich meinen Blick auf.

Ich blinzelte meine Tränen weg um ihn sehen zu können. Er sah endlos traurig und beinahe hilflos aus. Seine Hand näherte sich meinem Gesicht, als ob er mir die Tränen wegwischen wollte, zögerte dann aber und legte sie auf meine Schultern.
 

Lange hielt er meinem Blick nicht stand. Er sah zur Seite und atmete schwer.

„Es tut mir leid...“, flüsterte Fritz mit kratziger Stimme. Ich war mir nicht sicher für was er sich genau entschuldigte. Einen Moment schwiegen wir beide. Meine Fäuste ballten sich, als ich meine Emotionen einfach nicht unter Kontrolle bekam. Ich wollte ihm so viel sagen, wusste aber nicht wo ich anfangen sollte.

Wie immer verließen mich in den wichtigen Momenten die Worte und ich war nur in der Lage meine Hand zu heben und ihm damit auf den Brustkorb zu schlagen. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann hielt ich inne.
 

„Du bist ein Idiot“, schimpfte ich und meine Finger vergruben sich in seinem Shirt. Meine Stimme drohte zu brechen. Er erwiderte zunächst nichts, lächelte mir nur gequält an.

„Ich weiß“, sagte er zögernd.

„Und ich bin soo wütend auf dich, Fritz.“ Eigentlich sollte meine Stimme auch danach klingen, aber ich hörte mehr wie ein weinerliches Schulmädchen an.

Ich löste meine Hand von seinem Shirt und wollte noch einmal auf seinen Brustkorb schlagen, zögerte aber als meine Hand zu sehr zitterte. Er löste sich von meiner Schulter und umfing meine Faust mit seiner Hand, presste sie an die Stelle, die ich bereits drei Mal geschlagen hatte.
 

„Ich weiß“, flüsterte er erneut in einem sanften und ruhigen Ton. Er konnte nicht ahnen, wie sehr es mich beruhigte, wenn er so mit mir sprach. Mit seinem Daumen streichelte er meine Handfläche und mein Puls beruhigte sich langsam. Als ich zu ihm aufblickte, schenkte er mir ein entschuldigendes Lächeln.

Bevor sich wieder Tränen bilden konnten legte ich meine Stirn an seine Schulter. „Tu das nie wieder“, sagte ich ihm und spürte wie er nickte, als er seine Arme um mich legte und mich näher zu sich zog. Er vergrub seine Hände in meiner Jacke und ich legte meine Arme um seine Hüften. Ich war mir nicht sicher, ob Fritz wusste, dass es für mich lange nicht mehr um die Akte ging.
 

„Bring dich nie wieder in solche Gefahr durch so ein Verhalten, verstanden? Du hast einen Sohn der dich braucht – nicht nur als Vorbild.“ Ich wollte meinen Kopf von seinem Oberkörper lösen um Fritz anzusehen, aber er hielt mich fest. Sein ganzer Körper wirkte angespannt.

„Wenn du sauer auf mich sein willst kann ich dich nicht aufhalten, aber ganz ehrlich? Es geht dir gut und im Moment ist das alles was für mich zählt.“
 

Seine Worte berührten mich. Alles was zählte war, dass es mir gut ging? Ich schüttelte meinen Kopf. Es war nicht die richtige Zeit für egoistische Gedanken. Er war Familienvater und sollte in erster Linie an seinen Sohn denken.

„Für dich sollte jetzt wirklich mehr zählen. Vielleicht dein Sohn oder deine Karriere oder auch deine Freiheit? Du hast eine verschissene Untersuchung gegen dich zu laufen“, schnaubte ich ihn an und drückte ihn etwas von mir.
 

„Josephine...“

Es brachte nichts mich jetzt mit ihm zu streiten. Wir mussten das Beste aus der Situation mach.

„Wenn wir das erst einmal überstanden haben, Fritz... Ich werde dich beim nächsten Kampftraining so was von fertig machen.“ Er lachte leise auf und ich konnte sehen, wie seine Anspannung sich langsam löste. Wovor hatte er Angst gehabt?
 

„Lach nicht!“, rief ich empört aus und schlug ihm kräftig auf den Rücken.

„Auh“, stöhne er und bog seinen Rücken durch. Es gab mir genügend Zeit mich aus seiner Umarmung zu lösen und etwas Abstand zu gewinnen. Er sah beinahe enttäuscht aus, hatte aber noch mit seinem Rücken zu kämpfen. „Eh Bielefeld, ist das deine Art `Danke´ zu sagen?“

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Denk was du willst, Fritz.“ Bei seinem Gesichtsausdruck musste ich lächeln, drehte mich dann aber zur Tür und sah draußen im Gang nach Alex.
 

„Alex, kommst du?“ Er hatte noch immer seine Hände vor der Brust verschränkt und lehnte an der Wand. Als ich mit Alex den Raum betrat stand Fritz noch immer vorm Tisch und stützte sich mit der linken Hand ab, während seine andere den Rücken rieb.

„Was ist denn hier los?“, wollte Alex wissen.

„Ach Alex“, grinste ich im Plauderton und blickte Fritz von der Seite an. „Vermutlich ist das meine kranke Art mich bei Fritz zu bedanken.“

Alex stöhnte entnervt. „Eh, echt Josephine ihr beiden... Man kann euch auch nicht alleine lassen.“
 

Ich blickte Fritz warnend an, ging zum Tisch und wedelte mit der Akte umher. „Ihr beide solltet den Ball wirklich ganz flach halten. DAS hier, ja. Ist ja mal wirklich ne scheiß Aktion. Findest ihr nicht auch, Jungs?“ Fritz sah schuldbewusst die Akte an.

„Du hast dir auch nicht in die Karten gucken lassen, Josephine“, verteidigte er sich nur schwach.

„Hab ich denn kein Recht auf ein Privatleben? Ich habe mir nicht ausgesucht, dass der Vorfall auch noch gerade mit meinem Arbeitsleben zu tun hatte.“ Beide schwiegen. Ich atmete einmal schwer aus. Es war jetzt wirklich Zeit damit abzuschließen „Schwamm drüber, habe selber genug verzapft zum Anfang. “
 

Alex sah schelmisch zu mir. „Das würde ich sofort so unterschreiben, Josephine.“

Ich verdrehte meine Augen. „Ist gut, Alex. Ihr hört ab jetzt auf zu spionieren, klar? Fragt mich, wenn ihr was wissen wollt und wenn ich darüber nicht reden will dann lebt damit. Herr Gott noch mal, was ist eigentlich mit den Männern in diesem Büro los?“

Beide stutzten und sahen mir fragen an. „Wieso? Wie meinst du das?“, wollte Alex wissen.
 

„Was denkt ihr zwei Helden euch eigentlich, wie ich das mit der Akte rausgefunden habe?“

“Du hast in meinem Rolley gewühlt?“, fragte Fritz.

“Mensch Fritz, hat dir das deine männliche Intuition verraten? Warum sollte ich denn auf die Idee kommen das zu tun?“

„Mensch, komm auf den Punkt, Bielefeld. Hat Karin oder Ewald gequatscht?“

„Ne, das habt ihr beide gut alleine hinbekommen.“

Als sie mich wie ein Auto ansahen atmete ich schwer aus. Sie ahnten wirklich nichts von den Videos?. „Also wisst ihr Jungs, ihr spielt die harten Männer, fahrt dicke Maschinen, habt aber keine Ahnung, wie die neue Kamera funktioniert.“ Ich zückte mein Handy und suchte das Video raus. Hoffentlich reichte der Akku für diese Vorführung noch aus.
 

„Dann zeig ich euch mal, was ich heute beim Archivieren auf dem Rechner gefunden habe.“ Beide standen vor mir und blickten auf den Display.

„Fritz“, drang die Stimme von Alex aus dem Lautsprecher meines Handys.

„Warum sagst du es Ihr nicht einfach, Fritz?“

„Was soll ich ihr denn sagen? Dass ich mir ihre Akte aus Bielefeld besorgt habe, um in ihrem Privatle-...“
 

„Mach das aus, Josephine“, sagte Fritz bestimmt und versuchte sich das Handy zu schnappen. Ich zog es schnell zurück und hielt es von ihm weg.

„Wieso?“, fragte ich unschuldig. Das Gespräch der beiden schallte noch immer durchs Zimmer.

Fritz streckte seine Hand aus.

„Gib mir dein Handy“, forderte er nun deutlich energischer.

„Warum sollte ich?“

„Hast du etwa das ganze Gespräch mitgehört?“ Fritz wirkte nervös und genau das machte mich neugierig. Was war es, dass ich nicht hören sollte?

„Natürlich habe ich mir das ganze Video angesehen. Hallo? Ihr habt meine Akte illegal besorgt. Da werde ich doch mal ein Privatmitschnitt mitlauschen dürfen.“ Fritz fuhr sich frustriert mit seiner Hand über seinen 3-Tage Bart. Ich konnte seine Kieferknochen arbeiten sehen.
 

„Und?“, fragte Fritz vorsichtig. „Willst du mich was fragen dazu?“

„Fritz“, unterbracht Alex ihn. „Hört du das?“

„Was denn? Was soll ich hören?“

„Na nix. Das Video ist aus.“

„Was?“ Dieses Mal griff er schneller nach meinem Handy. „Ist das alles, das ganze Video?“, fragte er und ich schmollte innerlich.

„Ja, der Akku der Kamera scheint euch gerettet zu haben. Was habt ihr denn noch besprochen?“ Erleichtert atmete Fritz aus und haute mir mein Handy zwei Mal leicht auf die Stirn, bevor er es mir wieder gab. „Das, Bielefeld, wirst du nie erfahren.“ Auf einmal konnte dieser Munro wieder Lachen. Aus meinen Kollegen würde ich wohl nie schlau werden.
 

Als ich Alex und Fritz beim Rumalbern zusah, musste ich lächeln. Wir hatten wirklich geschafft für wenige Augenblicke den schrecklichen Tag gestern zu vergessen und trotz aller Hindernisse endlich ein Team zu werden. Für einen kleinen Augenblick schien es so, als würden wir uns nur fürs Wochenende verabschieden und Montag wieder gemeinsam in Einsatz fahren. Aber Fritz würde Montag nicht an der Seite von Alex und mir sein - unser dritter Mann würde fehlen. War es eine Trennung auf Zeit?
 

Ich klatschte einmal kräftig in die Hände. „So Männer, genug gespielt. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche.“ Ich blickte Fritz ernst an. Er verstand mich sofort. „Schmeißen wir uns ran und sorgen dafür, dass Fritz bald möglichst wieder zu unserem Team gehört.“ Er lächelte mich an und ich erwiderte es. Als mein Blick zu Alex schweifte, verzog ich mein Gesicht ein wenig. „Alex hält mich sowieso nicht lange alleine aus.“

„Einsicht ist der erste Weg...“, begann Alex grinsend.

„Komm mir nicht damit, Kollege“, unterbrach ich ihn und wandte mich zum Gehen. „Besserung ist nicht in Sicht.“

Langsam bricht der Frühling an, dachte ich, als ich den Pferdestall verließ und die Sonne langsam aufgehen sah. Es war noch sehr früh, aber ich konnte nicht länger schlafen und hatte daher beschlossen auszureiten. Jetzt wo Wotan gut versorgt in seiner Box stand, ging ich ins Haus. Heute Nachmittag würde ich noch einmal mit ihm ausreiten, aber jetzt brauchte er erst mal Erholung und ich einen starken Kaffee.
 

Viktor und mein Vater bereiteten gerade das Frühstück vor. Da ich meinem Vater nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, setzte ich mich zu den beiden an den Küchentisch.

„Kann ich euch vielleicht helfen?“

„Nein Josephine, du wirst heute verwöhnt“, sagte Viktor und kam lächelnd mit der Kanne auf mich zu. „´Nen Kaffee?“

„Ja bitte, du musst wirklich Gedanken lesen können.“ Er lachte bei meiner flehenden Stimme und füllte eine Tasse voll mit diesem dunklen, heißen, wohlriechendem Lebenselixier.

„Man muss dazu kein Hellseher sein. Du bist spät nach Hause gekommen und warst wieder früh auf. Wer da keinen Kaffee braucht, kann kein Mensch sein“, witzelte er und reichte mir die Tasse.
 

Ich schloss die warme Tasse um meine Hände bevor ich vorsichtig einen Schluck nahm. Es tat gut, als die Flüssigkeit durch meinen Körper strömte und mich von innen wärmte. Die Tage wurden milder, aber heute Morgen war es noch sehr frisch.

Wir frühstückten in aller Ruhe – immerhin war Samstag und wir hatten alle Zeit der Welt. Ich lauschte den beiden Männern bei ihrem Gespräch. Viktor wollte heute auf ein Gestüt in der Nähe von Potsdam fahren. Er überlegte sich einen jungen Hengst zu kaufen und selbst auszubilden - harte Arbeit war das. Aber Viktor war ein Profi, wenn er das nicht schaffte, dann wohl niemand sonst. Nach dem ausgiebigen Frühstück, räumte ich mit meinem Vater zusammen der Tisch ab. Viktor entschuldigte sich und machte sich auf den Weg. Als Viktor den Raum verließ wurde es eine ganze Weile sehr ruhig. Ohne ein Wort zu verlieren säuberte ich das Geschirr und reichte es meinem Vater zum Abtrocknen.
 

„Josephine“, begann er. Dieses Mal unterbrach ich ihn nicht. Früher oder später würde ich sowieso mit ihm darüber reden müssen. Nach über einem halben Jahr wurde es einfach Zeit. „Du wirst nicht wieder zurückkommen, oder?“

Seine Frage überraschte mich. Bisher hatte er immer nur wissen wollen, wann ich endlich zurück käme. Ich schwieg einen Moment. Es stand außer Frage, dass ich mein Heimatdorf noch immer liebte. So viele gute und liebevolle Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend trug ich in meinem Herzen, aber es würde nie wieder sein wie früher. Ich war nicht mehr die, die ich vor einem halben Jahr gewesen war. Ich passte dort einfach nicht mehr hin.
 

„Nein, Papa. Ich werde nicht wiederkommen.“ Sein Blick senkte sich während er etwas langsamer den Teller in seiner Hand weiter abtrocknete. „Du musst verstehen, dass ich dort nicht mehr leben kann. Nachdem was passiert ist... Wie kann ich meinen Kollegen da noch in die Augen blicken? Wie kann ich Stefan gegenübertreten? Es war so verkehrt, was ihr gemacht habt und das mein eigener Vater da mitgemacht hat... Weißt du wie sehr mich das verletzt hat?“ Ich kämpfte mit meiner Stimme. Nein, ich würde jetzt nicht weinen. Ich würde stark bleiben. Das Thema musste auch mal ein Ende finden.
 

„Es tut mir leid, Josephine. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen kann.“ sagte er flehend.

„Du bist mein Vater, das wird auch immer so bleiben. Aber du musst verstehen, dass ich eine Zeit brauchen werde dir wieder zu vertrauen.“

„Wirst du mir jemals verzeihen?“, wollte er wissen.

„Das weiß ich nicht“, antwortete ich ehrlich. „Aber vielleicht wird es irgendwann weniger weh tun. Du warst sonst immer ein guter Vater. Aber versuche bitte nicht, mich wieder zurückzuholen. Berlin ist jetzt meine neue Heimat.“

Ich sah ihn an und er nickte zögerlich. „In Ordnung.“ Eine Weile schwiegen wir beide und ich half ihm das restliche Geschirr abzutrocknen und in den Schränken zu verstauen.

„Wann fährst du wieder zurück?“, fragte ich ihn.

„Geplant war, dass ich morgen Nachmittag losfahre, aber nach allem was passiert ist... Wenn du mich brauchst, bleibe ich hier.“

„Das ist lieb von dir Papa, aber ich komm gut klar. Habe eh viel zu tun ab Montag. Fahr ruhig nach Hause.“

Es war richtig, dass ich ihn dieses Mal nicht abgewiesen hatte. Er würde morgen fahren und es hatte uns beiden gut getan zu reden. Er fragte, ob er mir irgendwie noch helfen könne, aber ich lehnte ab.
 

„Fahr doch zu Viktor“, schlug ich vor. „Er hat dich immer gerne bei solchen Sachen dabei. Er ist bestimmt den ganzen Tag auf diesem Gestüt und guckt sich die Hengste an.“

Er stimmte zu und war wenige Zeit später verschwunden. Ich für meinen Teil plante heute einen ruhigeren Vormittag, also räumte ich mein Zimmer auf, reinigte meine Pistole und laß in einigen Zeitschriften. Meine innere Unruhe ließ mich aber einfach nicht los. Ich legte mich auf mein Bett und klappte den Laptop auf. Würden Suchanfragen im öffentlichen Netz überhaupt was bringen? Ich wollte es zumindest versuchen. Also startete ich etliche Suchanfragen zum Thema Strafverfahren gegen Polizeibeamte. Für mich war das Thema neu und der Ablauf war mir unbekannt. Ich war kein Jurist. Mein Notizbuch füllte sich immer mehr mit Paragraphen, Fallstudien und Informationen aus freien Arbeiten.
 

Mich machte die Recherche langsam müde, als legte ich meinen Kopf auf einen Augenblick aufs Kissen. Nur fünf Minuten die Augen zu schließen, würde bestimmt helfen. Aber als ich die Augen wieder öffnete und mich streckte, stellte ich mit Schrecken fest, dass die Mittagszeit schon rum war.

Ich klappte meinen Laptop zu, schlüpfte in meine Hausschuhe und ging in den Wohnbereich. Ich war durch das ausgiebige Frühstück noch immer satt, also schnappte ich mir aus der Küche nur eine Banane für mich und einen Apfel für Wotan, zog meine Reiterkleidung an und ging in den Stall.
 

Wotan scharrte schon mit den Hufen. Er wollte raus und sich bewegen. Durch die Pflege heute morgen, ging das Satteln und Trensen zügig. Wir ritten über den Hof in den Wald. Ich wollte es zu Beginn meiner Zeit in Berlin zwar nicht glauben, aber die ländliche Berliner Umgebung besaß wunderbare Wälder für Ausritte. Viktor hatte mir in den letzten Monaten viele Wege gezeigt. Ich genoss den Kontrast zwischen Großstadt und Land.

Lange blieben wir aber nicht in den Wäldern. Zurück im Stall gab ich Wotan zur Belohnung ein kleines Leckerli.

„Bleib schön hier, Großer“, sagte ich ihm und tätschelte seinen Hals. „Ich hole nur schnell die Longe.“ Im Stall suchte ich die Longierutensilien für Wotan. Wo Viktor die Sachen nur wieder hingelegt hatte? Ich fand sie in der kleinen Kammer, wo das Putzzeug für die Pferde gelagert wurde.
 

Da hatten die Sachen nun wirklich nichts verloren. Gerade als ich mich umdrehen wollte, um wieder aus der Kammer zu verschwinden, hörte ich leise Schritte und erstarrte. Viktor oder mein Vater konnten es nicht sein, dafür war es noch viel zu früh. Außerdem klangen die Schritte nicht nach zwei erwachsenen Männern.

Für einen Augenblick waren die Bilder meiner Entführung wieder ganz nah. Clemens war am Donnerstag Morgen im Stall aufgetaucht, hatte mich betäubt und entführt. Ich wollte mich gegen das Gefühl wehren, aber mir lief ein Schauer über den Rücken. Gebückt versuchte ich hinter der Tür hervorzusehen und schreckte hoch, als mich große Kulleraugen anstarrten. Mein Kopf knallte an den Türrahmen und ich stöhnte leise auf, als ich aus der Kammer hervor trat.
 

Vor mir stand ein kleiner Junge. Er war vielleicht zwischen sieben und neun Jahre. Aber irgendwie erinnerte mich das Kind an jemanden.

„Hey kleiner Mann, was machst du denn hier?“

„Josephine“, unterbrach mich eine bekannte Stimme.

Ich schnellte rum. „Fritz?“, fragte ich erstaunt. „Was machst du denn hier?“

Er ging gar nicht auf meine Frage ein. „Ist alles okay?“, wollte er wissen. Er kam auf mich zu und begutachtete meinen Kopf.

„Alles bestens“, wehrte ich ab. „Du weißt doch, dass ich einen Dickschädel habe.“ Er grinste bei meiner Bemerkung. Mein Blick ging wieder zum Jungen vor mir. „Na, dann musst du wohl Benny sein. Was machst du denn hier mit deinem Papa?“

Benny guckte erst etwas verlegen zu Fritz, sah mich aber dann mit einem gewinnenden Lächeln an. „Er wollte mir heute das Pferd von dir zeigen.“
 

Ich drehte mich mit einer hochgezogenen Augenbraun zu Fritz. „Wollte er das?“

Fritz blickte entschuldigend. „War ne recht spontane Entscheidung.“

„Na, da habt ihr aber Glück. Bin gerade erst vom Ausritt wieder gekommen. Ich bin die Josephine, die Kollegin von deinem Papa.“ Benny schüttelte meine Hand voller Elan, als ich sie ihm reichte. Ich musste lächeln. Der Kleine war wirklich Zucker.

„Wir haben dich auf den Hof reiten sehen“, ließ mich Fritz wissen. „Benny war ganz begeistert von deinem Pferd.“

Ich zwinkerte Benny zu. „Dann wollen wir doch mal zu Wotan gehen. Er freut sich immer über Besuch.“ Fritz und Benny folgten mir zum Hinterausgang, wo Wotan wartete.
 

„Na Großer“, sagte ich. „du hast Besuch.“ Ich tätschelte Wotan wieder am Hals. „Wenn ich vorstellen darf: Wotan, das ist Benny. Benny, das ist Wotan.“

Wotan schnaubte, als wenn er mich wirklich verstanden hätte und Benny begrüßen wollte. Ich konnte das Glitzern in den Kinderaugen sehen. „Woooa“, staunte er.

Benny waren Berührungsängste anscheinend fremd, als der Abstand zwischen den beiden augenblicklich schwand und er Wotan anfing zu streicheln. Sorgen musste ich mir keine machen - noch nie war ein so ruhiges Pferd wie Wotan in meinem Besitzt gewesen.

„Ich wollte Wotan jetzt noch longieren, wenn du möchtest, kannst du ein wenig auf ihm reiten“, bot ich dem Kleinen an.

„Wirklich?“, fragte Benny begeistert als er erst mich und dann Fritz mit leuchtenden Augen ansah. „Papa, darf ich?“ Fritz nickte zustimmend.
 

Ich streichelte Wotan, bevor ich seinen Kopf vorsichtig zu mir runter zog. „Na, Kumpel. Kannst du noch?“ Er schnaubte und ich musste lachen.

Ich wandte mich wieder an Ben, der vor Wotan stand. „Na dann helfe ich dir mal beim Aufsteigen. Und halt dich gut am Sattel fest.“ Als Ben auf dem Pferd saß, führte ich Wotan langsam zum Longierplatz. Fritz folgte mir, sagte aber nichts. Ich hörte Ben kichern und drehte mich zu ihm.

„Na, geht es?“, fragte ich ihn. Er nickte mir überzeugt zu.

Nachdem Ben sich an das Gefühl gewöhnt hatte, fing ich an die Longe lang zu lassen und signalisierte Wotan mit der Longierpeitsche, dass er im Schritttempo seine Runden drehen sollte. In regelmäßigen Abständen ließ ich Wotan von Schritt in den leichten Trab wechseln, was Benny besonders Spaß machte. Er jubelte wie ein kleiner Cowboy. Fritz blieb mit mir in der Mitte stehen und sah seinen Sohn an. Man konnte sehen, wie stolz er war.
 

Ich stupste ihn an. „Willst du auch mal?“ Ich deutete auf Wotan.

Gleich hob er die Hände abwehrend hoch „Nee, lass mal.“

Ich schnalzte mit der Zunge. „Hast du etwa Angst?“

„Quatsch“, gab er ein wenig zu energisch zurück. Meine Mundwinkel zuckten als ich mich an Ben wandte.

„Ich glaube dein Papa hat Angst auf Wotan zu reiten.“

Ben sah mich ungläubig an. „Das kann gar nicht sein. Papa ist der mutigste Mensch, den ich kenne.“ Dann sah er Fritz an. „Papa, komm. Das ist auch gar nicht schlimm.“ Er streckte eine Hand aus, hielt sich aber mit der anderen weiter am Sattel fest. Fritz blickte unzufrieden drein und ich klopfte ihm ermutigend auf die Schulter.

„Na komm schon.“ Wir gingen zu Wotan. „Rück mal ein Stückchen nach vorne, Benny“, sagte ich ihm. Fritz stieg behutsam auf Wotan, wobei er etwas Hilfe von mir bekam.
 

Ich fing wie bei Ben langsam im Schritttempo an. Als ich in den Trap wechselte konnte ich sehen, dass Fritz sich damit nicht ganz wohlfühlte. Ich biss mir auf die Lippen um nicht zu lachen.

Ben drehte sich zu Fritz um und sah ihn aufmunternd an. „Siehst du Papa, ist gar nicht schlimm.“ Bei der Szene zwischen den beiden konnte ich mir einfach mein Lachen nicht länger verkneifen. Natürlich erntete ich einen bitterbösen Blick von Fritz. Also biss ich mir wieder auf die Lippe, kicherte aber leise weiter vor mich hin.

Fritz gewöhnte sich dann doch relativ schnell an die Bewegungen und wurde sicherer. Mit der Entspannung kam die Freude, mit seinem Sohn etwas gemeinsam zu erleben. Sie lachten und sahen glücklich aus. Die Gesichter der beiden erinnerten mich an das Foto, das auf Fritz´ Schreibtisch stand.
 

Mich traf ein tiefer Stich, wie ein Stromschlag, der sich langsam und heiß durch meinen Körper zog. Ohne es zu merken, hatte sich Peitsche in meiner Hand gelöst und fiel zu Boden. Wotan hielt wie trainiert an. Fritz blickte mich fragend an. Ich winkte ab, räusperte mich und nahm wieder die Peitsche in die Hand.
 

„Josephine“, hörte ich Ben´s kindliche Stimme. „Kannst DU vielleicht mal mit mir reiten?“, fragte er zögernd. Ich war verwundert. Ben drehte sich zu Fritz und sah seinen Vater beinahe entschuldigend an, bevor er sich wieder zu mir drehte.

„Papa reitet so langsam.“

Als ich den Gesichtsausdruck von Ben und Fritz in diesem Moment sah, konnte ich nicht anders. Ich lachte laut los. So sehr, dass ich meine Hand auf meinen Brustkorb legen musste. Fritz schmollte wie ein kleiner Schuljunge. Sein Sohn musste wohl sehr an seinem Ego gekratzt haben. Ich beruhigte mich nach einigen Momenten und nickte dann Ben zu.

„In Ordnung“, stimmte ich zu. „Aber nur, wenn der Papa damit einverstanden ist.“

Als Fritz seine Zustimmung gab, ging ich auf Wotan zu und belohnte ihn mit einem Leckerli. Fritz schaffte es ohne Hilfe vom Pferd zu steigen und ich nahm seinen Platz ein. Ich gab Fritz die Longierleine und schnappte mir dann die Zügel.
 

„Bereit?“, fragte ich Ben. Er nickte. „Aber du musst dich gut festhalten, okay?“

„Ja, das mach ich“, versprach er.

Dann gab ich Wotan das Signal sich in Bewegung zu setzen. Nach kurzer Zeit ging er in einen leichten Galopp über. Wir ritten quer über das Gehöft bis der Zaun uns am Weiterreiten hinderte. Ich schwenke vorher um und wir drehten noch einige Runden. Nach einer Weile verlangsamte ich das Tempo.

„Und hat dir das Spaß gemacht?“, fragte ich

„JA! Ich könnte das Stundenlang machen“, rief Ben euphorisch aus und brachte mit damit zum Lachen. Ben war ein feiner Junge. Ich verstand, warum Fritz ihn so liebte.

„Aber Wotan ist jetzt müde. Wir reiten wieder zurück, okay?“ Ben nickte und ich wir ritten im langsamen Schritt die Koppel entlang.
 

„Mein Papa mag dich“, sagte Ben plötzlich und überraschte mich damit völlig.

Ich stutzte, lächelte aber dann. „Ich mag deinen Papa auch. Wir sind gute Kollegen.“

Ben drehte seinen Kopf, um mich anzusehen. „Papa hat gesagt, er glaubt die nächsten Wochenenden keine Zeit für mich zu haben. Er meinte, dass er gerade an einem ganz wichtigen Fall arbeitet.“ Er machte kurz eine Pause, als er zu Boden sah. Dann schaute er mich mit diesen fragenden Kinderaugen an. „Stimmt das?“

Ich nickte ihm zu. „Ja, das stimmt.“

Er sah mich noch immer an. „Wirst du auf meinen Papa aufpassen?“

Bei der Frage musste ich schlucken und mein Herz zog sich zusammen. Ich streichelte ihm über den Kopf. „Ja, das werde ich.“

Jetzt lächelte er wieder und blickte nach vorne. Wir kamen dem Stall immer näher. Fritz wartete dort auf uns. Ben hob eine Hand und winkte Fritz hektisch zu. Fritz lächelte und winkte sanft zurück. Ich musste blinzeln, damit sich keine Tränen in meinen Augen sammeln konnten. Natürlich würde ich auf ihn aufpassen, dachte ich mir.
 

Am Stall angekommen kümmerten Ben und ich uns um Wotan. Als er sein Hafer und Heu bekam, konnten wir seine Box verlassen. Wir ließen die Boxtür auf und sahen Wotan noch eine Weile beim Fressen zu. Ben stand neben mir, hielt die Hand von Fritz, als er Wotan beobachtete.

Als auch ich Wotan betrachtete, sah ich im Augenwinkel wie Ben mich vorsichtig anblickte. Ich erstarrte für einen Moment, als er langsam seine Hand in meine schob. Es erwärmte mein Herz und ich sah ihn an und musste lächeln.
 

„Das hat heute Spaß gemacht“, strahle er mich an.

„Wir können das gerne irgendwann wiederholen“, bot ich ihm an.

Seine Augen glänzten. „Das wäre toll“, sagte er und beobachtete wieder Wotan. Ich blickte Fritz in diesem Moment an, der mich schweigend ansah. Ich musste wegsehen, als sich wieder dieser Stich durch meinen Körper zog. Ich rieb meinen Brustkorb um das Gefühl zu vertreiben.

Wir standen noch eine Weile wortlos da, als ich Ben laut gähnen hörte.
 

***
 

Ben war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, sobald Fritz ihn in den Wagen gesetzt hatte. Gegen das Auto gelehnt, die Hände vor der Brust verschränkt, stand Fritz da und sah mich wieder mit diesem Blick an.

„Ich habe gehört, dass du einen wichtigen Fall in nächster Zeit hast?“, fragte ich ihn.

„Er hat es dir gesagt?“ Fritz´ Lächeln wirkte gequält.

Ich nickte. „Er macht sich Sorgen“, entgegnete ich.

Fritz blickte zu Boden. „Ich weiß... Ich mir auch.“

Es tat mir weh ihn so zu sehen. „Fritz, du weißt, dass wir für dich da sind. Wir werden alles Mögliche tun damit du in unserem Team bleibst.“

Er nickte zaghaft. „Das weiß ich, aber wir sollten hier realistisch bleiben. Ich habe jemanden getötet. Für die Angehörigen ist es egal ob es Notwehr war oder nicht.“
 

Ich senkte meinen Blick und wusste nicht, wie ich auf seine harten Worte reagieren sollte. Er hatte Recht. Den Angehörigen würde der Unterschied egal sein – das kannte ich aus eigener Erfahrung. „Ich weiß“, sagte ich bedrückt. „Musstest du bei einem Einsatz vorher schon mal jemanden...“ Ich zögerte, sprach es aber dann aus „...töten?“

„Nein“, entgegnete er mir. „Du?“

Langsam schüttelte ich meinen Kopf. „Nein.“

Er wandte sich von mir ab und blickte in die Ferne. Seine Stirn legte sich in Falten. „Es war so einfach, als ich so wütend war.“

„Fritz“, ermahnte ich ihn, aber er unterbrach mich.

„Josephine“, begann er ernst. „Ich bereue es nicht, da ich dich nur so retten konnte und ich würde auch heute wieder die gleiche Entscheidung treffen.“

In meinen Augen bildeten sich Tränen. „Hör auf, Fritz. Sag so was nicht.“
 

Ich sah mich immer noch mit festem Blick an, seine Stimme wirkte jedoch kraftlos und verletzt. „Aber ich weiß auch, dass ich jemanden seinen Ehemann weggenommen, jemanden den Vater geraubt habe.“ Er atmete einmal tief durch. „Wenn Frau Bremer klagt, könnte ich es verstehen und wir wissen beide, dass ich mit größter Wahrscheinlichkeit im Gefängnis lande. Selbst wenn die internen Untersuchungen gut laufen, kann ich mir nicht vorstellen, dass Frau Bremer den Tod ihres Mannes einfach so hinnimmt.“

Ich wusste darauf nichts zu erwidern und es herrschte eine ganze Weile Stille.
 

Ich sah Fritz an, der meinen Blick mied. Wie gerne würde ich ihn einfach in den Arm nehmen und ihm versichern, dass alles wieder gut wird. Aber mit seiner Körperhaltung wirkte er unnahbar und ich ließ es bleiben. „Warum bist du heute hier hergekommen?“, fragte ich stattdessen.

„Ben hatte mich schon länger nach deinem Pferd gefragt. Ich habe mich spontan dafür entschieden, da es vielleicht die letzte Gelegenheit dafür ist.“

„Sag das nicht“, befahl ich schwach. „Ich habe ihm versprochen das bald wieder zu wiederholen. Du kannst mich doch nicht als Lügnerin dastehen lassen.“ Ich versuchte ernst zu klingen, aber Fritz lachte über diesen banalen Gedanken. Es war gut sein Lächeln zu sehen. Mich ließ es die Sorgen für einen kurzen Moment vergessen. „Aber Fritz“, sprach ich weiter. „Solange die Untersuchungen andauern, solltest du lieber nicht mehr herkommen“, bat ich ihn.
 

„Wurde mir auch empfohlen“, entgegnete er ausweichend.

„Dann halt dich daran, okay? Alles, was helfen kann, wird gemacht, verstanden?”

“Ist ja gut”, schnaubte er gespielt. “Du bist ja schlimmer als Alex oder der Chef. Soll Montag zu diesem Psycho-Doktor für das Gutachten.”

“Reicht denn da ein Tag?”, gab ich zu bedenken.

“Eh”, rief er empört. “Was soll das heißen?” Ich lächelte nur.

“Du solltest jetzt gehen”, sagte ich nach einer Weile. “Dein Kleiner ist fix und fertig.“

„Ja, du hast recht“, stimmte er mir zu. „Josephine?“

„Hm?“

„Wenn ihr Montag in einen Einsatz geht... Machst du bitte keinen Blödsinn? Spiel Alex nicht kaputt. Du weißt, dass er dich jetzt alleine managen muss“, bat er mich in einem herausfordernden Ton.
 

Ich blickte einen Moment, als ob ich drüber nachdenken würde. „Du hast Recht“, stimmte ich ihm zunächst zu. Ergänzte dann aber frech „Vielleicht sollten wir Waldi noch mitnehmen.“

„Bielefeld“, warnte er mich.

„Jaja, schon verstanden. Ich bin ganz brav.“ Ich hob abwehrend die Hände.

Er löste sich vom Wagen, machte zwei Schritte auf mich zu und legte mir seine Hand kurz auf die Schulter. „Gute Nacht“, sagte er mir.

„Nacht, Fritz“, erwiderte ich.

Er stieg ins Auto und fuhr davon. Ich stand eine Weile noch draußen und sah dem Wagen nach. Was konnte ich nur tun, damit weder die Staatsanwaltschaft noch Frau Bremer klage gegen ihn erhob? Bei dem Gedanken fing ich an zu frösteln. Ich rieb mir die Hände und ging ins Haus.

Als ich Montag mit Waldi noch einmal sprach, stellte sich heraus, dass er sich die Videos auf dem Rechner noch gar nicht gesichtet hatte. Den einzigen Vorwurf den man ihm machen konnte war seine Kollege darüber noch nicht informiert und ihnen die Bedienung erklärt zu haben.

Alex betrat das Büro und begrüßte uns. Ich drehte mich zu ihm und war erstaunt Fritz hinter ihm zu sehen.
 

„Was machst du denn hier?“ fragte Ewald ebenso überrascht wie ich. Er lächelte etwas gezwungen und deutete auf die Dokumente in seiner Hand.

„Bürokratie ohne Ende... Habe wegen diesen Unterlagen noch ´nen Termin beim Chef.“ Karin nickte verständnisvoll während Waldi ihn nur ansah. Beide wussten nicht so recht, was man in dieser Situation sagen konnte.

Ich konnte nicht behaupten mit dem Thema besser umzugehen, aber zumindest versuchte ich es.

„Möchte einer von euch beiden ´nen Kaffee?“, fragte ich Alex und Fritz während ich zur Tür ging. Sie nickten mir verwundert zu.
 

Als ich wieder ins Büro kam, überreichte ich Alex seinen Kaffee mit Milch und Fritz bekam ihn schwarz. Beide sahen mich skeptisch an.

„Was denn?“, fragte ich herausfordernd. „Darf ich euch nicht mal einen Kaffee bringen ohne gleich verdächtigt zu werden?“ Ihr Blick veränderte sich nicht. „Jungs, also wirklich. Ich kann mehr als nur Alleingänge durchzuführen. Man mag es nicht glauben, aber ich kann gut für meine Teamkollegen sorgen, zumindest wenn sie auch nett zu mir sind.“

Fritz schlürfte seinen Kaffee. Ich konnte aber sein Grinsen hinter dem Becher erkennen. Alex verzog noch immer skeptisch sein Gesicht.

„Wie lange das wohl anhält?“, fragte er in einem beiläufigen Tonfall. Also wirklich, man konnte es ihnen aber auch einfach nicht recht machen.
 

„Und was machst du heute so?“, fragte ich Fritz, der daraufhin abschätzend sein Gesicht verzog.

„Nachdem ich mich durch diesen Wust von Unterlagen mit dem Chef gekämpft habe muss ich noch zu diesem Psychoheini, der das psychologische Gutachten erstellen soll.“

„Klingt nach einem spannenden Tag“, versuchte ich zu scherzen.

„Sehr witzig, Bielefeld“, erwiderte Fritz gedehnt und sah mich dabei gequält an. Man sah Fritz an, dass er keine Lust dazu hatte, aber da musste er jetzt durch. Alles was hilft wird gemacht, richtig?

Karins Telefon klingelte. „Es gibt in Grunewald einen neuen Fall“, sagte sie und schrieb die Adresse auf einen Zettel. Alex schnappte sich seine Jacke und nahm ihr das Stück Papier ab.

„Das ist ein Heim für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen“, informierte Sie uns weiter. „Eine Heilerzieherin wurde heute Morgen in einem Patientenzimmer tot aufgefunden. Vermutlich wurde sie mit einem Gegenstand erschlagen.“
 

„Na dann wollen wir mal“, rief ich und folgte Alex zur Tür. Als ich mich noch einmal kurz umdrehte, stockte ich. Fritz saß noch immer - seinen Kaffeebecher in der Hand - auf dem Stuhl. Seltsam Fritz so zu sehen und zu wissen, dass er nicht mitkam.

„Josephine, kommst du?“, rief Alex vor mir.

„Ja, ich komme“, gab ich widerwillig zurück. „Bis Später“, sagte ich zu Karin, Waldi und Fritz bevor ich das Büro verließ.

Die Spurensicherung war am Tatort bereits aktiv. Die Kollegen von der Streife erklärten uns kurz den Sachverhalt.

„Elisabeth Weiß, 23 Jahre, Heilerzieherin. Sie wurde heute Morgen gegen 7 Uhr tot im Zimmer gefunden. Vermutlich erschlagen mit einem Pokal, die wir als Tatwaffe vermuten. Gegen 7.15 verständigte uns die 20-jährigen Praktikantin Steffi Krause. Der Patient war im Zimmer beim Opfer. Er wird im medizinischen Sektor des Heims behandelt.“
 

„Wo hält sich Frau Krause auf?“, fragte ich nach.

„Ebenfalls im medizinischem Sektor. Sie scheint wohl einen Schock erlitten zu haben.“ Bei dem Anblick des Tatortes konnte ich das gut verstehen.

„Danke“, sagte Alex zum Kollegen und nahm ihm die Mappe ab. „Wir übernehmen jetzt.“ Alex ging etwas näher an den Tatort und verschaffte sich ein Bild. „Ist die Gerichtsmedizin informiert?“, fragte er nach.

Einer der Männer nickte. „Ja, die Kollegen sind auf dem Weg.“

„Gut, wir befragen jetzt die Zeugin. Die Kollegen von der Gerichtsmedizin sollen sich bitte melden, wenn sie erste Einschätzungen geben können.“
 

Wir machten uns auf den Weg zum medizinischem Sektor. Es war nicht ganz einfach, aber eine Mitarbeiterin des Institutes zeigte uns schließlich den Weg. Es war wie eine kleine Privatpraxis aufgebaut: Empfangszimmer, Warteraum und drei Behandlungszimmer. An der Rezeption fragten wir die Empfangsdame nach der Zeugin.

„Da müssten Sie erst mit Frau Dr. Beck sprechen. Sie hat mir gesagt, dass niemand zu Steffi darf ohne ihre Erlaubnis.“

„Wo finden wir Frau Dr. Beck?“, wollte ich wissen.

„Einen Moment bitte.“ Sie stand auf, legte ihre Akten beiseite und ging um den Tresen. „Folgen Sie mir.“
 

Wir gingen den Flur entlang bis zum letzten Behandlungszimmer. Sie blieb davor stehen und klopfte drei Mal, dann öffnete sie die Tür einen Spalt und steckte ihren Kopf ins Zimmer.

„Frau Dr. Beck, entschuldigen Sie die Störung, aber hier sind zwei Kriminalbeamte.“ Uns wurde die Tür geöffnet. „Sie können reingehen“, informierte uns die Damen vom Empfang und war im selben Moment auch schon verschwunden. Als wir das Zimmer betraten, sah ich Frau Dr. Beck, die vor einem Patienten kniete und ihm die linke Hand verband.
 

„Vivienne?“, hörte ich die erstaunte Stimme von Alex. Erst jetzt drehte sie sich zu uns um.

„Alexander“, lächelte Sie. „Schön dich zu sehen. Ich bin gleich bei euch.“ Sie drehte sich wieder zu ihren Patienten. „Tim“, sagte sie. „Tim? Hörst du mich?“ Sie hockte noch immer vor ihrem Patienten. Langsam nickte er.

Sie lächelte. „Ich muss ganz kurz mit meinen beiden Freunden da vorne sprechen. Ist das okay, Tim? Kann ich dich hier alleine lassen? Ich geh auch nicht aus dem Zimmer.“ Er sah kurz auf und blickte in unsere Richtung. Die verängstigten Augen eines Teenagers sahen mich an.
 

„Du musst dir keine Sorgen machen, Tim“, setzte Frau Dr. Beck in einem ruhigen, saften Ton fort. „Das sind gute Menschen, die nur helfen wollen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ist das okay, wenn ich kurz mit den beiden rede?“

Es dauerte eine Weile bis er seinen Blick von uns abwandte und die Ärztin wieder ansah. Dann nickte er und ein dumpfer, leiser Laut verließ seinen Mund. Es klang wie ein `Ja´ hätte aber auch was anderen sein können.

Die Ärztin befestigte den Verband und stand auf. Nachdem ihre Handschuhe im Mülleimer landeten, kam sie auf uns zu. Ihre naturroten Locken umspielten fein ihr Gesicht und berührten knapp ihre Schultern. Ihre Sommersprossen im Gesicht und die Grübchen beim Lächeln ließen sie mädchenhaft wirken. Dabei musste Sie vermutlich Mitte vierzig sein, aber es war wirklich schwer das einzuschätzen.
 

„Hallo Alexander“, begrüßte sie meinen Partner und sah dann zu mir. „Hallo, ich bin Vivienne.“ Sie reichte mir ihre zierliche Hand.

„Hallo, Josephine“, stellte ich mich vor.

„Sie müssen eine neue Kollegin sein“, suggerierte sie.

„Ja“, bestätigte ich. „Ich bin erst seit einem halben Jahr in Berlin.“

„Wo ist Fritz?“, fragte Sie und sah Alex wieder an.

„Beurlaubt im Moment“, antwortete Alex ehrlich. Die beiden mussten sich gut kennen, wenn er ihr das anvertraute.

„Sehr schlimm?“, fragte sie besorgt.

„Das erklär ich dir lieber ein anderes Mal“, gab Alex zurück. „Wir wollte gerne mit der jungen Frau reden, die heute Morgen die Polizei verständigt hat. Hält sie sich hier auf?“
 

Vivienne blickte nun besorgt zu Tim. Sie drehte sich von ihm weg, neigte sich dichter zu uns und fuhr im Flüsterton fort. „Ja, Sie ist hier. Frau Krause ist Praktikantin bei uns und hat heute Morgen unsere Kollegin gefunden.“ Sie machte kurz eine Pause und sah zu Boden. „Wirklich eine ganz furchtbare Sache.“ Vivienne blickte zu ihrem Patienten Tim. „Er war bei ihr, als wir Frau Weiß gefunden haben.“

„Können wir mit ihr reden?“, fragte Alex.

„Ja, natürlich. Sie hat sich schon wieder einigermaßen beruhigt. Sie ist im zweiten Behandlungszimmer.“ Vivienne deutete auf das Zimmer gleich gegenüber.
 

„Alles klar. Danke.“ Alex wandte sich ab und ging einige Schritte in Richtung der Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. „Vivienne?“

Die Ärztin sah ihn fragend an. “Ja?”

„Können wir nachher auch noch einmal mit dir reden und auch vielleicht mit Tim?“, fragte Alex.

„Mit mir könnt ihr auf jeden Fall reden. Ich wollte sowieso noch einiges ansprechen. Aber mit Tim wird das schwer werden.“ Sie schaute abermals zu ihrem Patienten. „Er kommuniziert nicht sehr aktiv und wird euch keine Antworten geben können.“

Alex nickte verständnisvoll. „Alles klar. Dann kommen wir nachher aber noch einmal auf dich zu, okay?“

„Macht das. Ich bleibe sowieso solange bei Tim wie möglich.“

Ich nickte ihr kurz zu. „Bis später.“
 

Nachdem wir an die Tür vom anderen Behandlungszimmer geklopft hatten, mussten wir eine Weileauf Antwort warten. „Herein“, hörte ich eine leise und schwächliche Frauenstimme. Wir betraten das Zimmer.

Eine junge Frau mit kurzen blonden Haar und blauen Augen blickte uns an. Sie saß auf der Liege und war eingehüllt in einer Decke. Sie sah erschöpft aus und hatte geschwollene Augen - vermutlich vom vielen Weinen.

„Frau Krause?“, fragte ich vorsichtig.

„Nennen Sie mich doch bitte Steffi“, bat sie mich schwach.

„Steffi“, wiederholte ich ihren Namen. „Mein Name ist Josephine Klick. Das ist mein Kollege Alexander Mahler.” Alex nickte ihr kurz zu. „Wir sind von der Kripo.“
 

„Ich habe Ihren Kollegen schon alles gesagt.“

„Das kann ich verstehen, Steffi. Aber wir möchten dich trotzdem bitte, dass du uns nochmal alles schilderst. Vielleicht haben wir ja noch zusätzliche Fragen.“ Sie schwieg und sah zu Boden. Ich setzte noch einmal nach. „Du möchtest doch bestimmt auch, dass die Sache aufgeklärt wird, oder?“

Sie blickte mich an. Dann nickte sie schwach. „Natürlich möchte ich das.“ Ich ging auf sie zu, nahm mir einen Stuhl und setzte mich neben sie. Alex lehnte sich an die Wand.

„Dann erzähl uns bitte alles, an was du dich erinnern kannst“, bat ich sie im sanften Ton. Es dauerte eine Weile bis sie anfing zu reden, aber ich gab ihr die Zeit.
 

„Ich bin seit sechs Wochen Praktikantin hier. Mein Dienst hat um sechs Uhr begonnen. Ich habe Frau Dr. Beck bei den Vorbereitungen für den Tag geholfen. Um sieben Uhr sollte ich den Tim, unseren Patienten aus der Zehn, zu einer Blutprobe abholen, deswegen musste es vor dem Frühstück sein. Frühstück ist bei uns immer um 8 Uhr.“ Sie machte eine kurze Pause und fuhr mit zittriger Stimme fort. „Ich hatte mich schon gewundert, warum Licht brannte. Zur Sicherheit klopfte ich an, aber Tim reagierte nicht. Also ging ich rein... und dann sah ich Bethy...“
 

Sie schluckte und ihr liefen Tränen übers Gesicht. „Wie sie am Boden lag. Überall war Blut - schrecklich viel Blut... Ich wusste nicht was ich tun sollte, also drückte ich den Notfallknopf. Jeder Patient hat so eine im Zimmer. Damit verständigt man den Empfang vom medizinischem Bereich. Frau Dr. Beck war gleich darauf da. Während ich da stand und nicht wusste was ich tun sollte, hörte ich immer ein dumpfes Schlagen gegen die Wand. Ich sah Tim in der Ecke sitzen, wie er immer wieder mit dem Rücken gegen die Wand schlug. Seine Hände waren blutverschmiert und er sah total apathisch aus.“ Sie hörte auf zu sprechen und blickte hoch an die Wand. Als sie tief durchatmete und ihre Lider schloss, liefen weitere Tränen über ihre Wange.
 

Ich nahm Steffis Hand und drückte sie leicht. „Kannst du uns sagen was dann passiert ist?“, fragte ich vorsichtig weiter nach.

„Frau Dr. Beck lief sofort zu Tim und sagte mir ich solle nichts anfassen und die Polizei verständigen. Ich meine, sie überprüfte nicht mal, ob Elisabeth noch lebte. Sie hätte doch zumindest ihren Puls einmal fühlen müssen, oder? Aber ich war so aufgelöst, dass ich losrannte und die Polizei aus dem Empfangszimmer anrief. Handys sind auf der Arbeit nicht erlaubt. Danach lief ich wieder zu Bethy. Als ich ankam brabbelte Tim die ganze Zeit Unverständliches und Frau Dr. Beck versuchte ihn zu beruhigen. Sie wühlte in Ihrem Koffer und verabreichte ihm eine Flüssigkeit zum Schlucken. Es dauerte einige Momente, aber langsam wurde er ruhiger.”
 

„Weißt du um was es sich handelte?“, fragte ich weiter.

„Nein, aber es muss was zur Beruhigung gewesen sein. Die anderen Ärzte geben den Patienten immer Spritzen, Frau Dr. Beck hielt aber nie viel davon. Sie nahm ihm sogar vor Ort und Stelle Blut ab. Ich stand nur da und konnte nichts machen. Als die Polizei dann nach einer Weile eintraf, schilderte sie kurz alles und brachte Tim mit mir zusammen auf die Krankenstation. Seit dem bin ich hier.“
 

Steffi war wieder gefasster, dennoch gab ich ihr einen Moment zum Durchatmen. „Wie gut kanntest du Elisabeth?“

„Ich hatte sie erst hier im Praktikum kennengelernt. Sie war immer sehr hilfsbereit und freundlich. Bethy liebte ihren Job.“ Steffi machte eine kurze Pause und sah mich und Alex an. „Wurde Sie wirklich ermordet? Frau Dr. Beck hatte so etwas angedeutet.“

„Es sieht nicht nach einem Unfall aus“, antwortete ich ehrlich.

„Aber wer macht denn so etwas? Jeder hier hat Bethy geliebt...!“ Sie klang verzweifelt und kämpfte wieder um Fassung. Jeder hatte Frau Weiß geliebt? Wenn man zu beliebt war, gab es auch immer Neider, aber das konnte ich Steffi nicht sagen. Ich wollte sie nicht noch mehr aufwühlen.

„Hatte Frau Weiß einen Freund?“, fragte Alex weiter.

Steffi nickte nach einer Weile. „Ja, sein Name ist Peter. Er war hier Praktikant, hatte aber bereits Freitag seinen letzten Tag.“

„Wissen Sie, wie lange die beiden schon zusammen waren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wie gesagt, ich kannte Bethy nur von der Arbeit. Sie hat nie viel Privates erzählt.“

Mit einer Geste deutete mir Alex an, dass wir hier erstmal fertig waren. Als ich langsam die Hand von Steffi losließ, sah sie mich plötzlich an und ergriff mein Handgelenk.
 

„Elisabeth war schwanger.“

„Was...“, sagte ich erstaunt – auch das noch.

Steffi nickte. „Sie wollte nicht, dass jemand davon erfährt. Ich habe sie vor 2 Wochen im Umkleideraum erwischt. Unter der Arbeitskleidung war es nicht zu sehen, aber ohne Kleidung war es schon deutlich erkennbar.“

„Wissen Sie, wie man den Freund von Frau Weiß erreichen kann?“

Sie schüttelte nur den Kopf. „Nein, dass weiß ich leider nicht.“

„Danke, Steffi. Du hast uns sehr geholfen.“ Sie nickte mir zu, sagte aber nichts mehr.
 

***
 

Vivienne gab uns ebenfalls einen kurzen Bericht vom Ablauf.

„Ich hab sofort gesehen, dass sie tot war, also versuchte ich mich auf Tim zu konzentrieren. Er ist sehr sensibel.“

„Du weißt, dass auch er momentan zu den möglichen Tatverdächtigen zählt?“, informiere Alex sie.

„Tim?“, fragte Vivienne erstaunt und wehrte die Aussage ab. „Er hat den Verstand von einem 5-jährigen im Körper eines 17-jährigen. Er hat Frau Weiß geliebt wie eine Schwester. Er hätte ihr niemals etwas getan.“

„Bist du dir sicher? Er hatte blutverschmierte Hände. Seine DNA wird gewiss überall zu finden sein“, fragte Alex nach.
 

„Es ist sein Zimmer. Natürlich wird da überall seine DNA zu finden sein. Nein Alexander, glaub mir bitte - Tim war es nicht. Er ist wie ein Kind. Was würde ein Kind tun, wenn er eine geliebte Person bewegungslos am Boden sieht? Kinder kennen keinen Tod. Sie erwarten so etwas nicht. Natürlich rennen sie hin und sagen der Person, dass sie wach werden soll. Sie werden am Körper rütteln und sie anflehen aufzuwachen. Als Tims Versuch sie zu Wecken nicht klappte wird er sich in die Ecke gesetzt haben um sich in seine eigene Welt zurückzuziehen – wie immer, wenn er Angst bekommt.“
 

Alex schwieg eine Weile. Ich kannte Tim genauso wenig wie Alex, aber mein Gefühl sagte mir das Gleiche. Er war ein Kind, gefangen in einem zierlichen Jungenkörper. Hatte er überhaupt die Kraft, um den Pokal, mit dem das Opfer erschlagen wurde, hochzuheben und so kraftvoll auf das Opfer zu schlagen, das es tödliche Wunden verursachte? Ich zweifelt stark daran.

„Wie lange bist du seine behandelnde Ärztin?“, fragte Alex Vivienne.

„Noch nicht so lange. Vor einem Jahr habe ich ihn übernommen, weil der andere Arzt mit ihm nicht klar kam. Tim neigte früher zu Wutausbrüchen, aber nur bei Männern.“
 

„Warum hast du ihm Blut abgenommen?“

„Erst einmal hab ich ihm Baldrian verabreicht, damit er ruhiger wird. Danach habe ich ihm Blut abgenommen.“ Sie sah besorgt Tim an bevor sie weiter sprach. „Ich habe eine relativ frische Einstickwunde an seinem Arm gesehen – schlecht und hektisch gespritzt. Die Stelle war ganz gerötet und blau. Bei uns dürfen nur die Ärzte spritzen, aber für diese Nachtschicht war kein Arzt eingeteilt. Also hätte das gar nicht sein dürfen. Ich wollte wissen, ob man Tim etwas verabreicht hatte.“

„Wollte jemand Tim für die Nacht ruhig stellen?“, fragte ich Vivienne.

„Das ist zumindest meine Vermutung. Ich habe ihm sofort Blut abgenommen, damit man vielleicht noch Rückstände findet. Manchmal kann man das Mittel noch Stunden später nachweisen.“
 

„Verstehe“, sagte Alex nachdenklich.

„Ich konnte die Krankenschwester noch nicht erreichen. Sie wird wohl nach der Schicht gleich schlafen gegangen sein. Wenn ich mehr weiß, lasse ich es euch wissen. Die Mutter wird heute Nachmittag mit dem Flieger aus Hamburg kommen. Wenn ihr mit der ihr sprechen wollt, rufe ich euch an, wenn sie hier ist.“

„Ja, dass wäre hilfreich“, sagte Alex.

„Kannst du uns was über den Freund von Frau Weiß sagen?“, fragte ich Vivienne. Sie nickte mir zu.

„Ihr meint Peter Köhler, 25 Jahre. Ein netter junger Mann, der hier Praktikum gemacht hat. Die beiden waren erst seit zwei Monaten zusammen.“

„Kannte er sie schon vorher?“, hakte ich nach.

„Nein, er hat sie hier vor drei Monaten kennengelernt. Seitdem ist Frau Weiß noch mehr aufgeblüht. Sie hatte keine eigene Familie und Peter war ihr Universum.“

„Hast du vielleicht seine Nummer, damit wir zu ihm Kontakt aufnehmen können?“

„Leider nein, aber er wohnt nicht weit von hier. Die genaue Adresse kenn ich leider nicht, aber die Daten vom Personal liegen alle bei der Heimleiterin.“

“Ist sie hier?”

“Nein, sie kommt erst heute Nachmittag rein. Gestern Abend war eine Benefizveranstaltung.“

Das Handy von Alex klingelte. Tereza war am Tatort und hatte bereits die Erstuntersuchung durchgeführt.

„Wir müssen los“, sagte Alex.

Vivienne nickte. „Richtig, ihr habt noch viel zu erledigen.“
 

***
 

„Todeszeitpunkt liegt wohl zwischen ein bis drei Uhr morgens. Die Todesursache wird die schwere Kopfverletzung gewesen sein“, vermutete Tereza als sie vor der Leiche hockte und mit den Finger auf die Verletzung am Kopf deutete. „Aber sicher kann ich erst nach der Untersuchung sein.“

„Tu, was du tun musst, Tereza“, stimmte ich ihr zu.

Die junge leblose Frau wurde von zwei Männern auf die Trage gehoben und in einen Bestattungssack gelegt. Tereza zog den Reizverschluss zu.

Wir gingen zurück zum Auto. Im Wagen reichte mir Alex die Tüte mit der Blutprobe.

„Zwei Blutproben?“, fragte ich verwundert.

„Ja. Vivienne hat mir die von heute Morgen gegeben und eine von eben. Sie dachte, dass es bei der Analyse der Rückstände helfen würde.“

„Woher kennst du sie eigentlich?“

„Sie hat mal bei uns in der Gerichtsmedizin gearbeitet, zusammen mit ihrem Mann.“

„Warum ist sie da weg?“

„Ihr Mann ist an Krebs gestorben - sehr plötzlich. Sie wollte einen Neuanfang, wollte mit lebenden Patienten arbeiten.“

„Kann ich verstehen“, erwiderte ich. Nach so einem Schicksalsschlag änderten die Hinterbliebenen oft ihr Leben.
 

Wir fuhren wieder zurück ins Revier. Ich legte die Blutproben auf den Tisch von Karin. „Kannst du das bitte ins Labor schicken? Wir brauchen so schnell wie möglich eine Auswertung darüber, wie viel Beruhigungsmittel im Blut nachgewiesen werden kann und wie sich das auf einen 17-jährigen auswirken könnte, ca. 1,75m und etwa 60 kg.“

„Für beide Proben?“, fragte sie.

„Ja, für beide“, bestätigte ich ihr.

Alex wandte sich in der Zwischenzeit an Waldi. „Waldi, suchst du bitte nach einem Peter Köhler?“

Wie viel könnte es davon wohl in Berlin geben, fragte ich mich. „25 Jahre ist er und wohnt in der Nähe vom Heim“, ergänzte ich und reichte ihm den Zettel mit der Adresse.

„Läuft“, sagte er und wandte sich wieder seinem Rechner zu.

„Bis wann kriegst du das hin?“, fragte ich nach.

„Vielleicht in ein bis zwei Stunden?“, schätzte er.

„Probiere es bitte so schnell wie möglich, okay? Kann einer von euch ihn dann bitte versuchen zu erreichen? Seine Freundin Elisabeth Weiß wurde ermordet. Wir suchen nach dem Täter. Derzeit nicht auszuschließen, dass er es ist.“

„Alles klar, Josy.“

„Danke“, sagte ich und wandte mich wieder an Alex. „Wollen wir?“
 

Ich fuhr mit Alex Mittagessen. Anschließend machten wir uns auf den Weg nach Tereza. Vielleicht wusste sie schon mehr.

Sie blickte uns erstaunt an. „Ihr seid ein bisschen früh für erste Ergebnisse. Ihr müsst mir schon Zeit lassen die Dame in Ruhe zu waschen damit ich sie untersuchen kann.“

„Wissen wir“, gab ich zu. „Aber vielleicht hast du ja schon einen Zwischenstand, den du uns mitteilen kannst?“ Sie legte den Kopf schief während sie überlegte.

„Ich halte immer noch die Kopfverletzung für die Todesursache. Sie hat zwar einige Blessuren am Körper, aber die werden sie nicht umgebracht haben.“
 

Sie drehte den Kopf der Leiche vorsichtig nach links, was durch die Totenstarre immer schwerer wurde und zeigte uns einen Bluterguss. „Sie wurde vor ihrem Tod ins Gesicht geschlagen. Das ist ne ganz frische Verletzung.“ Dann deutete Tereza auf die Hände vom Opfer. „Sie hat auch außergewöhnlich saubere Fingernägel.“

„Kann das nicht vielleicht an ihrem Beruf liegen?“, hakte ich nach.

„Eher nicht. Es wirkt, als wenn jemand diese Bewusst gereinigt hat.“

„Du meinst, dass jemand versucht hat Beweise zu vernichten?“, fragte ich nach. Sie nickte nur, machte dann kurz eine Pause und sah die junge Frau nachdenklich an.
 

„Ach ja, was euch auch vielleicht interessieren könnte. Es stimmt, sie war schwanger. Wie lange, hattet ihr gesagt, kannte sie ihren Freund?“

„Seit drei Monaten. Aber die beiden waren erst seit zwei Monaten zusammen“, antwortete ich. Tereza stutzte.

„Was ist?“, wollte Alex wissen.

„Das ist aber merkwürdig“, begann sie. „Sie war bereits in der 18. Woche... Also fast im fünften Monat schwanger.“

Ich sah Tereza überrascht an. „Bist du dir sicher, dass Sie im fünften Monat schwanger war?“

„Ja, bin ich.“

„Wie hast du das denn rausgefunden?“ Alex klang skeptisch. Ich musste selber kurz überlegen, aber dann wurde es mir klar. Tereza hatte die Leiche bisher nur oberflächlich untersucht, konnte daraus also noch keine Schlüsse gezogen haben. Dann sah ich nur noch eine Möglichkeit.

„Hat die SpuSi den Mutterpass sichergestellt?“ Tereza nickte mir zu.

„Ihr wart schon los, als die Kollegen darüber geredet haben. Den Bericht solltet ihr aber bestimmt bald bekommen.“
 

Die Erkenntnis warf nun natürlich einen Haufen neuer Fragen auf. Wer war der Vater? Der Freund von Frau Weiß musste davon gewusst haben. Ob es deshalb Streit gegeben hatte?

„Siehst du Tereza, selbst ohne vollständige Untersuchung konntest du uns schon wieder weiterhelfen. Was würden wir nur ohne dich machen.“

Tereza verzog den Mund und nahm mein Kompliment anscheinend nicht zu ernst.

„Vermutlich würdet ihr jemand anderen löchern mit Fragen.“
 

Das Telefon von Alex klingelte und er wandte sich von uns ab?

„Mahler?“, beantwortete er den Anruf. Alex hörte eine Weile nur zu. „Danke Vivienne, wir machen uns auf den Weg.“ Er legte auf und drehte sich zu mir.

„Josephine, komm! Die Mutter von Tim ist da.“

Ich nickte, wandte mich noch einmal an Tereza, bevor wir uns verabschiedeten. „Wenn du noch mehr herausfindest, rufst du uns dann bitte gleich an?“

„Wie immer“, stimmte sie zu.
 

***
 

„Tim ist ein guter Sohn. Er hätte Elisabeth niemals was getan“, beteuerte Tim´s Mutter, die neben ihren Sohn saß und ihn dicht an ihre Schulter zog. Er war ganz abwesend und wiegte immer wieder seinen Oberkörper leicht vor und zurück.

„Frau Lange, uns wurde berichtet, dass Tim zu Wutausbrüchen neigt“, gab Alex zu bedenken.
 

„Wutausbrüche?“ Sie sah uns irritiert an, schüttelte dann aber entschieden ihren Kopf „Er hatte zum Anfang seine Schwierigkeiten im Heim“, begann sie und blickte wieder Alex an. „Wissen Sie, sein Vater hat ihn oft geschlagen, weil dieser mit seiner Behinderung nicht klar kam. Ich trennte mich deswegen von ihm. Aber das Geld wurde mit der Zeit knapp, also musste ich wieder arbeiten gehen und Tim in dieses Heim geben. Er hatte Angst vor Männern und ihm fehlte eine Bezugsperson. Als wir den betreuenden Arzt wechselten und Elisabeth anfing sich um ihn zu kümmern, wurde alles viel besser. Er ist hier sehr glücklich. Er hat Bethy geliebt wie seine eigene Schwester.“
 

Bei ihrem Namen wimmerte Tim auf und vergrub sein Gesicht an die Schulter seiner Mutter. Sie sah ihn traurig an und streichelte seinen Kopf.

„Was ist mit dem Vater?“, fragte ich nach einer kurzen Pause.

„Der Vater von Tim? Seit der Scheidung haben wir keinen Kontakt mehr zu ihm. Mir haben aber Freunde berichtet, dass er mittlerweile in Stuttgart lebt, verheiratet ist und zwei gesunde Töchter hat.“

„Können Sie sich vorstellen, wer was gegen Frau Weiß hatte?“, fragte Alex.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass niemand sich so etwas vorstellen könnte. Jeder mochte sie.“
 

Alex rieb mit einer Hand die rechte Schläfe. Es war frustrierend. Jeder mochte Elisabeth Weiß und trotzdem wurde sie umgebracht.

„Frau Dr. Beck sagte, Sie wollen Tim mit zu sich nach Hause nehmen für die nächsten Tage?“

„Ja, ich habe Urlaub genommen“, bestätigte sie mir. „Ich will nicht, dass Tim hier ist, solange der Fall nicht geklärt ist.“
 

Es war eine kluge Entscheidung. Immerhin war Tim möglicher ein Zeuge, wenn er nicht selber der Täter war und davon ging ich nicht aus. „Bleiben Sie aber bitte für uns erreichbar“, bat ich sie. Ich gab ihr die Visitenkarte mit allen Kontaktinformationen. „Wenn ihnen irgendetwas einfallen sollte, sagen Sie bitte Bescheid.“

Sie nickte. „Natürlich.“
 

***
 

„Ich habe die Krankenschwester von gestern Abend erreicht“, berichtete uns Vivienne nach der Befragung.

„Und?“, hakte Alex nach.

„Es gab gestern keinen Notruf aus Zimmer Zehn. Zwischen ein und zwei Uhr hatte sie einen Einsatz bei einem anderen Patienten. Aber aus dem Zimmer von Tim kam nichts.“

„Aber wenn sie im Einsatz war und nicht am Empfang konnte sie einen möglichen Notruf doch gar nicht wahrnehmen“, schlussfolgerte Alex.
 

„Das kann nicht passieren“, widersprach Vivienne. „Unser System ist so aufgebaut, dass ein Notruf, wenn der Empfang nicht besetzt ist auf den Pager weitergeleitet wird. Die Krankenschwester hätte also eine Nachricht bekommen.“

„Hat sie Frau Weiß zu irgendeinem Zeitpunkt gestern Abend noch gesehen?“

„Ja. Sie war natürlich total erschüttert. Frau Weiß beendete gerade die Spätschicht, wollte aber noch – wie jeden Abend – kurz bei Tim reinschauen. “

„Es war also bekannt, dass sie jeden Abend zu Tim ging?“

Vivienne nickte. „Frau Weiß hat sich immer für die Spätschichten eingetragen. Tim kämpft in letzter Zeit mit Schlafproblemen und sie hat ihn besucht um ihn zum Einschlafen eine Geschichte vorzulesen.“

„Kannst du uns die Kontaktdaten der Kollegin noch notieren?“, bat Alex Vivienne. „Nur für den Fall, dass wir sie noch einmal befragen müssen.“

„Natürlich.“ Vivienne schrieb uns die Nummer auf.
 

Gerade als Alex den Zettel einsteckte, hörte wir vom Flur lautes Gebrüll. Vivienne los und wir folgten ihr.

„Tim, beruhig dich“, mahnte die Mutter ihren Sohn.

Wir standen im Flur und beobachteten wie Tim wütend auf zwei Menschen starrte und immer wieder Laute von sich gab, die nicht verständlich waren. Er fuchtelte mit seinen Händen rum, verteilte Tritte in die Richtung in die er gehen wollte. Aber seine Mutter hielt ihn mit aller Kraft und größter Not fest.

Vivienne ging dazwischen. „Jetzt gehen Sie schon weiter, Dr. Schneider“, forderte Vivienne den Mann auf. Erst da fiel mir auf, dass Tim nicht versuchte beide zu attackieren, sondern speziell Dr. Schneider.
 

„Was ist denn los?“ fragte die Frau neben ihm besorgt. „Frau Krämer, bitte. Gehen Sie weiter! Tim verträgt momentan keine Aufregung.“

Tim atmete schwer, schnaufte, rang nach Luft. In seinen Augen bildeten sich Tränen, als er versuchte sich von seiner Mutter loszureißen. Vivienne stellte sich vor ihn und redete beruhigend auf ihn ein. Sie zog eine Salbe aus ihrem Kittel und rieb diese unter seine Nase. Ihm stiegen noch mehr Tränen in die Augen, aber er beruhigte sich zunehmend.
 

Frau Krämer hatte auf die Bitte von Vivienne reagiert und sich mit Herrn Dr. Schneider ins nächste Behandlungszimmer begeben. Sobald die beiden aus der Sicht von Tim verschwunden waren, halfen die beruhigenden Worte von Vivienne. Als er wieder regelmäßig und ruhig atmete, ließ seine Mutter ihn vorsichtig los.

„Frau Sgundek“, rief Vivienne. Einige Sekunden später war die Empfangsdame auch schon zur Stelle.

„Ja, Frau Dr. Beck?“

„Bringen Sie doch bitte Frau Lange und Tim nach draußen. Wenn sich Tim noch beruhigen muss, können beide solange in die Zwei vom Wohnbereich gehen, okay?“

„In Ordnung“, stimmte die Dame vom Empfang zu und ging auf Tim zu.

„Ich bring Sie beide noch zur Tür“, sagte Vivienne zu Frau Lange.

„Na komm, Tim. Lass uns gehen“, sagte Frau Sgundek freundlich. Sie führte zusammen mit Frau Lange Tim langsam aus dem medizinischen Bereich. Vivienne folgte den Dreien.
 

Ich sah Tim einen Augenblick hinterher. „Also wenn ihm so ein Ausraster gestern Abend nicht vielleicht auch passiert ist...“, murmelte Alex.

Ich schüttelte meinen Kopf. Nein. Das musste was anderes gewesen sein. Es konnte kein reiner Wutanfall sein, dazu war zu viel Trauer in den Augen von Tim. Er hatte Alex nicht angegriffen während des Gespräches. Wenn sich seine Wut also gegen Männer richtete, warum hatte er nur bei Herrn Dr. Schneider so reagiert?
 

***
 

„Das ist wirklich furchtbar“, sagte Frau Krämer erschüttert. „Sie war so ein liebes Mädchen.“

Es stellte sich raus, dass Frau Krämer die Leiterin des Heims war. Wir saßen im Büro an ihrem Besprechungstisch. Alex stand neben mir an den Tisch gelehnt während ich gegenüber von Frau Krämer und Herrn Dr. Schneider Platz nahm.

„Es war doch zu erwarten“, warf Herr Dr. Schneider ein.

„Wie meinst du das, Torsten?“, fragte Frau Krämer erstaunt.

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und gestikulierte mit seiner Hand. „Der Junge war in das Mädchen vernarrt. Wie ein Welpe ist er ihr überall hinterher gerannt.“
 

„Und Sie finden nicht, dass es ein Zeichen sein sollte, dass er Frau Weiß kein Leid zufügen würde?“, hakte ich nach.

„Nein, das finde ich nicht“, entgegnete er kühl. „Viel mehr erklärt es die Sache. Sie hatte einen neuen Freund. Er ist bestimmt damit nicht klargekommen, dass er sie teilen musste. „Aus meiner Sicht ein klarer Fall von Eifersucht.“

„Sie scheinen nicht viel von dem Jungen zu halten“, warf Alex ein und beäugte ihn kritisch. Irgendwas stimmte mit diesem Mann nicht. Ich war mir nur nicht sicher was. Lag es an dieser abgeklärten, arroganten Art, die er versuchte zu demonstrieren?
 

„Herr Dr. Schneider war der behandelnde Arzt von Tim“, informierte Fr. Krämer uns.

„Ja, aber da er krankhaft aggressiv gegenüber Männern ist, behandelt Frau Dr. Beck ihn seit einer Weile“, erzählte er weiter und beugte sich zu uns vor während er seine Unterarme auf den Tisch legte. Er wirkte unruhig.

„Gegen Männer im Allgemeinen oder nur gegen bestimmte Männer? Er hätte dann doch eigentlich keine Gefahr für Frau Weiß darstellen dürfen“, gab ich zu bedenken.

„Vielleicht hat der Patient die Wut, die er für den Freund von Frau Weiß empfand auf Frau Weiß direkt projiziert. Was weiß ich. Ich bin Allgemeinmediziner, kein Psychologe.“ Er verschränkte die Hände vor der Brust und lehnte sich zurück.

`Abwehrhaltung´ schoss es in den Kopf und ich verengte meine Augen.
 

„Wo waren Sie gestern Abend, Frau Krämer“, warf Alex ein. „Auf einer Benefizveranstaltung. Es ist heutzutage nicht leicht noch Menschen für den guten Zweck zu gewinnen“, sie lächelte zaghaft.

„Und wo waren Sie, Herr Dr. Schneider?“, lenkte ich das Gespräch in seine Richtung.

Er sagte einen Augenblick nichts, lächelte mich dann selbstzufrieden an, während er die Hand von Frau Krämer nahm. „Ebenfalls auf der Veranstaltung - mit meiner Partnerin.“ Frau Krämer blickte auf seine Hand, die ihre hielt um dann schüchtern zu Boden zu sehen.
 

Mich erstaunt das. Beide sahen nicht aus wie ein typisches Paar. Sie war Ende vierzig, etwas untersetzt und hatte ein eher durchschnittliches Gesicht. Er war Anfang dreißig, groß gewachsen, muskulös und recht gutaussehend. Ich versuchte noch dieses befremdliche Bild zu verstehen, als Alex die Befragung fortführte.
 

„Wie lange waren Sie auf der Benefizveranstaltung?“

Frau Krämer sah unsicher zu Herrn Dr. Schneider. „Ich glaube wir sind nicht all zu spät los, oder Torsten?“

Er nickte. „Es wird wohl kurz nach Mitternacht gewesen sein. Wir haben Zuhause noch einen Wein getrunken und sind dann schlafen gegangen.“

„Kannten Sie den Freund von Frau Weiß, Peter Köhler?“, wechselte Alex das Thema.

„Ja”, setzte Frau Krämer an. „Er war bei uns für drei Monate Praktikant. Sehr patenter, junger Mann. Er wollte im Sommer eine Umschulung bei uns beginnen.“
 

„Haben Sie vielleicht eine Nummer unter der wir ihn erreichen können?“

„Natürlich.” Sie stand auf und ging zu einem Aktenschrank. Sie benötigte eine Weile und ich nahm mir die Zeit, Herrn Dr. Schneider genauer zu beobachten. Er beachtete uns gar nicht und schob die Seiten auf seinem Handy in aller Ruhe hin und her. Ein Alibi hatte er, dachte ich genervt. Aber irgendwas stimmte da trotzdem nicht.

Frau Krämer kam auf uns zu. „Hier ist seine Adresse und seine Telefonnummer. Der arme Junge, hoffentlich verkraftet er das.“

Ich richtete mich auf und ich nahm den Zettel entgegen. „Vielen Dank, Frau Krämer. Wenn wir weitere Fragen haben, werden wir auf Sie zukommen.“

„Selbstverständlich“, willigte sie ein.
 

***
 

Auf dem Weg zu Peter Köhler rief ich bei Karin an.

„Ihr habt die Adresse schon? Wir wollten euch gerade Bescheid sagen, dass wir Herr Köhler schon verständigt haben“, sagte Karin.

„Die Heimleiterin hat sie uns gegeben. Wir sind auf dem Weg. Trotzdem danke. Habt ihr an die Blutproben gedacht?“

„Ja, die habe ich persönlich ins Labor gebracht und einen Schnelltest beantragt. Vielleicht kriegen wir heute noch eine Antwort. Waldi wartet darauf.“

„Das ist super. Wir kommen dann später noch ins Büro.“ Ich legte auf und sah Alex an. „Karin hat uns bei Herrn Köhler schon angemeldet. Er weiß, dass wir kommen.“ Er nickte und hielt sein Blick weiter auf die Straße gerichtet.
 

Als Herr Köhler uns die Tür öffnete, sahen uns schale, traurige Augen an.

„Hallo Herr Köhler, Alexander Mahler mein Name. Das ist meine Kollegin Josephine Klick.“

„Kommen Sie rein.“

Das Gespräch verlief schleppend. Herr Köhler musste immer wieder weinen und seine Stimme brach. Ein Kollege aus seiner Praktikumszeit hatte ihn kurz nach dem Anruf von Karin kontaktiert. Rein von den Fakten her sah es für ihn nicht gut aus. Er konnte kein Alibi nachweisen und gab zu sich Freitag mit Frau Weiß gestritten zu haben. Am Samstag war nach seiner Aussage aber wieder alles in Ordnung gewesen.
 

„Es hat Sie nicht gestört, dass Frau Weiß von jemand anderen schwanger war?“, fragte Alex skeptisch. Herr Köhler fuhr sich langsam mit seiner Hand durchs Gesicht und sah Alex müde und kraftlos an.

„Nein, das war vor meiner Zeit und ich liebe Kinder. Ich hätte es geliebt wie mein eigenes. Und auch Bethy wollte es behalten. Sie hatte keine eigene Familie. Ihr Wunsch war immer viele Kinder zu haben.“
 

„Und sie hat Ihnen nie gesagt, wer der Vater ist?“, fragte ich nach.

Er schüttelte seinen Kopf. „Nein, ich habe immer wieder danach gefragt, aber sie wollte es mir einfach nicht sagen. Sie meinte, es würde sowieso keine Rolle spielen und es wäre besser für mich. Deswegen hatten wir auch Freitag den Streit.“

„Hat sie jemals erklärt warum sie glaubte, dass es besser für sie wäre?“

„Das hat sie mir nie gesagt, aber ich glaube, dass der leibliche Vater ebenfalls im Heim arbeitet. Ihr ganzes Leben hat sich dort abgespielt. Sie hätte keine Zeit gehabt, woanders jemanden kennenzulernen. Ich wollte in diesem Heim meine Umschulung beginnen. Sie kannte meine Meinung zu Verantwortungsbewusstsein. Vielleicht wollte sie einfach einen Streit zwischen dem leiblichen Vater und mir vermeiden.“
 

***
 

„Es könnte Reue sein“, sagte Alex als wir Richtung Revier fuhren.

„Es könnte aber auch reine Trauer sein“, hielt ich dagegen als wir über den Gemütszustand von Herrn Köhler sprachen.

„Er hat kein Alibi, hat den Streit zugegeben und wäre kräftig genug um den Pokal als Waffe zu benutzen“, fasste Alex zusammen.

„Möglich ist es“, gab ich widerwillig zu. „Aber viel wichtiger ist doch, dass wir rausfinden, wer der Vater war.“
 

Es war recht schon recht spät als wir auf den Parkplatz vom Revier fuhren und ich erwartete nicht jemanden im Büro anzutreffen. Wir gingen durch den Flur, während Alex mir weitere mögliche Theorien schilderte zum Fall Elisabeth Weiß.

Gerade als wir um die Ecke zu unserer Abteilung bogen, sah ich wie Herr Altenburg in das Zimmer vom Chef ging. Was er wohl hier wollte? Gab es Neuigkeiten zu Fritz? Wie gerne würde ich jetzt Mäuschen spielen.
 

„Josephine“, unterbrach Alex meine Gedanken. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Was..? Ich...”, stammelte ich. „Nein, tut mir leid. Was hast du gesagt?“

Alex schnaubte entnervt. „In deinem Kopf möchte ich nicht drin stecken.“

Ich lächelte. „Das würdest du vermutlich nicht überleben.“

Alex verzog seinen Mund. „Damit hast du vermutlich Recht.“
 

Wir betraten unser Büro und ich blieb erstaunt stehen, als ich Fritz sah. Waldi saß neben ihn und beide blickten uns an. Alex musste wohl damit gerechnet haben ihn hier anzutreffen. Beide begrüßten sich mit einem Handschlag. Fritz sah mich an.

„Und? Habt ihr den Täter gefasst?“, fragte er herausfordernd. Ich verzog mein Gesicht. Er musste mir ansehen, dass der Tag heute nicht erfolgreich verlaufen war. Es gab viele Gespräche, aber zu wenige Erkenntnisse - zumindest meiner Meinung nach.
 

„Wie war es beim Psychologen?“, konterte ich als Gegenfrage und lehnte mich an einen der Aktenschränke. Er sah in etwa genauso geläutert aus wie ich.

„Langweilig“, stöhnte er genervt. „Habe nen Haufen Sitzungen reingedrückt bekommen.“ Alex klopfte ihn mitfühlend auf die Schulter.

„Ich hab dir ja gesagt, dass ein Tag bei dir nicht ausreichen wird, Fritz“, grinste ich ihn an und versuchte das Ganze ein wenig aufzulockern. Aber Fritz sah mich nur unzufrieden an.

Ich zuckte kurz mit den Schultern und blickte möglichst unschuldig drein.

„Was machst du überhaupt hier?“, fragte ich Fritz.
 

Bevor er was sagen konnte, antwortete Alex. „Caroline ist mit den Mädchen bei ihren Eltern. Ich kann heute also noch mit Fritz ein Bier trinken gehen und Fußball gucken.“

„Willst du mit?“, erkundigte sich Fritz. Ich war erstaunt durch seine Frage. Es war das erste Mal, dass mich einer der beiden aktiv einlud. Ich wollte annehmen und mein Puls schnellte bei dem Gedanken in die Höhe, aber im selben Moment sah ich Herr Altenburg vor meinem geistigen Auge. `Jeder sollte seinen Platz kennen´, hatte er mir am Donnerstag gesagt. Ich wusste immer noch nicht genau, wie ich diesen Satz interpretieren sollte und wollte deshalb nichts riskieren. Also lehnte ich ab.
 

„Vielleicht ein andermal. Habe heute schon andere Pläne.“

„Die wären? “ hakte Fritz nach.

Ich verdrehte meine Augen. „Haben wir nicht über das Thema Privatleben gesprochen?“ Ich hoffte, das die Frage damit vom Tisch war und ich mir keine Ausreden ausdenken musste.

„Vielleicht trifft sie sich wieder heimlich mit ihrem Förster“, warf Waldi ein. Ob er es ernst meinte oder nicht, mich störte es.
 

„Erzähl keinen Quatsch“, mahnte ich Waldi. Mein Blick schweifte über Alex zu Fritz, der finster drein schaute und angespannt wirkte. Ich wusste ja, dass er den Förster nicht leiden konnte, aber warum hatte er so eine Abneigung gegen ihn entwickelt?

Ich verschränkte die Hände vor der Brust und sah nachdenklich in die Ecke. „Dem Förster haben vermutlich meine Pommes nicht geschmeckt“, flüsterte ich schwach vor mich hin. Keiner der drei erwiderte etwas und ich ließ das Thema fallen. Ich räusperte mich nach einem Moment und sah Waldi an.
 

„Warum bist du überhaupt noch hier? Hast du nichts Besseres zu tun? Mach endlich Feierabend!“

„Ich warte noch auf die Ergebnisse der Blutproben. Die sollten heute noch kommen“, sagte er etwas kleinlaut.

Ich hatte mich wohl im Ton vergriff und versuchte etwas freundlicher zu antworten. „Mach Feierabend, Waldi. Heute Abend können wir doch eh nichts mehr machen. Es reicht, wenn wir uns Morgen früh die Ergebnisse ansehen.“

„Wenn du meinst...“ Ich nickte zustimmend. Er fuhr den Rechner runter und machte sich auf den Weg nach Hause.
 

Auch Fritz und Alex packten ihre Sachen zusammen und verschwanden in den Feierabend. Ich wartete nur noch, dass die Tür ins Schloss fallen würde, aber in diesem Moment steckte Fritz seinen Kopf noch einmal ins Büro.

„Bielefeld“, sagte er.

Ich drehte mich zu ihm um. „Ja?“

„Wenn du es dir anders überlegst, weißt du wo wir sind.“

Ich lächelte. „Macht euch nen schönen Abend, Fritz.“ Eine Weile sah er mich an, dann nickte er und hob seine Hand zur Verabschiedung.

„Alles klar, dir auch Josephine“, sagte er und wirkte beinahe enttäuscht.

Als die Tür ins Schloss fiel, ging ich zu meinem Schreibtisch, ließ mich in meinen Stuhl fallen und atmete erschöpft aus. Alex hatte sich einen Abend alleine mit seinem besten Freund redlich verdient. Ich versuchte mich wieder auf den Fall zu konzentrieren.
 

Auch wenn Tim im gleichen Zimmer wie Elisabeth gewesen war und auch wenn der Freund kein Alibi hatte, glaubte ich nicht, dass einer der beiden als Täter in Frage kam. Wer war der Vater? Ich hatte das Gefühl, dass uns diese Information der Wahrheit näher bringen würde. Ich lehnte mich in meinen Stuhl bis zum Anschlag zurück und massierte meine Schläfen.
 

„Langer Tag?“, drang eine Stimme durch den Raum. Ich schnellte hoch, blieb aber in meinem Stuhl sitzen.

„Herr Altenburg, was machen Sie denn hier? Haben Sie kein Zuhause?“

Er lehnte im Türrahmen. Nicht einmal angeklopft hatte er. „Sie scheinen sich wohl auch weniger in ihren vier Wänden wohlzufühlen, wenn Sie noch hier sind.“, entgegnete er mir mit hochgezogener Augenbraue.

„Vielleicht will ich ja einfach ein bisschen Heizkosten sparen...“

Ich hörte ihn lachen. „Sie haben auch auf alles eine Antwort, oder? Aber ich glaube Ihnen das nicht. Selbst Ihr Chef meint, dass Sie zu viel arbeiten.“
 

„Ich hab nen Fall, der mich beschäftigt“, antwortete ich ehrlich.

„Ich auch...“, entgegnete er mir. Ich sah ihn jetzt deutlicher an. Er sah erschöpft aus, übermüdet und blass. Er schien niemand zu sein, der die Fälle einfach nur als seinen Job ansah.

„Gibt es was Neues in Ihrem Fall?“, fragte ich nach.

Er ging nicht weiter auf meine Frage ein und spielte sie an mich zurück. „Mich würde interessieren, was SIE so beschäftigt, dass Sie um diese Uhrzeit noch hier sind.“
 

Ich überlegte kurz, entschied mich dann aber ihm davon zu erzählen. „Eine ermordete schwangere Heilerzieherin. Tatverdächtig sind derzeit nur ein Patient und der neue Freund. Ich halte aber beide nicht für den Täter. Das Kind stammt nicht vom Freund. Er glaubt, dass der Vater ein Arbeitskollege war. Mehr ist nicht bekannt.“

„Und Sie glauben, dass der leibliche Vater der Täter sein könnte?“, hinterfragte Herr Altenburg meine Vermutung.

Ich nickte. „Sie war auf Arbeit sehr beliebt und ein Privatleben hatte sie wohl kaum. Anfeindungen außerhalb von Arbeit können wir also ausschließen.“
 

„Wäre es nicht möglich von allen männlichen Arbeitskollegen eine DNA Probe für einen Vaterschaftstest einzuholen?“, schlug er vor.

Ich stutzte, schüttelte aber dann den Kopf. „Den Gedanken hatte ich auch schon. Aber wir können nicht allen Männern dort eine DNA Probe abverlangen. Dazu kriege ich keinen Beschluss bei der Sachlage.“

„Haben Sie nicht gesagt, dass das Opfer beliebt war?“, hakte er nach.

„Ja“, erwiderte ich und es dämmerte mir, was er meinte. „Natürlich, Sie haben Recht. Wir müssen niemanden zwingen. Wir bitten um freiwillige Beteiligung. Wenn die Mitarbeiter das Opfer wirklich mochten, werden sie an einer Aufklärung interessiert sein und alle die ihre Probe nicht abgeben, verhören wir noch einmal und prüfen das Alibi.“

Das war endlich eine vernünftige Lösung. Warum war ich nicht eher drauf gekommen.
 

„Ihr Chef hat Recht“, warf er ein.

„Wieso? Was meinen Sie damit?“, fragte ich verdutzt.

„Sie sind eine hervorragende Ermittlerin. Die Berliner Polizei kann sich glücklich schätzen eine Kollegin wie Sie dazu gewonnen zu haben.“ Ich wusste nicht so recht, was ich zu diesem Lob sagen sollte. Ich wollte nicht, dass er mir Komplimente machte. Ich wollte ihn nicht mögen.

„Ist ja nicht so, dass es meine Idee war“, wehrte ich ab. „Sie haben immerhin den Ball ins Rollen gebracht.“

Er zuckte mit den Schultern „Ich habe nur die richtigen Fragen gestellt, aber Sie haben die nötigen Antworten gefunden. Finden Sie nicht auch, dass wir ein gutes Team sind?“ Ich sah ihn stirnrunzelnd an. Dieser Mann verwirrte mich. Mal war er freundlich, mal eiskalt. Ich hatte schon genug mit meinen Kollegen zu tun und wollte mich nicht auf ein weiteres Spiel mit jemandem einlassen.
 

„Sie schulden mir auch noch eine Antwort“, versuchte ich vom Thema abzulenken. „Wie steht es um Ihren Fall, der Sie so beschäftigt?“

„In meinem Fall habe ich interessante Erkenntnisse erlangt.“

„Die wären?“, hakte ich nach. Konnte ich darauf wirklich eine Antwort erwarten?

Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf mich zu. Sein Blickt wirkte ernst, als er aus seiner Mappe eine Akte zog. Er entfernte einen Stapel Fotos aus einer Folie und reichte mir die Bilder. Es waren Fotos von Fritz und mir. Vor meinem Haus, spät abends. Es war der Samstag gewesen, als Fritz mich besucht hatte. Benny lag bereits schlafend im Auto.

Ich musste schlucken und versuchte mir nicht die Anspannung in meiner Stimme anmerken zu lassen
 

„Beschatten Sie mich?“

„Nur Herrn Munro“, entgegnete er neutral.

„Wir sind Kollegen“, versicherte ich.

„Ich weiß.“

„Wir vertrauen uns.“

„Ich weiß“, sagte er wieder in dieser undurchdringlichen Art. Er machte mich nervös. Welche Erkenntnisse hatte er wohl aus diesen Bildern gewonnen?

„Herr Munro besucht genauso die Familie von Herrn Mahler von Zeit zu Zeit. Er hat mich dieses Wochenende nur besucht, weil sein Sohn mein Pferd sehen wollte und er nicht wusste, wann er das nächste Mal Gelegenheit dazu haben würde. Wir wissen ja alle nicht, was nach den Untersuchungen entschieden wird.“
 

„Ich glaube Ihnen, Frau Klick.“

„Es ist ja nicht so, dass-„ Ich hielt inne. Er glaubte mir? Aber warum hatte er mir die Bilder gezeigt?

Er gab mir einen weiteren Stapel mit Bildern. Auf den Fotos waren Benny, Fritz, Alex, Caroline und die beiden Mädchen zu sehen. „Er hat den Samstag mit Ihnen verbracht und Sonntag mit Herrn Mahler. Wussten Sie das?“

„Nein“, antwortete ich ehrlich.

„Frau Klick“, sagte er und machte eine kurze Pause, als wenn er nach Worten suchte. „Ich habe das Gefühl, dass Herr Munro davon ausgeht, bald ins Gefängnis zu müssen. Ihr Kollege scheint sich verabschieden zu wollen. Ich wollte Sie das nur wissen lassen“, teilte er mir mit und nahm wieder die Bilder aus meiner Hand.
 

Warum würde Fritz so etwas tun? Es gab doch Hoffnung, oder? Es hatte keine Untersuchungshaft bisher gegeben. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

„Sieht es denn so schlecht aus?“, fragte ich vorsichtig nach. Mein Körper spannte sich bei der Frage nur noch mehr an.

„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich treffe keine Entscheidungen, Frau Klick. Ich spreche nur die Empfehlungen aus. Entscheiden muss später der zuständige Staatsanwalt.“ Er schwieg einen Moment, sah mich an, bevor er wieder auf seine Mappe blickte. „Nach meiner ganz persönlichen Einschätzung sollte er sich noch nicht als Angeklagter sehen. Es gibt noch einige Berichte, einige Gutachten, die positiv für ihn ausfallen könnten.“
 

Wir beide schwiegen für eine Weile. Ich wurde aus ihm nicht schlau.

„Warum tuen Sie das?“, wollte ich wissen.

„Was meinen Sie?“

„Warum habe ich das Gefühl, dass Sie versuchen uns zu helfen?“

„Ich helfe nicht“, stellte er klar und seine Stimme wurde wieder fester und dienstlicher. „Frau Klick, ich bewerte. Das ist mein Job. Wenn ich der Annahme wäre Herr Munro wäre nicht mehr tragbar für die Polizei, dann wäre er bereits in Untersuchungshaft. Wissen Sie, ich werde nicht so recht schlau aus Ihrem Kollegen und dachte, dass Sie mir vielleicht helfen können.“
 

Helfen? Ausgerechnet mich fragte er? Ich wurde doch selber nicht schlau aus Fritz. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er schon mit dem Fall abgeschlossen hat. Er war immer ein realistischer Mensch, das wusste ich. Aber dass er aufgehört hatte zu hoffen?

„Da sind wir schon zu Zweit. Wer wird schon schlau aus einem anderen Menschen, wenn man sich selber kaum versteht?“ Eine Weile sagte er nichts, aber dann stimmte er mir zu.

„Da mögen Sie Recht haben“, schmunzelte er. „Feierabend?“, fragte er mich.

„Feierabend“, stimmte ich zu. Ich stand auf und schnappte meine Tasche. „Na dann wollen wir mal.“
 

Wir gingen den Flur entlang und machten uns auf den Weg zum Ausgang. Als wir uns nicht am Parkplatz verabschiedeten, sondern er mir zum Tor folgte, sah ich ihn fragend an.

„Sind Sie nicht mit dem Auto hier?“

„Nein“, antwortete er mir. „Ich wohne nicht allzu weit weg. Die Busverbindungen sind gut und es spart mir eine stressige Autofahrt durch Berlin.“

„Sie kommen nicht aus Berlin?“, wunderte ich mich.

„Ursprünglich nicht. Ich stamme aus Lübeck“, sagte er und zum ersten Mal hörte ich bei ihm einen leicht nordischen Dialekt heraus.

“Vermissen Sie ihre Heimat nicht?”

„Tuen Sie es...?“, konterte er mit der passenden Gegenfrage.

Ich überlegte einen Augenblick, dann schüttelte ich den Kopf. „Nicht mehr.“

„Ich auch nicht.“
 

Wir standen noch einen Augenblick zusammen an der Bushaltestelle. Meine Linie kam zuerst. Wir verabschiedeten uns und ich stieg in den Bus. Als ich durch die dunklen Straßen fuhr, konnte ich mein Spiegelbild im Fenster erkennen. Ich lehnte mich an die Scheibe und blickte mich selber erschöpft an.

Der Chefermittler und ich hatten mehr gemeinsam, als ich dachte. Uns ließen beide Fälle bis in den Feierabend hinein nicht los. Und das er mir das heute mit Fritz gesagt hatte, rechnete ich ihm hoch an.
 

Aber was sollte ich tun? Was konnte ich machen, damit Fritz seine Chance sah und weiter kämpfte? Mein Kopf dröhnte vom Tag. Ich musste unbedingt heute Schlaf finden. Morgen würde ich einen Haufen Vaterschaftstest einsammeln müssen. Ich brauchte meine Kräfte. In meinem Kopf hämmerte es unentwegt und ich begann für den Rest der Fahrt meine Schläfen zu massieren.

Im Büro war noch alles dunkel als ich am nächsten morgen eintraf. Ich streckte mich vor meinem Schreibtisch. Wieder eine Nacht ohne viel Schlaf. Seit dem Tag meiner Entführung und der Verhaftung von Fritz war der Schlaf nur sehr schwer gekommen. Wenn die nächste Nacht wieder so verlief, bekäme ich morgen sicherlich keinen klaren Gedanken mehr zu Stande. Ich war bereits heute am Ende meiner Kräfte.

Gerade als ich mich in meinen Stuhl setzen wollte, kam ein Fax. Ich legte meine Jacke beiseite und holte das Stück Papier aus dem Gerät. Es war der Bericht zu den Blutproben.

Ich musste mich durch einen Wust an medizinischen Begrifflichkeiten kämpfen bis ich überhaupt ansatzweise die Aussagen verstand. Die Tür vom Büro öffnete sich, aber ich war zu vertieft um das mitzubekommen.
 

„Sage mal, Josephine. Bist du immer noch hier oder schon wieder...? Josephine, Haallooo?“ Ich guckte kurz vom Blatt auf. Waldi stand vor mir und schnipste mit seinen Fingern direkt vor meinem Gesicht. Er sah besorgt aus.

„Was? Ah, Waldi. Guten Morgen.“

„Sage mal, warst du die ganze Nacht hier? Du siehst schlecht aus.“

„Nein, ich konnte einfach nur nicht gut schlafen.“ Er sah mich unzufrieden an, drehte sich dann aber um und brabbelte so was wie `...nichts Neues´ und `...tot umfallen´. Ich ging mit dem Dokument zu meinem Schreibtisch, schnappte mir meine Tasche und Jacke.

„Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“ rief Waldi, als ich schon fast aus dem Zimmer war. Im Türrahmen blieb ich stehen und drehte mich zu ihm. Mit hochgezogenen Schultern und ausgebreiteten Armen stand er fragend im Raum.

„Zu Tereza“, erklärte ich. „Die Ergebnisse der Blutproben sind da.“

„Willst du nicht auf Alex warten?“, fragte er mich.

„Der ist frühestens in ner Stunde da. Solange kann ich nicht warten. Er soll einfach nachkommen“, sagte ich und war aus der Tür verschwunden, bevor ich noch weitere Proteste von ihm hören konnte.
 

***
 

„Was denkst du Tereza?“, fragte ich während sie noch immer den Bericht in ihrer Hand studierte.

„Die Probe zeigt eindeutig, dass im Blut noch Rückstände von Propofol zu finden waren. Das war kein einfaches Ruhigstellen. In der Medizin nutzt man das Mittel für Narkosen. Der Patient sollte unter Beobachtung sein, wenn er so ein Mittel bekommt. Es gab schon Patienten mit Atemstillständen, da es hemmend wirkt. Der Junge kann froh sein, dass er noch lebt.“

„Du denkst also auch, dass er damit endgültig als Tatverdächtiger wegfällt?“

Sie nickte und gab mir die Papiere zurück. „Ich denke, dass es mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann...“ Erleichtert atmete ich einmal tief durch. Dann sah ich zu dem leblosem Körper der jungen Frau, die Tereza gerade untersuchte.
 

„Wie lange dauert eigentlich so ein Vaterschaftstest?“, fragte ich Tereza. Sie sah mich verdutzt an. „In der Regel vier Tage, aber auf Antrag es geht auch schneller. Warum? Was hast du vor?“

„Den Vater finden“, stellte ich klar.

„Willst du wahllos DNA sammeln gehen?“ Tereza klang skeptisch.

„Nein, es werden gezielt die Arbeitskollegen überprüft. Hast du Tests hier?“

„Nicht in der Anzahl in der du sie brauchst“, begann Tereza und breitete ihre Hände in dem Raum aus. „Das ist ein Obduktionssaal. Wir haben seltener mit Massen-DNA-Tests zu tun. Aber ich gebe einer Kollegin Bescheid. Sie wird dir sicher weiterhelfen können “, bot sie an.

„Danke, Tereza. Das wäre super.“

„Kannst du bitte dem Kind eine DNA Proben entnehmen?“

„Bis wann?“

„A.S.A.P.“

„Also wie immer“, verdrehte sie die Augen.

„Bis später, Tereza. Du bist die Beste.“
 

***
 

„Wie ist Ihr Name?“, fragte ich den Mann vor mir höflich.

„Frank Möller“, antwortete er mit einem zaghaften Lächeln und zeigte mir seinen Ausweis.

„Herr Möller, vielen Dank, dass Sie sich beteiligen.“

„Wir möchten doch alle, dass der Täter gefasst wird. Arme Elisabeth, sie war noch so jung.“ Er sah mich traurig an und ich erwiderte seinen Blick mitfühlend.

„Deswegen sind wir hier. Wenn Sie soweit sind entnimmt Frau Dr. Beck Ihnen dann jetzt die Probe.“ Er ging zu Vivienne und ließ sich seine DNA entnehmen. Ich schrieb in derzeit seinen Name auf die Tüte und strich ihn von meiner Liste. Vivienne packte die Probe in die beschriftete Tüte und legte sie in einen Karton.
 

Die Beteiligung war erwartungsgemäß groß. Wir hatten Glück. Es war keine Urlaubszeit und die meisten waren vor Ort. Ich rechnete fest damit, dass alle Anwesenden sich dem Test unterziehen würden, außer sie versuchten etwas zu verheimlichen.

Ich hatte nicht gesagt, dass wir die DNA für einen Vaterschaftstest nutzten – nur das sie den allgemeinen Untersuchen dienten. Sollten Sie ruhig glauben, dass wir immer noch mit dem Tatort an sich beschäftigt waren. Aber die SpuSi hatte nichts Verwertbares ermitteln können. Wer immer es gewesen war, hatte seine Spuren gut verwischt.
 

„Was ist denn hier los?“, kam Alex ins Zimmer. Er sah nicht glücklich aus. Ich seufzte und stand schnell auf um ihn beiseite zu nehmen. Nicht, dass er unser Vorhaben vor allen rausposaunte. Ich hatte auch Vivienne oder der Direktorin nichts davon erzählt. Es waren immerhin laufende Ermittlungen.

„Pssst“, sagte ich und zog ihn aus dem Zimmer.

Er verengte seine Augen, sprach aber im Flüsterton. „Haben wir nicht über das Thema Alleingänge gesprochen?“

„Alex, also wirklich. Erstens, habe ich weder mich noch jemand anderen in Gefahr gebracht und Zweitens ist das auch kein Alleingang. Was mach ich schon? Ich sitze auf einem Stuhl und helfe Vivienne bei DNA Tests.“


„Das ist ja der Punkt. Wir haben dafür doch überhaupt keine Genehmigung. Wenn das der Chef rausfindet, macht er uns BEIDE einen Kopf kürzer.“
 

„Aber wir brauchten doch keine Genehmigung.“

„Natürlich brauchen wir die, Josephine. Du kannst doch nicht die Männer zwingen...“

„Wir zwingen niemanden“, unterbrach ich Alex. „Das sind freiwillige Abgaben. Wer will der macht mit und wer nicht... Nun ja, der sollte ein wasserdichtes Alibi später aufweisen können.“ Als er mich weiterhin ungläubig anblickte, wurde mein Blick ernst. „Was sollen wir denn sonst tun?“

Er sagte eine Weile nichts, ließ sich das Thema durch den Kopf gehen. Mit seiner Hand fuhr er sich frustriert durch die Haare. „Du machst mich fertig, Josephine. Wirklich.“
 

***
 

Gerade als ich die Sachen für heute zusammen packte, kam ein weiterer Teilnehmer in den Raum. Er stand im Türrahmen und schaute vorsichtig um die Ecke.

„Kommen Sie rein“, forderte ich ihn freundlich auf, war aber zu müde ihn anzulächeln. Ich fühlte mich kraftlos und erschöpft. Der Tag war bisher nicht anstrengend gewesen, aber ich war einfach komplett ausgelaugt durch die vergangenen Tage. In den Ruhephasen, in denen niemand da war, schlief ich fast ein. Vivienne bot mir an in einem der Behandlungszimmer etwas Ruhe zu finden, aber ich lehnte ab. Ich wollte mir jeden Teilnehmer genau ansehen.
 

„Kann ich noch meine Probe abgeben oder bin ich zu spät?“, fragte der junge Mann.

„Einen Moment“, bat ich ihn und sah mich im Karton nach unbenutzten Tests um. Vivienne war zur Direktorin gerufen worden, aber ich würde das auch alleine hinbekommen. Ich schnappte nach einem Stift und kramte den Zettel raus. Es standen nur noch drei Männer auf dem Zettel die keine Probe abgegeben hatten.
 

“So, jetzt kann es losgehen“, sagte ich und legte den Zettel zum Streichen der Namen auf den Schreibtisch. „Wie ist ihr Name?“

“Marco Schulz“, antwortete er.

“Marco Schulz, Marco Schulz,...“ wiederholte ich und ging die Liste durch, konnte aber nirgends den Namen finden. Hatte ich ihn überlesen? Erneut suchte ich die Liste nach dem Namen ab, aber ein Marco Schulz stand einfach nicht drauf. Merkwürdig... Es wäre ärgerlich, wenn die Liste weitere Lücken aufwies. Ich sollte noch einmal mit Frau Krämer sprechen.

„Herr Schulz, Sie stehen zwar nicht auf meinem Zettel, aber ergänzen Sie doch einfach Ihre Daten. Haben Sie ihren Ausweis dabei?“
 

„Natürlich.“ Er zückte seinen Ausweis und reichte ihn mir. Während er seine Daten eintrug zog ich mir Handschuhe an und bereitete den Test vor.

„Vielen Dank, dass Sie uns unterstützen“, sagte ich, als er mir den Zettel wieder zuschob.

„Das ist doch selbstverständlich. Das ist erst meine zweite Woche hier und Elisabeth habe ich nur ein zwei Mal gesehen, aber alle sind schwer betroffen, dass ihr so etwas Schlimmes passiert ist. Da helfe ich, wo ich kann.“ Er wirkte unsicher und wartete offensichtlich auf weitere Anweisungen.

„Dann öffnen Sie bitte den Mund für die Probe.“
 

***
 

Zunächst brachte ich die DNA Proben ins medizinische Institut. Tereza lieferte morgen nachträglich für den Abgleich die DNA vom Baby. Einen Antrag auf schnelle Abwicklung war gestellt, dennoch konnte ich die Ergebnisse frühestens in zwei Tagen erwarten. Selbst das wäre bei der Menge an Proben eine außergewöhnliche Leistung. Jetzt hieß es warten und geduldig sein - nicht unbedingt meine Stärke. Ich verließ das Institut und rieb mir genervt meinen Nacken.

Ich rief mir ein Taxi und gönnte mir die Augen für einen Augenblick zu schließen. Ob ich wollte oder nicht, heute musste ich früher Feierabend machen. Für den Tag war alles erledigt und ich war erschöpft. Morgen würde ich die Liste von Frau Krämer noch einmal überprüfen lassen und mit der Krankenschwester reden - dieses Mal aber mit Alex. Keine Alleingänge mehr. Er hatte Recht und ich wollte mich bessern.
 

Im Revier angekommen, ging ich gerade am Büro des Chefs entlang, als sich seine Tür öffnete und mir Fritz gegenüber stand.

„Hallo Fritz.“ Ich war froh ihn zu sehen. Auch wenn wir momentan nicht miteinander arbeiten konnten, tat es gut mit ihm ab und an zu sprechen.

„Bielefeld“, antwortete er knapp und ließ mich im Gang stehen. Ich blickte Fritz ganz perplex hinterher. Was sollte das denn? War er einfach nur genervt oder sauer, weil Alex ihm von diesem Alleingang mit den DNA Tests erzählt hatte? Dafür hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv. Ich würde meine Sachen packen und gehen. Ich brauchte dringend Schlaf. Mir war schon ganz schwindelig.

„Josephine“, rief mein Chef aus seinem Büro. Ich zuckte zusammen. Es war nie gut, wenn er mich sprechen wollte. Ich sah mit meinem Kopf durch die Tür.
 

„Ja, Chef?“, fragte ich vorsichtig.

„Kommen Sie doch mal bitte rein.“

Ich schloss die Tür hinter mir und drehte mich zu ihm. „Ich habe niemanden angeschossen und gefochten hab ich auch nicht“, sprudelte es aus mir raus und ich hob abwehrend meine Hände, bevor er auch nur ein Ton sagen konnte.

„Vaterschaftstest?“, fragte er mich ungläubig.

„Ja“, sagte ich etwas kleinlaut und sah zu Boden, richtete dann aber meinen Kopf wieder auf und blickte ihn entschieden an. „Es war notwendig, Chef. Natürlich erfolgte das alles auf freiwilliger Basis. Drei Männer haben keinen Test abgegeben. Wir warten die Ergebnisse ab, die Donnerstag da sein sollen und dann klären wir noch mal das Alibi der restlichen Männer. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Beweise werden vielleicht vernichtet. Das verstehen Sie doch, oder?“
 

„Sie haben wirklich außergewöhnliche Methoden.“

„Und bisher konnte Sie immer auf diese Vertrauen.“ Ich sah Herrn Amann ernst an. „Chef, ich mache meinen Job gut und gründlich.“

„Das weiß ich, Josephine“, setzte er an und schwieg einen Augenblick. Er sah besorgt aus. „Aber was ist mit Ihnen? Sie sehen müde aus. Vergessen Sie nicht, dass Sie neben der Arbeit auch noch ein Privatleben haben sollten.“
 

Ich hatte erwartet ein Donnerwetter wegen den DNA Tests zu erleben und war überrascht, dass es hier um etwas ganz anderes ging. „Sie haben Recht. Ich wollte heute auch früher Feierabend machen.“

„Und morgen will ich Sie hier auch nicht sehen. Kommen Sie wieder, wenn die Testergebnisse da sind.“

„Aber wir müssen noch einige Leute befragen und die Teilnehmerlist-„

„Kein `Aber´, Josephine! Alexander wird das erledigen.“ Jetzt klang er nicht mehr besorgt, sondern bestimmt. “Haben wir uns verstanden?“

Widerwillig stimmte ich zu. „Ja, Chef.“

„Gut“, sagte er und wirkte erleichtert. „Dann machen Sie jetzt Feierabend. Wir sehen uns Donnerstag. Schlafen Sie sich mal richtig aus.“
 

Ich verließ sein Zimmer und ging über den Flur. Mein Kopf summte und ich kämpfte gegen den Schwindel an. Kurz vor meinem Büro war es so schlimm, dass ich mich an der Wand festhalten musste. Ich hielt meine Hand an die Stirn. Sie fühlte sich warm an. Wurde ich krank oder waren meine Hände einfach nur kalt? Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen.

Die Tür zum Büro war einen Spalt geöffnet und ich bekam einzelne Wortfetzen aus einem Gespräch meines Teams mit.

„Seht sie euch doch an. Sie ist jeden Morgen vor mir da und arbeitet noch, wenn ich schon längst Zuhause in meinem Bett liege. Sie schlägt sich eine Nacht nach der anderen um die Ohren...“
 

Als ich das Büro betrat, unterbrach Waldi seinen Satz und alle vier sahen mich an.

„Na?“, fragte ich. „Nichts zu tun oder warum ist hier so ein Kaffeeklatsch?“

Eigentlich wollte ich es mit einem witzigem Unterton sagen, aber irgendwie klang es schal und betrübt. Ich ignorierte die besorgten Blicke von Karin und Waldi. Die Augen von Fritz hingegen waren verengt und er wirkte alles andere als besorgt. Er schien sauer zu sein. Seine Faust war geballt als er aufstand und zügig auf mich zukam.
 

„Fritz“, rief Alex.

„Lass mich“, schnaubte er ohne Alex auch nur anzusehen. Seine Augen waren auf mich fixiert. „Ich muss da was klären.“

„Komm mit!“, sagte er mir, während er an meinem Oberarm zerrte und mich in das erste Besprechungszimmer zog. Ich hatte heute nicht genug Kraft und ließ es daher zu. Aber ein protestierendes `Ehhh´ brachte ich dennoch zu Stande. Im Zimmer ließ er mich los und ich taumelte etwas. Also lehnte ich mich gegen die Wand und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Sein schneller Schritt hatte Kraft gekostet.
 

„Was soll das?“, fuhr er mich an.

„Die Frage wollte ich dir eigentlich stellen?“, antwortete ich in einem möglichst ruhigen Ton.

„Ich hab dich nicht aus dem Auto gezerrt, damit du dich jetzt tot arbeitest.“

„Ich arbeite mich nicht tot“, gab ich noch immer ruhig zurück.

„Oder gibt es einen anderen Grund, warum du momentan keinen Schlaf findest?“, fragte er scharf nach. Wie meinte er das denn jetzt schon wieder? Ich sah ihn nur verständnislos an. Die Wut brodelte nur so in ihm.
 

„Vielleicht solltest du lieber mal ausschlafen, anstatt dir mit dem Typen die Nächte um die Ohren zu schlagen.“

„Dem Typen...?“, wiederholte ich verwirrt. Dann begriff ich. Hatte er mich gestern noch mit Herrn Altenburg gesehen? Ich wusste ja, dass er ihn nicht leiden konnte, aber das gab ihm nicht das Recht mich so aggressiv anzugehen nur weil ich mich mit Herrn Altenburg ein bisschen unterhielt. Immerhin diente das einem Zwecke. Hatte er das vergessen?

„Meinst du Falk Altenburg?“, fragte ich nach. Seine Wut schien immer mehr überzukochen.

„Ach, nennen wir ihn jetzt Falk? Was machst du eigentlich mit diesem Affen?“, fragte er gereizt. Ich hatte keine Lust auf diesen Kindergarten. Fritz ging vor mir auf und ab.
 

„Kann dir doch egal sein“, fuhr ich ihn an.

„Der steckt mich vielleicht ins Gefängnis und du gehst mit ihm aus?“, keifte er fassungslos. Genauso fassungslos war ich über seine Reaktion.

„Jetzt bleibe mal auf dem Teppich“, giftete ich zurück. Ich ließ mir ja einiges gefallen, aber falsche Unterstellungen gehörten nicht dazu. „Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich mit ihm aus war. Er ist zum Bus gegangen. Ich bin zum Bus gegangen. Wir hatten einen Weg - Ende der Geschichte... Außerdem, vergiss nicht, dass er auch derjenige sein könnte, der dich vor dem Gefängnis bewahrt.“

Fritz lachte nur einmal höhnisch auf. „Bist du deswegen so nett zu ihm?“
 

„Fritz, also ehrlich“, mahnte ich und hatte das Gefühl im falschen Film zu sein. Was war denn mit ihm los? Er hatte wirklich größere Probleme als das hier. Diese Diskussion raubte mir wirklich die letzte Kraft, die ich noch hatte.

„Mach dich doch nicht lächerlich. Hast du nichts Besseres zu tun, als dir über so einen Quatsch Gedanken zu machen? Vielleicht solltest du aufhören nur daran zu denken, dass du ins Gefängnis kommst. Der Chef sagt, dass du eine reelle Chance hast. Herr Altenburg sagt, dass du eine reelle Chance hast. Du bist der Einzige, der daran glaubt, bereits verurteilt zu sein.“
 

„Wenn die Bremer klagt“, begann Fritz. Aber ich unterbrach ihn. Dieser Mann machte mich rasend.

„Die kann nicht klagen, verdammt nochmal“, brüllte ich ihn halblaut an. Ich hatte seine Wut durchbrochen und er sah mich nun verwirrt an. Ich versuchte meine Stimme zu beruhigen, hatte jetzt aber selber mit meiner eigenen Wut zu kämpfen, die in mir hochkochte. „Hast du dich eigentlich überhaupt informiert oder unserem Juristen zugehört? Die Staatsanwaltschaft untersucht den Fall und trifft eine Entscheidung. Wenn die Staatsanwaltschaft nicht klagt, kann Frau Bremer, sofern sie überhaupt Beweismittel hat einen Antrag stellen, dass der Fall noch einmal beleuchtet wird. Sie selber kann aber nicht wegen Mord klagen.“
 

Ich holte einmal tief Luft bevor ich fortfuhr. „Warum liest du nicht mal ein bisschen darüber oder fragst unsere Juristen im Haus? Wozu haben wir die eigentlich? Bin ich hier die Einzige, die was macht? Anstatt die ganze Zeit nur Abschied nehmen zu wollen, habe ich den ganzen verfluchten Sonntag recherchiert und mir die Nächte um die Ohren geschlagen. Ich bin hundemüde kann aber nicht schlafen, weil mich zwei Fälle beschäftigen. Und DEINE einzige beschissene Sorge ist, dass ich mit dem Altenburg Hase mit Pommer essen gehe?“ Mir stiegen Tränen in die Augen. Durch die Anstrengung, die Verzweiflung und die Wut.
 

Ich hielt mich erschöpft an der Wand fest und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Mein Kopf dröhnte und mir tanzten schwarze Punkte vor den Augen.

„Bielefeld“, sagte er sanft. Ich konnte noch immer die Verwirrung in seinen Augen sehen, wie er versuchte zu fassen, was ich gerade gesagt hatte. Ich sah Schmerz, Freude, Trauer und Hoffnung...?

„Josephine“, sprach er und kam auf mich zu. Fritz verschwamm vor meinen Augen und die schwarzen Punkte wurden immer größer. „Das hast du für mich getan?“, frage er in einem Tonfall, der so verletzlich wie ein kleines verlorenes Kind klang. Mit letzter Energie drückte ich mich von der Wand ab und ging auf ihn zu. Ich boxte ihm einmal schwach gegen seinen Brustkorb. Er würde das wohl kaum gespürt haben.
 

„Natürlich, du Dummkopf“, sagte ich schwach mit gesenktem Kopf. Ich wollte noch mehr sagen, wollte ihn ansehen, aber mir fehlte die Kraft.

Er sagte etwas, dass ich nicht klar verstand, spürte seinen Atem an meiner Haut und sein angenehmer Duft umhüllte mich, als er mein Gesicht ergriff. Seine Hände waren im Vergleich zu meiner Haut angenehm kühl. Ich fühlte mich geborgen und gab im selben Moment der Schwärze nach, die sich in meinem Kopf ausbreitete.

Als ich in mich zusammen sank, hielt Fritz mich fest und rief immer wieder mit warmer und sanfter Stimme nach mir.

„Hat sie Fieber?“, hörte ich eine Stimme.

„Auf jeden Fall erhöhte Temperatur“, erwiderte jemand anderes.

„Was hast du denn mit ihr gemacht?“, fragte die erste Stimme.

„Ich hab gar nichts gemacht. Sie ist einfach umgefallen.“ Fritz, dachte ich. Die einzige Stimme, die ich auf Anhieb erkannte.
 

Ich stöhnte leise auf, als die Stimmen lauter wurden und das Pochen in meinem Kopf einsetzte.

„Sie wacht auf.“ Jetzt erkannte ich auch die Stimme von Karin. Langsam kam ich wieder zu mir. Zusammen mit Waldi und Alex stand sie um mich herum, als ich meine Augen öffnete. Im Hintergrund sah ich Fritz, der mich mit ernstem Blick musterte. Ich starrte zurück und langsam fielen mir wieder Wortfetzen von unserem Gespräch ein.
 

„Wie geht es dir?“, unterbrach Karin meine Gedanken. Ich blinzelte und wandte meinen Blick zu ihr. Meine Kehle fühlte sich trocken an und meine Stimme klang kratzig.

„Fantastisch“, antwortete ich mit einem schwachen Lächeln. Ich erntete nur zweifelnde Blicke. „Ich könnte aber etwas Wasser vertragen.“

Es dauerte keine Sekunde bis Fritz reagierte. Ich sah nur seinen Rücken als er `Ich hol was´ rief und aus dem Zimmer verschwand.
 

Karin half mir mich langsam aufzurichten während ich bereits die Umgebung untersuchte. „Wie bin ich hier her gekommen?“, fragte ich sie.

„Du bist umgekippt und Fritz hat dich in den Ruheraum gebracht.“

„Du hast uns ziemlich erschreckt, Josephine“, sagte Alex.

„Tut mir leid. Die letzten Tage waren vielleicht doch ein bisschen viel“, gestand ich mir ein. Ich drehte mich langsam zur Kante und ließ meine Beine von der Liege baumeln. „Macht euch keine Sorgen. Mir geht´s schon wieder besser“, sagte ich und sah überzeugt meine Kollegen an.
 

Fritz kam wieder in den Raum mit Wasser. Die anderen machten Platz und er stand vor mir. „Hier trink“, sagte er und reichte mir das Glas. Ich nahm einen Schluck und bedankte mich, ohne ihn direkt anzusehen. Die anderen standen immer noch da und sahen mich an.

„Leute“, begann ich. „Macht euch keine Sorgen. Mir geht´s wirklich schon viel besser. Es war nur ein kleiner Schwächeanfall. Morgen ruhe ich mich richtig aus und bin dann Donnerstag wieder fit. Lasst mich das noch austrinken, dann bin ich auch schon weg und ruf mir ein Taxi.“

„Du rufst dir kein Taxi“, sagte Fritz bestimmt. Verwundert sah ich ihn an. „Ich fahr dich nach Hause“, war alles was er sagte während er seine Hände vor der Brust verschränkte und sich gegen den Tisch lehnte. Widerstand war zwecklos, das konnte ich in seinen Augen sehen.
 

***
 

„Und Alex hat nichts dagegen, wenn du einfach sein Auto nimmst?“, fragte ich Fritz als er einstieg. Wie einen schwer Kranken hatte er mich an Arm und Taille festgehalten während er mich zum Auto brachte. Sogar beim Einsteigen war er hilfreich gewesen.

„Nein, das ist mit ihm abgesprochen“, sagte er und sah mich noch immer prüfend an. Er wollte sich anschnallen, ließ aber seinen Gurt los und beugte sich zu mir rüber. Erschrocken von seiner Nähe, drückte ich mich tiefer in den Sitz.
 

„Was machst du da?“, fragte ich ihn stockend.

Er hielt mitten in seiner Bewegung inne und sah mich an. „Dir helfen dich anzuschnallen?“, antwortete er, als wenn es eine Selbstverständlichkeit wäre.

Ich räusperte mich, bevor ich sprechen konnte. „D-Das krieg ich wohl noch alleine hin.“ Wieder traf mich sein prüfender Blick, ohne das er etwas erwiderte. Erst als er sich zurücklehnte und seinen Gurt festzurrte, merkte ich wie schnell mein Puls schlug. Ich vermied den Blickkontakt mit ihm und sah aus dem Fenster als Fritz den Motor anließ und vom Hof fuhr. Seit wann war ich so empfindlich geworden, wenn es um seine Körpernähe ging?
 

***
 

„Du brauchst mich nicht reinbringen, Fritz.“ Ich versuchte mich von ihm zu lösen, aber er ließ mir keine Wahl. Er hatte einen festen Griff um meinen Oberarm, als er mich ins Haus manövrierte.

„Ist Viktor gar nicht da?“, wollte er wissen.

Ich war selber erstaunt Viktor nicht Zuhause anzutreffen. Aber er war heute bestimmt wieder wegen des Hengstes nach Potsdam gefahren. Samstag waren zwei Exemplare in die engere Auswahl gekommen. Er wollte jetzt öfter hinfahren, um sich ein besseres Bild von den beiden zu machen.

„Offensichtlich nicht“, entgegnete ich. „Aber ich bin mir sicher, dass er bald da sein wird. Du kannst also beruhigt losfahren.“

„Ich werde hier warten.“ Wie bei seinen letzten Entscheidungen ließ er auch hier mir keine Chance selbst darüber zu bestimmen.

„Sturkopf“, murmelte ich vor mich hin.
 

Wir waren im Wohnbereich angekommen und dieses Mal ließ er es zu als ich versuchte mich von ihm zu lösen. Er sah mir hinterher, als ich zur Treppe ging.

„Wo willst du hin?“, fragte kritisch er. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn verständnislos an.

„Darf ich vielleicht alleine aufs Klo oder möchtest du mir dabei Händchen halten?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich unsicher. Fritz mied den Blickkontakt mir mir und fragte nicht mehr weiter. Hatte er jetzt begriffen, dass er mit seiner Fürsorge übertrieb? Seine Hände deuteten an, dass ich seine Genehmigung hatte und alleine weitergehen durfte. Ich rollte meine Augen. Wie gnädig vom Herr, dachte ich.
 

Im Bad machte ich mich etwas frisch und zog mir was Bequemeres an. Als ich in den Wohnbereich zurückkehrte, war niemand da. War Fritz doch gegangen? Hatte ich zulange gebraucht?

Es roch nach frischem Tee und ich folgte dem Duft. Als ich in meinem Zimmer stand, sah ich Fritz. Er hatte gerade mein Notizbuch in der Hand und weitere Unterlagen.

„Das mit der Privatsphäre hast du anscheinend noch nicht ganz verstanden, oder?“, fragte ich ihn.

„Hab anscheinend das gleiche Problem, wie du mit deinen Alleingängen“, konterte er, lächelte aber dabei. „Leg dich hin“, sagte er sanft. „Du musst dich ausruhen.“ Da das eh mein Plan gewesen war, folgte ich den Instruktionen und schlüpfte unter meine Bettdecke.
 

„Dein Tee“, sagte er. „Der wird dir gut tun. Da wirst du schneller schlafen können.“ Er reichte mir die Tasse und ich lächelte ihn dankbar an.

Er schwieg und sah mich eine Weile einfach nur an. Ich fühlte mich dadurch etwas unsicher und konzentrierte mich übertrieben auf die warme Flüssigkeit vor mir.

„Darf ich mich setzen?“, fragte er und zeigte auf den gemütlichen Schaukelstuhl, der dicht neben meinem Bett stand. Ich nickte.
 

„Fritz... Willst du wirklich warten bis Viktor da ist. Alex wartet doch bestimmt auf sein Auto, oder?“

„Das ist mit Alex geklärt. Er fährt heute mit dem Dienstwagen nach Hause. Der Chef war so frei.“ Er zog seine Lederjacke aus, legte sie über die Lehne vom Stuhl und macht es sich bequem. Fritz begann die Unterlagen in Ruhe zu sichten, sah mich aber wenige Sekunden später an.

„Ist das okay, wenn ich mir die Unterlagen mal ansehe?“ Ich sah ihn, über meine Tasse - aus der ich gerade Tee schlürfte - erstaunt an. Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Ich übe am Thema Privatsphäre.“

Ich schmunzelte und stimmte zu. „Sieh dir ruhig die Unterlagen an. Geht ja immerhin um deinen Fall.“
 

Eine ganze Weile sagte niemand von uns was. Während er die Unterlagen sichtete und ich meinen Tee genoss, erwischte ich mich immer wieder dabei wie ich ihn beobachtete. Er hat ein schönes Profil, schoss es mir durch den Kopf.

Er wirkte konzentriert und ernst, aber auch nachdenklich. Sicherlich hatte es mir Fritz zum Anfang von allen Kollegen am schwersten gemacht, aber mittlerweile war er auch derjenige auf den ich mich am meisten verlassen konnte, der mir das Leben gerettet hat. Ich gestand mir in diesem Moment ein, dass ich ihm vertraute. Zumindest, dass ich es wollte. Und genau dieser Gedanke machte mir Angst.
 

Seit dem Vorfall in Bielefeld hatte ich niemandem mehr vertraut. Ich war so einfach besser gefahren - nur meiner Intuition zu vertrauen und mich ausschließlich auf mich selber zu verlassen. Aber die Mauer, die ich um mich aufgebaut hatte, bekam immer mehr Brüche auch wenn ich mich dafür noch gar nicht bereit fühlte. Wenn ich wieder jemandem vertraute nur um dann erneut enttäuscht zu werden, wüsste ich nicht, ob ich es dieses Mal ohne größere Narben überstehen konnte.
 

Dieser Raum hier war mir bisher immer als Zufluchtsort erschienen. Damit ich allein sein konnte, wie im Wald, wenn ich mit Wotan unterwegs war. Alleine mit meinen Gedanken. Aber genau dieses Alleinsein hatte ich die letzten Tage nicht ertragen können. Der Raum fühlte sich auf einmal kalt und leer an. Ich hatte mich hier nur noch unwohl gefühlt.
 

Fritz und ich sprachen nicht miteinander. Aber ich war nicht alleine und genau das tat so gut. Mein Zimmer fühlte sich wie ein Raum an, in dem ich meine Gedanken loslassen konnte um zu entspannen. Ich wusste nicht, ob es der Tee war oder dieser kribbelnde Stich, der sich neuerdings immer wieder durch meinen Körper zog, aber es war ein warmes Empfinden, dass sich in meine Brust schlich. Ich fühlte mich wohl und genau das machte mich müde. Ich musste ein Gähnen unterdrücken.
 

Als ich wieder zu Fritz blickte, las er noch immer die Unterlagen durch. Sein Gesicht umspielte ein Lächeln und ich sprach seinen Namen aus, bevor ich mir dessen überhaupt bewusst war.

„Fritz...“ Er blickte von den Unterlagen zu mir hoch. Ich musste meinen Blick senken. Was wollte ich ihm eigentlich sagen?

„Schon gut“, sagte ich und fixierte erneute meine Teetasse.

„Möchtest du noch einen?“, fragte er mich und deutete auf die leere Tasse, die ich umklammert hielt. Ich schüttelte meinen Kopf. Er nahm sie mir ab und stellte sie auf den Nachttisch. Ich fühlte mich ein wenig haltlos ohne sie. Um was in den Händen zu haben, griff ich nach der Bettdecke und zog dichter zu mir.
 

Er drehte sich im Stuhl ein wenig zu mir und sah mich an. „Wie lange hast du für die ganzen Unterlagen gebraucht?“

„Samstag Vormittag hab ich mit der Recherche begonnen“, erklärte ich. „Sonntag habe ich aber die meisten Informationen gesammelt. Gestern Abend sind die letzten Informationen dazu gekommen. Ich wollte mir auch noch ein paar Fälle von Waldi geben lassen und mich über das Thema Nebenklage informieren. Es gibt noch so viel Sachen, die ich nicht ganz verstehe.“

„Warum hast du das gemacht?“, fragte er. Ich schluckte und fühlte mich bei diesem Thema unsicher. Während ich darüber nachdeckte blickte ich auf die Bettdecke und stricht sich etliche Male glatt.
 

„Das war doch das Mindeste was ich machen konnte“, gestand ich. „Nach allem was du für mich getan hattest. Ich bin niemand, der dir einfach auf die Schulter klopfen und `Danke´ sagen würde. Ich bin darin nicht so gut.“

Er schwieg eine Weile.

„Ich auch nicht“, sagte er dann. Ich blickte zu ihm. Er sah mich verständnisvoll und erleichtert an und ich versuchte über meinen eigenen Schatten zu springen.

„Danke, Fritz. Für alles.“

„Danke für das hier“, gab er zurück und deutete auf die Unterlagen vor ihm.

Ich drehte meinen Kopf von ihm weg, als ich ein Gähnen nicht länger unterdrücken konnte. Anschließend legte ich mich wieder tiefer ins Bett und zog mir die Bettdecke bis über die Nase. Ich war so unendlich müde.
 

Fitz lächelte mich an. „Schlaf ruhig. Ich habe hier noch ein bisschen Lesestoff zu bewältigen.“ Ich konnte nicht widersprechen und dämmerte bereits nach kurzer Zeit weg.

Ich weiß nicht, wie lange ich schlief, wurde aber halbwegs wach als mir jemand über die Haare strich. Im Halbschlaf hörte ich wie wenig später die Tür leise ins Schloss fiel. Langsam öffnete ich meine Augen einen Spalt. Es war dunkel geworden.

Ich hörte zwei gedämpfte Stimmen, die sich unterhielten. Es mussten Viktor und Fritz sein. Seine Stimme war beruhigend und ich schlief sofort wieder ein.
 

***
 

Ich streckte mich in meinem Bett, als ich durch das Sonnenlicht geweckt wurde. Es war früher Morgen, aber ich fühlte mich ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Eine Weile untere der wärmenden Bettdecke gönnte ich mir noch, bevor ich mich aus dem Bett schwang.

Mein Blick wanderte zum Schaukelstuhl. Darauf lagen mein Notizbuch und weitere Zettel ordentlich sortiert. Wie lange war er gestern noch geblieben? Hatte er alles geschafft oder sollte ich ihm die Unterlage mitnehmen?
 

Ich schnappte mir meine Sachen und verschwand für eine lange Dusche im Bad. Meine Muskeln entspannten sich unter dem heiße Wasser. Ich hätte noch Stunden so dastehen können, aber es war Zeit in den Tag zu starten. Ob Viktor noch da war? Mir war heute nicht danach alleine zu frühstücken. Vielleicht gab es Neuigkeiten bezüglich der Hengste.
 

Ich kam aus der Dusche und wickelte mich in ein großes Badehandtuch. Meine Haare knetete ich solange in einem Handtuch, bis sie nicht mehr tropften. Meine Haare ließ ich offen, damit sie besser trocknen konnten. Ich hatte es heute nicht eilig, also brauchte ich den Föhn nicht. Im Flur angekommen drangen Geräusche aus der Küche. Ich hörte Musik, Schritte und klirrendes Geschirr. Bereitete Viktor gerade Frühstück vor? Meinen Magen knurrte bei diesem Gedanken augenblicklich.

Ich ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. „Und Viktor, hast du gestern noch-“ Ich stockte im Türrahmen der Küche und blieb wie angewurzelt stehen. Die Frage war vergessen. Meine Augen weiteten sich als ich erkannte, dass es nicht Viktor war.
 

„Fritz.“ rief ich erschrocken aus. Er stand gerade am Frühstückstisch mit einer Kanne Saft in der Hand, die etwas zu schnell auf dem Tisch landete. Er starrte mich genauso an wie ich ihn. Was machte er hier? Hatte er etwa hier geschlafen? Meine Augen weiteten sich weiter, als mir bewusst wurde, dass ich nur in einem Badehandtuch vor ihm stand. Um Himmelswillen. Mir stieg Hitze ins Gesicht. Ich drehte mich ruckartig um und versuchte mich zu beruhigen.
 

Fritz räusperte sich, bevor ich seine Stimme hörte. „Möchtest du Kaffee oder Tee? Oder reicht dir auch Saft zum Frühstück?“ Mein Rücken war noch zu ihm gewandt, aber ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und lächelte ihn etwas unsicher an.

„Mir reicht Saft“, ließ ich ihn wissen. Kaffee brauchte ich nicht mehr – ich war jetzt hellwach.

„Wo ist Viktor?“, fragte ich und versuchte beiläufig zu klingen, hatte meinen Blick aber wieder von ihm abgewandt.

„Brötchen holen“, hörte ich ihn sagen.

Betrieb ich wirklich gerade Konversation mit meinem Kollegen während ich halb nackt vor ihm stand? Ich hatte das Gefühl, dass mein Handtuch immer kürzer wurde. Unsicher hielt ich es fest umklammert.
 

„Ich gehe mich dann mal anziehen“, sagte ich und drehte meinen Kopf zu ihm, als er nichts erwiderte. Ich ertappte Fritz, wie er mich musterte. Grinste der Typ etwa? Wenigstens besaß er genügend Anstand seinen Blick zügig zu senken, nachdem ich ihn dabei erwischte. Er räusperte sich, schnappte sich ein Handtuch und war schwer damit beschäftigt seine Hände abzutrocknen.

Ein Penny für die Gedanken von diesem Mann, dachte ich, schüttelte den Gedanken aber ab und verschwand aus der Küche.

In meinem Zimmer angekommen, zog ich die Tür hinter mir zu und lehnte mich dagegen.

Hatte ich IHN beim Fall Römer nicht als verklemmt beschrieben? Warum raste dann mein Herz wie verrückt? Ich brauchte mich doch für nichts schämen. Ich stöhnte vor mich hin. Was war nur los mit mir?
 

Hoffentlich war Viktor bald wieder da. Ich ließ mir Zeit beim Anziehen, damit ich die Küche vor Viktors Rückkehr nicht betreten musste. Als ich seine Stimme hörte, zog ich mir gerade meine Strickjacke über.

„Morgen“, sagte ich vorsichtig und betrat die Küche. Viktor lächelte mir zu.

„Morgen, Kleine. Na, geht es dir denn heute besser?“ Ich nickte wortlos und setzte mich an den Tisch. „Dein Kollege hat mir von gestern erzählt. Du musst besser auf dich aufpassen, Mädchen.“

Was hatte Fritz Viktor wohl erzählt? Ich nahm die Hand von Viktor und tätschelte sie kurz.

„Mach dir keine Sorgen. Mir geht es heute schon viel besser. Ich brauchte einfach nur etwas Schlaf.“ Er betrachtete mich noch eine Weile besorgt, nickte dann aber zustimmend.
 

„Habe deinen Kollegen hier übernachten lassen. Ich war gestern erst sehr spät da. Da konnte ich ihn doch nicht mehr fahren lassen.“ Ich blickte zu Fritz, der gerade ein Schluck Kaffee nahm.

„Ja“, sagte ich etwas zögernd. „Wir haben uns heute Morgen schon gesehen.“

Fritz stellte seine Kaffeetasse ab und hielt seine Hand vor seinen Mund, als wenn er sich räuspern wollte, tat es aber nicht. Ich verengte meine Augen. Unterdrückte dieser Typ gerade tatsächlich ein Grinsen?
 

„Möchtest du ein Glas Saft?“, fragte mich Viktor.

Ich sah Viktor an und bemühte mich um ein ungezwungenes Lächeln. „Ja, sehr gerne.“

Nachdem Viktor mir einschenkte und sich wieder dem Frühstück zuwandte, blickte ich Fritz böse an. Er ließ sich davon nicht einschüchtern und grünste auf sein Brötchen, während er es mit Butter bestricht. Dieser verfluchte...

„Sag mir nächstes Mal einfach Bescheid. Dann komm ich gleich nach Hause, verstanden?“, unterbrach Viktor meine Gedanken. Ich sah ihn wieder an.

„Na, ich will doch mal hoffen, dass es kein nächstes Mal geben wird.“
 

Wir frühstückten in Ruhe. Es war überraschend angenehm mit Fritz. Keine Diskussionen, kein Streit, kein Machtgehabe. Vielleicht war Viktor aber auch der richtige Puffer.

Nach dem Frühstück verabschiedete sich Fritz. Er wollte später wiederkommen, aber vorher Alex sein Auto zurückbringen. Heute Nachmittag stand wieder ein Termin beim Psychologen auf seinem Plan. Bis dahin wollte er mit mir zusammen die restlichen Sachverhalte recherchieren. Ich war froh, dass er sich endlich dem Thema ernsthaft annahm. Während Fritz unterwegs war, trocknete ich meine Haare und gönnte Wotan etwas Bewegung.
 

***
 

„Musst du nicht langsam los? In ´ner halben Stunde hast du deinen Termin beim Psychologen“, erinnerte ich ihn. Es war bereits halb fünf und wir hatten viel Zeit für die Recherche gebraucht. Bei unseren Ermittlungen ging es bisher immer nur darum den Schuldigen ins Gefängnis zu kriegen. Dieses Mal wollten wir jedoch verhindern, dass Gefängnis überhaupt in Erwägung gezogen wurde. Das war für uns beide ein ganz neues Thema.

Er maulte ein wenig vor sich rum und stimmte nur widerwillig zu.

„Nimm das ernst, Fritz“, ermahnte ich ihn. „Du hast nicht viele Chancen dich zu beweisen.“ Ich stand auf und er folgte mir.
 

Wir waren im Hof angekommen als mein Telefon klingelte. Die Nummer kannte ich nicht. „Hallo?“

„Frau Klick“, klang am anderen Ende eine ernste Stimme. Ich erkannte sie sofort.

„Herr Altenburg“, entgegnete ich überrascht. Ich konnte sehen, wie sich die Gesichtszüge von Fritz augenblicklich verhärteten. Mein Blick schweifte über den Hof. Wurden wir noch immer beobachtet? Ich fand die Vorstellung befremdlich. Nicht das ich deswegen noch Paranoia entwickelte.
 

Warum klang er so ernst? Ich merkte wie mich ein leichter Schauer überzog und ich nervös wurde. Wollte er mir was zum Fall mitteilen? Mein Blick schweifte wieder zu Fritz, der mich immer noch mit verengten Augen ansah.

„Frau Klick“, wiederholte Herr Altenburg langsam und sachlich. „Frau Bremer ist gerade mit mir im Gespräch.“ Er machte eine kurze Pause und ich musste schlucken. „Sie fragt, ob es möglich wäre mit Ihnen zu reden?“

Frau Bremer wollte mit mir reden? Warum gerade mit mir? Ich deutete Fritz kurz an, dass er einen Moment warten solle und nahm etwas Abstand. Vielleicht war es besser, wenn er davon nichts wusste. Als zwischen uns genügend Abstand war, widmete ich mich wieder dem Telefonat.
 

„Wie meinen Sie das? Sofort?“, fragte ich nach.

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte er. „Ich würde gerne für morgen einen Termin machen.“ Er machte einen Moment Pause, sprach dann aber etwas leiser weiter. “Ich denke Sie verstehen, wenn ich dabei sein oder zumindest in der Nähe bleiben möchte.”

„Ja, natürlich. Das verstehe ich“, stimmte ich zu.

„Was sagen Sie?”, fragte er nach. “Wäre so ein Gespräch für Sie in Ordnung?” Ich dachte einen Moment darüber nach. Ich wusste nicht, ob so ein Gespräch helfen konnte oder alles schlimmer machen würde. Aber wenn es helfen konnte, musste ich es versuchen.

„Ja, das wäre in Ordnung. Ich kann aber frühestens am späteren Nachmittag. Ich habe morgen Dienst.“
 

„Das verstehe ich“, stimmte er mir zu. „Wie wäre es, wenn ich Sie zum Dienstende gegen 16:30 abholen würde? Wir fahren dann gemeinsam hin.“ Halb Fünf war zwar nicht meine übliche Zeit um Feierabend zu machen, aber je länger ich darüber nachdachte, umso mehr wollte ich dieses Gespräch.

„Ja, das klingt gut. Wir treffen uns am Parkplatz. Ich werde um halb fünf Feierabend machen.“

„Alles klar, ich informiere Frau Bremer. Bis morgen, Frau Klick.“

„Bis Morgen, Herr Altenburg“, verabschiedete ich mich von ihm. Ich legte auf und ging wieder auf Fritz zu, der mich ungeduldig ansah.
 

„Was wollte dieser Vogel denn schon wieder von dir?“

„Herr Altenburg ist kein Vogel“, gab ich zurück.

Die ganze entspannte Atmosphäre zwischen Fritz und mir verpuffte in wenigen Sekunden. Er wirkte gereizt und angespannt.

„Fritz du musst wirklich deine Abneigung gegen Herrn Altenburg ablegen. Ich glaube wirklich, dass er dir weniger schadet als du sehen willst.“

Ich sah wie seine Lippen sich bewegten. Er wollte noch was hinzufügen, besann sich aber eines Besseren. Er drehte sich um und zog sich seinen Motorradhelm über. Dann stieg er auf seine Maschine und schmiss den Motor an. Dieser heulte zwei, drei Mal auf, als Fritz Gas gab. Er drehte sich noch einmal zu mir um.

„Pass auf dich auf, Bielefeld.“
 

Er wartete nicht darauf, ob ich noch etwas erwiderte. Er fuhr einfach los und ließ mich auf dem Hof zurück. Ich seufzte und ging wieder ins Haus. Die beiden schienen sich ja echt gefressen zu haben. Männer, dachte ich, die soll mal einer verstehen.

„Sind die DNA Analysen schon da?“, fragte ich Ewald als ich gerade das Büro betrat. Er schüttelte den Kopf und biss von seinem Brot ab.

„Dir auch einen guten Morgen, Josy“, erwiderte er mit halb vollem Mund und einem leicht sarkastischem Unterton.

Ich rollte meine Augen. „Ich habe ´nen ganzen Tag verpasst, Waldi. Also bring mich doch bitte auf den neusten Stand. Gibt’s neue Erkenntnisse?“ Er schluckte den Rest von seinem Frühstück runter, bevor er auf meine Frage antwortete.

„Alex hat gestern die Liste noch einmal überprüfen lassen. Es hatte wirklich nur dieser Marco Schulz gefehlt.“ Er schwieg einen Moment und überlegte. „Ach so“, fuhr er fort. „Wir haben dann noch die Krankenschwester, die an dem Abend Dienst hatte befragt.“

„Seid ihr mit dem Protokoll schon durch? Kann ich das mal sehen?“
 

„Komm doch erst mal in Ruhe an. Du machst da weiter, wo du aufgehört hast, bevor es dich umgehauen hat.“

„Waaaldi...“, mahnte ich ihn.

„Ist ja gut. Ich schick dir das Protokoll“, erklärte er und drehte sich zum Monitor um.

Ich zog meine Jacke aus und nahm am Schreibtisch Platz. Ich musste die Ergebnisse von einem ganzen Tag nachholen. Aber zum Glück war es gestern nicht so ereignisreich gewesen. Alle warteten auf die DNA Ergebnisse. Nachdem Alex ebenfalls im Büro angekommen war und er mir alle nötigen Informationen gab, tippte ich unruhig mit meinen Fingern auf dem Schreibtisch rum.

Nach Zehn Uhr wollte ich nicht länger warten und rief im medizinischem Institut an. Wie lange konnte schon so ein DNA Abgleich dauern? Ich verbrachte eine Weile in der Warteschleife bis ich den richtigen Ansprechpartner in der Leitung hatte. Alex saß mir gegenüber und lauschte dem Gespräch.
 

„Wann können wir mit den abschließenden Ergebnissen rechnen?“, hakte ich nach.

„Meine Kollegin schreibt gerade den Bericht für Sie. Die Ergebnisse sollten Sie in einer halben Stunde in Ihrer Mailbox haben“, versicherte mir die medizinische Assistentin.

„Gibt es denn Treffer?“

„Nicht direkt“, begann sie etwas zögernd.

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich. Wie konnte es nicht direkt einen Treffer geben? Entweder eine DNA passt oder sie passt nicht, richtig? Auch Alex sah mich fragend an.

„Nun ja“, begann sie. „Wir haben bei allen einen 16-Marker DNA-Test durchgeführt. Alle waren ohne Übereinstimmung. Vor einer halben Stunde haben wir die letzten Proben getestet. Da war eine Probe dabei, die mit vier Marker übereingestimmt hat.“

Diese Mediziner machten mich irre. Konnte Sie nicht auf den Punkt kommen? „Frau Witt, Sie müssen entschuldigen, aber ich hatte in Gentechnik wirklich einen sehr einschläfernden Lehrer in der Schule. Sie müssen schon konkret sagen, was das bedeutet.“
 

Betont sachlich fuhr sie mit ihren Erläuterungen fort. „Vier Marker sind zu wenig, als dass es sich um die DNA vom Vater handeln könnte. Aber es sind genug, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass es sich dabei um einen näheren Verwandten handeln muss.“

„Der Vater vielleicht“, fragte Alex in den Hörer. Ich dachte an das Alter der Verstorbenen und an das Durchschnittsalter der männlichen Angestellten. Elisabeth Weiß - sie war erst 23 Jahre alt gewesen. Man sollte zwar niemals nie sagen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie eine Beziehung mit einem Ü50-jährigen Mann geführt hatte.

„Vielleicht der Bruder“, suggerierte ich.

Frau Witt stimmte uns zu. „Das sind natürlich nur Vermutungen, die jetzt aufgestellt werden können. Wir benötigen die DNA Proben der direkten Verwandten, um mit Sicherheit eine Aussagen treffen zu können.“

„Frau Witt, Sie haben uns sehr geholfen. Vielen Dank.“

„Das ist selbstverständlich, Frau Klick.“
 

„Können Sie uns noch den Namen nennen?“, hakte ich nach. Wir mussten so schnell wie möglich weiter recherchieren.

„Die Liste hat meine Kollegin“, sagte sie entschuldigend. „Aber ich bin mir sicher, dass sie Ihnen gleich den Bericht rüber mailt.“

Ich wollte gerade darum bitten, dass sie mich mit ihrer Kollegin verbinden sollte, aber Alex mischte sich ein. „Alles klar. Solange werden wir noch warten können. Vielen Dank noch mal“, sagte er höflich in den Apparat, während er mich warnend ansah. Ich atmete frustriert aus, erklärte mich aber einverstanden mit dem Vorgehen. Ich wusste ja, dass ich dringend an meiner Geduld arbeiten musste.
 

„Ich hole mir erst mal ´nen Kaffee. Möchtest du auch einen?“, wollte Alex wissen.

Ich verneinte, da ich schon hibbelig genug war. Mich auf Koffein würden meine Kollegen vermutlich nicht aushalten.

Er verschwand aus dem Büro und ich starrte auf meinen Monitor. Ich drückte regelmäßig die F5-Taste, während ich den Posteingang der Mailbox fixierte. Karin rollte mit ihrem Bürostuhl seitlich von ihrem Monitor ab und sah mich fragend an. Ewald, der neben ihr stand, betrachtete mich ungläubig.

„Du weißt schon, dass sich die Mailbox von alleine aktualisiert, oder?“ Ich verzog mein Gesicht und sah ihn genervt an.

„Jahaaa... “, schnaubte ich und lehnte mich in meinen Stuhl zurück. „Warum brauchen die nur solange für so einen Bericht.“ Dabei hatten die Kollegen in Rekordzeit gearbeitet. Wenn man bedachte, wie viele Tests ich am Mittwoch bei ihnen vorbei gebracht hatte, war es mehr als erstaunlich.
 

Alex kam wieder ins Büro - entspannt und souverän wie immer. Ich hatte schon ganz zu Anfang seine innere Ruhe und seine besonnene Art bewunderte. Für mich machte das einen wirklich guten Ermittler aus. Ich wusste, dass mir das fehlte, dass ich vieles überhastete. Aber manchmal ging einfach mein Temperament mit mir durch.

Im Blickwinkel sah ich wie ein Fenster auf dem Bildschirm aufpoppte.

„Da ist sie.“ Ich öffnete die Mail mit ihrem Anhang. Die Ergebnisse waren in einer Tabelle festgehalten. Nur eine Zeile war farbig markiert. War es der Spender, der vier übereinstimmende Marker mit der DNA vom Kind hatte? Der Verwandte vom Vater des Kindes, vielleicht vom Mörder. Vielleicht war er aber auch selber der Mörder. Wir würden es rausfinden.
 

„Marco Schulz“, las Alex vor. Ich stockte bei dem Namen. Das konnte doch nicht sein, gerade dieser junge Mann? „War das nicht der Typ, der nicht auf der Liste stand?“, fragte Alex nach.

„Ja“, bestätigte ich. „Wäre er nicht freiwillig gekommen, hätte wir nie ein Indiz bekommen. Denkst du, da versucht einer was zu vertuschen?“

„Riecht zumindest danach“, stimmte mir Alex zu.

„Waldi?“, wandte ich mich an meinen Kollegen. „Kannst du bitte dir die Daten von Marco Schulz ziehen?“

„Läuft“, sagte er und ging an seinen Arbeitsplatz.

Ich stand auf und wanderte langsam im Zimmer umher - so konnte ich einfach klarer denken. „Wer hätte die Möglichkeit die Liste zu manipulieren? Ich meine, sie wussten doch nicht, dass wir ´nen DNA Test durchführen würden.“

Alex verzog nachdenklich seinen Mund. „Eigentlich waren nur Frau Krämer, Vivienne und vielleicht die Sekretärin involviert.“
 

Ich überlegte. „Ich hatte von unterwegs angerufen. Es war also genug Zeit gewesen, die Liste zu ändern“, begann ich. Es gab nur ein Problem „Wer konnte davon wissen? Ist doch klar, dass man dazu nicht nur die Kenntnis braucht, sondern auch die Möglichkeit die Änderung durchzuführen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frau Krämer was damit zu tun hat.“

„Vivienne hat damit auch nichts zu tun“, ergänzte Alex und verkleinerte damit den Kreis der verdächtigen.

„Die Sekretärin?“, hakte Alex nach.

„Nein, die war an dem Tag krank“, wendete ich ein.
 

Es war doch zum Haare raufen. Ich ging alle Namen und Gesichter in meinem Kopf durch. Nur bei einem blieb ich hängen - mal wieder.

„Was ist denn mit diesem Dr. Schneider?“ fragte ich Alex.

„Hast du nicht gesagt, dass er auf einem Seminar war?“

„Ja, ein Tagesseminar in Berlin. Aber er konnte doch ohne Probleme noch im Büro von Frau Krämer gewesen sein als ich mit ihr telefonierte. Die scheinen immer zusammen zur Arbeit zu fahren.“

Alex und ich spielten mit diesem Gedanken. War es möglich? Der Typ war mir von Anfang an so verdächtig vorgekommen, arrogant, allwissend, überheblich, als ob er sich in Sicherheit wiegte.

„Leute“, rief Ewald aus. „Ich hab´s.“ Wir gingen zügig zu seinem Schreibtisch. „Das glaubt ihr nicht“, sagte Ewald und drehte den Monitor etwas mehr zu uns als er den Eintrag für uns Laut vorlas.
 

„Marco Schulz ist der Sohn von Magret Schulz und Klaus Schneider. Er ist ein Scheidungskind hat aber noch einen wesentlich älteren Bruder. Sein Name ist Dr. Torsten Schneider.“

Ich verengte meine Augen. Das konnte kein Zufall sein. Dr. Torsten Schneider. War er der Vater? Der Mörder? Auf jeden Fall stand er dem Fall näher als er zugeben wollte. Ich schnappte mir meine Jacke und zog sie mir über während ich zur Tür ging.

„Kommst du, Alex?“ Er nickte und folgte mir.
 

***
 

„Frau Krämer, wir müssten dringend mit Herrn Dr. Schneider reden. Wo finden wir ihn?“, fragte Alex.

Wir standen im Büro der Leiterin. Sie sah uns verdutzt an. Vermutlich hatte Frau Krämer uns hier nicht erwartet und noch weniger die Fragen, die wir stellten.

„Er schult heute unsere Krankenschwestern. Was ist denn passiert?“, fragte sie etwas irritiert.

Im selben Augenblick ging die Tür auf und wie bestellt trat Herr Dr. Schneider in den Raum. Er schien sich über etwas zu ärgern. Aufgebracht feuerte er die Tür auf und trat ein.

„Du kannst doch nicht wirklich erwarten, dass ich diese inkompeten-“, unterbrach er seinen Satz und blieb Mitten im Raum stehen als er uns bemerkte. „Was ist denn hier los?“, fragte er im nächsten Moment. Ich ging einen Schritt auf ihn zu.
 

„Herr Dr. Schneider“, begrüßte ich ihn gespielt euphorisch. „Schön, dass Sie da sind. Wir hätte da einige Fragen an Sie.“ Er sah mich herablassend an und wandte sich Frau Krämer zu.

„Ich habe dafür jetzt keine Zeit. Wir sehen uns später.“ Er dreht sich um seine eigene Achse und wollte bereits das Zimmer verlassen, aber so schnell würde ich ihn nicht ziehen lassen. Alibi hin oder her. Er war dringend Tatverdächtig nach den neusten Erkenntnissen.
 

„Herr Dr. Schneider“, rief ich ihm hinterher. Meine Stimme gewann an Lautstärke. „Sind Sie der Vater von dem Kind - mit dem Elisabeth Weiß schwanger war - bevor sie kaltblütig ermordet wurde?“ Bei der Frage stockte er im Türrahmen. Ich konnte hören, wie Frau Krämer scharf einatmete, konzentrierte mich aber auf Herrn Dr. Schneider. Es tat mir leid der Frau so einen Schock versetzen zu müssen, aber es galt einen Mordfall zu klären.
 

Langsam drehte er sich wieder zu mir um und sah mich verstimmt an. Ich erkannte beim genaueren Hinsehen die geweiteten Pupillen. Er wirkte hochkonzentriert - wie eine Raubkatze vorm Angriff. Hatte ich da etwa einen wunden Punkt getroffen? Seine Augen erfasste nur kurz Frau Krämer und ihre Reaktion, bevor er wieder mich ins Visier nahm.
 

„Ich weiß nicht wovon Sie reden“, beharrte er betont ruhig. Dieser Typ hatte Nerven aus Stahl. Das musste man ihm lassen. Ich atmete einmal ruhig durch. Hier durfte ich nichts übereilen. Er würde sich das zu nutze machen.

„Haben Sie deswegen keine Probe abgegeben bei den DNA Tests?“, fragte ich weiter. „Haben Sie befürchtetet, dass wir rausfinden würden, dass Sie ein Verhältnis mit Frau Weiß unterhielten? Das sie schwanger war mit Ihrem Kind?“ Noch immer sah er mich mit dieser ungetrübten Ruhe an.

“Frau Klick“, begann er. „Ich weiß nicht auf was für wilde Theorien Sie sich stürzen. Ich bekomme langsam den Eindruck, dass Sie Probleme mit dem Fall haben. Ich verstehe wirklich nicht, was sie sich da in Ihrem Kopf zurechtbasteln.“
 

Er provozierte mich, versuchte mich von der eigentlichen Frage abzulenken. Aber ich hatte nichts anderes erwartet. Ungewohnt ruhig machte ich bei diesem Spiel mit.

„Sie müssen das auch nicht verstehen“, begann ich freundlich, sah ihn dann aber mit festem Blick an. „Wie hatten Sie es formuliert? Sie sind kein Psychologe, nur Allgemeinmediziner?“ Ich erinnerte ihn an unser erstes Gespräch, in dem er Tim als Tatverdächtigen präsentieren wollte. „Aber als Allgemeinmediziner müssten Sie doch ein Grundwissen zum Thema DNA haben.“
 

Ich machte eine kurze Pause, wollte die Worte wirken lassen. „Wusste Sie, Herr Schneider, dass Ihr Bruder Marcus Schulz so freundlich war und uns etwas von seiner DNA zur Verfügung gestellt hat?“

Seine Körperhaltung und der Gesichtsausdruck veränderten sich kaum merklich. Aber die Muskelpartien seines Oberkörpers spannten sich an. Sollte er ruhig versuchen den Schein zu waren, aber mir konnte er nichts mehr vormachen. Er hatte mehr mit der Sache zu tun, als er zugab. Körpersprache lügt nicht – hat sie noch nie.
 

„Mein Bruder?“, fragte er mit noch immer souveräner Ruhe in seiner Stimme.

„Ja“, begann ich im Plauderton. „Was für ein Zufall, finden Sie nicht auch? Wo er doch gar nicht auf der Liste stand. Fast hätten wir ihn verpasst, aber er war so freundlich uns selber aufzusuchen.“

Ich wandte mich kurz zu Frau Krämer. Gern hätte ich ihr dieses Gespräch erspart. Sie sah blass aus und starrte ihren Partner ungläubig, ja fast verzweifelt an.

Das Gefühl kannte ich. Man wollte nicht wahr haben, dass ein Mensch das entgegengebrachte Vertrauen missbrauchte. Ich musste an Stefan denken, verdrängte den Gedanken aber gleich wieder. Stefan war kein Mörder, sondern einfach nur ein unglaubliches Arschloch.
 

„Frau Krämer?“, fragte ich sie. „War Herr Dr. Schneider vielleicht an dem Morgen, wo ich Sie um die Liste gebeten habe vor Ort?“ Ich war mir nicht sicher, ob sie die Frage verstanden hatte. Sie wirkte mit der Situation überfordert und blickte haltlos auf den Schreibtisch vor sich. Als ich keine Antwort bekam, ließ ich die Frage zunächst offen im Raum stehen. Ich konnte auch noch später in Ruhe mit ihr darüber reden.
 

Mein Blick richtete sich wieder auf Herrn Dr. Schneider. „Die DNA Ihres Bruders und die vom Kind passen soweit zusammen, dass wir mit Sicherheit sie als Vater vom Kind bestimmen können. Vielleicht möchten Sie uns eine DNA Probe von Ihnen geben, um das Gegenteil zu beweisen?“ Ich machte eine Pause, wartete auf eine Reaktion von ihm, aber noch immer verzog er keine Miene. Wie konnte man diesen Mann nur knacken?
 

„Es ist wirklich ein Problem, wenn die Geliebte ein Kind erwartet, aber man gleichzeitig eine Beziehung mit der Chefin unterhält. Meinen Sie das nicht auch? Für mich klingt das nach einem guten Motiv, Herr Dr. Schneider“, versuchte ich ihn zu provozieren.

Wie er bei diesem Fakten noch immer so erhaben über den Dingen stehen konnte war mir ein Rätsel. Sein Blick verweilte auf Frau Krämer, bevor er sich wieder Alex und mir zuwandte.

“Ob ich der Vater bin oder nicht sollte für die Ermittlungen keine Rolle spielen, da ich, wie bereits im letzten Gespräch erwähnt, zum Tatzeitpunkt mit meiner Partnerin auf einer Benefizveranstaltung war.“
 

Es war erstaunlich, wie er sich noch immer so überlegen fühlen konnte. Diese Sicherheit war nur zu begründen, da er Kenntnis darüber haben musste, dass die SpuSi nichts Belastendes gegen ihn gefunden hatte. Aus meiner Sicht nur möglich, da er persönlich dafür gesorgt haben musste.

Aber ohne Beweise konnten wir nur Vermutungen aufstellen und er hatte Recht, die Vaterschaft würde nicht reichen, wenn man ihn mit dem Fall sonst nicht in Verbindung bringen konnte. Keine Beweise, keine Anklage. Ich weigerte mich jedoch ihn davon kommen zu lassen. Er musste bei diesem Mord seine Hände mit im Spiel haben.
 

„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Ich erinnere mich an Ihre Aussage, auch daran, dass Sie Zuhause noch gemütlich ein Glas Wein getrunken haben, richtig?“ Ich wartete keine Reaktion von ihm ab und wandte mich an Frau Krämer. Sie musste den Tränen nah sein, aber ich konnte darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Wir brauchten Antworten – immerhin ging es um Mord.
 

„Frau Krämer, schlafen Sie nach einem Glas Wein auf immer so gut? Also wenn ich nicht schlafen kann, dann gönne ich mir abends schon mal einen richtig guten Rotwein.“ Ihre Lippen bewegten sich. Sie wollte was sagen, aber es folgten keine Worte.

„Das tut hier nichts zu Sache“, mischte sich Herr Dr. Schneider ein. Er hatte seine Stimme erhoben, wenn auch nur leicht. Mir reichte das um zu wissen, dass ich langsam Anfing den richtigen Nerv bei ihm zu treffen. Und wenn ich etwas konnte, dann war das jemandem richtig schön auf die Nerven zu gehen. Vielleicht konnte ich so endlich an mehr Informationen kommen.
 

Er sah Frau Krämer an und sprach mit ihr in einem für mich ungewohnten sanften Tonfall. „Lass dir keinen Unsinn von den Kommissaren erzählen. Wir reden später über alles, okay?“ Als er keine Antwort von ihr erhielt, wandte er sich mit finsterem Blick an mich. „Sind Sie fertig?“, fragte er kühl. „Ihre Anschuldigungen sind ohne jede Grundlage. Sie können nichts beweisen.“

“Wir werden eine DNA per Beschluss bei Ihnen einfordern. Herr Dr. Schneider, wir WERDEN es Ihnen beweisen.“

„Die Vaterschaft meinen Sie...?“

„Den Mord“, ließ ich ihn wissen. Als er mich mit seinem kühlen, kalkulierenden Blick ansah, lief mir beinahe ein Schauer über den Rücken.

„Wäre das der Fall“, begann er und seine Stimme klang beinahe höhnisch „Hätten Sie mir schon längst Handschellen umgelegt, Frau Klick.“
 

Ich musste schlucken. Er wusste genau was er tat und das machte mich rasend. Heute würde ich nichts mehr bewegen können. Wir mussten weiter dran bleiben und noch einmal genauer ermitteln. Früher oder später würde er etwas tun oder etwas sagen, dass ihn verriet. Vielleicht konnte uns auch Frau Krämer weiterhelfen, wenn sie den Rückschlag erst verkraftet hatte. Sein Alibi musste Lücken aufweisen und diese mussten wir finden.

Als ich nichts erwiderte, lächelte er mich gespielt höflich an. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe noch Aufgaben zu erledigen.“ Er zog die Tür hinter sich zu und ließ Alex, Frau Krämer und mich zurück.
 

Alex übernahm das weitere Gespräch. Ihn trieben die gleichen Gedanken wie mich als er versuchte den Abend der Benefizveranstaltung mit Frau Krämer noch einmal zu rekonstruieren. Sie bestätigte, dass er am Tag der Tests bei ihr im Büro war, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er auch am Schreibtisch gewesen war. Das Gespräch verlief sehr stockend und ich war froh, dass Alex sich darum kümmerte.
 

Ich brachte erneut meine Vermutung mit dem Wein an. Er wusste, dass sie dadurch schnell schläfrig wurde, aber diese Wirkung hatte Wein wohl auf die meisten Menschen. Es waren gute Hinweise, aber keiner davon brachte uns ans Ziel. Noch immer fehlte uns ein stichhaltiger Beweis. Frau Krämer hoffte vermutlich noch immer, dass es sich nur um ein Missverständnis handelte und wir uns irrten.
 

„Brauchen Sie jemanden, der sich um Sie kümmert, Frau Krämer? Sollen wir Sie vielleicht nach Hause fahren?“, fragte ich sie vorsichtig. Sie schüttelte allerdings ihren Kopf.

„Ich habe hier noch so viel zu tun. Meine Sekretärin ist immer noch krank. Ich...“, sie stockte. „Sollte mir was einfallen, melde ich mich bei Ihnen.“

Uns blieb nichts anderes übrig als ihr zuzustimmen und uns von ihr zu verabschieden.

Kapitel 11
 

Nach dem Gespräch mit Frau Krämer fuhren wir wieder ins Revier. Wir waren beide nicht zufrieden mit den wenigen Erkenntnissen, die wir gewonnen konnten. Wir brauchten Beweise um Herrn Dr. Schneider weiter in die Ecke zu treiben und so vielleicht ein Geständnis zu bekommen. Dennoch wollte Alex weitere mögliche Alternativen unter die Lupe nehmen. Ich klinkte mich aus, da mir noch ein wichtiger Termin erst bevorstand. In einer viertel Stunde würde Herr Altenburg mich für das Gespräch mit Frau Bremer holen. Ich musste also unbedingt meine Gedanken freikriegen.
 

Als ich nur kurz meine Sachen zusammensammelte und meine Jacke schnappe, sah mich Karin verwirrt an.

„Machst du etwa schon Feierabend?“, fragte sie.

„Ja, habe noch was vor.“

Vom Gespräch mit Frau Bremer wollte ich lieber noch nichts erzählen. Ich glaubte nicht, dass sie es verstehen würden. Ich musste das mit mir selber ausmachen und alleine schaffen. Sowieso wäre Fritz der erste, dem ich davon berichten würde.

„Was geht denn hier ab?“, fragte jetzt auch Ewald sichtlich verwundert.

„Leute, jetzt macht nicht so einen Aufriss. Ich gehe nicht zum ersten Mal so früh.“

Beide sahen mich skeptisch an. „Beim letzten früher Feierabend hat dich Fritz fast aus dem Gebäude tragen müssen“, entgegnete Ewald.

„Jajaja“, erwiderte ich. „Hört auf zu spekulieren und kümmert euch lieber um Alex. Der braucht heute bestimmt noch Unterstützung von euch. Vielleicht lest ihr euch nochmal den Bericht der SpuSi durch. Wir müssen irgendwas übersehen haben.“
 

Es klopfte und im Türrahmen stand Herr Altenburg. „Oh, Sie sind schon fertig“, begrüßte er mich freundlich.

„Wir wollten uns doch unten treffen“, erwiderte ich und konnte nicht unterdrücken unzufrieden zu sein ihn hier zu sehen. Das würde wieder nur Spekulationen schüren.

„Ich war gerade noch bei Ihrem Chef“, erklärte er entschuldigen. Er hatte mein Gesicht wohl richtig gedeutet. „Lag also auf dem Weg zum Wagen.“

Ich ließ das Thema fallen und verabschiedete mich zügig bei meinen Kollegen, um ungewollten Fragen auszuweichen. Die würden sie spätestens morgen sowieso stellen.

„Ich bin dann mal weg. Bis morgen“, murmelte ich den beiden zu und zog Herrn Altenburg mit mir aus dem Zimmer.
 

Auf dem Weg zu Frau Bremer knetete ich unruhig meine Hände. Sie fühlten sich schwitzig an, obwohl die Luft relativ kühl war. Es passierte selten, dass ich so nervös war. Aber der Gedanke lastete schwer auf mir, dass dieses Gespräch entscheidend für den weiteren Verlauf sein könnte. Konnte ich Fritz damit helfen?
 

***
 

Ich saß auf dem Sofa von Frau Bremer. Sie hatte sich auf einen Sessel mir gegenüber gesetzt und blickte mich schweigend an. Sie sah müde aus, blass und hatte Augenringe. Ihre Hände faltete sie über ihren Schoß. Ihr leerer Blick durchdrang mich, aber ich sagte nichts. Ich wollte auf ihre Reaktion warten. Immerhin hatte SIE mit mir reden wollen. Warum tat sie es also nicht?
 

Herr Altenburg wartete im Nebenzimmer. Er wollte uns genug Raum geben frei zu sprechen, aber zur Sicherheit in der Nähe bleiben. Mein Blick schweifte durch das Zimmer. Überall standen Umzugskartons. Die Wohnung wirkte kahl. Man konnte sehen, dass sie hier nicht mehr lange bleiben würde. Hatte sie nicht auch zwei Kinder? Wie es den beiden wohl ging? Was hatte man ihnen erzählt?

„Meine Kinder sind bei meinen Eltern“, begann sie schwach, als wenn sie meine Gedanken gelesen hatte. „Wenn ich mit Packen fertig bin, werde ich ebenfalls hinziehen.“
 

Ich konnte das gut verstehen. Abstand zur gewohnten Umgebung war nötig um neu anzufangen. Mir war es damals genauso gegangen.

„Es ist gut, dass Sie Unterstützung bekommen, Frau Bremer.“ Ich meinte es ernst. Sie konnte nichts für die Taten ihres Mannes. Ihr konnte man keinen Vorwurf machen. Sie massierte ihre Hände auf ihrem Schoß als sie sich etwas zurücklehnte und für einen Augenblick den Blick von mir abwandte.
 

„Haben Sie Kinder, Frau Klick?“, fragte sie mit leiser Stimme und sah mich nun direkt an. Ich schüttelte bedächtig meinen Kopf.

„Nein, habe ich nicht.“

„Möchten Sie welche?“

Ich nickte zustimmend, lächelte zaghaft. „Ja, später vielleicht einmal.“

„Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, alleinerziehend zu sein?“

Ich musste schlucken bei der Frage. „Ich glaube schon“, begann ich. „Darüber denken die Leute heutzutage öfter nach, als es früher der Fall war.“
 

Ich hörte sie schwer atmen, bevor sie sich leicht auf ihre Lippe biss und wieder zur Seite sah. Als wenn ihr kalt wäre, rieb sie ihre Hände langsam aneinander, dabei hatte das Zimmer eine angenehme Temperatur.

„Ich habe nie darüber nachgedacht“, gestand sie und rieb sich ihre rechte Schläfe. Sie sah wirklich sehr erschöpft aus.

Ich gab Frau Bremer einen Moment Zeit. Es war jetzt eine Woche seit dem Vorfall vergangen. Der Schock und die Trauer mussten noch tief sitzen, aber die erste Phase überschritten haben. Danach folgte immer viele Frage nach dem `Wie´ und `Warum´. Fragen über den Tag des Unglücks, über die Zukunft der Kinder, die eigene Zukunft und man baute Wut auf. Aber gegen wen würde sich diese richten? Gegen mich? Oder Fritz?
 

„Er war ein guter Vater“, sagte sie. „Ein guter Ehemann.“ Ihre Stimme brach und ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie rang um Fassung, kämpfte gegen den Anfall von Trauer.

Ich biss mir auf meine Lippen. Es war eines der schwierigsten Gespräche in meinem Leben, die ich je geführt hatte. „Manchmal tun die vertrautesten Menschen Dinge, die niemand erwartet hätte.“

„Wie Ihr Kollege?“, fragte sie mich und sah mich nun ernst an. „Haben Sie erwartet, dass Ihr Kollege so etwas tun würde?“
 

Eigentlich sollte mich diese Frage nicht überraschen, dennoch brachte sie mich etwas aus dem Gleichgewicht. Mir war noch immer nicht klar, warum um ein Gespräch gebeten hatte. Ich versuchte das ungute Gefühl zusammen mit der Unsicherheit abzuschütteln. Wenn das Gespräch gut verlaufen sollte, durfte ich keinen Platz für eigene Zweifel lassen.
 

„Nein. Ich habe das nicht erwartet“, antwortete ich ehrlich.

„Ich habe Ihren Kollegen an diesem Tag gesehen, Wie er nach Clemens suchte. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben, die Angst um Sie.“ Ihre Stimme zitterte. Ich konnte die Emotionen in ihrem Blick sehen, die Trauer, das Leid, den Schmerz und ich sah die befürchtete Wut.

„Mein Kollege wollte mich retten“, versuchte ich sie zu beschwichtigen.

„Ihr Kollege wollte meinen Mann umbringen.“ Sie erhob ihre Stimme und rang nach Luft.

Herr Altenburg stand im Türrahmen des Wohnzimmers bereit einzuschreiten und das Gespräch zu beenden, wenn es sein musste. Ich war ihm dankbar und es beruhigte mich ihn hier zu haben. Kaum merklich deutete ich an, dass er sich raushalten sollte. Die Situation war noch steuerbar.
 

„Frau Bremer“, begann ich behutsam. „Es tut mir leid, dass Sie einen wichtigen Menschen in Ihrem Leben verloren haben. Wirklich. Es ist ein schrecklicher Verlust für Sie und Ihre Familie. Ich werde Ihnen glauben, wenn Sie mir sagen, dass er ein guter Ehemann und Vater war. Aber den Mann den ich kennen gelernt habe, hat mich entführt und bedroht - mit einer Spritze und einem Messer. Er war bereit mich zu töten und hätte mich angekettet im Auto ertrinken lassen, wär mein Kollege nicht eingeschritten. Und hätten meine Kollegen mich nicht gesucht, wäre ich nach zehn Tagen irgendwo mit aufgeschnittener Kehle gefunden worden. Sie wissen, dass bereits zwei weitere Frauen auf diese Weise umgekommen sind. Ich bringe Verständnis auf für Ihre Situation, aber bitte erwarten Sie nicht, dass ich für Ihren Mann Verständnis zeige.“
 

Meine Worte waren hart, aber ehrlich. Es gab nicht, dass ich verschönen sollte um ihre Nerven zu schönen. Nur durch die Wahrheit konnte man Herr seiner eigenen Emotionen werden und offensichtlich war sie bereit die Wahrheit zumindest nicht zu ignorieren. Sie schwieg eine ganze Weile, vermied es mich anzusehen und blickte aus dem Fenster.

„Wissen Sie wie die Magazine und Zeitungen ihn nennen?“, fragte Frau Bremer nach eine Weile. „Den Hurenkiller von Berlin... Wie lange wird es dauern, bis die Identität bekannt wird und nicht nur ich, sondern meine Kinder oder auch meine Eltern belagert werden?” Sie sah mich wieder mit diesem leeren Blick an, als sie sich vorbeugte und sich mit ihren Armen abstütze.
 

„Soweit ich weiß, plant die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung keine Namen bekannt zu geben. Alle betroffenen Kollegen wissen Bescheid das Thema mit Diskretion zu behandeln bis die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchungen beendet hat.“ Ihr Blick wirkte weiterhin beunruhigt. Ich konnte verstehen, dass es ihr schwer fiel sich nur auf diese Aussagen zu verlassen. „Sie müssen sich keine Gedanken machen, Frau Bremer. Die Presse findet schnell wieder neue Themen.“

Zumindest, wenn es keine Klagen geben sollte, dachte ich mir. Den Vorfall groß aufzurollen und vor Gericht zu bringen würde den Journalisten nur neues Futter liefern. Die Presse würde sich darum reißen, wenn der Polizist angeklagt wird, der den Hurenkiller die Kehle durchschnitt. Frau Bremer musste wissen, dass sie als Nebenklägerin ebenfalls im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stehen würde.

Langsam bekam ich das Gefühl, dass es im Gespräch um den möglichen Prozess ging.
 

„Mein Anwalt hat mir geraten als Nebenkläger aufzutreten, wenn es zu einem Prozess kommt.“ Sie sagte es ohne Wertung und bestätigte meinen Verdacht. Ob der Anwalt den Wunsch der Frau verstand oder sah er nur die Publicity, die dieser Fall brachte?

„Werden Sie es tun?“, fragte ich sie vorsichtig nach einem Moment der Stille.

„Nennen Sie mir einen Grund, warum ich es nicht tun sollte.“ Sie sah mich jetzt direkt an. Ihr blickte wirkte nicht länger leer, sondern beinahe flehend. Sie war bereit den Schritt zu gehen, die Aufgabe anzunehmen, wenn sie keine Wahl hätte und genau das machte mir Sorgen. Was konnte ich schon sagen um sie umzustimmen?
 

„Frau Bremer, wenn Sie wirklich diesen Prozess mitbegleiten, kann Sie niemand mehr vor der Presse schützen. Ihre Familie wird auch mit reingezogen werden. So ein Prozess ist nicht in wenigen Wochen abgeschlossen. Das kann sich manchmal über Jahre hinwegziehen und es bringt Ihnen den Ehemann auch nicht zurück. Sie werden nie abschließen können mit diesem Thema. Sie haben jetzt noch die Möglichkeit unbeschadet einen Neuanfang zu wagen. Die Entscheidung, die Ihr Mann getroffen hat... Es waren nie Ihre.“ Ich machte eine kurze Pause um mir meine Worte zurecht zu legen. „Sie und Ihre Kinder sollten ein Recht darauf haben, die Trauer in Ruhe zu überwinden und in ein neues Leben zu starten...“ Ich wollte noch mehr sagen, aber wusste nicht was. Mein Kopf war wie leer.
 

Sie sah mich nicht an, lächelte aber schwach. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt und sie rieb sich ihren linken Oberarm.

„Ich dachte Sie würden mir sagen, dass Ihr Kollege rechtens gehandelt hat gegen einen Mörder vorzugehen.“

In Gedanken stimmte ich ihr zu, würde die Worte aber niemals äußern. Diese Worte wollte eine Ehefrau nicht hören, die gerade ihren Mann, gerade den Vater ihrer Kinder verloren hatte - egal was ihm vorgeworfen wurde. Ich wusste, dass Fritz rein von der Rechtslage her Fehler unterlaufen waren. Aber er hatte es getan um mich zu retten. Natürlich konnte Sie zu diesem Zeitpunkt das noch nicht verstehen. Den Schicksalsschlag musste sie erst einmal verkraften. Hoffentlich hatte sie sich in psychologischer Behandlung gegeben. Dort würde man ihr durch diese schwere Zeit helfen.
 

Auch ich hatte mir Sorgen um die Presse gemacht. Wie würde die Presse Fritz darstellen? Es konnte auch Konsequenzen auf das Leben von Ben haben, der so stolz auf seinen Vater war. Ich würde alles Mögliche tun, damit es nicht dazu kam.
 

***
 

„Und?“, fragte mich Herr Altenburg, als wir im Auto saßen. „Haben Sie ein gutes Gefühl?“

Ich sah ihn nicht an, lehnte meine Stirn erschöpft gegen die Fensterscheibe. Dann stöhnte ich. „Ich glaube, dass niemand nach so einem Gespräch ein gutes Gefühl haben kann.“

„Ich finde, dass Sie Ihre Sache gut gemacht haben, Frau Klick. Ich denke auch, dass Frau Bremer dieses Gespräch gut getan hat.“

Bloß ob es was gebracht hatte, konnte keiner von uns sagen, weder ich noch Herr Altenburg und immerhin war er der unparteiische, der den Fall untersuchte. Er durfte sich keine persönlichen Bewertungen erlauben. Vor allem nicht mir gegenüber. Das wussten wir beide.
 

„Wo fahren wir eigentlich hin?“, fragte ich ihn. „Bringen Sie mich zurück zum Revier?“

Er lächelte. „Nein“, begann er. „Ich dachte, es würde Ihnen ganz gut tun, wenn jemand Sie heute mal früh nach Hause bringt. Ich denke, dass auch Ihr Chef mir dankbar sein wird.“

Als ich nichts erwiderte sah er mich kurz an. „Oder möchten Sie woanders hin? Wir können auch gerne was zusammen essen gehen. Ich hatte heute noch kein Mittag.“ Als ich ihn skeptisch ansah, musste er sich ein Lachen verkneifen. Hunger hatte ich wirklich, das stand außer Frage. Aber mein Verstand signalisierte mir, dass es eine schlechte Idee wäre.
 

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nach Hause fahren würden.“

Er sah mich mit einem schrägen Lächeln an. „Ihr Wunsch ist mir Befehl.“

Als er nach einigen Minuten Fahrt in eine Seitenstraße einbog, sah ich ihn an. „Das ist aber nicht der Weg zu meiner Wohnung, Herr Altenburg.“

„Da stimme ich Ihnen zu, aber wenn sie nicht mitten im Wald stehen bleiben wollen, müssen wir jetzt tanken..“

Mein Schweigen nahm er als Zustimmung seinen Weg weiter fortzusetzen. Was sollte ich auch sonst tun? Ich hatte wirklich keine Lust mit ihm im Waldi stehen zu bleiben.

Die letzten Tage hatte ich ein anderes Bild von ihm gewinnen können, aber egal wie sympathisch mir dieser Mann geworden war, er hielt immer noch die Hände über den Fall von Fritz. Das musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen.
 

An der Tankstelle standen wir eine Weile an, bis endlich eine Zapfsäule frei wurde.

Ich schaute aus dem Fenster, während Herr Altenburg zur Kasse ging. Auf der anderen Straßenseite ging ein kleiner Junge mit seiner Mutter entlang. Ein süßes Paar, dachte ich im ersten Moment, stockte aber bei genauerem Hinsehen. War das nicht Benny?

Er wirkte vergnügt, rannte lachend um seine Mutter rum. Sie versuchte ihn zu beruhigen, lächelte aber auch über ihr Kind. Das war also Stefanie - die Ex-Frau von Fritz.
 

Sie war schön, wunderschön um ehrlich zu sein. Ihr Kleidungsstil musste wohl der neusten Mode entsprechen und sie bewegte sich sehr weiblich. Schlanke, sportliche Figur. Langes brünettes, perfekt gestyltes Haar ergoss sich über ihren Rücken und wippte bei jedem Schritt anmutig. Es schmeichelte ihrem jugendlichen Gesicht, genau wie das Make-up, das sie trug.
 

Ich blinzelte einige Male und sah aufs Armaturenbrett vor mir, während ich die Hände in meinem Schoß fest knetete. Was hatte ich auch nur so verdammt gute Augen. Manche Menschen hatte wirklich Glück mit Kurzsichtigkeit gesegnet zu sein.

Ja, dachte ich, genau so hatte ich mir die Frau von Fritz vorgestellt. Er war jemand, der gerne sein Leben und die Menschen darin in festen Rollen wusste. Vielleicht stritten wir uns deshalb ständig. Ich passte einfach in keine seiner Schubladen.
 

Die Fahrerseite ging auf und Herr Altenburg stieg ins Auto. Ich sah aber nicht hoch.

„Hier“, sagte er und platzierte eine Tüte auf meinem Schoß.

„Was...“, fragte ich etwas geistesabwesend.

„Ich habe Ihnen ein Sandwich gekauft. Sie müssen doch mindestens genauso hungrig sein wie ich.“

Ich bedankte mich, ließ die Tüte aber ungeöffnet. Aus irgendeinem Grund war mir der Hunger vergangen.

Ich stöhnte innerlich, als ich schlaftrunken das Polizeigebäude betrat.

„Morgen, Josephine“, grüßte mich ein Kollege.

„Und für dich einen schönen Feierabend, Chris“, entgegnete ich. Mein Arbeitstag begann während seine Nachtschicht wohl gerade zu Ende ging.
 

Es war noch dunkel draußen. Kalt und ungemütlich. Eine dicke Wolkendecke hing über Berlin und es regnete unentwegt. Vielleicht war es das Wetter, das heute so auf mein Gemüt schlug. Ich hatte schlecht geschlafen - sehr schlecht um ehrlich zu sein. Trotzdem wurde ich noch vor dem Klingeln des Weckers wach. Ich konnte mit Wotan aufgrund des daueranhaltenden Regens nicht ausreiten und war daher heute noch deutlich früher als sonst auf Arbeit. Mir kamen nur einzeln Kollegen der Nachtschicht entgegen.
 

Mein erster Gang führte mich zum Getränkeautomaten. Eigentlich trank ich bereits zuhause meine morgendliche Portion an Koffein, aber wie es sich für so einen Tag gehörte, hatte sie heute Morgen den Geist aufgegeben. Als ich auf den Kalender blickte, wurde mir auch klar warum. Heute war Freitag der Dreizehnte.
 

Ich schloss meine Augen, die sich schwer anfühlten, während ich wartete, dass mein Frühstück sich in die Tasse füllte.

Eigentlich war ich nicht abergläubisch, aber bisher hatte heute noch nichts wirklich geklappt. Vielleicht war es nur Zufall oder tatsächlich ein Naturgesetzt, das ich einfach nicht verstand. Neben dem Summen der Kaffeemaschine, hörte ich leise und langsame Schritte, die durch den leeren Flur hallten.
 

„Frau Klick.“ Bei meinem Namen horchte ich auf und drehte mich um.

„Frau Krämer...“, erwiderte ich überrascht, als die Leiterin des Heims nur wenige Meter von mir entfernt stehen blieb.

Ich schnappte mir meinen Kaffee und ging auf sie zu. Was machte sie um so eine Uhrzeit auf dem Revier?.

„Ich muss mit Ihnen reden“, sagte Frau Krämer mit schwacher Stimme und unendlich traurigen Augen. Sie wirkte matt und erschöpft. Vermutlich war ihr Schlaf genauso spärlich ausgefallen wie meiner, wenn sie überhaupt die Nacht ein Auge zugemacht hatte.

„Natürlich, kommen Sie bitte mit“, entgegnete ich und legte ihr meine Hand auf die Schulter.
 

Es war dunkel auf dem Flur als ich sie langsam zu meinem Büro führte.

„Sie müssen entschuldigen“, begann ich, schloss das Zimmer auf und knipste das Licht im Zimmer an. „Wir haben nur selten um diese Uhrzeit schon Besuch.“

„Um ehrlich zu sein, habe ich gar nicht erwartet Sie oder einen Ihrer Kollegen bereits anzutreffen, aber Zuhause habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Starten Sie ihren Tag immer so früh?“

Ich stellte den Kaffee auf meinen Tisch, legte meine Jacke und Tasche ab.

„Nicht immer. Es hängt oft vom Fall ab. Aber manchmal heißt es eben früher Start, später Feierabend.“

Ich bat sie am Besprechungstisch Platz zu nehmen und setzte mich ihr direkt gegenüber.
 

„Worüber wollten Sie mit mir reden?“

Den Blick gesenkt, sah sie ihre Hände auf dem Tisch an. Sie krallte ihre Fingerspitzen in die Haut ihrer Hände.

„Torsten“, begann sie, schüttelte dann aber langsam ihren Kopf „Herr Dr. Schneider, meinte ich.“ Wieder stockte sie und holte einmal tief Luft. Die Augen von Frau Krämer waren mit Tränen gefüllt, als sie ihren Kopf hob und mich ansah.

„Ich befürchte ihrer Vermutung recht geben zu müssen, Frau Klick.“ Ihr Mund zitterte und Tränen liefen über ihre Wange. Sie sah wieder auf Ihre Hände, der Kopf war leicht nach unten gebeugt. „Ich verstehe nur nicht, warum er so etwas Schreckliches tun musste.“ Sie ballte ihre Hände um das Zittern zu unterdrücken.
 

„Frau Krämer“, begann ich ruhig. „Warum glauben Sie zu wissen, dass Herr Dr. Schneider es getan hat?“

Es dauerte eine Weile bis sie anfing zu sprechen. „Nachdem Gespräch mit Ihnen war er ganz verändert. Er brach die Schulung am frühen Nachmittag ab und verließ einfach die Arbeit ohne sich abzumelden. Nach Feierabend wartete er bereits in der Küche auf mich.“

„Hatte er Sie bedroht?“, fragte ich besorgt.

„Nein, aber der Schock über seine Affäre saß noch tief und ich wollte nicht mit ihm reden. Er weigerte sich jedoch zu gehen, wollte mich überzeugen mit der Sache nichts zu tun zu haben. Ich wollte ihm glauben, bekam aber ein schlechtes Gefühl dabei. Mir war nicht wohl, dass er da war. Als wenn ich Angst vor ihm hätte.“
 

„Ist das schon mal vorgekommen, dass Sie sich vor ihm gefürchtet haben?“

„Er neigt manchmal zu starken emotionalen Ausbrüchen“, bestätigte sie mir. „Aber ich dachte, dass es einfach sein Charakter ist. Besonders die letzten Wochen war es schwierig mit ihm gewesen. Er schrie mich an, dass ich Ihnen und Ihrem Kollegen nicht glauben sollte, dass Sie versuchten unsere Beziehung kaputt zu machen. Ich sagte ihm, dass er alles alleine mit seinem Betrug bereits zerstört hatte und er gehen sollte bevor ich die Polizei rufen würde.“
 

„Ist er gegangen?“

„Nach einer Weile verschwand er und donnerte die Tür hinter sich zu. Es war zu viel in meinem Kopf und ich konnte einfach nicht schlafen. Als ich dann doch vor Müdigkeit kurz wegdämmerte, fielen mir wieder Sachen vom Abend der Benefizveranstaltung ein. Er hatte ständig auf seine Uhr gesehen und darauf bestanden zeitnah die Veranstaltung zu verlassen. Außerdem tranken wir nie Alkohol am Abend, wenn am nächsten Tag viel auf Arbeit anlag.“

Sie stockte für einen Moment und redete nicht weiter. Sie hatte wohl die ganze Nacht darüber nachgedacht und mit Sicherheit keinen Schlaf gefunden.
 

„Am nächsten Morgen schlief er noch, was für ihn wirklich ungewöhnlich war. Er brauchte schon immer weniger Schlaf als ich. In der Wohnstube stand die leere Flasche auf dem Tisch. Ich konnte mich nicht daran erinnern den Wein geleert zu haben. Eigentlich holte er morgens immer Brötchen, aber ich wollte ihn schlafen lassen. Draußen fuhr gerade die Müllabfuhr mit unseren Müllsäcken weg und wie immer lagen noch Reste auf dem Boden. Also schnappte ich mir einen neuen Müllsack und ging zur Einfahrt. Etliche Zettel lagen auf dem Boden und ich sammelte sie ein. Ich ärgerte mich besonders, als ich mitten auf dem Gehweg eine Spritze liegen sah und wickelte sie mehrfach ein um sie dann ebenfalls in den Müllbeutel zu werfen.“
 

„Sie fanden es nicht merkwürdig eine Spritz auf dem Gehweg zu sehen?“, fragte ich verwundert wurde bei der Information aber hellhörig.

„Nein, da ich seit vielen Jahren bereits Diabetes habe und mich regelmäßig spritze. Es lagen also regelmäßig Spritzen in unserem Müll, aber immer ordnungsgemäß verpackt, damit sich niemand verletzt. Wir haben doch so viele Kinder in der Nachbarschaft.“

Wenn die Müllabfuhr Montag erst den alten Abfall abgeholt hatte, dann musste der neue... „Haben Sie noch diese Spritze?“, fragte ich nach. „Haben Sie kontrolliert, ob es eine von Ihren ist?“ Natürlich konnte sie jedem gehören, aber bei der momentanen Beweislage klammerte ich mich an jeden noch so kleinen Hinweis.
 

Sie nickte und holte aus Ihrer Tasche eine Sammlung an zusammengeknüllten Papiertaschentüchern hervor.

„Die Spritze ist hier drin. Es ist eine aus unserer Klinik. Ich habe sie heute Nacht noch einmal rausgesucht.“ Sie legte den Packen Taschentücher auf den Tisch, wühlte abermals in ihrer Tasche und überreichte mir ein zerknülltes Stück Papier.

„Was ist das?“

„Eine Tankquittung“, antwortete sie mit schwacher Stimme. „Sie lag ebenfalls im Müll.“

Ich nahm die Quittung und glättete das Papier. Es war auf den 9. März datiert, 2:34 Uhr – der Zeitraum in dem Frau Weiß ermordet wurde. Mein Kopf ratterte und ich blickte Frau Krämer an. Sie erwiderte meinen Blick nur kraftlos und niedergeschlagen.

„Finden Sie nicht auch, dass es so viele Zufälle einfach nicht geben kann?“, fragte sie mich.

Auf einen Schlag hatte sich alles völlig verändert.
 

***
 

Frau Krämer, Alex und ich standen in ihrem Büro. Das Team hatte eine Weile gebraucht um alle Informationen zusammenzutragen. Waldi kümmerte sich um das Überwachungsvideo, während Karin die Spritze zusammen mit den Taschentüchern ins Labor brachte. Wir konnten nur hoffen noch Spuren zu finden. Das Überwachungsvideo würde aber zumindest für eine vorläufige Festnahme reichen. Zeit die wir brauchten um weitere Beweise zu sammeln. Herr Dr. Schneider hatte gelogen und sein Alibi war hinfällig. Wenn wir ihn bis morgen mit weiteren Beweisen dem Haftrichter vorführen konnten, war der Fall für uns erledigt.
 

Wir erwarteten ihn jeden Moment im Büro von Frau Krämer und hielten uns daher verdeckt im hinteren Bereich des Raumes auf. Die Kollegen waren bereits verständigt und warteten in einer Seitenstraße vorm Institut. Sie würden ihn übernehmen und in Untersuchungshaft bringen, sobald wir ihm die Handschellen anlegen konnten.

Die Tür ging auf und Herr Dr. Schneider trat ein. Er blieb nach einigen Schritten im Zimmer stehen. „Ich bin so froh, dass du mit mir reden möchtest.“
 

Seine Stimme klang ehrlich erleichtert. Beinahe hoffend. Mich überraschte der sanfte Ton von ihm. Ich versuchte aber diesen Gedanken abzuschütteln und mich auf die bevorstehende Festnahme zu konzentrieren. Frau Krämer stand angespannt hinter ihrem Schreibtisch und blickte hilfesuchend in unsere Richtung. Erst jetzt nahm er unsere Anwesenheit war. Er drehte sich ruckartig um, sah uns irritiert an. Alex ging auf ihn zu und ich verstellte die Tür, um einen möglichen Fluchtversuch zu verhindern.

„Herr Dr. Schneider, Sie sind festgenommen, wegen dringendem Tatverdacht, Elisabeth Weiß ermordet zu haben.“ Alex drückte ihn gegen die Wand bevor er etwas sagen konnte und legte ihm Handschellen um.
 

Ich ging auf die beiden zu und Herr Dr. Schneider blickte mich mit verengten Augen an. „Morgen müssen Sie mich sowieso wieder laufen lassen. Sie haben nichts gegen mich in der Hand“, sagte er noch immer in einem überheblichen Tonfall.

„Die Beweise sprechen weniger dafür“, erwiderte ich knapp.
 

Alex drehte ihn von der Wand und nahm sein Telefon zur Hand. Die Kollegen waren verständigt und auf dem Weg ins Büro.

Herr Dr. Schneider sah Frau Krämer an und in diesem Moment veränderte sich der Ausdruck in seinen Augen völlig. Seine Gesichtszüge wurden weicher und er sah sie sanft und beinahe flehend an „Sie werden mich in 48 Stunden wieder rauslasse müssen. Lass uns dann bitte über alles reden.“ Die Zerbrechlichkeit in seiner Stimme überraschte mich zutiefst. War das alles wirklich nur gespielt? Ich zweifelte mittlerweile an der Theorie. Ihm musste wirklich was an dieser Frau liegen.
 

Frau Krämer liefen Tränen über ihre Wange, als sie kopfschüttelnd seine Bitte ablehnte. „Gib auf, Torsten. Ich verkrafte keine Lügen mehr.“ Sie sah ihn verletzt an und zum aller ersten Mal seit dem ich Herrn Dr. Schneider kennengelernt hatte sah ich Verzweiflung in seinem Blick. „Warum hast du das getan?“, fragte sie mit schwacher Stimme.

„Ich habe ni-„ begann er, wurde aber unterbrochen.
 

„Lüg mich nicht an“, schrie sie ihn an und kämpfte sichtlich mit ihrer Fassung. Auf wackeligen Beinen ging Sie um den Schreibtisch herum und blieb direkt vor ihm stehen. Sie sprach so leise, dass ich kaum verstand was sie sagte.

„Keine Lügen mehr, Torsten. Ich will keine Lügen mehr hören. Ich haben die Spritze vom Tatort gefunden und die Tankquittung. Die Polizei hat ein Überwachungsvideo auf dem du deutlich zu sehen bist.“
 

Wenn er überrascht war diese Informationen von ihr zu hören ließ er es sich nicht anmerken. War es ihm etwa gleichgültig, dass wir die nötigen Beweise für seine Verhaftung in der Hand hielten? Er wandte seinen Blick nicht von Frau Krämer, als wenn er versuchte ihre Gedanken zu lesen. Als wenn er sie ohne wortlos anflehte nicht weiter zu fragen.

„Vielleicht ist es deine letzte Chance einen Funken Menschlichkeit zu bewahren“, fuhr sie mit leiser Stimme fort und berührte für einen kurzen Augenblick seinen Arm. Ihre Worte und die kleine Geste mussten ihn so aus der Fassung gebracht haben, dass seinen Atem für einen Moment stockte um wenig später in einem Laut der Verzweiflung seinen Mund zu verlassen.
 

„Warum hast du das getan?“, fragte sie erneut in ruhiger, aber auch ernster Stimme. Er schloss seine Augen und atmete langsam durch.

Als seine Lider sich wieder öffneten, sah ich so viel Wärme in ihnen, dass mich ein eiskalter Schauer überfiel und ich schlucken musste. Eine einzelne Träne lief seine Wange hinab, als er langsam die Worte in seinem Mund sammelte.

„Weil...“, begann er mit leiser Stimme, musste kurz um Fassung kämpfen. „Weil ich dich liebe und ich Angst hatte dich zu verlieren.“
 

Alex sah für einen Augenblick zu mir. Wir hatten unerwarteter Weise bereits unser Geständnis und Frau Krämer ihre Wahrheit bekommen. Für uns war der Fall gelöst und eigentlich sollte ich doch erleichtert sein, endlich Gewissheit zu haben.

Aber diese Szene vor mir traf mich so tief, wie es nur ein heftiger Hieb in die Magengrube konnte. Dieser arrogante und überhebliche Mann liebte Frau Krämer wirklich. Niemand konnte so viel Gefühl schauspielern. Egal welche Schönheiten er vorher im Bett gehabt hat und wie viel Jahre die beiden trennten, diese Frau hatte sich so tief in sein Herz gegraben, dass er für die Zukunft mir ihr - bereit gewesen war einen Mord zu begehen.
 

Meine Brust zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Wie verzweifelt musste ein Mensch sein um nur diesen Ausweg zu sehen. Ein Mensch dessen Beruf es war Leben zu retten.

Ich wusste, dass die Sache hier nicht mit dem Vorfall auf der Brücke zu vergleichen war, aber ich musste in diesem Moment an Fritz denken. Daran, wie er mir gerade noch versicherte, dass alles gut werden würde und ich wenige Augenblicke später mit dem Wagen in die Tiefe stürzte. Mein Kopf formte Bilder von dem Moment indem sich Fritz mit dem Messer über Clemens beugte. War er seinen Instinkten gefolgt oder bei klarem Verstand gewesen, als er Clemens den Schlüssel aus dem Körper schnitt und von der Brücke ins kalte Wasser sprang um mich zu retten. Ich verstand nicht warum gerade jetzt mein Kopf so genaue Bilder entstehen ließ, aber es raubte mir den Atem und ich hatte Mühe Luft zu kriegen. Mit meinen Händen rieb ich meinen Brustkorb und versuchte das Gefühl loszuwerden, konnte es aber einfach nicht abschütteln.
 

Die nächsten Minuten verliefen wie im Film. Herr Dr. Schneider wurde von unseren Kollegen abgeführt, Vivienne kümmerte sich um Frau Krämer, die bitterlich weinte und wir gingen nach einer Weile wieder zu unserem Auto um uns auf den Weg ins Revier zu machen.

Alex fuhr durch die grauen, nassen Straßen von Berlin. Es regnete immer noch und es schien einfach nicht Tag werden zu wollen. Schweigend saß ich neben ihm und blickte aus dem Fenster, sah an den Leuten vorbei, durch Gebäude durch. Sie verschwammen vor meinen Augen.
 

„Alles okay?“, fragte Alex nach einer Weile. Die ungewohnte Stille musste ihm zu schaffen machen.

„Ja“, sagte ich erschöpft und blickte weiterhin gedankenverloren aus dem Fenster blickte. „Der Fall war mir gerade nur irgendwie zu viel.“

„Zumindest haben wir das Geständnis. Das erspart uns ein weiteres Verhör. Wenn die DNA Analyse ihren Rest tut, sind wir mit allem durch. Dann können wir nächste Woche in aller Ruhe die Protokolle schreiben und haben endlich mal ein Wochenende frei. Caroline wird sich freuen.“ Ich gab nur einen zustimmenden Laut von mir und blickte weiter aus dem Fenster.

„Essen wir unterwegs noch einen Happen? Ich kippe gleich um vor Hunger.“ Wieder gab ich nur einen undeutlichen Laut als Zustimmung von mir ohne meinen Blick vom Fenster abzuwenden.
 

Ich sah im Spiegelbild des Fensters wie mich Alex beunruhigt ansah. Er konnte sich vermutlich genauso wenig erklären, warum ich so drauf war nach einem gelösten Fall. Zufrieden und erleichtert sollte ich sein. Aber irgendetwas trübte meine Stimmung und ließ mein Puls schneller schlagen, während meine Faust sich in meinem Shirt festkrallte.

„Endlich Wochenende“, hört ich Alex stöhnen, als er ins Büro kam. Ich ging wenige Schritte hinter ihm. „Fritz“, rief er fröhlich aus, noch bevor ich die Tür erreicht hatte. „Schmeckt dir Zuhause dein Kaffee nicht oder warum lungerst du ständig hier rum?“

Ich stockte vorm Eingang zum Büro. Meine Beine waren wie angewurzelt. Ich hatte nicht erwartet Fritz hier anzutreffen. Ich hörte ihn lachen. Die beiden begrüßten sich, wie richtige Männer halt – wie beste Freunde.
 

„Nach deiner Miene zu urteilen, scheint ihr den Fall ja erledigt zu haben.“

„Ja“, stimmte Alex zufrieden zu. „Die Kollegin hatte mal wieder recht mit ihrer Vermutung. Ist doch so, oder Jose-.. Josephine? Wo ist die denn jetzt schon wieder? Wenn man sich einmal nur umdreht...“, hörte ich ihn. „Josephine“, rief Alex erneut. Ich konnte seine Schritte hören.

Bevor er mich wie angewurzelt vor der Tür stehen sehen konnte, betrat ich das Zimmer und setzte ein möglichst sorgenfreies Lächeln auf.

„Ja, Alex. Die Kollegin hat wie immer Recht. Ich frage mich wirklich wie ihr vorher euer Fälle gelöst habt.“ Er verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge.

„Du scheinst ja wieder wohl auf zu sein.“

„Mir ging´s nie schlecht“, entgegnete ich und verzog mein Gesicht herausfordernd. Ich blieb am Eingang stehen und lehnte mich gegen die Wand, versuchte den Blickkontakt mit Fritz möglichst zu meiden. Seine Blicke konnte ich spüren und irgendwie machte mich das ungewohnt nervös - heute mehr als sonst.
 

„Hallo? Du hast mich im Auto angeschwiegen “, sagte er zu mir als wenn es etwas unvorstellbares wäre, drehte sich dann aber wieder zu seinen Kollegen um. „Ich kann das an einer Hand abzählen, wann das schon mal passiert ist. Und immer war was im Busch.“

Waldi nickte zustimmend. Karin sah mich etwas besorgt an. „Ist denn jetzt alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie mich.

„Jaaha“, stöhne ich frustriert, beruhigte mich aber augenblicklich wieder. „Es hat mich nur gewurmt, dass ich nicht mit allen Vermutungen richtig gelegen habe“, sagte ich Karin und zuckte mit den Schultern, bevor ich meine Hände vor der Brust verschränkte.

„Wieso?“, fragte Fritz.

Alex drehte sich wieder zu ihm. „Josephine hat den Täter für so ´nen Golddigger gehalten. Aber es stellte sich dann doch etwas anderes heraus.“ Alex dachte einen Moment nach. „Aber deswegen gleich jemanden umbringen? Vielleicht hat das Opfer ihn ja erpresst. Vielleicht wollte sie es Frau Krämer erzählen und er hatte Angst, dass sich die beiden deswegen trennen würden. Ich meine, niemand verkraftet so leicht eine Affäre...“
 

Während Alex und die anderen weiter über das mögliche Motiv sinnierten, hielt ich mich wieder zurück und lauschte nur. Ich wollte gerne Abstand zu diesem Thema gewinnen. Herr Dr. Schneider war Arzt. Und eigentlich setzten sich doch Ärzte für das Leben und die Sicherheit der Menschen ein, oder? Das sollte ein Polizist auch tun. Ich meine, deswegen waren wir doch Polizisten geworden. Und trotzdem hatte Fritz jemanden getötet. Ich hatte ihn nie gefragt warum. Und jetzt nagte diese Frage an mir.
 

Mein Blick verlor sich ein wenig und bevor ich es wusste, hefteten sich meine Augen an Fritz fest. Ich verlor mich wieder in meinen Gedanken und merkte nicht, als sich zwei Augen auf mich richteten. Es waren etliche Momente vergangen, bis ich schließlich seine Blicke wahrnahm. Hatte ich ihn die ganze Zeit angestarrt ohne es zu merken? Er sah mich fragend, aber auch besorgt an.

Ich blinzelte und sah weg. Dann räusperte ich mich und murmelte was wie `Ich hol mir mal einen Kaffee.´ und war aus dem Zimmer verschwunden.

Am Kaffeeautomaten atmete ich tief durch und ließ mir Zeit. Die Frage brannte mir auf der Zunge. Aber war die Zeit nicht schon längst überschritten, ihm die Frage zu stellen? Mit einer vollen Kaffeetasse begab ich mich nach einer Weile wieder zurück ins Büro.
 

Es war ganz ruhig. Nur Karins Stimme drang durch die offene Tür in den Flur. Sie musste wohl telefonieren. Hoffentlich war es kein neuer Fall. Alex und ich hatten übers Wochenende Bereitschaft. Caroline schien Pläne mit ihm und den Kindern gemacht zu haben.

„Ja, natürlich“, hörte ich sie sagen. „Werde ich ihr ausrichten... Ja, Ihnen auch dann später ein schönen Feierabend. Wiederhören.“

Als ich den Raum betrat legte Karin gerade auf. Fritz sah sie angespannt an und Ewald und Alex tuschelten sich was zu.

„Was ist denn los?“, fragte ich. Karin antwortete nicht und schrieb ihren Zettel zu Ende. Auch die anderen sagten nichts. Fritz sah mich düster an. Ich versuchte mich auf Karin zu konzentrieren.

„Kaaarin?“, harkte ich nach. „Wer war das denn?“ Sie legte den Stift beiseite und hielt den Zettel hoch. Der war anscheinend für mich.

„Hier“, sagte sie nur und wedelte mit dem Zettel rum. Ich ging zu ihrem Schreibtisch und nahm den Zettel entgegen. „Das war Herr Altenburg“, sagte sie in einem seltsamen Tonfall. „Du hast gestern Abend dein Handy bei ihm vergessen. Er hat es gerade gefunden.“
 

Ich hatte mein Handy natürlich gestern Abend schon gesucht und war froh, dass jemand es gefunden hatte. Aber musste es ausgerechnet Herr Altenburg sein? `Mein Handy bei ihm vergessen...´ Wie sich das anhörte und wie sie es betonte. Es klang eine leichte Unterstellung in ihrem Ton nach.

„Er meinte, du kannst es dir heute Abend nach Feierabend bei ihm abholen. Die Adresse und seine Nummer stehen auf dem Zettel. Er ist noch unterwegs, könnte es dir aber auch vorbei bringen, falls es heute bei dir wieder spät wird. Du sollst dann anrufen.“

Ich nickte. „Danke Karin.“
 

Ich starrte eine Weile die Adresse auf dem Zettel an. Keine Ahnung, wo das sein sollte. Aber hatte er nicht gesagt, dass er nicht weit von hier wohnen würde? Ich hörte, dass Karin sich räusperte, als ich mich schon wieder von ihr wegdrehen wollte. Sie sah mich verstohlen von der Seite an.

„Was denn?“, fragte ich sie, musste aufpassen, dass ich nicht genervt klang.

„Sag mal, Josephine, was hast du denn gestern Abend mit ihm gemacht? Ich meine, er hat dich sogar von der Arbeit abgeholt. Das sah ja fast aus wie ein Date.“

Ich sah mich im Raum um. Allen lag wohl die gleiche Frage auf der Zunge.

„Eh, Leute. Ehrlich?“, fragte ich fassungslos und zog fragend meine Schultern hoch, schüttelte aber meinen Kopf, als niemand was erwiderte.

„Ich bitte euch, das war KEIN Date“, sagte ich mit Nachdruck.

„Wir haben uns ja nur gewundert. Ich meine, er ist immerhin der Chefermittler.“

„Ja, genau. Wunderbar erkannt, Karin. Und genau deswegen würde mir nie einfallen mich mit ihm ernsthaft zu verabreden. Aber das scheinen hier ja alle anscheinend anders zu sehen.“

Schweigen.

Alex sah mich an und deutete mit seinem Kopf auf den Zettel in der Hand. „Fährst du denn nachher zu diesem Chefermittler?“

„Natürlich. Ich brauche ja mein Handy. Und ich kann doch nicht erwarten, dass er es mir bringt. Ich werde nach Feierabend hinfahren.“ Dann sah ich wieder auf den Zettel und sah mir die Adresse an. „Wo das auch immer sein mag“, murmelte ich.

„Ich kann dir eine Verbindung raussuchen, wenn du magst“, bot mir Karin an. Ich wollte schon zustimmen, als sich Fritz einmischte.
 

„Ich fahr dich“, sagte er. Ich blinzelte erstaunt und sah ihn an.

„Was...?“, fragte ich.

„Ich fahr dich“, wiederholte er, sah mich aber nicht weiter an. Als wenn es eine Nebensächlichkeit wäre, verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster. „Bei dem Wetter bin ich eh mit dem Auto da. Und ich habe wenigstens ein Navigationssystem.“

Ich wusste nicht so recht, was ich dazu sagen sollte. Er hatte mir so was nie angeboten. Klar, einmal hatte er mich nach Hause gefahren. Aber da war ich vorher auch gerade ohnmächtig geworden. Außerdem war es vielleicht nicht so ratsam, wenn die beiden aufeinander trafen. Die Stimmung zwischen den beiden war immer noch viel zu angespannt. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich heute mit Fritz allein sein wollte. Irgendwas lag in der Luft, aber ich konnte es einfach nicht fassen.
 

Als ich ihn immer noch anstarrte ohne ihm eine Antwort zu geben, kam unser Chef ins Büro.

„Fritz? Ich wäre dann jetzt soweit.“ Fritz stieß sich leicht vom Tisch ab um zu ihm zu gehen. Neben mir hielt er kurz an und legte mir seine Hand auf die Schulter. Sie war angenehm warm. Er drückte einmal leicht zu, bevor er sagte: „Du wartest auf mich, ok Bielefeld?“

„Wir haben sowieso gleich Nahkampftraining“, mischte sich Alex ein bevor ich was sagen konnte. „Bis wir damit fertig sind, wirst du wohl alles mit dem Chef geklärt haben, oder?“

Fritz stimmte Alex zu, sah zu mir. „Dann bis später“, sagte er mit einem schrägen Lächeln, ließ meine Schulter los. Im nächsten Moment schnappte er sich meinen Zettel, den ich locker in meiner Hand gehalten hatte.

„Eh“, protestierte ich.

Sein Grinsen wurde breiter. „Nur zur Sicherheit“, sagte er und war aus dem Zimmer verschwunden.
 

Soviel zum Thema Entscheidungsfreiheiten in diesem Team. Ich sah ihm über die Schulter nach. Ich blieb noch eine Weile so stehen. Den Kaffee hielt ich noch immer in der Hand, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
 

***
 

Unser Coach erklärte gerade die nächste Übung. Ich entspannte mich beim Training. Es tat gut mit Alex zu trainieren, er war ein angenehmer Trainingspartner. Generell war es einfach sehr angenehm mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war die ausgleichende Kraft in unserem Team.

Wenn Fritz und ich mal wieder hitzige Diskussionen führten, brachte er uns wieder runter. Nur selten vergriff er sich im Ton. Meistens erst, wenn Fritz und ich uns mal wieder wie streitsüchtige Schulkinder benahmen. Er war ja selber schon Vater, musste damit also wohl Erfahrung haben.

Ich landete gerade auf der Matte als die Tür aufging. Alex half mir beim aufstehen. Ich beobachtete, wie Fritz dem Trainer zunickte `Ich gucke heute nur zu´ sagte und sich an den Rand setzte.

Anfangs sah unser Coach etwas überrascht aus, stimmte dann aber zu. Er war sich wohl nicht sicher, ob Fritz hier sein durfte, immerhin war er vom Dienst vorübergehend suspendiert.
 

Dieses Mal war Alex dran auf der Matte zu landen. Er lächelte mich an, als er meine Hand nahm, die ich ihm zum Aufstehen anbot.

„Wirklich gut, Bielefeld. Bei dir möchte man auch kein Verbrecher sein. Entweder du schießt mir ins Bein oder knallst mich auf den Boden wie eben. Ich weiß nicht, was mehr wehtun würde.“

„Ich hätte auch noch die Methode meinen Gegner ohnmächtig zu quatschen“, witzelte ich.

„Das wäre zu grausam“, entgegnete Alex mit hochgezogener Augenbraue. Ich verdrehte meine Augen. Er versuchte nett zu mir zu sein, weil heute nicht wirklich mein Tag war. Ich wusste das sehr zu schätzen. Auch unsere Beziehung war anfangs problematisch, aber langsam glätteten sich die Wogen - auch zwischen ihm und mir.

Ich ging wieder in Position. Eine Wiederholung würde noch folgen. Ich sah im Augenwinkel wie Fritz uns beobachtete. Das bereitete mir Unbehagen. Ich versuchte das Gefühl abzuschütteln und wiederholte mit Alex noch einmal die Übung.
 

„Ok... Partnertausch, Leute!“, rief der Coach. Jeder suchte sich einen neuen Partner. Alex klopfte mir noch einmal auf die Schulter und schenkte mir ein schiefes Lächeln.

„Nimm dein nächstes Opfer bitte nicht zu hart ran. Wir brauchen alle Leute hier“, sagte er.

„Ist gut, Alex“, antwortete ich gespielt ernst.

Sebastian, ein junger Kommissar, der nur wenige Monate vor mir auf diesem Revier angefangen hatte, kam auf mich zu. Für sein Alter hatte er es weit gebracht. Mit Ende zwanzig schon Kommissar zu sein, bedeutete viel Ehrgeiz an den Tag gelegt zu haben.

Er lächelte mich an. „Hey, Josephine“, begrüßte er mich. Alex hatte sich den Partner von Sebastian geschnappt.

„Hey“, lächelte ich zurück.
 

Sebastian baute sich vor mir auf. Ich musste ein ganzes Stück nach oben gucken. Er war groß und kräftig gebaut, hatte breite Schultern. Trotzdem war er wendig und flink. Ich hatte ihn schon öfter beim Training beobachtet. Er hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich. Und ihn wollte man wirklich nicht als ernsthaften Gegner haben.

„Willst du zuerst?“, fragte er vorsichtig.

„Fang du ruhig an“, erwiderte ich.

Er grinste und zog die Augenbraun hoch. „Aber nicht so eine Nummer wie bei Fritz und dir damals, ok?“, witzelt er. Ich rollte meine Augen und sah ihn kopfschüttelnd an. Nach über fünf Monaten hing mir die Auseinandersetzung mit Fritz beim Kampftraining immer noch nach.

„Sollte ja kein Thema werden, wenn du mich richtig abwehrst“, sagte ich herausfordernd. Er stimmte mir zu und wir beide gingen in Position.
 

Mein Angriff erfolgte schnell. Er wehrte ihn sicher, aber sehr behutsam ab. Mir blieb also Zeit um noch gegenzulenken. Das Resultat war, dass wir beide etwas strauchelten und auf dem Boden landeten. Dem Ergebnis tat es trotzdem kein Abbruch. Er hatte mich überwältigt und ich lag unter ihm. Das Wort zerquetscht würde es wohl eher treffen, dachte ich gequält.

Er blieb ungeniert noch auf mir liegen, stützte aber zumindest ein wenig sein Gewicht mit seinen Händen ab und grinste mich frech an. „Da hättest du mich ja fast gehabt, Josephine. Geht´s dir gut?“

„Sobald du von mir runter gehst, werde ich vermutlich fähig sein wieder zu atmen“, antwortete ich. Er musste lachen, richtete sich auf und zog mich gleich mit nach oben.
 

Ich brauchte einen Moment um zu Atem zu kommen, er stand bereits wieder in Position. Wir hatten die Seiten gewechselt und ich konnte Fritz sehen. Er saß nicht mehr am Rand wie vor wenigen Minuten, er stand und hatte seine Arme verschränkt. Seine Kieferknochen arbeiteten und die Augen waren verengt, als er seinen Blick auf Sebastian heftete. Verwundert sah ich zwischen den beiden hin und her. Hatten die beiden etwas ein Problem miteinander? Das war mir noch nie aufgefallen.

„Jetzt bin ich dran“, sagte Sebastian und holte mich wieder aus meinen Gedanken.

„Denn jetzt aber mal richtig“, sagte ich herausfordernd und spielte auf die betonte Zurückhaltung seinerseits an. Vielleicht half es ein wenig an seinem Ego zu kratzen. Ich nahm meine Position ein und wollte mich bereit machen, als mir wieder der eindringliche Blick von Fritz auffiel. Dieses Mal fixierte er mich mit den Augen.

Diese eine Sekunde der Unaufmerksamkeit reichte, dass ich den Angriff von Sebastian zu spät kommen sah. Er schien selber überrascht zu sein auf so wenig Abwehr zu stoßen, hatte aber zu viel Kraft und Schwung schon drin, um aufzuhören.
 

Ich landete hart auf der Matte und es drückte mir die Luft aus der Lunge. Ich weitete meine Augen, als sich der Schmerz durch meinen Körper zog. Auch seine Augen weiteten sich, als er sah, wie ich auf die Matte knallte. Er wollte sich gerade über mich beugen, als Fritz auf uns zu gerannt kam.

Sebastian konnte sich noch soweit halten, dass er nicht selber auf der Matte landete, als Fritz ihn mit voller Wucht anging.

„Hast du´n Rad ab?“, brüllte Fritz Sebastian an.

„Ich wollte nicht...“, begann er entschuldigend und sah von mir zu Fritz. Der Arme war etwas überfordert. Ich wusste, dass es nicht seine Absicht gewesen war. Ich war nicht aufmerksam gewesen. Also war es eigentlich meine Schuld. Fritz ging mit drohender Geste auf Sebastian zu. Mir fehlte noch die Luft, um was sagen zu können. Daher war ich dankbar, dass Alex dazwischen ging.
 

„Fritz ist gut. Beruhig dich“, sagte Alex, als er ihn ein Stück nach hinten schob. Fritz Nasenflügel waren gebläht und er atmete schwer. Sein Gesicht war leicht gerötet.

Als Alex noch mit dem Temperament von Fritz zu kämpfen hatte, richtete ich mich langsam auf. Sebastian wollte mir helfen und kam auf mich zu, stoppte aber als Fritz ihn erneut anbrüllte.

„Fass sie nicht an.“

„Jetzt beruhig dich mal, Fritz“, sagte ich noch etwas atemlos. Der Trainer kam mir zu Hilfe und richtete mich auf.

„Alles klar?“, wollte er wissen.

Ich nickte. „Ja, keine Sorge. Hab nur den Moment der Abwehr verpasst. Sebastian kann nichts dafür.“

„Erhol dich erst mal am Rand, ok?“ Wieder nickte ich und ging langsam an den Rand. Ich beugte mich ein wenig vor und hielt meine Rippen mit meinen Händen umfangen. Sie schmerzten, aber es dürfte nichts Schlimmeres passiert sein.

„Alles klar mit dir?“, wollte Alex wissen.

„Ja, ich denke schon“, entgegnete ich mit einem schwachen Lächeln.
 

Fritz schob Alex beiseite und kam auf mich zu. Wenige Millimeter vor mir blieb er stehen. Seine Augen waren schmal. Ich konnte seine Kieferknochen wieder arbeiten sehen. Das tat er immer wenn er angespannt oder sauer war.

„Warum kapierst du nicht, dass du nur diesen einen Körper hast, Bielefeld?“, fragte er mich scharf, versuchte aber für seine Begriffe leise zu sprechen. „Hör auf dich ständig mit Männern messen zu wollen. Willst du mit 40 ein Krüppel sein?“

„Fritz, also ehrlich. Nun übertreib aber mal nicht. Wenn ich draußen im Einsatz bin, ist den Verbrechern das auch egal, dass ich ne Frau bin. Da kann ich hier doch nicht geschont werden.“
 

„Genau das ist das Problem“, schnaubte er zurück, wollte noch mehr sagen, verkniff es sich dann aber. Frustriert atmete er aus, als er sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. Dann winkte er ab. „Vergiss es“, fluchte er und verschwand aus dem Trainingsbereich.

„Was hat er denn?“, wandte ich mich an Alex. Er sah Fritz kopfschüttelnd hinterher. Er steckte seine Hände in die Hosentasche während er genervt ausatmete.

„Josephine, wenn ich ein Orakel wäre, würde ich nicht bei der Polizei arbeiten.“ Jetzt schnaubte auch ich frustriert. Na super, dachte ich, haben die Kollegen für die nächsten 5 Monate wieder was Neues zu Tuscheln.

Für den Rest des Trainings blieb ich Zuschauer. Alex arbeitete mit dem Coach zusammen. Ich rieb mir die unteren linken Rippen, als ich ihn bei den Übungen beobachtete. Im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass auch Sebastian mich immer wieder entschuldigend ansah. Ich war unglücklich seitlich aufgeprallt und es tat länger weh, als ich erwartet hatte. Ob sich ein Hämatom bilden würde, konnte ich gewiss erst in den nächsten Tagen feststellen. Aber ich hatte schon andere Verletzungen überstanden.
 

Nachdem das Training beendet war und wir uns wieder umgezogen hatten, ging ich ins Büro um meine Tasche und Jacke zu holen. Ich hoffte, dass Fritz mir zumindest den Zettel auf meinen Tisch gelegt hatte. Er wusste, dass ich mein Handy brauchte.

Aber als ich ins Büro kam, war dort nicht nur der Zettel. Fritz hatte sich auf meinem Stuhl zurückgelehnt und schaute aus dem Fenster. Er schien in Gedanken zu sein, denn er hatte mich bis jetzt nicht bemerkt. Ich ging in den Raum und stellte mich etwas seitlich von ihm, lehnte mich an den Tisch, während ich mich mit den Händen abstützte. Noch immer sah er aus dem Fenster, obwohl er mich sicherlich schon bemerkt hatte.

War er sauer auf mich? Bisher hatte er mich wenigstens immer angeschrien oder zumindest angeschnauzt, aber dieses Schweigen verunsicherte mich mehr als alles andere.
 

„Fritz“, sagte ich vorsichtig. Erst jetzt schien er mich wahrzunehmen. Er drehte seinen Kopf zu mir. Kein Lächeln, kein wütendes Gesicht. Einfach nichts. Er stand auf und zog sich seine Jacke an.

„Dann können wir ja los“, sagte er neutral.

Ich folgte ihm einige Schritte. Da mir seine Stimmung aber unheimlich war, stoppte ich ihn. Ich hielt ihn am Arm fest und er sah mich an.

„Du musst mich nicht fahren. Wenn du nach Hause willst, dann gib mir einfach den Zettel. Ich nehme ein Taxi.“ Er schüttelte den Kopf und löste meine Hand von seinem Arm.

„Das geht schon klar. Ich habe gesagt ich fahre dich, also fahre ich dich auch.“ Dann setzte er seinen Weg fort und ich folgte ihm wortlos.
 

Auch auf der Fahrt zu Herrn Altenburg sprach er nicht mit mir. Schnell und gekonnt parkte er in der erstbesten Lücke ein. Als er sich abschnallte und gerade seine Tür öffnen wollte, hielt ich ihn wieder am Arm fest.

„Jetzt warte mal“, sagte ich. In dieser Stimmung konnte ich nicht zulassen, dass er Herrn Altenburg gegenüber trat. Er durfte nicht vergessen, dass in seinem Fall noch nichts entschieden war. Wenn er so geladen war wie im Trainingsraum, würde das schwerwiegende Folgen haben können.

„Vielleicht solltest du besser hier warten.“

„Auf keinen Fall“, entgegnete er knapp und sah mich fest an. Ich schloss kurz meine Augen und atmete durch.

„Dann musst du, was auch immer dir über die Leber gelaufen ist, für den Moment erst mal runterschlucken. Wenn du sauer auf mich bist...“

„Ich bin nicht sauer auf dich...“, sagte er wieder knapp. Ich war etwas erleichtert. Aber im gleichen Moment fragte ich mich, warum er sich dann so komisch benahm.

„Was ist denn mit dir los?"

Er rollte die Augen. „Mit mir ist gar nichts los.“

„Fritz“, ermahnte ich ihn. „Das sehe ich aber anders. Herr Altenburg kann noch immer über deinen Fall neue Berichte abliefern. Benimm dich also, wenn wir gleich zu ihm gehen. Es wird eh nicht lange dauern. Ich will doch nur mein Handy holen.“

„Ich glaube nicht, dass er das noch kann“, sagte er etwas leiser.

„Wie meinst du das denn jetzt schon wieder?“, fragte ich verwundert.

Er schüttelte aber nur den Kopf. „Ach komm, ist egal. Lass uns gehen.“

„Mir ist es aber nicht egal, Fritz.“

„Ist ja gut. Hab verstanden. Werde mich benehmen.“

Ich schnaubte. „Das will ich dir auch geraten haben.“ Dann ließ ich ihn aussteigen und folgte ihm.
 

Herr Altenburg wohnte in einem schönen Altbaugebäude. Zumindest sah die Fassade vielversprechend aus. Die Tür stand offen und wir konnten in den Flur treten. Keiner der Klingeln im Erdgeschoss trug den Namen Altenburg. Wir gingen also zur Treppe als hinter uns eine junge Frau auf uns zutrat. Sie trug etliche schwere Einkaufsbeutel.

Fritz bat ihr Hilfe beim Tragen an. Ich zog meine Augenbrauen hoch. Manchmal konnte er ein richtiger Gentleman sein, dachte ich schmunzelnd. Ich nahm ihr auch einen Beutel ab.

„Das ist wirklich sehr freundlich“, lächelte sie mich und Fritz an.

„Das ist doch selbstverständlich“, antwortete ich, als wir ihr folgten.

„Wo müssen Sie denn hin?“, fragte ich sie, nachdem wir das erste Obergeschoss erreicht hatten.

„Ich muss ins zweite Obergeschoss. Wo müssen Sie hin?“

„Wir suchen Herrn Altenburg“, informierte ich sie.

„Falk?“, sagte sie verwundert, drehte sich dann aber zu mir um. Plötzlich strahlte sie mich an. „Sind Sie Josephine Klick?“, fragte sie mich. Verwundert blieb ich kurz stehen, so dass Fritz, der nicht damit rechnete, mich anrempelte. Ich drehte mich entschuldigend um, bevor ich wieder die junge Frau vor mir ansah und mich in Bewegung setzte. Woher wusste sie...
 

„Ja“, antwortete ich etwas unsicher.

„Falk hat mir schon so viel von dir erzählt. Freut mich dich kennen zu lernen“, plauderte sie vor sich her. Sie hatte anscheinend das „Sie“ hinter sich gelassen und duzte mich jetzt fröhlich. Als ich die junge Frau immer noch erstaunt ansah, schlug sie sich mit ihrer freien Hand auf die Stirn.

„Wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Sophia . Sophia Altenburg.“

„Seine Frau?“, fragte Fritz und blickte hinter mir vor.

Erstaunt sah ich von Fritz zu Sophia. War sie wirklich seine Frau? Sie sah noch so jung aus. Sie kicherte bei der Frage von Fritz.
 

Wir waren im zweiten Obergeschoss angekommen. Gerade als sie antworten wollte, öffnete sich die Wohnungstür. Sophia drehte sich zur Tür. Falk Altenburg stand im Türrahmen ohne Anzug, in schlichten modischen Freizeitklamotten. Und es stand ihm! Es machte ihn menschlicher.

„Falk“, begrüßte Sophia Herrn Altenburg und ging auf ihn zu, ergriff seinen Arm und harkte sich ein.

„Guck mal, wen ich dir mitgebracht habe“, sagte sie in einem stolzen Ton. Er lächelte sie an und tätschelte ihren Rücken. Dann wandte er seinen Blick zu uns.

„Ich sehe, dass du schon wieder Leute gefunden hast, die dir die Tüten nach oben tragen, die du in deinem Shoppingrausch ergattert hast. Wie machst du das nur immer wieder?“

Sie zog einen Schmollmund, bevor sie ihm in den Oberarm piekte. „Immerhin sind die Einkäufe dieses Mal allein für dich gewesen. Du kümmerst dich ja nicht um solche Sachen. Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit...“, meckerte sie gespielt beleidigt. Er lachte.
 

Dann löste er sich von ihr und nahm ihr den Beutel ab. Er ging auf mich zu und nahm auch mir den Beutel ab.

„Schön, dass Sie hergefunden haben“, begrüßte er mich und lächelte mich freundlich an. Ich erwiderte sein Lächeln. Auch als er Fritz ansah verhärtete sich sein Blick nicht so, wie bei den anderen Malen. Er wirkte ungewöhnlich entspannt.

„Auch wenn ich SIE hier nicht erwartet habe, Herr Munro. Soll ich Ihnen die Beutel abnehmen?“

„Sagen Sie mir einfach, wo die hin sollen“, entgegnete Fritz, ohne sich sein Gemütszustand von vorhin anmerken zu lassen.
 

Wir folgten Sophia und Herrn Altenburg in den Flur, wo ich mit Sophia stehen blieb. Fritz ging an mir vorbei und folgte Herrn Altenburg in die Küche. Beide kamen nach wenigen Augenblicken wieder in den Flur.

„Schön ist es hier“, ließ ich Sophia wissen.

„Stimmt schon, wenn es nach mir gehen würde, würde es hier noch viel besser aussehen. Aber Falk hält immer alles gerne so schlicht und einfach.“

Klingt doch gut, dachte ich. Aber viele Frauen hatten gerne viele Dekoartikel in der Wohnung.

Fritz hatte sich neben mich gestellt und die Hände in seine Hosentaschen gesteckt, sah sich ebenfalls ein wenig um. Ich blickte ihn an. Er wirkte deutlich entspannter als noch vor wenigen Momenten. Das beruhigte mich.

Herr Altenburg ging auf Sophia zu. „Hast du das Handy woanders hingelegt? Ich hatte es doch auf den Küchentisch gelegt.“

„Ja, habe ich. Ich hol es schnell“, lächelte sie ihn an und tätschelte seinen Arm, bevor sie ins nächste Zimmer eilte. Wir standen uns drei einen Moment schweigend gegenüber.

„Sie haben eine nette Frau“, sagte Fritz.

Herr Altenburg sah Fritz einen Moment erstaunt an, bevor er kurz in die Richtung sah, in die Sophia verschwunden war.

„Nein, nein“, sagte er amüsiert. „Da verstehen Sie was falsch. Das ist meine jüngere Schwester.“

Also doch seine Schwester. Ich hatte mir schon so was ähnliches gedacht. Die beiden sahen sich einfach zu ähnlich.
 

„Josephine?“, rief mich Sophia. Ich ging zur Tür und steckte meinen Kopf ins Zimmer. Ich trug noch Schuhe und wollte nicht einfach so durch die Wohnung gehen.

„Ja?“, fragte ich durch die Tür.

„Gehört dir auch das Ladegerät? Falk hatte es in der Küche in die Steckdose zum Aufladen gesteckt.“

„Nein, nur das Handy.“ Sie brachte es mir. „Danke“, lächelte ich sie an.

Als ich mich umdrehte, musste ich feststellen, dass die entspannte Stimmung gekippt war. Beide Männer schwiegen sich an. Fritz stand mit verschränkten Armen im Flur und sah mich genervt an. Hatte ich was verpasst?
 

„Danke fürs Aufladen“, sagte ich und sah Herrn Altenburg an.

„Selbstverständlich“, gab er zurück und schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Ich gehe zwar nicht davon aus, dass sie so versessen auf Ihr Handy sind wie meine Schwester, aber ich dachte für den Rückweg wäre es bestimmt sicherer, wenn es geladen wäre.“ Das war sehr aufmerksam von ihm, dachte ich. Fritz räusperte sich, sah mich noch immer an.

„Können wir dann jetzt los?“ Auf einmal hatte er es eilig wieder zu verschwinden. Immerhin war der Zweck erfüll.

„Dann vielen Dank noch mal, dass Sie auf dem Revier angerufen haben.“ Wir drehten uns zur Tür.

„Ich nehme an, Sie brauchen niemanden, der Sie nach Hause fährt?“ Ich sah Fritz nach der Frage von Herrn Altenburg an. Darüber hatten wir gar nicht gesprochen. Fritz hatte nur gesagt, dass er mich hinfahren würde.
 

Er sah mich mit diesem Ist-das-sein-Ernst-Blick an, wandte sich dann an Herrn Altenburg.

„Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen. Ich war heute eh auf dem Revier, da war ich so frei Frau Klick die Fahrt zu Ihnen und nach Hause anzubieten“, Fritz sagte es etwas gepresst.

Zeit zu gehen, dachte ich. Aber Herr Altenburg hatte anscheinend noch was anderes zu sagen. Er wandte sich an mich.

„Ich gehe davon aus, dass Herr Munro Sie informiert hat, dass ich heute meinen Abschlussbericht mit allen weiteren Informationen an die Staatsanwaltschaft übergeben habe?“

Ich war erstaunt über die Nachricht und es machte mich ebenfalls nervös. Das war also die letzte Phase der Ermittlungen? Als nächstes würden wir die Entscheidung mitgeteilt bekommen?

Ich sah zu Fritz. Warum hatte er mir nicht davon erzählt? War er deswegen nach dem Gespräch mit dem Chef so seltsam gewesen?

„Herr Altenburg, ich verstehe nicht, warum Sie mit meiner Kollegin über meinen Fall reden und nicht mit mir“, sagte Fritz jetzt sichtlich genervt.

Herr Altenburg zuckte mit den Schultern. „Sie scheinen so wenig Interesse daran zu zeigen, Herr Munro - ganz im Gegensatz zu Ihrer Kollegin. Ich dachte mir, dass sie bestimmt wissen wollte, dass der Fall jetzt nicht mehr in meinen Händen liegt.“ Damit hatte er recht. Natürlich wollte ich das wissen. Wann hatte Fritz vor mir davon zu erzählen?
 

„Dann haben Sie ja jetzt keinen Grund mehr meine Kollegin weiter zu behelligen“, entgegnete Fritz ihm. Ich konnte sehen, wie seine Kieferknochen wieder arbeiteten. Jetzt war es wirklich höchste Zeit zu gehen. Warum er mir nichts gesagt hatte, dass konnte ich immer noch später mit ihm klären.

„Danke für die Info, Herr Altenburg“, mischte ich mich ein. „Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, Herr Munro hat heute bestimmt noch andere Pläne. Ich will ihn nicht länger aufhalten und Sie auch nicht.“

Ich wandte mich von ihm ab und schob Fritz aus der Tür.

„Frau Klick“, rief mir Herr Altenburg noch einmal hinterher. Ich drehte mich etwas widerwillig noch einmal zu ihm um. „Wenn der Fall vorbei ist“, begann er, stockte dann aber kurz. „Ich würde dann gerne mit Ihnen über etwas reden.“ Ich sah ihn erstaunt an. Er wollte mit mir nach dem Fall über etwas reden? Was konnte das wohl sein? Als ich Fritz neben mir schnauben hörte, schüttelte ich die Gedanken ab. Zu Herrn Altenburg gewandt antwortete ich: „Alles klar. Sie kennen ja meine Handynummer.“ Ich drehte mich zu Sophia, die anscheinend die Anspannung spüren musste. Sie schaute etwas entschuldigend.

„Schönen Abend noch“, sagte ich.

„Ja, danke. Euch auch“, erwiderte sie. Dann schob ich Fritz die Treppe vor mir runter.
 

Als wir im Auto saßen atmete ich durch. Das war ja noch einigermaßen gut gegangen, dachte ich. Ich schnallte mich langsam an, als ich Fritz ansah. Er rasterte seinen Sicherheitsgurt grob in die Verankerung und umfasste das Lenkrad für einige Momente mit einem festen Griff. Ich konnte die Anspannung in ihm noch immer spüren. Was war der Auslöser? Wollte er nicht, dass ich wusste, dass der Bericht jetzt der Staatsanwaltschaft vorgelegt wurde?
 

Er sagte nichts. Nachdem er sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, ließ er den Motor an und fuhr los. Hoffentlich waren heute Abend nirgendwo Blitzer aufgestellt. Er fuhr zügig.

„Fritz“, begann ich „Fahr doch nicht so schnell.“ Er antwortete nicht, drosselte aber ein wenig die Geschwindigkeit. Trotzdem war er für die Straßenverhältnisse immer noch zu schnell unterwegs. Wir waren halbwegs aus der Innenstadt raus. Es regnete nicht mehr, aber die Straßen waren immer noch nass.

Für Kommunikation war er anscheinend im Moment nicht zu haben. Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und sah ihn eine Weile an. Ich fragte mich wirklich, was in seinem Kopf vor sich ging. Das Lenkrad hielt er noch immer fest umschlossen.
 

„Was?“, fragte er genervt, als er kurz zu mir rüber sah. Ich blinzelte und blickte wieder nach vorne.

Die Frage, die mir schon seit dem Geständnis von Herrn Dr. Schneider auf der Zunge lag, schlich sich wieder in meinen Kopf.

„Wenn du was fragen willst, dann mach es und starr mich nicht die ganze Zeit so an“, schnauzte er erneut. Bei dieser Stimmung wäre es gewiss nicht der richtige Zeitpunkt ihm die Frage zu stellen. Aber wann wäre schon der richtige Augenblick dafür? Nach kurzem Zögern sah ich ihn wieder an.

„Warum hast du mir nicht erzählt, dass deine Akte jetzt bei der Staatsanwaltschaft liegt? Wolltest du nicht, dass ich das wusste?“, fragte ich ihn.

„Das ist doch quatsch“, sagte er abwehrend. „Ich hätte dir das schon noch erzählt.“

Ich schüttelte meinen Kopf. Ich verstand ihn einfach nicht. „Wenn du mich mehr einbeziehen würdest, müsste ich vielleicht nicht ständig darauf warten, dass Herr Altenburg mir Informationen zukommen lässt.“

Er schnaubte bei diesem Name. „Und wenn du aufhören würdest dich ständig in diesen Fall einzumischen, würde dieser Typ vielleicht auch endlich aufhören dir ständig hinterher zu laufen. Als wenn das dem Fall helfen würde, wenn du ihn triffst.“
 

Ich sah ihn verwirrt an. „Was hat das denn jetzt damit wieder zu tun? Du kannst froh sein, dass er sich um deinen Fall gekümmert hat. Es hätte dich auch schlimmer erwischen können.“ Er antwortete nicht darauf, schwieg mich an.

„Warum hast du mich gerettet?“ Da. Jetzt hatte ich die Frage doch gestellt. Ich hatte es nicht geplant, aber sie war einfach so aus meinem Mund gekommen.

Wieder sah er mich von der Seite an, bevor er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. Sein Blick drückte Verständnislosigkeit aus.

„Wärst du lieber tot?“, fauchte er mich an. Die Haut über seinen Handknöcheln färbte sich weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad.

„Warum, Fritz?“, fragte ich erneut. Ich konnte sehen, dass er die Augenbrauen verzog, seine Augen verengte und seine Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie. Eine Weile blickte er stur nach vorne bevor er antwortete.

„Ich bin Polizist, ok Bielefeld?“, schnaubte er. „Das ist mein JOB!“

„Das ist alles?“, fragte ich.

„Was willst du denn hören?“, fragte er frustriert.

Ich schwieg als er mich ansah, dann wandte ich meinen Blick von ihm ab. Ich wusste die Antwort selber nicht. Ich war erstaunt wie enttäuscht ich war, dass er das Thema so kurz abgebügelt hatte. Was konnte ich auch von ihm erwarten? Er war nicht der Typ, der zeigte was in ihm vorging. Da waren wir uns wohl ähnlicher als uns lieb war.
 

Wir fuhren eine Weile durch die schummrigen Straßen, ohne dass einer von uns was sagte. Es wurde langsam dunkel. Ich schaute aus dem Fenster und hoffte, dass wir bald am Hof von Viktor ankommen würden. Ich wollte jetzt alleine sein. Der Tag war anstrengend genug. Ich hatte wenig geschlafen und war müde.

„Warum hast du dich gestern mit ihm getroffen?“, fragte mich Fritz ruhig.

Ich schwieg eine Weile, schluckte meinen Ärger runter. Hatte er überhaupt verdient, dass ich auf seine Frage einging. Immerhin hatte auch er auf meine Frage ausweichend geantwortet.

„Wegen DIR“, entgegnete ich jedoch ehrlich. „Warum sollte ich mich sonst mit ihm treffen...“, murmelte ich. Er blickte mich fragend von der Seite an.

„Frau Bremer wollte mit mir reden“, erklärte ich weiter und sah wieder wie die Anspannung in Fritz wuchs. „Und Herr Altenburg hat mich deswegen abgeholt und später nach Hause gefahren.“

„Warum hast du das gemacht?“, fragte er mich.

Ich verdrehte meine Augen. „Was willst du denn hören?“, fragte ich und äffte ihn nach.

Er biss sich auf die Lippen und blickte auf die Straße vor sich, bevor er mich dann wieder ansah.

Ich wollte keinen Streit mehr, also gab ich nach. „Ich dachte, dass ich mit dem Gespräch helfen kann, OK?“, sagte ich schließlich und sah wieder auf die Straße. Mir blickten reflektierende Augen von einem großen Wild entgegen.
 

„Fritz, brems!“, schrie ich aus Reflex. Das Adrenalin schoss durch meine Adern und mein Puls schnellte hoch. Fritz reagierte schnell und trat auf die Bremse. Durch die Nässe verloren die Räder aber ihre Haftung auf der Straße und wir gerieten ins Schleudern.

„Scheiße“, hörte ich Fritz fluchen, als er versuchte den Wagen unter Kontrolle zu bekommen. Wir drehten uns auf der Straße. Ich schloss meine Augen fest und erwartete, dass wir von der Fahrbahn abkommen würden. Aber wir kamen nach einigen Momenten zum Stehen. Mein Atem ging schnell und mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich hatte keinen Aufprall gespürt. Das Wild musste entkommen sein.

„Geht’s dir gut?“, fragte mich Fritz etwas atemlos. Ich öffnete langsam meine Augen und sah ihn an.

„Und dir?“, wollte ich wissen. Er nickte, während er die Straße wieder betrachtete. Vom Wild war nichts mehr zu sehen.

„Das war knapp.“ Ich erwiderte nichts. Auch ihm musste die Pumpe gehen.

Wir hatten Glück, dass uns kein Auto entgegen gekommen war. Wir standen quer auf der Straße und Fritz musste das Auto wieder drehen. Man sollte sich diese Art von Diskussion während einer Autofahrt sparen. Das konnte nicht gut enden. Ich sparte mir also einen Kommentar und schwieg auch für den Rest der Fahrt. Es waren nur noch wenige Minuten bis zum Gehöft. Als wir ankamen, schnallte ich mich ab und öffnete die Beifahrertür.

„Egal was dich gerade beschäftigt, fahre vorsichtig zurück, ok?“, sagte ich und sah ihn besorgt an. Irgendwas ging in seinem Kopf vor sich und offensichtlich brauchte das noch Zeit. Vielleicht war Alex auch einfach der bessere Ansprechpartner als ich. Es tat weh, aber ich würde es akzeptieren.
 

„Josephine“, begann er.

„Nein, Fritz“, unterbrach ich ihn und schüttelte meinen Kopf. „Ich habe schon verstanden. Du willst nicht mit mir darüber reden. Das ist ok. Belassen wir es dabei.“ Ich stieg aus dem Auto, blickte aber noch einmal zu Fritz. Er biss sich auf seine Lippen und starrte nachdenklich geradeaus.

„Gute Nacht, Fritz.“ Etwas widerwillig wandte er sich zu mir, sah mich einen Moment lang an.

„Nacht.“

Im Haus angekommen traf ich auf Viktor, der mich überrascht ansah. „Du bist aber früh hier. Ging es dir wieder nicht gut? Du siehst blass aus.“

“Alles Bestens”, entgegnete ich, bemüht ihn sorglos anzulächeln. Ich ging ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Ich wollte diesen Tag von mir abspülen. Wie musste es Frau Krämer gehen? Hatte sie jemanden an den sie sich wenden konnte? Ich hoffte es.
 

Das war wirklich der beschissenste Freitag der Dreizehnte, den ich seit langem erlebt hatte. Erst die Sache mit Frau Krämer, die wirklich noch an mir nagte, dann das Kampftraining mit Sebastian, dass mich immer noch meine Rippen spüren lies und schließlich der Streit mit Fritz, den schon wieder alle Kollegen mitbekommen hatten. Auch die unnötige Spannung zwischen Herrn Altenburg und Fritz war nervenaufreibend. Ganz zu schweigen von der Diskussion mit ihm im Auto und dem Beinahe-Wildunfall.
 

Ich war enttäuschst, das Fritz und ich anscheinend immer noch nicht normal miteinander reden konnten. Dabei hatte es sich doch in den letzten Wochen so verbessert. War es vielleicht die Anspannung durch die bevorstehende Entscheidung der Staatsanwaltschaft? Ich machte mir wirklich Sorgen und es machte mich nervös nicht zu wissen, wem die Unterlagen von Fritz auf den Tisch gelegt worden waren.
 

Wie lange konnte es dauern bis eine Entscheidung getroffen wurde? Wie lange mussten wir warten bis wir wussten, wie es mit Fritz weiter geht? Ich spürte, dass dieses Thema am gesamten Team nagte und alle angespannt waren. Keiner wollte Fritz verlieren.

Ich stieg aus der Dusche und ging in mein Zimmer. Als ich mich ins Bett legte, war es nicht mal neun Uhr. Aber ich war erschöpft vom Tag, wollte einfach meine Augen schließen und schlafen.

Gedankenverloren starrte ich auf das Blatt Papier vor mir. Ich musste den selben Satz mindestens schon fünf Mal gelesen haben. In den letzten Tagen war es schwer für mich, mich zu konzentrieren. Es lag kein neuer Fall an und wir hatte Zeit für die Ablage und viel Zeit um nachzudenken.
 

„Josephine“, unterbrach Alex meine Gedanken. „Kannst du mir noch mal die Notizen vom Gespräch mit Frau Krämer geben? Ich bin mit dem Bericht noch nicht durch.“ Ich drehte mich zu ihm um. Er stand im Türrahmen und sah mich an. Alex wirkte irgendwie angespannt, müde und erschöpft. Es konnte nicht an der Arbeit liegen. Unsere Tage waren momentan kurz und wir hatten nur Büroarbeit, die erledigt werden musste. Ihm machte der Fall von Fritz vermutlich genauso zu schaffen wie mir. Ich konnte nur ahnen wie es Fritz gehen musste.
 

Wir hatten seit Freitag nichts gehört. Nicht mal einen Zwischenstand vom Chef. Vermutlich reichte sein Einfluss nicht soweit, dass er Informationen von der Staatsanwaltschaft erhielt. Ich hatte überlegt, ob ich Herrn Altenburg fragen sollte, aber war mir nicht sicher, ob das was bringen würde. Alex sah mich immer noch an. Ich schob die Gedanken beiseite und drehte mich zu der Akte, um ihm das nötige Schriftstück rauszusuchen.

„Hier“, sagte ich, als ich es schließlich gefunden hatte. Er kam auf mich zu und nahm mir das Dokument ab.

„Danke“, erwiderte er und ging langsam wieder in sein Büro, während er bereits die ersten Zeilen las.
 

Ich versuchte mich auf das Schreiben vor mir zu konzentrieren. Herr Dr. Schneider hatte sein Geständnis nicht widerrufen und die zuständigen Kollegen hatten ihn dem Haftrichter vorgeführt. Der Fall war damit für uns geschlossen und ich versuchte das Ganze bestmöglich zu verdrängen und nicht zu sehr an mich ranzulassen. Aber das klappte nicht sonderlich gut, wenn man sich alle Berichte noch mal genau ansehen und alles entsprechend für die Ablage aufarbeiten musste. Und wenn ich nicht gerade an diesen Fall dachte, stellte ich mir Fragen zum Fall von Fritz. Es war ein Teufelskreis.
 

Frustriert ließ ich den Stift auf meinen Schreibtisch fallen und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Ich sah eine Weile aus dem Fenster.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte mich Karin, die an ihrem Monitor vorbei sah und mich beobachtete.

„Hmm“, antwortete ich erschöpft.

„Warum machst du heute nicht einfach früher Feierabend?“, schlug sie mir vor.

Nein. Das Einzige, worauf ich mich heute freute, lag noch vor mir. Es war Mittwoch und ich hatte beschlossen heute Fritz und Alex mal wieder zu Addie zu begleiten. Vielleicht würde es uns allen gut tun, wenn wir uns gemeinsam ein wenig mit Billard spielen und Fußball gucken ablenken konnten. Ich rollte wieder an meinen Schreibtisch mit meinem Stuhl und bemühte mich, für den Rest der Zeit mich auf den Fall zu konzentrieren.

Ich war erleichtert, als später die Tür aufging und Fritz eintrat.

„Bielefeld“, begrüßte er mich. „Heute dabei?“

„Wenn du bereit bist gegen mich beim Billard zu verlieren - dann ja“, gab ich zurück. Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. Ich erwiderte es.

„Geht klar“, stimmte er zu und verschränkte seine Arme während er sich an den Türrahmen lehnte.

Alex kam in den Raum. „Fritz“, sagte er in einem erleichterten Ton. „Meine Rettung. Ich dachte schon, dass der Tag nie enden würde.“ Fritz sah kurz von Alex zu mir und wieder zu seinem Kumpel.

„Hat Bielefeld schon wieder was angestellt?“

„Eh“, protestierte ich. “Warum muss eigentlich immer ich schuld sein?“

Er zuckte mit den Schultern als er mich angrinste. Da ich keine Diskussion wollte, ging ich nicht weiter auf das Thema ein. Ich sollte mir das besser für später aufheben, wenn er wieder behauptete, dass ich beim Billard geschummeln würde.

„Kommt ihr?“, fragte Fritz. Alex ging in sein Büro um den Computer herunterzufahren. Ich tat das Gleiche und wenig später konnten wir die Lichter unserer Büros ausschalten. Ewald und Karin waren bereits vor uns in den Feierabend gestartet.

Wir gingen durch den Flur zum Ausgang. Alex und Fritz unterhielten sich über das letzte Spiel von Hertha, als wir das Gebäude verließen. Eine milde Prise streifte mein Gesicht. Es war ein angenehmer Frühlingsabend und die Tage wurden langsam länger. Wir gingen gerade über den Parkplatz als ein Wagen auf den Hof fuhr. Es war keiner von den Streifenwagen und auch das Auto kam mir nicht bekannt vor.
 

Einige Meter vor uns hielt der Wagen und zwei Kollegen stiegen aus. Alex und Fritz blieben stehen. Kannten sie die beiden etwa? Sie kam auf uns zu, sahen konzentriert aus, aber auch ein wenig unglücklich. Besonders der Jüngere von den beiden.

„Fritz“, sagte er. „Was machst du nur für eine Scheiße.“

„Hannes?“, fragte Fritz. Alle vier Männer sahen angespannt aus, als sie sich gegenüberstanden.

„Alter, es tut mir leid. Aber ich muss dich bitten mit uns zu kommen. Gegen dich liegt ein Haftbefehl vor“, sagte der junge Mann etwas schwerfällig.

Mein Atem stockte als ich die Bedeutung der Worte langsam Begriff. Ein Haftbefehl gegen Fritz? Das konnte doch nicht sein. Der Staatsanwaltschaft lag doch erst seit Freitag der Fall von Fritz vor. Wenn die sich Montag erst mit dem Fall beschäftigt hatten, konnte doch nicht jetzt schon ein Haftbefehl vorliegen, oder? Die konnten doch nicht wirklich schon eine Entscheidung getroffen haben. Das musste ein Fehler sein. Die mussten sich nicht alle Unterlagen angesehen haben. Ich wollte das nicht glauben.
 

„Das muss ein Missverständnis sein“, sagte ich und ging dazwischen, als die Beamten versuchten Fritz Handschellen anzulegen. Hannes schüttelte den Kopf und holte aus seiner Jackentasche ein Formular. Er sah mich dabei mitfühlend an. Ich überflog es. Es war ein Haftbefehl. Und darauf stand der Name von Fritz. Es war kein Fehler, kein übler Scherz von Kollegen. Es war echt.

Aber ich wollte es immer noch nicht glauben. Hatte ich etwas falsch gemacht? In Bruchteilen von Sekunden ratterten alle Ereignisse, alle Gespräche und Auswertungen zu dem Fall von Fritz durch meinen Kopf. War es das Gespräch mit Frau Bremer gewesen? Das Gespräch mit Herrn Altenburg? Hätte ich denn überhaupt noch was machen können oder war es von Anfang an aussichtslos?
 

Der Chef hatte doch gesagt, dass Fritz gute Chancen hätte aus der Sache rauszukommen. Selbst Herr Altenburg hatte gesagt, dass Hoffnung bestand. Hatten alle gelogen? Hatten alle sich verschätzt? Ich fühlte mich betrogen und eine unbekannt heftige Wut stieg in mir auf. Eine Wut auf die Staatsanwaltschaft, auf Herrn Altenburg, auf mich selbst. Ich hatte das Gefühl Fritz im Stich gelassen zu haben als er am meisten meine Hilfe brauchte. Ich hätte mehr machen müssen. Verzweiflung und Panik ergriffen mich und mir stiegen Tränen in die Augen, als der Beamte noch immer das Stück Papier mir vors Gesicht hielt.

Hannes nahm das Dokument wieder an sich und packte es in seine Tasche. Als ob das Thema damit erledigt wäre, legten sie Fritz die Handschellen an und wollten ihn abführen. Ich starrte Fritz an. Warum sagte er nichts? Warum sah er mich nicht verwundert oder verzweifelt an. Hatte er etwa so einen Ausgang erwartet? Ich kämpfte noch mit mir, aber Fritz schien sich der Situation bewusst zu sein. Wie konnte er so ruhig sein, wenn ich so fassungslos war. Er senkte seine Lider und war schon im Begriff sich umzudrehen.
 

„Fritz“, rief ich aus. Er hielt inne und die Beamten sahen mich an, als ich auf Fritz zuging. Ich schob mich an Hannes und seinem älteren Kollegen vorbei und stellte mich vor Fritz. Wieder sah er mich mit diesem `Es wird alles Gut´-Lächeln an. Sanft und warm. Es versetzte mir einen Stich. Meine Brust schnürte sich zu und mein Atem stockte. Ich legte meine Arme um seinen Hals und zog ihn in eine feste Umarmung.

Meine Hände zitterten und ich krallte sie in den Stoff seiner Jacke, damit es sich nicht auf den ganzen Körper übertrug. Er konnte meine Umarmung nicht erwidern - seine Hände bereits in Handschellen gelegt worden. Ich spürte, wie er seinen Kopf seitlich gegen meinen legte, spürte seinen warmen Atem, als er langsam und regelmäßig ein- und ausatmete.
 

„Es tut mir so leid“, flüsterte ich mit schwacher, zittriger Stimme an seine Wange. Ich hatte ihn im Stich gelassen und hatte versagt. Warum hatte ich meinen Partner nicht beschützen können?

„Ich würde alles tun, um das hier verhindern zu können, Fritz.“ Ich krallte mich fester in den Stoff seiner Jacke.

„Josephine“, begann er sanft in einem Flüsterton. „Ich bereue es nicht, dass hab ich dir schon mal gesagt und ich würde es wieder tun.“ Ich schüttelte meinen Kopf, wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte Fritz nicht in Handschellen sehen. Ich wollte ihn nicht vor Gericht sehen, suspendiert oder hinter Gittern. Den Gedanken ertrug ich nicht und Fritz verdiente das nicht. Der Platz von ihm war in unserem Team, an unserer Seite.
 

Ich wollte ihn nicht loslassen. Aber mich zog jemand von Fritz weg. Ich wollte mich dagegen wehren, aber mir fehlte die Kraft. Einer der beiden Beamten redete auf mich ein. Aber ich verstand kein Wort von dem was er sagte. Ich sah nur Fritz, mit diesen traurigen Augen.

Ich konnte mich noch genau an den Moment erinnern, als Fritz von den Kollegen aus der Zweiten abgeführt worden war. Es war direkt nach meiner Befreiung aus der Geiselnahme. Ich hatte gehofft, dass ich es nie wieder erleben müsste. Ich hatte alles dafür getan, was mir möglich war. Aber offensichtlich hatte es nicht gereicht und alles war umsonst.
 

Und jetzt musste ich mit ansehen, wie Fritz ein weiteres Mal in Handschellen abgeführt wurde, wegen mir. Weil er versucht hatte mich zu retten. Weil ich unfähig gewesen war mich selber zu verteidigen. Es war allein meine Schuld. Er zahlte einen hohen Preis für seine Loyalität und es schnürte meine Kehle zu. Fritz blickte uns noch einmal an, als die Beamten mit ihm den Wagen erreicht hatten.

Er lächelte mich kurz an, sah dann aber an mir vorbei. „Pass auf sie auf“, sagte er. Einen Augenblick später legte mir jemand seine Hand auf die Schulter. Ich kontrollierte es nicht, aber es musste wohl Alex sein. Für ihn musste die Situation doch genauso schlimm sein. Sein bester Freund war festgenommen worden. Wegen mir.
 

„Es tut mir schrecklich leid“, murmelte ich vor mir hin, als ich noch immer in die Richtung von Fritz starrte. Die Beamten hatten Fritz gerade auf dem Rücksitz vom Wagen platziert und die Wagentür geschlossen als sich der Fahrer noch einmal zu uns umdrehte und Alex und mir zunickte. Dann stieg er zusammen mit seinem Partner ein. Wenige Augenblicke später setzte sich der Wagen in Bewegung und wir konnte nur zusehen, wie sie langsam hinter der Mauer verschwanden. Ich wollte hinterher rennen und den Wagen stoppen, aber die Hand an meiner Schulter hielt mich davon ab.

„Das kann doch nicht wahr sein“, sagte ich noch immer ungläubig.

„Josephine“, sagte Alex leise nach einem Moment der Stille. Er stand dicht hinter mir. Seine Stimme klang gequält. „Selbst du hättest diesen Fall nicht anders lösen können.“

Ich hätte gemusst, dachte ich. Eine einzelne Träne lief mir die Wange hinunter. Ich hätte gemusst.

Ich saß auf meinem Bett, hatte mich an die Wand gelehnt und blickte ins dunkle Zimmer. Mein Kopf versuchte immer noch das zu realisieren, was passiert war. Meine Tränen auf der Wange waren getrocknet, aber das Schuldgefühl durchzog mich noch immer.
 

Ich fühlte noch immer die Angst, die Panik, die Trauer und die Wut. Es war beängstigend, wie stark diese Gefühle den eigenen Körper lähmen konnten. Wie sie immer wieder den Puls hochschnellen ließen und die Tränen in die Augen trieben. Ich fühlte mich schutzlos, wusste nicht was ich machen sollte, fühlte mich verloren. Und ich hasste es, hasste dieses Gefühl, das ich nicht kontrollieren konnte. Es war beklemmend und selbst der Vorfall mit Stefan war hiermit nicht zu vergleichen. Damals hatte ich immer geglaubt, dass mich nie mehr etwas treffen könnte.
 

Aber der Gedanke, dass Fritz wegen mir festgenommen wurde, dass er wegen mir vor Gericht musste, vielleicht ins Gefängnis kam - es war einfach zu viel. Ich werde nie die Verzweiflung vergessen, die sich durch meinen Körper zog, als ich aus den Armen von Fritz gerissen und er abgeführt wurde.

Ich sah auf den Wecker. 04:30 Uhr. Normaler Weise würde ich mich noch einmal hinlegen und versuchen eine oder auch zwei Stunden zu schlafen. Aber ich wusste, dass es heute Nacht keinen Sinn mehr hatte.
 

Ich krabbelte aus dem Bett und ging ins Bad. Das Frühstück bekam ich nur schwer herunter. Ich machte mir einen Kaffee, damit ich überhaupt schaffte, heute in die Gänge zu kommen.

Wotan scharrte schon mit den Hufen im Stroh als ich in den Stall kam. Ich putzte ihn und war wenig später mit ihm im Wald. Ich gönnte uns einen langen Ausritt und hoffte meinen Kopf frei zu kriegen. Aber es hatte alles keinen Sinn. Wotan kam gut versorgt wieder in seine Box, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte.

Als der Bus an der Haltestelle hielt, stieg ich ein und nahm am Fenster platz. Ich legte meinen Kopf erschöpft gegen die Scheibe und schloss meine Augen. Es war nur ein Traum, versuchte ich mir zu sagen. Nur ein Traum. Aber es hatte sich so echt angefühlt. Und dieses Gefühl ließ mich einfach nicht los.
 

Ich hatte diesen Traum das erste Mal vor fast zwei Wochen gehabt. Als krönenden Abschluss für den wirklich beschissensten Freitag den Dreizehnten aller Zeiten. Ich war früh ins Bett gegangen, aber mit Herzrasen und Tränen in den Augen aufgeschreckt. Als ich auf die Uhr sah war es kurz vor Mitternacht gewesen. Seit dem war der Traum immer wieder gekommen. Und er wurde immer länger, immer detaillierter und schmerzhafter.
 

Die Intensität mit der dieser Traum immer wieder kam, warf mich aus der Bahn. Ich hatte am darauffolgendem Mittwoch nicht darauf gewartet, dass Fritz ins Revier kam. Und ich ging auch nicht mit den beiden zu Addie, sondern direkt nach Haus. Den Rest der Zeit versuchte ich Fritz zu meiden. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht Realität werden würde, wenn ich ihn nicht sah.
 

Alex war es schon aufgefallen und er hatte mich gefragt, ob alles in Ordnung sei. ER sagte mir, dass Fritz mehrfach nach mir gefragt hatte. Er glaubte wohl, dass ich wegen jenem Freitag auf ihn sauer war. Bisher hatte er aber weder bei mir angerufen, noch mir eine Nachricht geschickt. Ich musste gestehen, dass ich froh darüber war. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich konnte ihm nicht erzählen, dass ich von seiner Verhaftung geträumt hatte. So etwas konnte ich ihm doch nicht sagen, so kurz vor der Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

Wir warteten jetzt schon fast zwei Wochen auf eine Entscheidung. Wie lange würde man uns noch im Ungewissen lassen? Die Anspannung war auch im Büro kaum auszuhalten.
 

Der Tag schleppte sich wieder mehr oder weniger vor sich hin. Heute war wieder Mittwoch und ich wusste wann Fritz ungefähr hier sein würde. Er musste noch immer Gespräche mit dem Psychologen führen. Unser Chef glaubte, dass es ihm gut tun würde. Und mir gab es die Chance besser zu kalkulieren, wann ich nach Hause gehen musste um Fritz nicht über den Weg zu laufen. Ich packte gerade meine Sachen zusammen, als unser Chef den Raum betrat.
 

„Josephine?“, rief er mich.

Ich drehte mich zu ihm. „Ja, Chef?“

„Kommen Sie mal bitte in mein Büro?“ Ich nickte bejahend und er drehte sich zum Gehen um. Immer wenn ich in sein Büro gerufen wurde, gab es Ärger. Entweder bekam ich Arbeitsverbot für den nächsten Tag oder mir wurde angedroht, dass mir mein Waffenschein entzogen wurde.

Was konnte es wohl dieses Mal sein? Wir hatten die ganze Woche nur Innendienst geschoben. Es lag noch immer kein neuer Fall an. Ich konnte also eigentlich nichts angestellt haben. Eigentlich.

Ich folgte ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter mir.

„Setzen Sie sich doch bitte“, sagte er und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Danach nahm er ebenfalls hinter dem Schreibtisch in seinem Stuhl platz.

Eine Weile sagte er nichts, tippte auf eine Akte und sah diese nachdenklich an. Dann beugte er sich nach vorne und blickte zu mir.

„Josephine“, begann er. „Ich habe einen Anruf bekommen vom Chef von Herrn Altenburg.“ Ich sah ihn fragend an. Warum sollte der Chef von Herrn Altenburg hier anrufen? Und was hatte das mit mir zu tun? Als ich nichts erwiderte, sah er wieder die Akte auf seinem Tisch an.
 

„Er hat Sie für einen Fall angefordert“, erklärte mir mein Chef.

„Er hat mich ... angefordert?“, fragte ich verwirrt. „Warum sollte er das tun?“

„Das habe ich mich auch gefragt“, erwiderte er und sah mich dabei nachdenklich an. „Haben Sie irgendwelche Deals mit Herrn Altenburg gemacht?“

„Deals?“, fragte ich ihn verwirrt. Wie meinte er das denn jetzt schon wieder? Warum sollte ich irgendwelche Deals mit Herrn Altenburg machen?

„Wenn Sie wegen Fritz irgendwelche Deals mit Herrn Altenburg eingegangen sind, muss ich davon wissen.“

Ich war irritiert als ich verstand was er meinte. Wie kam er nur auf diese Idee?

„So etwas habe ich nicht gemacht.“

„In den letzten Wochen hat man sie beide viel zusammen gesehen. Das ist nicht nur mir aufgefallen“, gab er zu bedenken.
 

Ich sah ihn ungläubig an. „Chef, das lag alleine an den Ermittlungen. Ich habe nur versucht Fritz zu helfen ohne irgendwelche Deals mit jemandem einzugehen.“ Mir lag auf der Zunge, dass Herr Altenburg dafür zu oberkorrekt war. Langsam bekam ich aber das Gefühl, dass das nicht der Fall war. Er hatte mir Infos gegeben und Fotos gezeigt, die er anderen nicht gezeigt hatte. Warum hatte er das getan? Welches Ziel hatte er damit verfolgt?

„Wieso hat Herr Altenburg speziell Sie angefordert?“

Ich sah ihn fragend an. „Ich dachte der Chef von ihm hat mich angefordert.“

„Der Wunsch kam aber von Herrn Altenburg“, erklärte mir der Chef. „Sein Vorgesetzter tat so, als wenn schon alles in Sack und Tüten wäre und er mich nur noch informieren müsste.“ Er klang entnervt, was ich gut verstehen konnte. Er hatte öfter mit Vorgesetzten zu tun, die glaubten über alles frei entscheiden zu können.
 

„Ich habe nie mit Herrn Altenburg über dieses Thema gesprochen“, beteuerte ich. Er sah mich eindringlich an und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis er mir zunickte.

„Wissen Sie“, sagte er nach einer Weile. „Sie sind eine gute Kommissarin. Ich kann verstehen, wenn man Sie anfordert. Aber es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt dafür.“ Er machte eine kurze Pause. „Wir wollen doch alle das Beste für Fritz. Was denken Sie, wie das auf die Staatsanwaltschaft wirkt, wenn so ein Gerücht aufkommt?“ Ich verstand was er meinte. Wenn der Fall von Fritz positiv für ihn ausging, wollte der Chef nicht, dass etwas im Nachgang dazwischen kam. Wenn aber Gerüchte auftauchten, dass mit Herrn Altenburg ein Deal gemacht wurde, würde genau das passieren. Es wäre für Fritz und auch für alle anderen Beteiligten eine Katastrophe.
 

„Chef“, setzte ich an. „Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich würde niemals einen Deal mit jemandem eingehen. Ich gefährde doch nicht einen meiner Partner.“

„Ich habe das auch nicht von Ihnen erwartet, Josephine. Aber ich musste sicher sein. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Die Anforderung wurde von mir abgelehnt. Alex braucht Sie hier. Solange Fritz suspendiert ist, spielt das Thema auch keine Rolle. Wir haben in unserem eigenen Revier genug zu tun.“ Ich nickte zustimmend, als im selben Moment mein Handy klingelte.

„Entschuldigen Sie“, sagte ich zu meinem Chef. Ich holte das Handy aus meiner Tasche. Herr Altenburg versuchte mich zu erreichen. Dieser Mann hatte wirklich ein sensationelles Timing, dachte ich entnervt. Ich drückte ihn weg und stellte mein Handy tonlos.

„Müssen Sie da nicht rangehen?“, fragte mich mein Chef.

„Das kann warten. War nichts Wichtiges.“ Ich packte mein Handy wieder in die Tasche.
 

Dabei war ich mir nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Er hatte mich seit dem Freitag, an dem ich mein Handy abgeholt hatte, nicht mehr kontaktiert. Ich konnte mich daran erinnern, wie er gesagt hatte, dass er nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft mit mir über etwas reden wollte.

Ging es um den Fall, für den man mich hatte anfordern wollen? Aber dann würde seine Äußerung nicht passen, dass er NACH dem Fall von Fritz mit mir sprechen wollte. Oder wusste er mehr? Gab es eine Entscheidung? Hatte er deswegen versucht mich zu erreichen? Jetzt wo ich darüber nachdachte, wurde ich nervös. Vielleicht hätte ich doch an das Handy gehen sollen.

„Chef?“, fragte ich.

Er sah mich an. „Ja?“

„Haben Sie schon was von der Staatsanwaltschaft gehört?“ Einen Augenblick sagte er nichts. Hatte ich etwa Recht? Wusste er etwas?

„Chef“, sagte ich wieder. „Wenn Sie Informationen haben, sollten Sie es uns doch wissen lassen.“

Ich sagte es vielleicht ein wenig zu energisch und fordernd und konnte sofort sehen, wie er mich streng ansah. „Josephine“, mahnte er mich. „Finden Sie nicht auch, dass ich erst mal mit Fritz darüber reden sollte, bevor ich es Ihnen oder Alex sage?“

Ich biss mir auf die Lippen. Natürlich hatte er Recht. Aber er konnte doch nicht erwarten, dass ich von neuen Infos erfuhr, aber nicht nach den genauen Details fragte. Wann würde er mit Fritz darüber reden? Wusste Fritz überhaupt schon Bescheid?
 

Das Telefon vom Chef klingelte als ich gerade noch eine Frage stellen wollte. Er seufzte. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte er. Ich schielte auf seinen Display. Es war nicht die Nummer von Fritz. War es die Nummer von der Staatsanwaltschaft?

„Herr Schulz“, beantwortete der Chef seinen Anruf in einer ernsten Tonlage. Er sah zu mir und deutete an, dass er unser Gespräch für beendet erklärte und ich gehen könne. Ich stand langsam auf und ließ mir Zeit, als ich das Büro verließ. Vielleicht würde ich so das eine oder andere Wort noch mitkriegen.

„Das ist doch kein Problem“, sagte der Chef. „Herr Munro ist auch noch nicht vor Ort. In einer halben Stunde sagen Sie? Gut. Ja, ich werde alles Nötige vorbereiten. Aber Herr Schulz, sagen Sie mir doch...“

Die Tür fiel ins Schloss. Selbst als ich mein Ohr noch daran hielt, konnte ich nichts mehr verstehen.

Verflucht, dachte ich. Der Chef hatte was von einer halben Stunde gesagt. Ich kämpfte innerlich mit mir. Sollte ich fliehen oder lieber warten? Wenn es hier um die Entscheidung ging, wollte ich auf keinen Fall fehlen. Sollte es sich aber nur um einen Zwischenstand oder um weitere Fragen oder Gutachten handeln, würde ich unnötig auf Fritz treffen. Aber ich konnte nicht riskieren die Entscheidung zu verpassen. Egal wie große Angst ich auch davor hatte, ich wollte an der Seite von Fritz sein.
 

Ich ging wieder ins Büro. Karin war schon weg und Ewald packte gerade seine Sachen. Auch Alex sah aus, als ob er nicht mehr lange bleiben würde.

„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte ich.

„Nach Hause“, sagte Ewald.

„Und du?“, fragte ich an Alex gewandt.

„Fritz müsste eigentlich jeden Moment hier sein. Wir wollten zu Addie. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, heute ist Mittwoch. Mich wundert es, dass du überhaupt noch hier bist.“

„Ihr bleibt schön hier“, sagte ich nur. Beide schauten mich erstaunt an.

„Was ist denn los?“, wollte Ewald wissen, während er seine Jacke anzog.

„Der Chef hat gleich einen Termin mit Fritz und ich glaube, dass einer von der Staatsanwaltschaft dabei sein wird.“ Jetzt sahen sie mich mit großen Augen an und ich hatte die volle Aufmerksamkeit von beiden.

„Weißt du, worum es im Termin geht?“, wollte Alex wissen.

Ich musste den Kopf schütteln. „Nein. Aber es ist die erste Information seit fast zwei Wochen. Die wollt ihr doch nicht verpassen, oder? Ich komm gerade aus dem Büro vom Chef, der mit einem Herrn Schulz telefoniert hatte.“

„Das ist der zuständige Kollege von der Staatsanwaltschaft“, sagte Alex.

„Wirklich?“, fragte ich.

Alex verdrehte nur die Augen. „Hättest du Fritz die letzten Tage nicht ignoriert, hätte er dir das vielleicht selber erzählt. Er hatte bereits eine erste Anhörung letzte Woche bei ihm .“

Ich ärgerte mich über mich selbst. Warum hatte ich mir diese Informationen nicht selber geholt? Hatte mich der Traum wirklich so gelähmt? Ich versuchte die Gedanken an den Albtraum abzuschütteln. Dafür war jetzt kein Platz.

„In etwa einer halben Stunde wird dieser Schulz eintreffen“, informierte ich die beiden. Beide nickten mir zu. Alex holte sein Handy aus seiner Tasche und wählte eine Nummer. Als wir es auf dem Flur klingeln hörten, drehten wir uns alle drei zum Eingang. Im Türrahmen stand Fritz.
 

***
 

Eine halbe Stunde hatten wir zusammen mit Fritz im Büro gewartet. Er war erstaunt mich zu sehen. Schweigend hatte er mich beobachtet, während er das noch immer klingelnde Handy in den Händen hielt. Der Ton war verklungen als Alex den Anruf beendete. Bevor ich aber was sagen konnte, war Alex schon auf ihn zugegangen.

„Alter, warum hast du mir nicht erzählt, dass du heute mit dem Typ von der Staatsanwaltschaft redest?.“

„Hab ja selber erst vor meinem Termin mit dem Seelenklempner davon erfahren.“ Fritz war erstaunt, dass wir davon wussten. Seiner Körperhaltung konnte man die Anspannung ansehen. Die innere Unruhe war aber nicht nur bei ihm von Minute zu Minute gestiegen. Unser Chef kam wenig später ins Büro und holte Fritz ab. Zusammen gingen sie in einen Besprechungsraum.
 

Wie lange warteten wir schon? Fritz musste seit mindestens einer halben Stunde im Termin sein. Ich ging im Zimmer auf und ab, als ich abwechselnd die Tür und die Uhr beobachtete. Mein Puls wollte sich einfach nicht beruhigen, so sehr ich mich auch darum bemühte.

„Josy, nun setzt dich doch endlich mal hin. Du machst mich noch wahnsinnig“, sagte Waldi.

„Ich kann jetzt nicht sitzen“, entgegnete ich genervt.

„Und ich kann nicht mehr mit ansehen, wie du uns ein Loch in den Boden läufst. Mit deinem Rumgerenne änderst du den Ausgang des Gespräches auch nicht.“

Ich stellte mich ans Fenster und versuchte stillzustehen. Aber es kribbelte in meinen Beinen. Alex sagte nichts. Er schaute konzentriert zur Tür, als wenn er ahnte, dass Fritz jeden Moment durch die Tür treten würde.
 

Ich war drauf und dran in den Besprechungsraum zu stürzen, in dem der Typ von der Staatsanwaltschaft mit Fritz und dem Chef verschwunden war. Es konnte sich nur um die Entscheidung der Staatsanwaltschaft handeln. Warum sollte sonst der Chef dabei sein? Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, zeigten mir die Zeiger an, dass es kurz nach halb acht war. Ich stöhnte innerlich. Wie lange sollte dieses beschissene Gespräch denn noch dauern?
 

Die Tür ging auf und mein Herz setzt für einen Moment aus. Mein Kopf schnellte rum. Auch Alex stand plötzlich und starrte auf den Eingang. In der Tür stand Karin. Ich atmete zitternd aus und Alex ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen.

„Hey“, sagte sie vorsichtig. Sie musste die Stimmung bemerkt haben. „Tut mir leid. Ich wäre eher gekommen, aber Tulpe ist nicht angesprungen.“ Sie verlor keine weiteren Worte und ging zu ihrem Platz. Im Zimmer breitete sich wieder Stille aus.

„Gott, das ist ja nicht zum Aushalten“, platzte es nach einer Weile aus Alex, als er aufstand und wie ich durch den Raum marschierte.

Ewald stöhnte laut auf. „Nicht du auch noch.“

Ich sah wieder auf die Uhr. Es war kurz vor Acht. Langsam mussten die doch mal fertig werden, dachte ich genervt. Ich ging auf die Tür zu.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Alex.

„Ich will nur mal gucken, ob -“, setzte ich an, als die Tür vor meiner Nase geöffnet wurde. Ich zuckte zurück.

Vor mir stand unser Chef. Er sah müde und ernst aus. Hinter ihm stand Herr Schulz. Warum war Fritz nicht bei ihnen? Mein Magen zog sich zusammen und ich fühlte, wie eine Übelkeit mich überkam. Er sah in den Raum, blickte uns an.
 

„Wo ist Fritz?“, platze es aus mir raus.

„Noch im Besprechungsraum“, entgegnete der Chef.

„Kann man zu ihm?“, fragte Alex, der sich jetzt auch auf die Tür zubewegte.

Der Chef hielt kurz inne, nickte dann aber. „Ich denke, dass euch Fritz sehen möchte.“ Warum sagte er uns nicht was los ist? Man konnte seinem Gesichtsausdruck auch nichts entnehmen. Das war ja zum verrückt werden.

Auch wenn uns die Füße brannten, warteten wir noch bis die beiden im Büro vom Chef verschwunden waren. Sobald die Tür zuging, stürmten wir zum Besprechungsraum. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust. Die Übelkeit durchzog noch immer meinen ganzen Körper. Ich war die Erste vorm Besprechungsraum und riss mit zittriger Hand die Tür auf.

Ich atmete schwer als ich im Türrahmen inne hielt. Fritz stand am anderen Ende vom Zimmer, sein Kopf war ans Fenster gelehnt und er blickte nach draußen. Langsam drehte er seinen Kopf zu mir und sah mich an.
 

Diesen Blick, ich hatte ihn in meinem Traum gesehen. Fritz hatte mich auf die selbe Art und Weise angesehen, bevor er in Handschellen abgeführt worden war. Dieser Blick, der mir versuchte zu sagen, dass alles gut werden würde, egal was mit ihm passierte. Nein! Das konnte nicht sein. Das wollte ich nicht sehen.

Die anderen drängten sich an mir vorbei, als ich wie angewurzelt im Türrahmen stehen blieb und Fritz anstarrte. Alex ging auf Fritz zu, versperrte mir die Sicht.

„Was ist los?“, fragte Alex atemlos. „Wie war der Termin?“

Ich senkte meinen Kopf. Nein! Nein! Nein! Ich wollte nicht hören was er sagte. Nicht, wenn es den gleichen Ausgang hatte wie der Traum. Die Bilder davon zogen sich wieder durch meinen Kopf wie ein Film. Mein Kopf dröhnte und der Puls schnellte in die Höhe. Ich hatte das Gefühl, dass ich keine Luft bekam.

Fritz hatte irgendwas gemurmelt. Für mich war es nicht verständlich. Dafür stand ich zu weit weg. Alle drei standen um ihn rum und ich konnte sein Gesicht nicht sehen.
 

„Und was heißt das?“, hörte ich Karins Stimme. Ein Moment war Stille.

„Das heißt doch, dass sie die Ermittlungen gegen dich einstellen, oder?“, fragte Alex. Ich konnte die Hoffnung in seiner Stimme hören. Aber mein Kopf war noch zu durcheinander um irgendwas davon zu fassen. „Das heißt es doch, oder Fritz?“, fragte Alex erneut nach.

Ewald bewegte sich ein wenig zur Seite und ich konnte ein leichtes Lächeln auf den Lippen von Fritz erkennen, als er nickte. Alex fiel ihm in die Arme und hob ihn hoch, als ich alle erleichtert ausatmen hörte.
 

Meine Kraft verließ mich und ich musste mich an die Tür lehnen, während ich ausatmete. Die Ermittlungen waren eingestellt? Konnte das wahr sein? Das hieß doch, dass es keine Anklage geben würde... Erleichterung durchströmte meinen Körper, auch wenn ich schrecklich Angst davor hatte sie zuzulassen. Konnte es wirklich stimmen? Oder spielten mir meine Ohren und Augen einen Streich? Hatte ich mich verhört?

Wenn das nur ein Traum wäre, würde es mich umbringen. Es war die eine Sache aus einem Albtraum aufzuwachen mit dem Wissen, dass es nicht wirklich passiert war. Aber jetzt alleine in meinem Bett aufzuwachen und zu wissen, dass auch das hier nur ein Traum war... Ich wollte mir das gar nicht erst ausmalen.
 

Ich hörte die Stimmen von allen vieren nur gedämpft. Alle stellten Fritz fragen, der antwortete aber es drang nicht bis zu meinem Kopf vor. Ich starrte ihn noch immer an, auch wenn er leicht vor meinen Augen verschwamm. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten.

Fritz sah mich in dem Moment an, wo ich mir die Tränen aus den Augen rieb. Er stoppte mitten in seinem Satz und ging an unseren Kollegen vorbei. Er schaute besorgt. Wie konnte er besorgt sein? Die Ermittlungen waren eingestellt, oder? Er musste doch vor Erleichterung platzen. Zumindest fühlte ich mich gerade so. Die Erleichterung stieg mir immer mehr zu Kopf, je länger ich ihn ansah. Sie war einfach nicht zu stoppen und wärmte meinen Körper.
 

Wenn Menschen davon sprachen, dass ihnen ein Stein vom Herzen fiel, konnte ich es verstehen. In den letzten Wochen hatten sich so viele Sorgen und Ängste auf meine Brust gelegt, dass ich das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen. Jetzt aber fühlte ich mich, als wenn ich das erste Mal wieder durchatmen konnte.
 

Fritz kam auf mich zu. „Josephine?“, sagte er behutsam. „Ist mit dir alles in Ordnung?“ Ich schüttelte den Kopf. Das wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich war mehr als in Ordnung. Er kam noch näher auf mich zu und blieb vor mir stehen. “Geht es dir nicht gut?”, wollte er wissen.

„Es wird keine Klage geben?“, fragte ich. Er schüttelte seinen Kopf.

„Keine Klage“, entgegnete er knapp und sah mich sanft an.

„Keine Suspendierung? Und die Ermittlungen werden eingestellt?“

„Die Ermittlungen wurde heute eingestellt“, bestätigte er. Fritz fuhr sich nachdenklich durch die Haare. „Es wird ein paar Konsequenzen haben, aber ich kann meinen Job behalten. Das ist alles recht kompli-“ Ich ging auf ihn zu und legte meine Arme um ihn, drückte mich fest an ihn.
 

Die ganzen Tage und Wochen der Ungewissheit hatten an mir gezerrt. Und die Gefühle der Erleichterung übermannten mich. Ich atmete keuchend aus, als sich Tränen ihren Weg bahnten. Gleichzeitig musste ich aber auch Lachen. Es waren Tränen der Freude. Konnte es sein? Hatten wir es wirklich geschafft?

„Hey, Hey“, sagte er beruhigend in einem sanften Ton, als er immer wieder mit seiner Hand über meinen Rücken fuhr. Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen, aber das schien im Moment unmöglich zu sein.

„Wir haben es geschafft?“, fragte ich nach einer Weile. Ich war mir nicht sicher ob er es verstanden hatte. Ich hatte mein Gesicht in sein T-Shirt gedrückt und vor mir hingenuschelt.
 

„Ja, haben wir“, erwiderte er flüsternd und ließ seine andere Hand über meine Haare fahren. Ich beruhigte mich langsam. Er musste seinen Kopf zu mir runter geneigt haben, denn ich konnte seinen warmen Atem an meinem Ohr spüren. Ich schloss meine Augen und genoss den Moment. Fritz hatte es also geschafft. Er hatte es wirklich geschafft. Diesen Moment konnte uns niemand nehmen.

Wir hielten noch eine ganze Weile diese Umarmung. Er machte keine Anstalten sich zu lösen und auch mir lag es fern den ersten Schritt zu machen.

Ich lächelte in sein T-Shirt. Noch nie in meinem Leben war ich so froh darüber gewesen, dass mich mein Gefühl getäuscht hatte.

„Addie“, rief Alex und wedelte mit einer leeren Tequilaflasche. „Kriegen wir noch eine...? Und auch noch drei Bier...“

Addie nickte in seiner ruhigen Art, so wie man ihn kannte. „Na klar, kommt sofort.“

Als Addie das Bier und die zweite Flasche Tequila mit Zitronen brachte, schenkte Alex uns ein und erhob sein Glas.

„Auf das Team“, sagte er feierlich. „Darauf, dass wir jetzt wieder vollzählig sind.“

Ewald rollte die Augen, erhob dann aber ebenfalls sein Glas. „Ich stoße auf die zukünftigen Wortgefechte von Josy und Fritz an. Endlich keine Langeweile mehr im Büro. Nur Fritz kann sich so schön über die Ermittlungsmethoden unserer Kollegin aufregen.“
 

Fritz grinste schief. „Wer braucht schon Harmonie“, sagte er ironisch. Dann sah er mich an und lächelte. „Freuen wir uns auf die Streitigkeiten die da kommen werden.“ Er hob kurz sein Glas und prostete allen zu. „Und jetzt runter mit dem Zeug.“

Es floss zwar reichlich Alkohol, trotzdem feierten wir bedächtig. Natürlich waren wir erleichtert, dass die Ermittlungen eingestellt waren. Aber uns war allen klar, dass auf der anderen Seite eine Frau um ihren Ehemann trauerte und Kinder ihren Vater verloren hatten. Im Leben gab es immer Gewinner und Verlierer. Ich war dankbar dafür, dass das Glück in diesem Fall auf der Seite von Fritz war. Ein egoistischer Gedanke, für den ich mir kein schlechtes Gewissen einreden wollte – nicht heute Nacht.
 

Ich beobachtete Karin, wie sie ein weiteres Glas zu Ewald schob. Er hatte für sie einige Gläser mitgetrunken und das merkte man ihm deutlich an. Aber er war jung. Bis zum Teammeeting würde er schon irgendwie fit sein. Ich dagegen hatte keine Runde ausgelassen und mir stieg der Alkohol langsam zu Kopf. Wenn ich nicht wieder auf der Couch im Büro enden wollte, musste ich langsam aufpassen.
 

Karin war die Erste, die sich von uns um halb Eins verabschiedete. Ewald hatte vermutlich seine Grenze erkannt und nutzte die Gelegenheit sich ebenfalls auf den Weg zu machen.

„Irgendjemand muss Karin doch nach Hause bringen. Ihr wisst doch wie gefährlich Berlin sein kann“, erklärte er während Karin ihn stützen musste.

„Sicher, Waldi“, entgegnete ich mit einem sarkastischen Unterton. Man sah ihm an, dass er nicht viel länger durchgehalten hätte. Er war früh auf der Arbeit gewesen und hatte vermutlich auf leerem Magen einige alkoholische Getränke zu sich genommen. Mir ging es ähnlich, aber die Euphorie in mir hielt mich wach. Trotzdem sollte ich ebenfalls langsam die Bremse ziehen.
 

Karin und Ewald verschwanden und ich war mit Alex und Fritz allein. Wir verfielen für einige Augenblicke in Schweigen. Dachten die beiden auch über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach?

„Warum hat eigentlich dieser Termin mit dem Schulz so lange gedauert?“, fragte Alex plötzlich. Ich sah von ihm zu Fritz. Zunächst winkte Fritz ab. Wollte er nicht darüber reden? Er nahm sein Glas Bier und trank einen Schluck. Dann blickte er zu Alex und mir.

„Das Verfahren ist eingestellt, also hat er mich in die Unterlagen blicken lassen“, begann er. „Ich hab mir den Abschlussbericht vom Untersuchungsausschuss durchgelesen und noch anderen ausgewählt Berichte.“ Bei den letzten Worten sah mich Fritz vielsagend an. Welchen Bericht meinte er? War es meiner gewesen? Ich wüsste gerne was darin stand. Mich machte es etwas nervös, dass Fritz mich deswegen so seltsam ansah.
 

„Haben sie dir gesagt, wie es weitergeht?“, hakte Alex nach und unterbrach meine Gedanken.

„Das Thema wird intern geklärt. Auf jeden Fall gibt es einen Eintrag in meine Personalakte.“ Fritz sah für einen Moment schweigend in sein Bierglas. Er wirkte nachdenklich. „Ich kann froh sein, dass mir mein Dienstgrad nicht aberkannt wird, meinte zumindest dieser Schulz. Mit so einem Eintrag ist es mit der großen Karriere vorbei. Beim Hauptkommissar ist wohl Endstation für mich.“ Er stöhnte kurz auf, nahm dann sein Bierglas hoch und leerte es in einem Zug, bevor er es etwas zu laut wieder auf den Tisch stellte. „Was die arroganten Fuzzis halt so labern“, sagte er ohne uns anzusehen.
 

Alex legte ihm eine Hand auf die Schulter und wollte gerade etwas sagen als sein Handy klingelte. Er sah erst etwas verwirrt an sich runter, wühlte aber dann in seiner Hosentasche bis er das Handy am Ohr hatte.

„Caroline...“, antwortete er überrascht. Dann hörte er eine Weile zu. „Ja... Alles klar... Ja, dass versteh ich. Nein, dass ist schon in Ordnung. Ich mach mich auf den Weg... Ja, ich dich auch. Bis gleich.“
 

Alex legte auf und sah uns entschuldigend an. „Das war meine Frau. Tut mir leid ihr beiden, aber ich muss nach Hause.“

Er schnappte sich seine Jacke und klopfte Fritz noch einmal auf die Schulter. „Bin froh, dass du morgen wieder dabei bist“, sagte er. „Bis zum Teammeeting“, rief Alex im Gehen und machte sich auf den Weg nach Hause.

Wir saßen eine Weile schweigend da als ich auf mein leeres Bierglas blickte. Die Äußerung von Fritz bezüglich des Eintrages in seine Personalakte hatten sich in meinem Kopf festgesetzt und ich bekam ein schlechtes Gewissen.
 

„Tut mir leid“, sagte ich etwas kleinlaut ohne ihn anzusehen.

„Was sollte dir denn leid tun?“, fragte er verwirrt.

Ich sah ihn etwas zögernd an. „Der Eintrag in der Personalakte. Ich weiß ja nicht, wie deine beruflichen Ziele bisher ausgesehen haben...“ Wir hatten nie darüber geredet. Er schien glücklich mit seiner Position zu sein, aber vielleicht wollte er ja doch noch weiterkommen.

Er sah mich ungläubig an. „Ist das wirklich dein Ernst?“ Ich blinzelte bei seiner Tonlage und sah ihn verwirrt an. Hatte ich was Falsches gesagt?

Fritz atmete durch. „Bielefeld“, begann er und klang dabei wieder sanfter. „Ich habe erwartet ins Gefängnis zu kommen. Ich habe nie daran gedacht, dass ich meinen Job behalten würde. Mir ist doch scheiß egal, was der Schulz über meinen Fall denkt oder über meine Zukunft.“ Er hielt inne und blickte auf sein leeres Bierglas.

Während er mit beiden Händen sein Glas festhielt, drehte er seinen Kopf zu mir. „Josephine, ich weiß, dass... Ich meine, mir ist bewusst, dass du...“ Er hielt inne, blickte mich für einen Moment schweigend an, dann atmete er etwas frustriert aus und sah sich in der Kneipe um.
 

„Addie“, rief er laut. „Kannst du uns noch zwei Flaschen Bier bringen?“ Ich erschrak über die Lautstärke. Er musste das gesehen haben. „Ein Bier geht doch noch oder willst du los?“, fragte er mich etwas zögernd.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Los wollte ich noch nicht, aber eigentlich wollte ich auch kein weiteres Bier. Ich hatte meine Grenze für heute bereits Überschritten. Mir war schwindelig und ich fühlte mich mehr als nur beduselt. Aber als Addie mir mein Glas abnahm und mir eine Flasche Bier hinstellte, konnte ich schlecht ablehnen.

Fritz ging nicht weiter auf das Thema ein, das er eben nicht zu Ende gebracht hatte und ich fragte nicht weiter nach. Wenn er mir was erzählen wollte, würde er das schon tun, oder? Er hielt mir seine Flasche zum Anstoßen hin.

„Letztes Getränk“, sagte ich ihm bevor wir anstießen. „Du solltest am ersten Tag weder unter Schlafmangel noch unter einem Kater leiden.“

Er grinste mich verschwörerisch an. „Ich würde vielleicht damit klar kommen, aber wir wollen ja nicht, dass du wieder auf der Couch im Büro nächtigst.“
 

So ein Idiot, dachte ich. „Tu nicht so unschuldig. Ihr habt es doch sichtlich genossen, die neue Kollegin so auflaufen zu lassen. Ich hab doch eure Gesichter am nächsten Tag gesehen.“ Fritz verzog sein Gesicht.

„Du streitest es nicht mal mehr ab...“, sagte ich empört.

„Ich war damals erstaunt, wie viel du verträgst“, gab er zurück und nahm ein Schluck Bier.

Ich lachte kurz auf. „Man mag´s nicht glauben, aber ich war damals selber erstaunt, wie viel ich vertragen habe. Bis ich dann am nächsten Tag im Büro wach geworden bin.“

Er schmunzelte während er seine Flasche ansah.

„Hätten wir gewusst wo du wohnst, wärst du bestimmt bei dir wach geworden und nicht auf dem Revier.“

„Das glaub ich nicht. Alex hätte das vielleicht gemacht, aber gerade du hast es doch viel zu sehr genossen mich regelmäßig vorzuführen.“

Er zuckte mit den Schultern und sah mich unschuldig an. „Und du, liebe Kollegin, hast es zu sehr genossen uns bei allen Ermittlungen dazwischen zu funken“, gab er zurück und sah mich herausfordernd an. Dieser Kerl war wirklich unmöglich. Er bemühte sich noch nicht einmal es abzustreiten. In aller Lässigkeit nahm er wieder einen Schluck Bier und wartete auf meine Reaktion.

„Ich hab euch nicht dazwischen gefunkt“, protestierte ich. „Ich habe ernsthaft ermittelt. Meine Methoden sind nur etwas anders als eure.“ Er erwiderte nichts, aber ich konnte sehen, wie seine Mundwinkel zuckten als er einen Schluck aus seiner Flasche nahm.

„Geschadet hat es uns nicht“, fuhr ich fort. „Immerhin haben wir bisher alle Fälle gelöst. Außerdem kann ich mich an ein Video erinnern, wo jemand gesagt hat, dass ich wichtig fürs Team geworden bin und ich mich mit meinen Alleingängen gebessert hätte. Willst du diese Äußerungen etwa abstreiten?“

Er verdrehte die Augen, schenkte mir dann aber ein schiefes Lächeln. Er stütze seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und beugte sich ein wenig zu mir vor.
 

„Sag mal, Bielefeld, wann bist du endlich bereit dieses Video zu löschen?“

Ich drehte meinen Kopf von ihm weg, ließ mir Zeit und tat so als wenn ich ernsthaft darüber nachdenken musste. Ich wusste nicht, ob es am Alkohol lag oder am Ausgang der Untersuchung. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns heute ungezwungener und entspannter unterhielten. Und ich genoss es. Ich war es leid mich ständig mit ihm zu streiten. Ich dachte an den Tag als er mich mit Ben auf dem Gestüt besucht hatte. Das war einer der wenigen Tage, an denen er mehr von sich gezeigt und mir die Gelegenheit gegeben hatte ihn besser kennenzulernen. Und ich mochte, was er an solchen Tagen preisgab.
 

Ich sah ihn wieder an und musste grinsen bevor ich überhaupt antwortete. „Wenn du mir verrätst, was ihr noch so besprochen habt, ziehe ich es vielleicht in Erwägung das Video von meinem Handy und die gesicherte Kopien zu löschen.“

„gesicherte Kopien?“, stöhnte Fritz auf. „Du machst mich fertig, Bielefeld.“

Mein Lächeln wurde breiter und ich zuckte mit den Schultern. „Man weiß ja nie. So oft, wie du mir mein Handy schon aus den Händen gerissen hast.“ Ich war mich sicher, dass er wusste wovon ich sprach, egal ob es beim Telefonieren mit dem Förster war oder als ich Alex und ihm das Video vorgeführt hatte.
 

„Dir scheint dein Handy aber auch nicht allzu wichtig zu sein. Du lässt es ja ganz offensichtlich überall liegen.“ Knirschte er etwa mit den Zähnen? Ich hatte mein Handy nur einmal bei Herrn Altenburg vergessen.

„Es war ein Versehen, Fritz...“, setzte ich an. Er wirkte beinahe beleidigt, sobald wir das Thema ansprachen. Welches Problem haben die beiden nur miteinander? „Ich hatte doch gerade erst das Gespräch mit Frau Bremer hinter mir. Ich war noch ganz durcheinander. Da habe ich es einfach vergessen. Aber solltest du nicht ein wenig besser auf Herrn Altenburg zu sprechen sein nach dem Ausgang der Untersuchung?“
 

Er sah mich unzufrieden an. „Müssen wir ausgerechnet heute über diesen Typen reden?“

„Du hast doch damit angefangen“, gab ich zurück.

„Ich habe seinen Namen nicht erwähnt“, protestierte er brummig als er seine Flasche ansah. Ich schüttelte den Kopf und beobachtete ihn. Manchmal benahm er sich wie ein Kind.

Er trank sein Bier in einem Zug aus. „Ich bezahl schon mal“, sagte er und stand auf.

„Warte ich übernehme einen Teil“, ich wollte schon aufstehen, aber er wehrte ab.

„Lass mal sein. Ich habe heute ALLE eingeladen. Dazu zählst du auch“, sagte er und ging zu Addie.

Normaler Weise würde mich das nicht stören. Ich würde einfach aufstehen und Addie Geld in die Hand drücken. Aber als ich versuchte mich vom Stuhl zu erheben, fühlte es sich wie ein Schlag auf den Hinterkopf an. Mein Schädel brummte und mir war schwindelig. Meine Beine fühlten sich kraftlos an. Warum hatte ich nicht eher gemerkt wie betrunken ich war? Ich schloss meine Augen einen Moment und versuchte wieder die Kontrolle über meinen Körper zu bekommen.

Ich hielt mich am Tisch fest und zog ganz langsam meine Jacke an. Ich spürte wie ich schwankte, wenn ich mich nicht festhielt. Ich tastete mich von Stuhl zu Stuhl als ich langsam dem Ausgang entgegen schritt. Vielleicht würde mir die frische Luft gut tun.
 

Aber auch draußen wurde es nicht besser. Ich lehnte mich gegen die Hauswand und schloss meine Augen. Eine Weile stand ich so da und schlief beinahe ein, als ich das quietschen der Eingangstür hörte. Ich öffnete meine Augen und sah, wie Fritz auf mich zukam während er sich seine Jacke anzog.

„Alles ok?“, wollte er wissen.

Ich nickte langsam. Zu schnelle Kopfbewegung sollte ich im Moment wirklich vermeiden.

„Alles Bestens“, antwortete ich. Meine Zunge fühlte sich schwer an. Lallte ich etwa? Ich stieß mich behutsam von der Hauswand ab und lief vor. Ich wollte mir nichts anmerken lassen. Warum zum Henker vertrug Fritz nur so viel Alkohol? Er wirkte beinahe nüchtern. Das war unfair. Er hatte mindestens genauso viel getrunken wie ich.
 

„Josephine?“ Die Stimme von Fritz klang ein wenig irritiert.

„Was denn?“, fragte ich ohne mich zu ihm zu drehen. Ich ging langsam gerade aus weiter.

„Ähm... Das ist der Weg zum Revier. Da willst du doch nicht wirklich hin, oder?“

Ich stöhnte innerlich als ich die Belustigung in seiner Stimme hörte. Amüsierte er sich etwas über mich? Widerwillig drehte ich mich zu Fritz.

„Wollen wir da etwa nicht hin?“, entgegnete ich ihm. Mir war klar, dass das Revier nicht unser Ziel war. Aber es wirkte im Moment sehr verlockend. Wie schnell würde ich mich auf die Couch legen und schlafen können bis mich wieder jemand weckt.

„Eigentlich nicht“, sagte er etwas zögernd. „Ich würde gerne schon in meinem Bett schlafen.“

„Ich auch“, erwiderte ich erschöpft ohne großartig nachzudenken. Dann stockte ich. Das klang jetzt irgendwie... falsch. Ich sah ihn an. „Also ich meinte jetzt nicht DEIN Bett. Ich meinte mein eigenes... Du verstehst schon, oder?“ Ich fasste mir an den Kopf und ging an ihm vorbei. Er sah mich schmunzeln an.

„Lassen wir das einfach. Das kann heute nicht mehr besser werden mit dem was ich sage.“

„Wenn du meinst...“, sagte er schulterzuckend. Ich drehte meinen Kopf zu ihm. Er ging neben mir und unterdrückte eindeutig ein Grinsen.
 

„Wo gehen wir überhaupt hin?“, fragte ich ihn.

„Zum nächsten Taxistand. Um die Uhrzeit kriegst du keinen Bus mehr mit dem du nach Hause kommst.“ Ich stimmte zu und folgte ihm.

Die Nacht war recht mild, aber mir wurde trotzdem kalt. Ich versuchte den Reißverschluss meiner Jacke zu schließen. Aber in meinem beduselten Zustand nach unten zu blicken erwies sich als schlechte Idee. Ich geriet ins Stolpern, aber Fritz verhinderte, dass ich auf dem Gehweg landete.

„Alles klar?“, fragte er als er mich wieder hoch zog.

„Ja“, antwortete ich. „Dieser blöde Verschluss“, murmelte ich fluchend, während ich noch immer versuchte die Jacke zu schließen.

„Lass mich mal“, sagte er und drehte sich zu mir. Seine Hände berührte meine als er den Reißverschluss festhielt. Warum waren seine Hände nur immer so warm? Und warum spielte er immer in den unmöglichsten Momente den Gentleman?

Ich sah ihm etwas unsicher dabei zu, wie er sich an meiner Jacke zu schaffen machte. Als Fritz schließlich den Reißverschluss zuzog, lächelte er mich an.
 

„Besser?“, wollte er wissen.

„Ja, danke...“, murmelte ich und drehte mich von ihm weg, um meinen Weg fortzusetzen. Ich war nur wenige Schritte gegangen als er seinen Arm um meine Schultern legte und meinen Gang stabilisierte. War ich so sehr getorkelt?

Seine Nähe erschreckte mich und ich versuchte Abstand zu gewinnen. Aber er hielt mich fest und sah mich warnend an.

„Bielefeld“, mahnte er mich. „Nimm gefälligst mal Hilfe an. Wenn wir weiter in diesem Tempo gehen, sind wir bei Sonnenaufgang noch nicht am Taxistand.“

Es widerstrebte mir, aber ich wehrte mich nicht weiter. Es war ein seltsames Gefühl seine Arme um mich zu spüren. Der letzte Mann, der mich so in den Arm genommen hatte, war Stefan. Aber gerade jetzt wollte ich nicht an ihn denken. Ich schüttelte die Erinnerungen an meinen Ex ab und konzentrierte mich auf den Weg, der vor uns lag.
 

Wir gingen schweigend nebeneinander her.

„Josephine“, begann er nach einer Weile. „Wegen des Falles...“ Er räusperte sich. Ich sah ihn an, schwieg aber. „Ich weiß, dass ich dir zu verdanken habe, dass der Fall so glimpflich für mich ausgegangen ist.“

Ich sah ihn verwirrt an. „Warum glaubst du das?“ Vielleicht hatte ich ein wenig dazu beigetragen, aber es gab bestimmt viele Gründe, warum die Entscheidung so ausgefallen war.

„Die Staatsanwaltschaft hat mit Frau Bremer gesprochen“, setzte er an. „Sie hat darum gebeten, dass von einer Klage abgesehen wird. Anscheinend wollte sie keine Nebenklage einreichen oder sich an dem Prozess beteiligen. Ich weiß nicht, was du ihr gesagt hast, aber ich bin mir sicher, dass es zu ihrer Entscheidung beigetragen hat. Du hast mir wirklich den Arsch gerettet, Bielefeld. Und ich habe mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt.“

„Das ist auch nicht nötig. Das wäre doch Quatsch, Fritz. Ich habe dir mein Leben zu verdanken. Das war das Mindeste was ich tun konnte.“
 

In der Kneipe war unser Gespräch noch so locker. Wann hatte er diesen ernsten Ton angeschlagen? Es fiel mir schwer mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Mir war einfach zu schwindelig. Konnten wir das Thema nicht auf morgen verschieben, wenn wir beiden wieder nüchtern waren?

„Du hättest das Gleiche für mich gemacht, Fritz, zumal ich deinem Sohn versprochen habe, dass wir in naher Zukunft wieder gemeinsam reiten. Das Versprechen muss ich doch einlösen.“ Er schwieg. Aber als ich ihn ansah, konnte ich ein Lächeln in seinen Augen erkennen, während er mich ein wenig enger an sich drückte.
 

Es dauerte noch einige Minuten bis wir den Taxistand erreicht hatten. Ich war erleichtert als ich die gelbe Säule erblickte und löste mich von Fritz. Dieses Mal ließ er es zu und ich setzte meinen Weg zum Taxistand alleine fort. Kein Taxi war weit und breit zu sehen. Aber um die Uhrzeit konnte ich das vermutlich auch nicht erwarten. Ich torkelte halb benommen zur Sprechanlage und war froh, dass ich mich wieder an etwas festhalten konnte.
 

„Hallo?“, sagte ich. Keiner antwortete. „Hallo? Wir brauchen ein Taxi...“ Ich schloss meine Augen und lehnte meinen Kopf gegen die Säule.

„Wissen Sie, wir sind sehr betrunken. Also ich zumindest. Und weil wir Polizisten sind, dürfen wir kein Auto mehr fahren... Wobei... Ich habe eh noch keine grüne Plakette für mein Auto.“ War die Zentrale nicht besetzt oder warum antwortete mir Keiner? „Halloooo?“

Neben mir hörte ich jemanden kichern. Mit verengten Augen drehte ich meinen Kopf langsam zu Fritz.

„Was gibt´s denn da zu lachen, Kollege?“

„Nichts, nichts“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. Dann deutete er aber auf die Säule. „Du solltest nur vielleicht den roten Knopf drücken, damit du mit der Zentrale verbunden wirst.“ Ich stöhnte innerlich. Warum hatten wir nicht einfach übers Handy ein Taxi gerufen? Wozu hatte man denn sonst ein Mobiltelefon?
 

„Dann mach es doch selber...“, entgegnete ich und drehte mich von der Sprechanlage weg. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Säule und schloss meine Augen. Es war dringend Zeit, dass ich ins Bett kam.

Fritz stellte sich neben mich und bestellte uns über die Zentrale zwei Taxen.

„Es wird ein bisschen dauern bis ein Taxi da ist“, informierte er mich. „Aber es sind zwei auf dem Weg.“

„Ich weiß, bin ja nicht taub“, murmelte ich beleidigt. „Ich hätte das auch noch rausgefunden mit dem Knopf“

„So was gab es wohl nicht in Bielefeld oder in deinem Dorf?“ Fritz schien sich köstlich zu amüsieren.

Ich öffnete meine Augen und drehte meinen Kopf zu ihm. Er hatte sich mit seiner Schulter an die Säule neben mich gelehnt und sah mich schmunzelnd an.

„Hör doch auf immer mein Dorf schlecht zu machen. Es ist ein sehr schönes Dorf.“

„Ich weiß, ich weiß. Entschuldige“, knickte er ein und tätschelte meine Schulter für einen Moment.

„Warum bist du so?“, murmelte ich, während ich ihn ansah. Er verwirrte mich. Mal war er nett, mal brachte er mich zur Weißglut. Da kam doch niemand mit.
 

„Was meinst du?“, fragte er verwundert.

Ich antwortete nicht und drehte meinen Kopf von ihm weg. Ich wusste selber nicht, was ich ihn eigentlich hatte fragen wollen. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. Mein Rücken lehnte noch immer entspannt an der Säule. Die Nacht war angenehm. Es konnte nicht mehr lange dauern bis die ersten richtig warmen Frühlingstage beginnen würden. Ich freute mich schon darauf. Der Winter war lang genug gewesen und ich hatte die Nase voll von kalten Tagen.

Ich öffnete wieder meine Augen und sah zu Fritz. Ich war erstaunt als mein Blick direkt auf seinen traf. Starrte er mich an? Er wirkte überrascht, räusperte sich und blickte etwas seitlich an mir vorbei. Ich blickte ihn weiterhin an. Er sah aus, als wolle er mich etwas fragen.
 

Wir hatten ihm so viele Fragen gestellt zu seinem Fall. Aber keiner hatte gefragt, wie es ihm ging. Wie musste er sich fühlen, jetzt wo er wusste, dass es keine Klage geben würde? Musste er viel an den Tag denken, an dem er jemanden getötet hatte? Auch wenn er mich damit retten wollte, es machte die Sache für ihn nicht leichter.
 

„Wie geht´s dir?“, fragte ich ihn und drehte mich zu ihm.

Er sah mich fragend an. „Gut. Wie soll es mir sonst gehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wie geht es dir wirklich, Fritz? Ich meine, du hast die letzten Wochen viel durchgemacht... Denkst du manchmal an Clemens oder seine Familie?“

Ich bemerkte, dass er sofort in Abwehrhaltung ging. „Was soll das, Bielefeld? Du stellst mir schon die gleichen Fragen, wie der Psychiater.“

„Redest du denn wenigstens mit ihm darüber?“, harkte ich nach. Ich hoffte, dass er sich irgendjemanden anvertraute, diese Sache sollte er nicht alleine durchmachen.

„Bielefeld...“

„Fritz“, unterbrach ich ihn. Ich drückte mich von der Säule ab und stelle mich vor Fritz. Mir war immer noch schwindelig, aber die Luft hatte meinen Kopf ein wenig klarer werden lassen. „Ich meine das ernst... Du redest nie darüber, was auf der Brücke passiert ist. Schläfst du genug? Musst du viel daran denken, was auf der Brücke passiert ist? Ich tue es. Ich denke jeden einzelnen Tag daran.“ Er erwiderte nichts, sah mich einfach nur an, während sich seine Augenbraun langsam zusammenzogen und sich Falten auf seiner Stirn bildeten.
 

„Du willst nicht drüber reden?“, fragte ich als er noch immer nicht auf meine Fragen reagierte. Es machte mich wütend ohne dass ich wirklich den Grund nennen konnte.

„Selbst wenn du nicht drüber reden willst, es gibt Menschen die es interessiert. Ich möchte wissen wie es dir geht, was du denkst. Ich für meinen Teil bin nämlich froh, dass die Ermittlungen vorbei sind und du wieder zu unserem Team gehörst. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie erleichtert ich bin, dass keine Klage erhoben wird? Ich hatte schreckliche Angst davor. Ich hab sogar davon geträumt, wie du festgenommen wirst. Weiß du eigentlich wie mich meine Schuldgefühle gequält haben? Es war doch alles wegen mir. Ich habe den Fall angenommen, habe mich entführen lassen, war unfähig mich zu befreien. Und dann hast du deine Karriere und alles was dir wichtig ist riskiert, um die Fehler auszubügeln, die ich begangen habe. Weiß du, wie ich mich die letzten Wochen gefühlt habe? Es hat mir die Kehle zugeschnürt, Fritz.“
 

Ich musste kurz Pause machen, kämpfte gegen die Tränen. Ich hatte nie geplant ihm das alles zu sagen. Besonders nicht heute. Aber es platzte einfach aus mir heraus. Ich musste es loswerden. Es war wie eine Last, die ich nicht länger tragen konnte. Und wenn es jemand wissen sollte, dann Fritz. Ich wollte, dass er mich verstand.

„Ich bin so froh, dass du jetzt vor mir stehst, dass wir dich zurückhaben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Schuldgefühle noch einen Tag länger ausgehalten hätte“, flüsterte ich halblaut. Ich atmete schwer als mich das Thema ein weiteres Mal innerlich aufwühlte.
 

Er starrte mich an ohne zunächst etwas zu erwidern. Dann machte er einen kleinen Schritt auf mich zu und sah mich ernst an. „Josephine“, sagte er in einem sanften aber bestimmten Ton. Er hielt mein Gesicht mit beiden Händen fest. „Du musst damit aufhören! Dich trifft keine Schuld. Ich habe meine Entscheidung an diesem Tag ganz allein getroffen. Und ich habe sie keine Sekunde bereut. Bist du mir etwa deswegen aus dem Weg gegangen die letzten zwei Wochen?“

Ich musste schlucken bei seiner Fragen. Was sollte ich darauf schon antworten? Ich hörte ihn stöhnen als ich langsam nickte. Ich sah ihn an, musste meinen Blick aber senken als ich den gequälten Ausdruck in seinem Gesicht sah.

Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut als Fritz seine Stirn an meine lehnte. Ich schloss meine Augen während er mir über mein Haar strich. Dann flüsterte er sanft: „Hör bitte damit auf, Josephine...“
 

Seine Hände glitten wieder über mein Haar, verharrten aber dieses Mal in meinem Nacken und er zog mich enger an sich. Ich spürte die Wärme, die mich umgab und roch den angenehmen Duft seines Aftershaves. Es tat gut, beruhigte mich und meine Augen wurden schwer. Wie machte er das nur, dass er so auf mich wirkte?

Beinahe wäre ich in seinen Armen eingeschlafen, als ich plötzlich seine Lippen auf meinen spürte. Ich riss meine Augen auf und erstarrte. Was tat er da?
 

Ganz weich lagen seine Lippen auf meinen als er langsam begann sie zu liebkosen. Mein Atem stockte. Im ersten Moment versuchte ich mich von ihm zu lösen. Aber egal wie sanft seine Zärtlichkeiten auch waren, seine Hände hatten einen festen Griff, aus dem ich mich nicht lösen konnte. Mein Puls schnellte in die Höhe und ich hörte meinen Herzschlag in meinen Ohren. Plötzlich fehlte mir die Kraft ihn von mir zu stoßen...
 

Ich wusste nicht, ob es an den Ereignissen des Tages lag oder am Alkohol, aber mein Verstand schien sich abzuschalten als ich meine Augen schloss und mich gegen ihn lehnte. Ich erwiderte seinen Kuss und er atmete keuchend aus. Fritz legte einen Arm um meine Taille als er mich noch enger an sich zog.
 

Der Kuss brannte auf meinen Lippen und ich fühlte mich fiebrig. Mein Körper wurde von einer angenehmen Wärme durchflutet und mein Herz schlug kräftig gegen meine Brust. Hörte er es nicht? Seine Brust war so dicht an meine gepresst, er musste doch fühlen können, wie mein Herz dagegen hämmerte?
 

Ich brauchte mehr von dieser einladenden Wärme, genoss das Gefühl der Geborgenheit, die er in mir auslöste. Meine Sinne verlangten nach mehr und ich legte meine Arme um seinen Hals. Ich vergrub meine Hände in seinen Haaren, sog mit meinem Mund leicht an seiner Unterlippe. Er stöhnte leise und sein Kuss wurde drängender als er meinen Rücken an die Taxisäule presste. Es war ein berauschendes Gefühl.
 

Als Plötzlich ein Auto neben uns hupte, zuckte ich zusammen.

„Sie haben ein Taxi bestellt?“, rief eine Stimme und drang durch meine noch immer benebelten Gedanken.

Als mir klar wurde in welcher Situation wir uns befanden stieg augenblicklich Panik in mir auf. Es war wie eine eiskalte Dusche. Ich löste meine Lippen von seinen und drückte Fritz mit meinen Händen weg, um etwas Abstand zu gewinnen. Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Was war gerade passiert? Was hatten wir nur getan?
 

Ich atmete noch immer schwer als ich zur Straße blickte. Dort stand das Taxi. Der Fahrer hatte das Fenster runtergekurbelt und sah mich fragend an. Ich starrte ihn an als ich mich fragte, was er von uns wollte. Ich war aufgewühlt und verwirrt. Ich sah zu Fritz. Auch er atmete schwer und sah mich mindestens genauso erstaunt an, wie ich mich fühlte. Vermutlich hatte er DIESEN Ausgang des Abends genauso wenig erwartet wie ich.
 

Mein Puls raste als ich Fritz ansah. Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte wieder klarer zu denken. Fritz hatte zwei Taxen gerufen und wir hatten hier gewartet und dann ... Ich schüttelte abermals meinen Kopf, um die Bilder loszuwerden. Panik machte sich in mir breit. Ich sah wieder zum Taxi. Ich brauchte dringend Abstand. Fritz war mir viel zu nah. Ich konnte einfach nicht denken. Bevor ich irgendwas machen konnte, was ich später vielleicht bereuen würde, ging ich an Fritz vorbei und murmelte `Gute Nacht, Fritz´. Ich fühlte mich ausgenüchtert und ging mit sicheren Schritten zum Auto.
 

Ich hörte, wie Fritz meinen Namen rief, reagierte aber nicht. Ich musste hier weg. Es kam mir vor wie ein Traum und ich hoffte bald wach zu werden. Ich stieg ins Taxi und teilte dem Fahrer meine Adresse mit. Ich hielt meinen Kopf gesenkt als wir losfuhren. Nach einigen Metern Fahrweg fiel mein Kopf in meine Hände. Ich atmete frustriert aus.
 

Mein Herz raste wie nach einem Marathon und ich spürte noch immer den Kuss auf meinen Lippen. Fühlte das leichte Brennen an den Stellen, wo sein Bart meine Haut berührt hatte. Mich durchströmte noch immer diese Wärme und meine Knie fühlten sich butterweich an. Mir machte dieses Gefühl schreckliche Angst. Wie hatte nur so etwas passieren können? Warum wieder ein Kollege? Warum ausgerechnet Fritz? Ich hatte seinen Kuss so bereitwillig erwidert, wie ein Durstender, dem man Wasser anbot.
 

Dafür war ich noch lange nicht bereit. Ich fühlte mich noch so kaputt. Warum hatte ich nur so wenig Selbstkontrolle?

Ich konnte nur hoffen, dass ich mit dem heutigen Abend nicht etwas zerstörte, was sich gerade erst in den letzten Wochen entwickelt hatte. Ich wollte ihn nicht verlieren.

Ich spürte die Wärme die mich umgab, fühlte mich geborgen – ich liebte das Gefühl. Es fielen Sonnenstrahlen auf meine Haut und ich hörte eine sanfte Stimme, die meinen Namen rief. Was für ein schöner, beruhigender Traum, dachte ich. Seit langem eine Nacht ohne Ängste und Tränen.

„Josephine...“, hörte ich wieder diese sanfte Stimme.

Ich stöhnte auf als im nächsten Moment auch schon die Kopfschmerzen einsetzten. Ich wandte mich in meinem Bett, wollte noch ein wenig weiterschlafen und wickelte mich enger in die Bettdecke ein. Nie wieder, schwor ich mir. Ich würde nie wieder Alkohol trinken.
 

„Josephine?“ Das konnte jetzt aber kein Traum mehr sein, oder? Ich drehte meinen Kopf langsam zur anderen Seite und öffnete mein linkes Auge einen Spalt. Viktor stand in der Tür und sah mich an.

„Ja?“, gab ich mit kratziger, schlaftrunkener Stimme zurück.

Er deutete auf seine Armbanduhr „Musst du nicht arbeiten?“ Ich stöhnte auf. Dann schloss ich wieder meine Augen, drehte mich auf den Rücken und zog die Bettdecke über meinen Kopf.

„Wir haben erst um elf Uhr Teammeeting“, nuschelte ich halb schlafend, halb gähnend in die Bettdecke. Ein Moment war es still und ich driftete wieder ab.

„Es ist halb elf, Kleine.“ Ich gähnte wieder. Halb elf? Super, dann kann ich noch eine halbe Stunde schlaf-
 

„Scheiße“, fluchte ich und riss im nächsten Moment die Bettdecke weg. Warum hatte dieser verfluchte Wecker nicht geklingelt? Hatte ich ihn überhaupt gestellt? Ich wusste es nicht und im Moment war es mir auch egal. Ich versuchte den stechenden Schmerz in meinem Kopf zu ignorieren als ich hochschnellte, mir Sachen zum Anziehen schnappte und an Viktor vorbei marschierte.

„Rufst du mir ein Taxi, Viktor?“

„So gut wie erledigt“ , erwiderte er ruhig.

Kurze Zeit später stand ich im Flur und zog gerade meine Jacke an als ich das Taxi hupen hörte.

„Tut mir schrecklich leid Viktor, aber kannst du dich vielleicht um Wotan kümmern?“, fragte ich ihn zögernd.

„Mach dir mal keinen Kopf. Hab ich schon erledigt, während du noch geschlafen hast.“ Er lächelte mich väterlich an und drückte mir eine kleine Box in die Hand. Ich sah ihn verwirrt an.

„Frühstück für unterwegs“, erklärte er kurz.

Ich umarmte ihn dankbar, musste dabei aber aufstöhnen. Die Bewegung war eindeutig zu hektisch für mich gewesen.
 

„Vielleicht solltest du dich krank melden?“

„Auf keinen Fall“, wehrte ich ab und öffnete die Tür. „Erst betrinke ich mich und dann kann ich deswegen nicht arbeiten? Das macht sich bestimmt gut in meiner Personalakte neben dem Anschießen und Duellieren von Kollegen und Tatverdächtigen.“ Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln und verschwand aus der Tür.

„Bis heute Abend“, rief er mir hinterher. Ich hob die Hand zur Verabschiedung. Mein Kopf war noch nicht bereit, dass ich irgendwas irgendwem zurufen konnte. Ich hoffte in der Box von Viktor waren Kopfschmerztabletten.
 

Im Taxi gab ich dem Fahrer die Adresse. Karin informiere ich per SMS, dass ich auf dem Weg war, mich aber verspäten würde. Um etwas zur Ruhe zu kommen atmete ich einmal tief durch und sah die Box auf meinem Schoß an. Aspirin, dachte ich erleichtert als ich die Box öffnete.

Ich betrachtete den Inhalt und musste Schmunzeln. Viktor war wirklich ein Engel. Es sah aus wie ein Lunchpaket für ein Schulkind. Abgesehen von den Tabletten natürlich. Als sich meine Kopfschmerzen wieder pochend ankündigten, nahm ich dankbar eine Tablette. Ich machte die Box wieder zu und packte sie in meine Tasche. Von dem Essen würde ich die nächsten Stunden nichts runter bekommen.
 

Ich schloss meine Augen und lehnte mich an das Fenster. Als ich aufgewacht war, hatte ich das Gefühl, dass die Geschehnisse von gestern Abend nur ein Traum waren. Je mehr die Kopfschmerzen nachließen und ich über den gestrigen Abend nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich ein ernsthaftes Problem hatte. Hatte ich wirklich Fritz geküsst? Nein. ER hatte mich geküsst.
 

Auch wenn ich den Kuss erwidert hatte, ich durfte nicht zulassen, dass dieser Ausrutscher das Verhältnis zwischen Fritz und mir verkomplizierte. Es hatte sich doch gerade erst die letzten Wochen so gut entwickelt. Es musste einfach daran gelegen haben, dass der gestrige Tag so emotional war und der Alkohol sein übriges dazu beigetragen hatte. Ich hoffte, dass Fritz es genauso sehen würde.

Es wäre besser, daraus keine große Sache zu machen. Wir sollten kurz drüber reden, aber damit sollte es auch erledigt sein. Ich hoffte, dass es dann wieder so ungezwungen wie vorher sein würde.
 

Ich fühlte mich in der momentanen Situation unwohl und ich wollte mich schnell wieder in die bekannte, komfortable Zone begeben. Ich merkte, dass ich nervös wurde, wenn ich über das Thema nachdachte. Und das gefiel mir gar nicht.

Den Rest der Taxifahrt verbrachte ich damit mir zu überlegen, wie ich das Thema Fritz gegenüber ansprechen und was ich ihm sagen sollte. Einigermaßen zufrieden bezahlte ich den Fahrer und stieg aus dem Taxi.
 

Als ich vorsichtig die Tür zum Besprechungsraum öffnete, hörte ich, das der Chef bereits die Teambesprechung begonnen hatte. Er unterbrach seinen Satz und schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an als ich mit einer entschuldigenden Geste eintrat.

„Josephine“, begrüßte er mich. „Schön, dass Sie auch den Weg zu uns gefunden haben.“

„Tut mir leid, Chef“, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

Ich sah mich kurz im Raum um als ich Alex kichern hörte. Ich sah zu ihm. Er hob zur Begrüßung seine Hand ein Stück an und schenkte mir ein schiefes Lächeln. Ich rollte meine Augen. Ich konnte mich auf dumme Sprüche einstellen, sobald das Teammeeting vorbei war. Ich steuerte einen der freien Plätze an.
 

Ewald sah mich mitfühlend an. Er musste vermutlich heute Morgen genauso einen Kater haben wie ich, während Karin mich mit einem vielsagenden Lächeln bedachte. Ich setzte mich neben sie.

„Na, geht´s dir gut?“, flüsterte sie mir zu.

„Ja, alles Bestens“, murmelte ich. Herr Gott, ich war doch nicht die Einzige, die gestern Alkohol getrunken hatte.

Unser Chef hatte erneut mit seinen Erläuterungen begonnen. Ich versuchte ihm zuzuhören.

Einen Moment zögerte ich zwar, sah dann aber zu Fritz, der zurückgelehnt in seinem Stuhl saß, die Arme vor der Brust verschränkt und den Chef fixierte. Ich war mir sicher, dass er meine Blicke bemerkte. Aber er reagierte nicht darauf und schien mich völlig zu ignorieren.

Was war das denn? War er etwa sauer auf mich? Ich kannte diesen abweisenden Gesichtsausdruck von ihm. Aber ich hatte nicht erwartet ihn heute zu sehen. Es verwirrte mich. Warum war er sauer auf mich? Das konnte nicht sein. Er hatte mich geküsst und nicht ich ihn. Aus meiner Sicht hatte er keinen Grund dafür.
 

„Gut“, sagte der Chef und klatschte einmal in seine Hände. Das brachte mich aus meinen Gedanken und ich sah wieder den Chef an.

„Wo wir jetzt vollzählig sind, können wir ja endlich zum wichtigsten Thema kommen. Ich möchte Fritz in unserem Team wieder herzlich willkommen heißen. Ich denke, dass ich für alle sprechen, wenn ich sage, dass es eine Erleichterung ist ihn wieder dabei zu haben. Wir können froh sein, dass es so glimpflich ausgegangen ist, sowohl der Vorfall, wie auch die Untersuchungen.“

Der Chef machte eine kurze Pause und sah Fritz an. Der nickte ihm zu als wenn er ihm die Zustimmung für etwas geben würde.
 

„Wie mit Fritz besprochen, sind wir uns beide einig, dass wir gerne mit dem ganzen Team die weiteren Informationen teilen wollen. Es lässt sich so einfach besser arbeiten. Also Fritz wird zunächst nur im Innendienst arbeiten. Da es noch einige Formalien zu klären gibt. Sobald wir damit durch sind, kann er wieder in den Außendienst. Er wird weiterhin für unbestimmte Zeit zu Sitzungen bei Herrn Dr. Wöller gehen. Zwar nicht mehr täglich, aber einmal in der Woche.“
 

Schweigend sah der Chef eine Weile auf die Akte vor sich. „Es gab einen Eintrag in die Personalakte und eine Art Probezeit wurde verhängt. Sorgt bitte alle dafür, dass die nächsten zwölf Monate keine unnötigen Komplikationen entstehen. Fritz kann schon für Kleinigkeiten Probleme bekommen. Ich möchte kein Disziplinarverfahren für dieses Team haben. Die letzten Monate waren schon ereignisreich genug. Unterstützt euch also gegenseitig, wenn mal wieder bei dem einen oder anderen das Temperament durchgehen möchte.“ Er sagte es mit Nachdruck und sah dabei jeden vom Team einmal an.

„Haben wir uns verstanden?“ Alle stimmten ihm zu. „Gut“, sagte er. „Dann will ich niemanden länger von der Arbeit abhalten. Das Teammeeting ist für heute beendet.“
 

Ewald und Karin verließen zuerst den Raum. Alex sprach noch vorne mit dem Chef. Ich sah zu Fritz. Er saß noch in seinem Stuhl und machte keine Anstalten aufzustehen. Wollte er vielleicht doch mit mir reden und wartete nur, dass die anderen der Raum verließen? Das würde ich verstehen. Ich wollte auch nicht, dass die anderen etwas erfuhren. Das würde alles nur unnötig verkomplizieren. Am wenigsten wollte ich mir die Sprüche von Alex oder Ewald antun.
 

Ich stand auf und ging auf Fritz zu. Er sah noch immer zu Alex und unserem Chef, die gerade ihr Gespräch beendeten und zur Tür gingen.

„Fritz, hast du einen Moment Zeit?“, fragte ich und sah ihn an.

Ich konnte sehen, dass er seinen Kopf nur widerwillig zu mir drehte. Dann blickte er mich an. Seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen und er sah ernst aus. Er schwieg. Dieser Blick beunruhigte mich. Warum sagte er nichts?

„Fritz?“, hörte ich die Stimme vom Chef. „Ich wäre dann jetzt soweit.“ Fritz wandte seinen Blick nur langsam von mir ab, als er nickte und aufstand. Er legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Ich hab mit dem Chef noch was zu besprechen. Vielleicht passt es ja später“, sagte er in einem übertrieben höflichem und gleichzeitig distanziertem Tonfall. Dann ging er an mir vorbei. Das war jetzt irgendwie... unerwartet.
 

***
 

„Machst du schon los?“, fragte mich Ewald, als ich anfing meine Sachen zusammen zu räumen.

„Du weißt doch wie das ist. Wer spät anfängt, kann auch früh aufhören.“

Wir hatten keinen Fall und ich war müde. Ich sah also keinen Grund den Feierabend noch weiter raus zu zögern. Zumal ich mich eh nicht konzentrieren konnte.

Fritz hatte mich den ganzen Tag gekonnt ignoriert. Zumindest kam es mir so vor. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Er hatte sich in der Mittagspause ausgeklinkt, „weil er noch was Wichtiges erledigen musste“, ohne dass ich ihn noch abfangen konnte.
 

Es war nicht so, dass ich darauf brannte das Thema anzusprechen. Ich würde es lieber stillschweigen einfach unter den Tisch kehren. Aber mein Kopf ließ es nicht zu. Und es wurde nicht besser. Und gerade jetzt, wo Fritz mich auch noch ignorierte, war es wie eine Dauerschleife in meinem Kopf.
 

Ich hoffte, dass ich das Thema kurz ansprechen konnte und dann wieder fähig wäre mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Jedes Mal wenn der Name `Fritz´ fiel musste ich wieder an die Worte von gestern denken. Ich spürte wieder die Wärme der Umarmung, die Hitze des Kusses und auch meine Reaktion darauf. Ich fühlte mich unsicher, wenn ich daran dachte. Ja, beinahe panisch. Ich wollte, dass es wie vorher war. Ich wollte nicht, dass es die ganze Zeit in meinem Kopf rum schwirrte.

Ich war vorhin in sein Büro gestürmt und wollte ihn zwingen mit mir zu reden, wollte es endlich hinter mich bringen, aber nur Alex hatte mich ein wenig verwirrt angesehen.
 

„Der ist doch beim Psychologen. Er muss heute und morgen noch hingehen und ab Montag ist es dann nur noch einmal pro Woche“, hatte Alex mir erzählt. Frustriert war ich wieder an meinen Schreibtisch zurückgekehrt. Dann würde ich wohl oder übel morgen erst mit ihm reden können. Vielleicht hatte er ja morgen bessere Laune.
 

Was soll´s, dachte ich und schnappte mir meine Jacke. Es war Zeit für den Feierabend. Ich ging über den Flur und schnappte mir noch einen Kaffee für unterwegs. Ich war todmüde. Aber wenigstens hatte ich keine Kopfschmerzen mehr. Gerade als ich meine Hand Richtung der Tür zum Treppenhaus ausstreckte, wurde sie von der anderen Seite geöffnet.
 

„Oh... Hey“, sagte ich erstaunt, als mir plötzlich Fritz gegenüberstand. Ich hatte nicht erwartet ihn heute noch einmal auf dem Revier zu sehen. Er sah mich genauso überrascht an, wie ich ihn. Dann versteinerte sich jedoch sein Gesicht in Bruchteilen von Sekunden. Er wollte an mir vorbei gehen, aber ich hielt ihm am Arm fest und zog ihn in den Flur. Ich blickte ihn ernst an.
 

„Ich muss mit dir reden“, ließ ich ihn ohne Umschweife wissen.

Er sah mich etwas zögernd an. Nein, dachte ich. Ich würde jetzt nicht zulassen, dass er sich wieder eine Ausrede einfallen ließ. Er sah aus, als ob er nach einem Ausweg suchte. Ich schüttelte meinen Kopf und verstärkte meinen Griff um seinen Arm.

„Du wirst jetzt Zeit für mich haben. Der Chef ist nicht mehr da und Alex scheint dich nicht zu erwarten, also komm mir nicht damit, dass du jetzt nicht reden kannst“, sagte ich um ihn alle Karten aus der Hand zu nehmen.
 

Etwa so hatte es ihm wohl schon auf der Zunge gelegen, denn er zog die Augenbrauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, als er ein wenig Abstand von mir nahm. Ich ließ seinen Arm los. Er sah mich schweigend an und ich konnte wieder seine Kieferknochen arbeiten sehen. Ich atmete einmal durch. Jetzt oder nie, dachte ich.

„Ich wollte bloß was klarstellen... wegen gestern...“, begann ich. In meinen Kopf hatte ich mir schon alles zurecht gelegt, was ich ihm sagen wollte. Er als Mann hatte es vielleicht nicht nötig darüber zu reden, aber ich war eine Frau. Und ich musste darüber reden, um damit abschließen zu können.
 

„Bielefeld“, unterbrach mich Fritz in einem harten Ton. Er schwieg einen Moment und sah sich im Flur um. Dann atmete er einmal langsam frustriert aus.

„Was willst du klarstellen wegen gestern?“, fragte er mich in einem leisen, aber eindeutig erhitztem Tonfall. Er klang beinahe ein wenig bedrohlich.
 

„Also gestern...“, begann ich. „Der Kuss... Ich wollte nur sicherstellen, dass wir uns einig sind, dass das keinerlei Bedeutung hat...“ Es war nicht ganz das, was ich sagen wollte. Aber irgendwie herrschte Leere in meinem Kopf.

Fritz Blick veränderte sich im selben Moment. Er wirkte augenblicklich kühler und seine Lippen hatten sich zu einer festen schmalen Linie verzogen.

„Und jetzt willst du mir sicherlich erklären, dass es gewiss daran gelegen hatte, dass der Tag so euphorisch war und dass der Alkohol Schuld ist an den Ereignisse von gestern...“
 

„Jaa...“, sagte ich etwas zögernd. Wir hatten doch die gleichen Gedankengänge, oder? Aber dieser Unterton von ihm verwirrte mich. Irgendwas stimmte daran nicht. Was war denn sein Problem? Ich wollte noch was sagen, aber er schnitt mir das Wort ab.

„Und wir sind ja Kollegen und wollen nicht, dass sich irgendwas unnötig verkompliziert, oder?“, fuhr er fort. „Alex und die anderen, würden das bestimmt nicht verstehen, richtig? Also ist es wohl besser, wenn wir das Thema vergessen, denn es war ja nur ein Versehen. Ist es das, was du mir sagen wolltest?“

„Fritz“, begann ich etwas zögernd. „Ich habe gehofft, dass du der gleichen Meinung bist. Ich hatte mich schon gewundert, warum du mir aus dem Weg gehst.“

„Ich bin dir nicht aus dem Weg gegangen“, gab er zurück, sah mich dabei aber nicht an.

Ich blickte ihn skeptisch an. „Doch das bist du“, entgegnete ich. Warum benahm er sich denn so?
 

Er steckte seine Hände in die Hosentasche, als er mich wieder ansah.

„Und selbst wenn, warum über ein Thema reden, über dass es offensichtlich nichts zu sagen gibt, wenn wir ja beide einer Meinung sind“, sagte er und hatte dabei einen scharfen Ton. Irgendwie konnte ich ihm gerade nicht folgen.

Ich zog meine Augenbrauen hoch. „Sage mal, streiten wir uns gerade, weil wir einer Meinung sind oder verstehe ich da was falsch?“ Ich konnte wirklich keinen Grund dafür sehen. Er hatte doch genau das gesagt, was ich ihm auch sagen wollte. Wir waren uns also einig, oder?

„Warum sollten wir uns streiten?“, gab er zurück und klang dabei beinahe schnippisch.

„Das frage ich mich auch!“ Meine Stimme hatte sich etwas verschärft.

„Bielefeld, du bist manchmal so-“ Er stockte für einen Moment. Wieder atmete er frustriert aus und fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht.

„So, was?“, fragte ich ihn. Er ging einen Schritt auf mich zu und umfing meinen Oberarm mit seiner Hand. Gerade als er weitersprechen wollte, ging die Tür auf. Fritz und ich starrten beide zur Tür, als uns ein bekanntes Gesicht etwas entfernt ansah.
 

„Josephine“, sagte Sophia euphorisch. Sie kam auf mich zu und sah auch kurz zu Fritz. „Du bist ja auch hier.“ Fritz nickte ihr knapp zu während er meinen Arm los ließ. Sie wandte sich wieder zu mir. „Ich bin so froh, dass ich dich hier gefunden habe. Dieses Gebäude ist wie ein Labyrinth.“

„Warum bist du denn hier?“

„Es geht um Falk“, sagte sie etwas zögernd und sah von Fritz zu mir. „Er hat mehrfach versucht dich zu erreichen. Aber irgendwie scheint das nicht zu klappen. Deswegen bin ich hier.“ Sie lächelte mich zögernd an.
 

Hatte Herr Altenburg etwa seine Schwester hierher geschickt? Und was war so dringend, dass es nicht warten konnte? Zumindest hat er genug Verstand, mich nicht hier auf dem Revier aufzusuchen. Ich musste wieder an die Worte vom Chef denken. Es durfte nicht der Verdachte aufkommen, dass irgendwelche Deals mit Herrn Altenburg geschlossen wurden um Fritz unbeschadet aus der ganzen Sachen raus zu holen.
 

Und ja, er hatte auch heute wieder versucht mich zu erreichen. Ich hatte mir vorgenommen ihn anzurufen, sobald ich Zuhause bin, weil ich vermeiden wollte das Gespräch auf dem Revier zu führen. Mir gefiel es auch gar nicht, dass Fritz davon schon wieder erfuhr. Ich konnte sehen, wie er sich anspannte.

Ich bemühte mich um ein Lächeln. „Ja, tut mir leid. Ich war die letzten Tage ziemlich beschäftigt, was wollte er denn von mir?“

„Das solltest du wohl besser ihn selbst fragen...“ Sie zögerte einen Moment. „Aber ich wollte euch nicht unterbrechen...“ Sie sah von Fritz zu mir.
 

„Das ist schon ok“, sagte ich. „Fritz und ich haben alles geklärt und ich wollte eh Feierabend machen.“ Ich sah zu Fritz. Er sah mich schweigend an. Die Augenbrauen waren noch immer zusammengezogen und seine Stirn legte sich in Falten. Seine Lippen bewegte sich, als ob er etwas sagen wollte. Dann bildete sein Mund jedoch eine schmale Linie.

„Wir haben doch alles geklärt, oder?“, fragte ich Fritz. Er antwortete mir nicht und ich ging einen Schritt auf ihn zu. „Fritz? Haben wir noch was zu besprechen?“, fragte ich nach.
 

„Offensichtlich nicht...“, presste er hervor, drehte sich um und marschierte in Richtung Büro. Ich konnte sehen, dass sein Hände zu Fäusten geballt waren.

„Hab ihr euch gestritten?“, fragte mich Sophia. Fritz war schon aus unserem Sichtfeld verschwunden. „Irgendwie sieht er echt sauer aus“, sagte sie nachdenklich.

Ich sah in die Richtung in die Fritz gegangen war. „Eigentlich nicht“, sagte ich halb zu mir selbst. Aber langsam war ich mir nicht mehr so sicher. Ich verstand ihn einfach nicht. War mir schon wieder was entgangen?
 

Ich drehte mich zu Sophia und zwang mich zu einem Lächeln. „Mach dir mal keine Sorgen. Der kriegt sich schon wieder ein. Ihm läuft regelmäßig ne Laus über die Leber. Wollen wir?“

Wir gingen zum Ausgang. Ich sollte mich jetzt auf das Gespräch mit Herrn Altenburg konzentrieren. Er schuldete mir noch einige Erklärungen.
 

***
 

„Eines muss ich dir noch sagen“, begann Sophia als wir die letzten Stufen zur Wohnung hinaufstiegen. „Falk weiß nicht, dass ich dich mitbringe.“

„Hat er dich nicht geschickt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“

„Aber warum bist du dann aufs Revier gekommen?“, fragte ich verwundert.

„Ich habe mitbekommen, dass er dich nicht erreicht hat. Er war seit gestern so schlecht gelaunt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Hast du schon einmal mit einem schlecht gelaunten Bruder zusammengewohnt? Auch noch einen, der gerade Urlaub hat, während du versuchst für die Uni zu lernen? Es ist nervig!“
 

„Ist er wegen mir schlecht gelaunt?” Langsam reichte es mir mit den ganzen übellaunigen Männern um mich rum. Sie drehte den Schlüssel im Schloss rum als sie mich ansah.

„Das glaube ich nicht. Aber auf jeden Fall kann ich nicht lernen, wenn er so drauf ist. Irgendwas beschäftigt ihn. Aber er redet nicht drüber. Es sei dienstlich, sagt er.“ Sie rollte mit den Augen und drehte sich wieder zur Tür.

Sophia betrat die Wohnung. Ich folgte ihr.

„Falk“, rief sie als sie die Schlüssel in eine Box im Flur legte und ihre Schuhe auszog. „Bin wieder da.“ Ich blieb im Flur an der Tür stehen. Wenn er mich nicht erwartet hatte, passte es ihm vielleicht auch gar nicht.
 

Ich hörte Schritte, die sich dem Flur näherten. „Wird aber auch langsam Zeit, warum kannst du eigentlich ni-“ Herr Altenburg kam aus der Küche in den Flur und blieb erstaunt stehen, als er mich sah.

„Hallo“, sagte er eindeutig überrascht. Ich sah ihn ebenfalls erstaunt an. Ich erkannte ihn kaum. Er hatte eine Küchenschürze um, lässige Kleidung, wildes ungekämmtes Haar und Bartstoppeln. Auf der Straße hätte ich ihn nicht erkannt. Das war nicht der akkurate Ermittler im Anzug, wie ich ihn bei der ersten Befragung kennen gelernt hatte.

Ich hob meine Hand zur Begrüßung. „Ihre Schwester hat mich eingesammelt. Sie scheinen schlechte Laune zu haben.“ Er beäugte seine Schwester mit einer hochgezogenen Augenbraun.

„Das hat sie gesagt?“

„Ja, dass hat sie“, entgegnete ich trocken.
 

Sophia grinste ihren Bruder an, der sie weiterhin düster anblickte. Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Gerne geschehen, Bruderherz. Nun kannst du endlich aufhören zu schmollen und wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung zu laufen.“

„Was?“, sagte er empört. Sie drehte sich von ihm weg.

„Ich bin dann mal in meinem Zimmer.“ Sophia hob ihre Hände in die Luft. „Endlich lernen“, rief sie mit übertriebener Euphorie aus und ließ mich im Flur stehen. Ich sah ihr einen Moment nach. Herr Altenburg räusperte sich und ich wandte meinen Blick zu ihm. Er sah mich zögernd an.

„Ich kann auch gehen, wenn es gerade nicht passt.“

„Nein“, sagte er entschieden. Dann blickte er mich freundlicher an. „Bleiben Sie, bitte. Ich wollte mit Ihnen reden.“

Ich folgte ihm in die Küche und nahm in der Sitzecke platz. Es war eine schöne, helle und geräumige Küche.
 

„Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?“

„Ein Wasser“, entgegnete ich. „Warum wollten Sie mit mir reden?“, fragte ich, nachdem er selber auf einem Stuhl platz genommen hatte. Er sagte einen Moment nichts, sah nur auf seine Tasse, die er in der Hand hielt. Dann stellte er sie ab und sah mich an.

„Sind Sie sauer auf mich?“, fragte er mich.

Ich sah ihn etwas verwundert an. „Wie kommen Sie darauf?“

„Wegen der Jobanfrage“

Ich wusste immer noch nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte, aber sauer war ich deswegen nicht. Solange es keine Probleme verursachte, gab er für mich auch keinen Grund darauf übermäßig zu reagieren.

„Ich muss zugeben, dass ich verwundert war. Mein Chef übrigens auch. Und Sie müssen zugeben, dass Sie diese Anfrage zum wirklich unmöglichstem aller Zeitpunkte gestellt haben.“ Es klang ein Tadel in meiner Stimmte mit. Ich war mir sicher, dass er ihn gehört hatte.
 

Er räusperte sich. „Ich muss wirklich diese ganze Sache entschuldigen“, begann er. „Mein Chef hat mich gestern angerufen. Ich befürchte, dass es zu einem Missverständnis gekommen ist.“ Herr Altenburg klag etwas gequält. „Mir ist natürlich bewusst, wie das für Ihren Chef aussehen musste. Ich war leider im Urlaub, sonst hätte ich vermutlich meinen Vorgesetzten noch stoppen können. Aber ich hatte vor dem Urlaub erwähnt, dass ich gerne einen Fall mit Ihnen zusammen aufarbeiten würde, wenn die Sache mit Ihrem Kollegen geklärt wäre. Damit meinte ich aber nicht, direkt danach. Das sah mein Chef offensichtlich anders.“

„Sie wissen also, dass das Verfahren von Fritz eingestellt wurde?“, fragte ich nach.

„Ja“, begann er. „Wie gesagt, ich habe gestern mit meinem Chef telefoniert. Er hat mich über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft informiert. Leider hat er das zum Anlass genommen, gleich bei Ihrem Chef anzurufen. Das tut mir wirklich leid.“

„Herr Altenburg, machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wenn es keine Absicht war und es niemandem geschadet hat, sehe ich keinen Grund für eine Entschuldigung. Außerdem hat mein Chef Ihrem Vorgesetzten offensichtlich eine Absage erteilt.“ Auf den Lippen von Herrn Altenburg spiegelte sich ein leichtes Lächeln wieder.
 

„Ja“, bestätigte er mir. „Auch DAS hat mir mein Chef erzählt. Er war nicht sehr erfreut darüber.“ Dann sah er mich aber wieder ernst an. „Die Absage“, begann er. „Ich hoffe wirklich, dass ich noch einmal eine Anforderung stellen kann, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat.“ Ich hörte, dass es keine Frage war. Es war für ihn eine Tatsache, dass er mich noch einmal anfordern würde. Wie lange würde das wohl dauern? Hatte er überhaupt die Zeit dafür? Wir bemühten uns doch Fälle immer zeitnah zu lösen.

Ich sah ihn einen Moment nachdenklich an. „Können Sie den Fall nicht mit jemand anderem bearbeiten? Dann wäre es für Sie möglich sofort damit zu starten.“
 

Er schüttelte den Kopf und sah mich entschlossen an. „Nein. Es muss mit Ihnen sein.“

Ich stutzt bei der Aussage. „Warum?“, fragte ich. „Warum muss ich es sein?“ Er schwieg einen Augenblick, sah wieder auf seine Tasse. „Herr Altenburg“, ermahnte ich ihn. „Finden Sie nicht auch, dass ich wissen sollte, warum ich diesen Fall annehmen soll?“

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück während er mich fixierte. „Ich habe Ihre Ermittlungsmethoden der letzten Fälle studiert. Sie sind für mich die Einzige, die für diese Ermittlung in Fragen kommt.“ Warum wirkte er so angespannt? Warum war ihm dieser Fall so wichtig? Ich wurde misstrauisch.

Seine körperlichen Reaktionen sprachen Bände, auch wenn er versuchte sie zu unterdrücken. Mich erinnerte die Situation an unsere erste Begegnung. Nur das wir dieses Mal die Rollen getauscht hatten. Ich stellte die Fragen und er suchte nach passenden Antworten. Wenn ich ihn so ansah, konnte ich sehen, dass er jemand versuchte zu beschützten. Es ging hier nicht um irgendeinen Fall. Er war in irgendeiner Form persönlich damit verbunden. Und genau das weckte mein Interesse.
 

Ich verengte meine Augen als ich mein Glas Wasser abstellte und mich zu ihm vorbeugte.

„Worum geht´s hier wirklich?“, fragte ich ihn.

„Um den Fall“, beharrte er und haftete seinen Blick an mir fest.

„Ok“, erwiderte ich gedehnt. Mir reichte die Antwort natürlich nicht. „Warum geht es in dem Fall?“

„Um Mord an einem Kriminalbeamten“, sagte er mit leiser, bedächtiger Stimme.

„Ein toter Polizist?“, fragte ich überrascht. „Ich habe nichts dergleichen gehört“, fuhr ich fort. So was hätte doch Wellen geschlagen. Davon hätte ich doch hören müssen.

„Von diesem Fall konnten Sie nichts gehört haben, er ist ca. drei Jahre alt.“

„Immer noch ungeklärt?“, fragte ich und lehnte mich wieder etwas in meinem Stuhl zurück, nahm ein Schluck Wasser.
 

„Ich gebe Ihnen alle Informationen die mir zur Verfügung stehen, wenn ich weiß, dass Sie bereit sind sich mit dem Fall zu beschäftigen. Aber bis dahin kann ich nicht über Details sprechen.“

„Wieso?“, harkte ich nach. „Liegt die Akte unter Verschluss?“ Eigentlich sollte ich die Antwort kennen.

„Wie alle internen Untersuchungen“, bestätigte er. „Fänden Sie es nicht auch schlimm, wenn jeder einfach an interne Ermittlungen gelangen könnte?“

„Und Sie können diese Akten alle einsehen?“, fragte ich ihn.

„Ich leite die Abteilung für interne Untersuchungen, Frau Klick. Natürlich kann ich.“

Ich nickte als ich mich ein Stück zu ihm vorbeugte. „Warum gerade diesen Fall?“

Welchen Grund hatte er einen drei Jahre alten Fall wieder neu aufzurollen. Gab es neue Beweise?
 

„Er ist ungelöst...“, begann er.

Ich unterbrach ihn. „Herr Altenburg, ich bitte Sie... So funktioniert das nicht. Es gibt zig ungelöste Fälle, die in den Archiven liegen. Warum also gerade dieser?“

Er schwieg eine Weile, sah mich dann ernst an. „Ich kannte die Person“, gab er zu. Das hatte ich mit gedacht. „Frau Klick, ich habe jemanden versprochen, dass ich mir den Fall noch einmal ansehen würde. Ich bin mir sicher, dass der Fall zu lösen ist.“

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich dafür die Richtige bin, Herr Altenburg.“ Ich wusste nicht, ob ich überhaupt helfen konnte. Jeder Tag der verging erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fall ungeklärt blieb. Ich verstand, warum er glaubte, dass ich helfen konnte. Aber ich wollte keinen Fall annehmen, der vielleicht eine Privatangelegenheit war.

Er senkte seinen Kopf ein wenig, fuhr sich über den Bart und hielt an seinen Schläfen inne als er sie einige Male leicht massierte. Er versuchte es zu verstecken, aber ich konnte sein trauriges Lächeln sehen.

Mit leiser Stimme wandte er sich wieder an mich, ohne mich dabei direkt anzusehen.
 

„Haben Sie nicht auch alle möglichen Dinge in Bewegung gesetzt und jede Chance genutzt um Herrn Munro zu helfen? Ist es verkehrt zu versuche den Personen in seiner Umgebung zu helfen?“

In seiner Stimme lag keine Wertung. Ich musste ihm zustimmen. Ich hatte alles mir mögliche getan, um Fritz helfen zu können. Und ich hätte noch viel mehr getan, wenn es notwendig gewesen wäre. Alles nur, damit Fritz nicht ins Gefängnis musste. Ich fuhr mir nachdenklich über die Stirn. Da hatte er mich wohl an der Angel.

„Wenn ich entscheiden soll, ob ich den Fall annehme oder nicht benötige ich mehr Details.“

„Wirklich?“, fragte er mich. Ich konnte Hoffnung in seinen Augen sehen.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich den Fall annehme. Ich habe nur gesagt, dass ich mir die Details angucke und dann entscheide, ob es mir möglich ist überhaupt zu helfen. Das letzte Wort liegt eh bei meinem Chef und der hat mir schon gesagt, dass in nächster Zeit, solange Herr Munro im Innendienst arbeitet, keine Fremdeinsätze gestattet werden.“

„Das versteh ich natürlich. Ich will auch nicht, dass Ihr Team Probleme bekommt. Momentan liegt mir die Akte auch noch nicht vor. Ich muss sie selber erst im Archiv beantragen. Ich würde mich bei Ihnen melden, sobald mir die Akte vorliegt. Wäre das in Ordnung?“
 

Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Ganze wirklich eine so gute Idee war. Ich dachte an die Worte vom Chef. Aber Herr Altenburg hatte mich nicht aufgefordert ihm zu helfen. Er hatte gefragt, ohne Zwang oder Druck auszuüben. Ich verstand ihn und kannte das Gefühl. Ich würde mir zumindest den Sachverhalt ansehen. Der Fall war drei Jahre alt. Es würde wohl an dem Stand nichts ändern, wenn die Akte noch ein wenig liegen würde, bis ich Zeit dafür reif war.

Ich tastete schlaftrunken mit der Hand nach meinem Handy. Das Klingeln hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Es war noch dunkel und demnach mitten in der Nacht. Wer um Himmelswillen rief um so eine unmenschliche Uhrzeit an?

Ich drehte mich auf den Rücken und hielt mir das Handy ans Ohr. „Ja?“, murmelte ich ins Telefon.

„Taxiservice ist auf dem Weg“, hallte eine männliche Stimme in den Apparat.

Was war auf dem Weg? Hatte sich da jemand verwählt? Ich sah mit halb geöffneten Augen auf das Handydisplay und stöhnte innerlich, als ich den Namen las.
 

„Alex? Was ist denn los? Es ist Sonntag!“

„Ich denke, das Wort `Bereitschaft´ sagt dir etwas, oder? Zufällig sind wir beide dieses Wochenende damit dran. Wir haben einen Fall in Schöneberg.“

„Wir haben einen Fall?“ Jetzt war ich wach und saß kerzengerade in meinem Bett.

„Ja, haben wir. Bin schon auf dem Weg zu dir. Kannst mir später für den Service danken. Mach dich fertig, Josephine. Ich bin in ´ner viertel Stunde bei dir.“

Alex war nach guten zwanzig Minuten am Gestüt angekommen und sammelte mich ein. Einen Vorteil hatten solche Einsätze in der Nacht. Man kam schnell durch Berlin ohne sich viel durchkämpfen zu müssen.
 

Wir gingen in den Innenhof, als wir den Tatort erreichten. Die Spurensicherung arbeitete bereits. Auch Tereza war vor Ort, was mich verwunderte. Gerade die Gerichtsmedizin, traf eher später ein als wir.

„Hallo ihr beiden“, begrüßte uns Tereza. Ich sah sie überrascht an.

„Was machst du denn schon hier?“

„Kreuzberg ist doch nur einen Katzensprung von hier entfernt“, entgegnete sie schulterzuckend.

Ein junger Mann war vom Balkon gestürzt. Offensichtlich konnte nicht von einem Selbstmordversuch ausgegangen werden, sonst wären wir jetzt nicht hier.
 

Die Kollegen von der Streife kamen auf uns zu und reichten uns die Unterlagen. Es war eine ungewöhnlich umfangreiche Mappe.

„Es handelt sich um den 27-jährigen Studenten Andreas Richter. Um 1:30 Uhr wurde er das letzte Mal gesehen. Gegen 2:45 Uhr haben wir ihn hier gefunden. Wir wurden von den Nachbarn wegen Ruhestörung gerufen. Es gab hier öfter Probleme, wenn er seine Studentenpartys gefeiert hat.“

„Wer hat das Opfer zuletzt gesehen?“, fragte Alex.

„Einige Gäste haben beobachtet, dass er auf den Balkon gegangen ist“, entgegnete uns der Kollege.

„War er allein?“

„Das konnte niemand bestätigen. Bei dem Alkoholpegel der Gäste war es generell schwierig Antworten zu kriegen. Aber die Nachbarin hat auf dem Balkon gegen zwei Uhr einen Streit zwischen dem Opfer und einer anderen Person mitbekommen.“

„Hat sie jemanden erkannt oder einen Kampf gehört?“

„Nein, sie konnte niemanden erkennen. Die Balkone sind mit Sichtschutz versehen. Sie hat sich dann später Kopfhörer aufgesetzt, weil sie noch an Grafiken arbeiten und sich konzentrieren musste.“
 

„Wie viel Gäste waren es?“, fragte Alex.

„Das ist schwer zu sagen. War so eine typische Facebook-Party. Eingeladen waren wohl um die Dreißig. Aber wir haben von 52 Personen die Personalien aufgenommen.“

52 Personen? Ich stöhnte innerlich. Wir würden alleine schon für die ganzen Vernehmungen und die Protokolle zwei, vielleicht auch drei Wochen brauchen. Und vermutlich würde es nicht bei diesen 52 Gästen bleiben. Wie viele hatten vorher schon die Party verlassen? Und welcher Student konnte sich eine Wohnung leisten wo 52 Personen reinpassten? Das Gebäude sah gepflegt aus und war in einer teuren Gegend.

„Sind noch Gäste für eine Befragung da?“, fragte ich den Kollegen.

Der Streifenpolizist informierte uns darüber, dass die Nachbarin noch wach sei und für eine Befragung zur Verfügung stehe. Es wären außerdem auch noch zwei Gäste in der Wohnung, Nummer 402. Von den restlichen Zeugen seien die Personalien aufgenommen worden. Die Kollegen verabschiedeten sich und wir gingen zu Tereza.

„Kannst du uns schon was zur Todesursache sagen?“

„Bei einem Fall aus dem vierten Obergeschoss kann man wohl von Genickbruch ausgehen.“

Ich blickte hoch. Bei einem Altbau hatte das vierte Obergeschoss eine beachtliche Höhe. „Etliche Knochen sind gebrochen und der Schädel wurde massiv beschädigt. Kampfspuren konnte ich erst mal nicht erkennen, aber vielleicht ergeben die genaueren Untersuchungen mehr. Die Details habe ich morgen für euch.“

Alex und ich gingen nach oben in die Wohnung. Im Wohnzimmer fanden wir zwei junge Leute, die auf einer Couch warteten. Die beiden mussten in etwa das Alter des Opfers haben. Die Frau hatte geschwollene und gerötete Augen - vermutlich vom Weinen. Der junge Mann hielt ihre Hand fest, streichelte sie und redete beruhigend auf sie ein. Alex ging auf die beiden zu. Als sie unsere Anwesenheit bemerkten, standen sie von der Couch auf.

„Hallo“, begrüßte Alex die beiden. „Mein Name ist Alexander Mahler, das ist meine Kollegin Josephine Klick. Wir sind von der Kripo und ermitteln in diesem Fall.“

Der junge Mann, nahm die Hand von Alex an und schüttelte sie. „Mein Name ist Jonathan Weber. Das hier ist meine Frau Melanie.“

„Wir würden Ihnen gerne einige Fragen stellen. Wäre das in Ordnung für Sie?“, fragte ich. Beide nickten und setzten sich mit Alex wieder hin.

Ich blieb stehen und versuchte mir einen Eindruck von der Wohnung zu machen. Sie war riesig. Das Wohnzimmer allein musste schon mindestens 80 qm haben. Der Raum war groß und offen gestaltet mit modernen Möbeln und hohen, hellen Wänden die zur Decke hin mit edlem Stuck abschlossen. Acht Türen ließen darauf schließen, dass die Wohnung noch etliche Quadratmeter mehr umfassen musste. Welcher Student konnte sich so eine hohe Miete leisten?

„Woher kannten Sie Herrn Richter?“, fragte Alex.

Herr Weber stockte einen Moment, als er seine Frau betrachtete. Ich konnte sehen, dass sie um Fassung rang. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wangen. Ihr Mann wandte sich wieder an Alex. „Wir sind ehemalige Schulkameraden von Andreas. Die Einzigen zu denen er überhaupt noch Kontakt pflegte.“

Sie erzählten, dass sie noch hier waren, weil ihr Zug erst in zwei Stunden ging. Das junge Ehepaar und Herr Richter stammten nicht aus Berlin, kamen aber aus der näheren Umgebung. Ich sah mich weiter im Zimmer um, als ich mich in das Gespräch einmischte.
 

„Wissen Sie ob er hier alleine gewohnt hat?“

„Soweit wir wissen, ist das die Wohnung von seinem Vater“, antwortete Frau Weber mit schwacher Stimme. „Er arbeitet im Ausland und hat Andreas hier wohnen lassen.“

„Können Sie uns sagen, wie wir den Vater erreichen können? Oder hatte Herr Richter noch andere Verwandte?“

„Ich kenn keine weiteren Verwandten. Seine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben und sein Vater arbeitet irgendwo in Asien als Expat. Die beiden haben aber nicht sonderlich viel Kontakt.“

„Hatte Herr Richter vielleicht Probleme mit jemandem?“, übernahm Alex wieder das Gespräch.

„Nicht das wir wüssten“, setzte Herr Weber an. „Wir hatten uns schon etwas länger nicht gesehen. Aber ihm war wichtig, dass wir heute hier waren. Wir kannten hier niemanden und haben uns eine Weile zurückgezogen, als die Feier zu heftig wurde.“

Mit heftig meinte Herr Weber wohl der Alkoholkonsum. Zumindest sah es hier danach aus.
 

„Wann haben Sie ihn auf der Feier das letzte Mal gesehen?“, fragte Alex weiter.

„Es wird wohl so gegen 1:30 Uhr gewesen sein. Danach sind wir rausgegangen um ein wenig frische Luft zu schnappen. Wir haben nicht auf die Uhr gesehen. Aber als wir die Wohnung wieder erreichten, stand plötzlich die Polizei hinter uns und wollte Andreas sprechen.“

Alex stellte noch einige Fragen, während ich mich weiter in der Wohnung umsah. Ich stand vor einem großen Bücherregal mit identisch aussehenden Ordnern. Nur die Beschriftung auf den Ordnerrücken unterschied sie voneinander. Ich zog eines heraus. Es war ein Fotoalbum - mit sehr guten Fotographien aus dem Jahre 2013. Alle Fotos waren beschriftet mit Datum und Namen der Personen, die auf den Fotos waren.

Ich sah mich weiter um und stellte fest, dass an den Wänden die verschiedensten Fotos platziert waren.
 

„Sind das alles Fotografien von Herrn Richter?“, fragte ich in die Runde.

Frau Weber auf das Fotoalbum in meinen Händen. Sie nickte und lächelte sanft während sie mich traurig ansah.

„Ja. Wir haben Andreas immer gesagt, dass er nach seinem Studium sich unbedingt auf das Fotografieren spezialisieren sollte. Er hatte großes Talent. Auch unsere Hochzeit hat er damals fotografiert.“

„Wurden vielleicht auch gestern Abend Fotos gemacht?“ Frau Weber dachte kurz nach bevor sie antwortete. „Andreas hat keine Fotos gemacht, aber die Gäste haben den ganzen Abend über Selfies geknipst. Ich glaube teilweise sogar auf Facebook gepostet. Ich habe auch ein paar Fotos auf meinem Handy.“ Ich nickte ihr zu und sah zu Alex. Er sah mich fragend an. Ich deutete ihm an, dass er mit seiner Befragung ruhig fortführen konnte.
 

Wir sollten die Fotos von den Gästen anfordern. Ich war mir sicher, dass wir dort weitere Hinweise finden konnten.

Ich wandte mich wieder den Fotoalben im Regal zu, die chronologisch geordnet waren. Schnell hatte ich die zuletzt einsortierten Aufnahmen gefunden. Sie waren gerade einmal zwei Wochen alt. Es konnte sicherlich nicht schaden, wenn wir auch die Person befragten, die Herr Richter zuletzt fotografiert hatte.
 

***
 

„Morgen“, sagte Alex und begrüßte Ewald und Fitz als wir das Büro betraten. Die Mittagszeit war bereits rum. Die Gespräche hatten länger gedauert als gedacht. Wir hatten auch noch mit der Nachbarin gesprochen.

„Wo ist Karin?“, fragte ich in die Runde.

„Die ist erst mal krankgeschrieben. Sie hat sich ´ne Grippe eingefangen.“, informierte mich Ewald. „Wird wohl länger dauern.“ Ich stöhnte innerlich. Gerade bei so einem Fall, brauchten wir jeden Kollegen. Es gab soviel Leute, die wir befragen mussten. Aber krank war krank. Da konnte man nichts machen.

„Ihr seid spät dran“, mischte sich Fritz ein. Er stand an den Schreibtisch von Waldi gelehnt und sah uns an.

Ich war froh das Alex darauf einging und ich mich zurücknehmen konnte. Fritz und ich hatten seit dem Gespräch am Donnerstag kaum miteinander gesprochen. Wir hatten uns am Freitag weitestgehend gemieden. Aber was mich noch viel mehr irritierte war, dass er ganz normal mit mir umging, wenn wir miteinander redeten. Zumindest kam es mir so vor. War für ihn wirklich alles geklärt? Das war doch genau das was ich wollte. Aber warum bekam ich meinen Kopf nicht frei? Ich versuchte das ungute Gefühl abzuschütteln und mich auf den Fall zu konzentrieren.

„Denkt ihr, dass es ein Gast war?“, fragte Ewald.

„Kann aber auch genauso gut ein Nachbar gewesen sein, der den Lärm nicht mehr ausgehalten hat“, warf Fritz ein.

„Reicht das als Mordmotiv aus?“, fragte ich skeptisch.

Er sah mich nur stirnrunzelnd an. „Wir hatten schon Mörder mit schwächeren Motiven“, antwortete er sachlich. „Wir sollten es zumindest nicht ausschließen.“
 

Ich sah ihn einen Augenblick an, senkte aber dann meinen Blick auf die Akten vor mir, als er seine Augen nicht von mir abwandte. Hatte er schon immer so einen intensiven Blick oder fiel mir das jetzt erst auf? Egal was es war. Es machte mich nervös.
 

Ich wandte mich an Waldi um mich endlich wieder auf den Fall zu konzentrieren.

„Waldi, kannst du dich irgendwie in seinen Account auf Facebook einloggen und dir ne Gästeliste ziehen? Ich würde das gerne mit den Personalien der Leute abgleichen. Vielleicht waren ja noch mehr da.“

Ewald nickte. „Ich werde mal gucken, was sich da machen lässt.“

„Kannst du bitte auch noch recherchieren, welcher Nachbar wegen Ruhestörung bei der Polizei angerufen hat?“, fügte Alex hinzu. „Wäre vielleicht hilfreich, wenn wir uns mit der Person unterhalten.“

Wieder nickte Ewald und drehte sich zu seinem Rechner.

„Läuft“, sagte er und begann seine Recherche.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Fritz. Er stand etwas verloren im Raum. Ich war mir sicher, dass er im Außendienst diese Frage nicht gestellt hätte. Alex und ich hatten uns schon vorher geeinigt, dass wir versuchen würden die Gespräche ins Revier zu verlagern damit wir Fritz so gut wie möglich einbinden konnten.
 

Ich drückte Fritz einen Stapel mit Formularen in die Hand. „Was wir jetzt machen? Die Leute anrufen und Termine für eine Befragung vereinbaren.“ Er sah mich unglücklich an und ich verdrehte die Augen. „Sei froh, dass wir die Befragungen hier machen“, sagte ich in einem ernsten Ton. „So kannst du wenigstens bei den Vernehmungen dabei sein. Also guck nicht so und nimm die Zettel. Alex und ich müssen da auch durch. Karin ist nicht da. Wir müssen das also aufteilen.“

Er blickte noch immer die Blätter wiederwillig an, nahm sie mir aber ab. Alex gab ich ebenfalls einen Stapel. Ich wollte mich schon umdrehen, als mir noch etwas einfiel.

„Waldi? Kannst du bitte als erstes die Kontaktdaten von Herrn Richters Vater raussuchen? Er wurde noch nicht benachrichtigt.“

„Geht klar“, sagte Ewald ohne sich von seinem Rechner abzuwenden.
 

Alex und Fritz waren in ihr Büro verschwunden und ich ging an meinen Schreibtisch. Frau Weber hatte mir wie besprochen die Bilder vom Abend per E-Mail zugeschickt. Vielleicht konnten wir mit den Bildern den Abend rekonstruieren. Wenn wir das mit den Aussagen der Leute abglichen, hatten wir eine Chance den möglichen Täter heraus zu kristallisieren.
 

Ich ordnete gerade noch die Bilder in einen neuen Ordner als Fritz an mir vorbei ging. Mein Blick folgte ihm ganz automatisch. Er blieb vor dem Schreibtisch von Ewald stehen.

„Kannst du bitte mal diese Person raussuchen? Die Handynummer ist leider nicht vergeben. Vielleicht findest du ja irgendwie eine Festnetznummer oder so.“

„Na klar. Mach ich, wenn ich mit den anderen Sachen durch bin“, erwiderte Ewald. Dann wandte Ewald sich mir zu.

„Josephine, komm doch mal her. Ich habe den Vater von Herrn Richter gefunden.“

Ich stand von meinem Stuhl auf und ging zu Ewald.

„Kann es sein, dass er in Korea lebt?“, fragte mich Ewald.

„Ja, er arbeitet wohl dort als Expat“, ließ ich Ewald wissen.

„Ist Seoul nicht die Hauptstadt?“, fragte ich als ich die Adresse auf dem Monitor sah.

„Bielefeld“, hörte ich Fritz neben mir entnervt ausatmen. „Das heißt S-eo-ul. Wie das englische Wort für Seele.“
 

Ich rollte mit meinen Augen. Seine großkotzige Art ging mir manchmal wirklich auf die Nerven. „Ach, können wir jetzt auch noch koreanisch? Kannst dich ja fürs Supertalent beim Bohlen anmelden!“

„Das hat einfach mit Allgemeinbildung zu tun“, gab er zurück und sah mich herausfordernd an. Nein! Ich starte jetzt keinen Streit. Ich hatte mich oft genug von ihm provozieren lassen. Warum konnte er seine Allgemeinbildung nicht für sich behalten oder es mit Leuten teilen, die es interessierte?

Ich wollte gerade etwas erwidern als mein Handy klingelte. Mich überraschte der Name auf dem Display. Warum rief mich Herr Altenburg an einem Sonntag an? Aber eigentlich war der Grund doch auch egal. Ich dachte wieder an die arrogante Äußerung von Fritz. Er prahlte so gerne mit seinem Allgemeinwissen und dass er sich mit Kulturen auskannte. Aber kaum hörte er den Namen von Herrn Altenburg, vergaß er sämtliches Benehmen. Ich sah ihn herausfordernd an, während ich den Anruf annahm.
 

„Herr Altenburg“, sagte ich übertrieben freundlich. Ich wusste, dass Fritz ihn nicht leiden konnte. Sollten die beiden diesen Disput unter sich ausmachen. Ich hatte keine Lust mehr auf diesen Kindergarten. Ich genoss im Moment die Entgleisung im Gesicht von Fritz viel zu sehr. Ich deutete kurz an, dass ich privat telefonieren wollte und verließ den Raum.

„Frau Klick?“, fragte Herr Altenburg etwas irritiert. Hatte ich ein wenig zu viel Vertrautheit in meine Stimme gelegt? Als ich auf dem Flur war räusperte ich mich und sprach wieder in einem normalen Ton.
 

„Ja, mit der sprechen Sie. Was kann ich für Sie tun?“, fragte ich ihn.

„Es geht um die Akte“, informierte er mich. „Ich sagte ja, dass ich mich melden würde, wenn ich die Unterlagen hätte.“

„Es ist Sonntag, Herr Altenburg. Wie sind Sie so schnell an die Akten gekommen?“ Hatte er das Archiv persönlich durchwühlt oder wie hatte er das geschafft?

„Für mich ging es auch schneller als erwartet. Und es tut mir leid, dass ich Sie an einem freien Tag störe. Aber hätten Sie Zeit, dass ich Ihnen heute eine Kopie vorbei bringe?“

Ich stockte für einen Moment. „Bei uns ist heute Morgen ein Fall reingekommen.“

„Sie sind auf dem Revier?“, fragte er erstaunt.

„Sozusagen. Mordfall auf einer Feier.“

Am anderen Ende war für einen Augenblick nichts zu hören. „Viele Gäste?“, wollte er wissen.

„Ausreichend“, bestätigte ich ihm.

„Das wird dann wohl eine Weile dauern“, stöhnte er unzufrieden.

„Gut geschlussfolgert“, gab ich trocken zurück. Ich schwieg einen Moment, fügte dann aber noch ein `Tut mir leid´ hinzu. Der Fall schien ihm wirklich wichtig zu sein. Aber die Arbeit ging vor. Das wusste er.

„Kann man nicht ändern“, gab er nach einer Weile zurück. „Sie melden sich, wenn der Fall abgeschlossen ist?“

„Ja, ich melde mich dann bei Ihnen.“
 

Wir beendeten das Gespräch danach. Ich stärkte mich mit einem Kaffee, bevor ich wieder ins Büro ging. Bevor ich die erste Nummer auf meiner Liste wählen konnte, kam Fritz durch die Bürotür auf meinen Schreibtisch zu.

War er immer noch streitsüchtig oder konnte man sich schon wieder mit ihm unterhalten? Ich war mir nicht sicher. Daher drehte ich mich etwas widerwillig zu ihm.

„Was ist?“, fragte ich und fand selber, dass ich etwas barsch klang.

„Ich konnte ein paar Leute schon erreichen. Willst du die Zettel wiederhaben? Dann kannst du die später besser mit der Gästeliste von Facebook abgleichen.“

„Ja, danke. Leg sie einfach auf den Tisch. Ich kümmere mich dann später darum“, sagte ich, als ich mich wieder zu meinem Rechner drehte. Fritz legte die Unterlagen auf meinen Schreibtisch, blieb aber weiterhin direkt neben mir stehen. Ich runzelte meine Stirn, als ich mich wieder zu ihm umdrehte.
 

„Ist noch was?“

Er schwieg ohne mich anzusehen. Dann verschränkte er die Hände vor der Brust.

„Warum ruft er dich an einem Sonntag an?“, fragte er schließlich. Ich sah ihn einen Moment schweigend an bevor ich antwortete.

„Ich sehe keinen Grund, warum dich das interessieren sollte.“ Ich konnte sehen wie es in seinem arbeitete. Er beugte sich zu mir vor. Seine Augen waren ein wenig zusammengekniffen, was seinen Blick noch ernster erscheinen ließ. Es sah so aus, als ob er etwas sagen wollte, tat es aber nicht, sondern schüttelt nur den Kopf und nahm wieder Abstand.

„Warum frag ich eigentlich...“, knurrte er und verließ das Zimmer.
 

Die Tür zu seinem Büro knallte zu. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen. Warum hatte ich auch so bissig antworten müssen? Würde es jetzt immer zwischen uns so weitergehen? Würden wir uns wegen jeder Kleinigkeit streiten? Genau das hatte ich vermeiden wollen. Ich fluchte innerlich, als ich mich wieder zu meinem Schreibtisch umdrehte.

„Ist alles ok?“, hörte ich die Stimme von Ewald. Ich blinzelte und räusperte mich als ich meinen Kopf wieder zum Monitor wandte.

„Keine Ahnung“, antwortete ich ohne ihn anzusehen. Meine Stimme klang irgendwie schal. „Er scheint schon wieder Stimmungsschwankungen zu haben.“

„Sind das die Bilder von Frau Becker?“, fragte mich Alex, der vor einer großen Metaplanwand stand und die angehefteten Fotos von der Feier betrachtete.

Ich legte den Stapel auf seinen Schreibtisch. „Ja, Waldi hat die gerade frisch gedruckt. Sie hat sich ziemlich gesträubt, aber mit ein wenig Überzeugungsarbeit hat sie dann zugestimmt. Das sind die Letzten. Dann haben wir von allen Gästen die Aussagen und die Fotos.“

Es sah mich etwas gequält an, als er sich wieder zu den Fotos wandte. „Und trotzdem sind wir kein Stück weiter!“
 

Ich konnte seine Frustration verstehen. Wir hatten alle Gäste der Feier befragt und die Fotos ausgewertet ohne einen Schritt weitergekommen zu sein. Zwei Wochen hatte uns das gekostet, ohne Erfolge. Wir betrachteten beide nachdenklich die Fotos auf der Metaplanwand.

„Habt ihr was Neues?“, fragte eine Stimme neben mir. Ich war so tief in meinen Gedanken versunken, dass ich regelrecht zusammenzuckte und mich erschrocken umdrehte.

Fritz stand neben mir und schaute ebenfalls auf die Bilder vor uns, als er genüsslich in einen Apfel biss.

„Das ist aber noch nicht der letzte Stand, oder? Wo sind die neuen Bilder?“, fragte Fritz.

„Hinter dir“, entgegnete ich und deutete auf den Schreibtisch von Alex. Das waren die letzten Bilder. Wir hatten den Rest schon beschriftet, auf der Metaplanwand chronologisch sortiert und ausgewertet. Auf keinem der Bilder waren uns Besonderheiten aufgefallen. Die Gäste hatten sich auch an nichts Ungewöhnliches erinnern können, wenn sie sich aufgrund des Alkoholpegels überhaupt an was erinnerten.
 

Ich beobachtete Fritz, wie er auf den Schreibtisch von Alex zuging und sich die frisch gedruckten Bilder nahm.

„Dann wollen wir mal sehen, was auf den Fotos so zu sehen ist.“ Er nahm das erste Bild in die Hand und betrachtete es eine Weile bis er es uns reichte. Alex nahm ihm das Foto ab und platzierte es an der Metaplanwand. Wir konnten einige Lücken füllen. Mittlerweile hatte ich das Gefühl auf der Feier dabei gewesen zu sein, so viele Bilder hatten wir uns schon angesehen.

„Man, man, man...“, hörte ich Fritz sagen, als wir die Hälfte der Bilder bereits an der Wand befestigt hatten. „Die Frau konnte sich wohl nicht entscheiden, welchen Mann sie an dem Abend wollte.“

„Fritz“, mahnte ich ihn.

„Was denn?“, fragte er unschuldig.

„Das sollte hier keine Rolle spielen, außer du findest ein Foto, wo sie mit dem Opfer auf dem Balkon knutscht.“ Ich sah das Foto an, dass mir Fritz reichte.
 

Wieder waren es die selben Personen und jeden von ihnen hatten wir befragen. Es war frustrierend.

„Das bringt uns nicht weiter“, fluchte ich und befestigte ein weiteres Foto. Ich drehte mich wieder zu Fritz, damit er mir ein neues Bild reichte. Fritz sah nachdenklich auf die Schnappschüsse, die er in der Hand hielt.

„Manchmal muss man geduldig sein um das zu finden, was man sucht, Bielefeld“, sagte er mit einem seltsamen Unterton ohne mich anzusehen. Dann nahm er ein weiteres Bild und reichte es Alex der

an der Wand befestigte und mit ein wenig Abstand betrachtete.

„Die junge Dame muss ja wirklich betrunken gewesen sein“, sagte Alex. Ich konnte darauf nichts erwidern und auch Fritz blieb stumm.
 

Ich beäugte ihn von der Seite. Aber er blickte weiter konzentriert auf die Fotos vor ihm. Mich erinnerte Alex Anmerkung wieder an den Abend, an dem Fritz mich am Taxistand geküsst hatte. Auch ich war betrunken. Ich fühlte mich augenblicklich unwohl. Ich wollte mich nicht erinnern, nicht daran denken und doch tat ich es schon wieder.
 

Ich hatte gehofft, dass nach dem Gespräch mit Fritz die Sache für mich erledigt sei. Aber das war nicht der Fall. Ich erwischte mich, wie ich ihn manchmal gedankenverloren anstarrte. Ich legte noch immer jedes Wort von ihm auf die Goldwaage, während er sein Verhalten mir gegenüber nicht geändert hatte. Ich überspielte das meistens mit nicht immer passenden Sprüchen oder suchte mir Aufgaben im Außendienst, um vor ihm fliehen zu können. Warum hatte ich nur so viele Probleme mit der Sache? Vielleicht beschäftigte es mich so sehr, weil ich befürchtete wieder den gleichen Fehler wie in Bielefeld gemacht zu haben? Ich wollte mein Team nicht verlieren. Ich wollte Fritz nicht verlieren
 

Mir war klar, dass der Innendienst an Fritz zerrte. Er war nicht der Typ der seine Zeit hinter einem Schreibtisch verbringen wollte. Er musste raus um Verbrecher zu jagen und nicht in Akten nach ihnen zu suchen.

Unseren Kollegen was es ebenfalls aufgefallen. Ewald hatte schon gewitzelt, dass jemand mit Fritz unbedingt mal wieder Gassi gehen sollte. War das der Grund für seine häufigen Stimmungsschwankungen? Machte ich aus einer Mücke einen Elefanten und brachte ihn damit zur Weißglut?
 

„Was ist los?“, fragte Alex plötzlich. Ich sah zu ihm und sah, dass er Fritz anblickte. Fritz sah uns konzentriert an.

„Ich glaube, wir haben hier jemand Neuen.“ Alex und ich gingen auf Fritz zu und er zeigte uns das Bild. Er hatte Recht. Mir fiel sofort der Mann im Hintergrund auf. Er stand weder auf der Gästeliste, noch hatten die Kollegen seine Personalien aufgenommen, auch auf keinem weiteren Foto war er zu sehen.

„Das Foto wurde um 1:42 Uhr gemacht. Passt also auch in den Zeitraum, in dem die Tat verübt wurde“, sagte ich und beide stimmten mir zu.

„Ist er noch auf anderen Fotos zu sehen?“, fragte Alex. Wir gingen die restlichen Fotos durch, aber er war auf keinem weiteren Bild. Ich nahm Fritz das Foto ab und machte mich auf den Weg in mein Büro.

„Wo willst du denn hin?“, rief er mir hinterher. Ich drehte mich noch einmal zu ihm.

„Es sollte doch offensichtlich sein, dass ich Frau Becker anrufe. Vielleicht weiß sie wer das ist.“ Als er nichts erwiderte, drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort.
 

„Seinen Namen kenn ich nicht“, sagte Frau Becker übers Telefon. „Aber er ist mit einer Kommilitonin von mir zusammen. Christine Felber heißt sie.“

Christine Felber? Diesen Namen kannte ich. Sie junge Frau hatte gerade erst heute Morgen an meinem Schreibtisch einige Fragen beantwortet.

„Vielen Dank, Frau Becker. Sie haben uns sehr geholfen. Wir melden uns, wenn wir noch weitere Fragen haben sollten.“ Nach dem Gespräch suchte ich die Unterlagen von Frau Felber raus.

Wenn sie genauso offen diese gläserne Facebook-Kultur lebte wie die anderen, konnte ich darüber die Identität des Mannes auf dem Foto rausfinden. Es dauerte nicht lange bis ich fündig wurde. Ich druckte die Unterlage, schnappte mir das Blatt und ging wieder ins Büro meiner Kollegen.
 

„Thomas Grünert“, sagte ich als ich den Raum betrat. „Das ist unser Mann.“

„Das ging schnell Sherlock“, sagte Alex und grinste mich an.

„Sherlock hätte damit früher vielleicht größere Probleme gehabt. Aber in Zeiten von Facebook und Co... Ihr wollt gar nicht wissen, was ich alles über seine Freundin rausgefunden habe.“ Ich ging auf die beiden zu und überreichte ihnen den Ausdruck.

„Wie kommst du auf seine Freundin?“, fragte Fritz.

„Seine Freundin ist Christine Felber. Ich habe sie heute Morgen verhört. Sie stand auf der Gästeliste, ist aber nicht zur Feier gegangen. Andreas Richter und sie hatten kurz vor der Feier einen Streit.“ Beide wurden hellhörig.

„Worum ging der Streit?“, wollte Alex wissen.

„Die beiden haben in einem Fotokurs zusammengearbeitet. Sie hat gemodelt und er hat die Fotos gemacht. Im Nachgang waren ihr diese aber zu freizügig. Sie wollte nicht, dass er sie veröffentlich.“

„Er war natürlich anderer Meinung.“ Ich konnte der Vermutung von Fritz nur zustimmen. Meine beiden Kollegen sahen sich vielsagend an.
 

„Thomas Grünert war gewiss nicht glücklich, dass Nacktbilder von seiner Freundin veröffentlich werden sollten“, sagte Alex und sah Fritz und mich an.

„Das werden wir rausfinden“, bestätigte ich. Alex nickte mir zu, sah aber dann auf die Uhr. Ich schaute ihn etwas verwirrt hinterher, als er zu seinem Schreibtisch ging und sich seine Jacke schnappte.

„Ja, aber nicht mehr heute, Josephine“, entgegnete er mir und zog sich langsam die Jacke an. Ich sah ihn fragend an. Was meinte er damit?

„Nicht mehr heute?“, sagte ich und nahm Fritz das Bild ab, wo der junge Mann drauf zu sehen war. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. „Jungs, der Typ ist tatverdächtig. Er könnte der Mörder von Andreas Richter sein.“

„Könnte, Josephine. Wir haben keinen Beweis. Ewald ist weg. Wir würden eine Weile brauchen, bis wir seine Adresse haben. Schau auf die Uhr. Es ist schon spät. Wir kriegen heute Abend niemanden mehr für eine Befragung. Reicht es dir nicht, wenn du ihm morgen die Handschellen anlegen kannst?“
 

Beide sahen mir an, dass ich nicht zufrieden war. Wie konnten sie jetzt einfach Feierabend machen, wo wir vielleicht den Mörder hatten. Alex knöpfte seine Jacke zu, während er mich noch immer ansah. „Hör zu, Josephine. Lass uns morgen weitermachen. Wir werden heute Abend niemanden mehr verhören. Wenn ich heute nicht pünktlich Zuhause bin, damit Caroline zum Joga kann, dann verspreche ich dir werde ICH wohl das nächste Mordopfer sein.“ Er kam auf mich zu und klopfte mir auf die Schulter. „Tut mir leid.“

Alex verabschiedete sich noch von Fritz und verschwand aus dem Büro.
 

Ich blickte Fritz verständnislos an als wir alleine waren. Unter anderen Umständen hätte ich heute noch darauf hoffen können mit ihm diesen Thomas Grünert aufzusuchen.

„Mich brauchst du nicht so ansehen, Bielefeld. Ich bin raus. Ich habe Innendienst.“

„Ja“, sagte ich gedehnt als ich ihm entnervt die Unterlagen aus den Händen nahm und mich von ihm wegdrehte. „Ich weiß. Ich weiß“, murmelte ich und machte mich auf den Weg in mein Büro. Ich hörte wie er mir folgte, als ich zu meinem Schreibtisch ging.

„Was ist?“, fragte ich als ich mich in meinen Bürostuhl setzte.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte er mich vorsichtig. Eigentlich war die Frage wirklich lieb von ihm, trotzdem verengte ich meine Augen.

„Du willst doch nur sicherstellen, dass ich mich nicht alleine auf die Suche nach dem Typen mache.“ Als er mit den Achseln zuckte atmete ich frustriert aus. „Du hättest es zumindest leugnen können“, sagte ich genervt.
 

Die Lösung lag vielleicht direkt vor uns. Trotzdem wollten beiden, dass ich bis morgen warte? In mir sträubte sich alles dagegen, aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich atmete tief durch um mich zu beruhigen. Im selben Moment dachte ich an die Worte von Fritz. `Manchmal muss man geduldig sein um das zu finden, was man sucht...´

Es war ungewöhnlich so etwas von Fritz zu hören. Aber ich musste ihm Recht geben. Ich wollte, dass die Teamarbeit funktioniert. Also musste ich für Kompromisse offen sein und Geduld zeigen.

Ich öffnete mein Mailprogramm um Waldi die nötigen Daten rüberzuschicken. Da Fritz noch immer im Büro stand drehte ich mich zu ihm.
 

„Wartest du auf was?“

„Ja, auf ein Antwort“, entgegnete er knapp.

Ich drehte mich zu ihm und versuchte zu lächeln. Ich war mir sicher, dass es gequält wirkte. „Danke fürs Angebot, Fritz. Aber ich werde den Bus nehmen.“

Ich sah ihn fragend an, als er nichts erwiderte. Er schwieg mich weiterhin an. Die Stille machte mich nervös. Ich versuchte die Unsicherheit zu überspielen und reckte mein Kinn. „Sind wir jetzt mit dem Babysitting durch oder willst du mich auch noch zum Bus bringen?“
 

Er zog seine Augenbrauen zusammen, als er mich unzufrieden ansah. Ich konnte hören, wie er schwer ausatmete. Mir war bewusst, dass meine Worte nicht besonders höflich formuliert waren. Aber manchmal konnte ich einfach nicht anders, auch wenn es mir schon jetzt leid tat, dass ich ihn so bissig angefahren hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst. Warum konnte ich nicht normal mit ihm umgehen? Er hatte doch nichts falsch gemacht. Er drehte sich wortlos um und ging in sein Büro.

„Fritz“, rief ich. Er ging noch einige Schritte, blieb dann aber stehen und sah mich über die Schulter hinweg an. Es war an der Zeit endlich wieder rational mit meinem Partner zusammenzuarbeiten.
 

„Was ist?“, wollte er wissen. Ich konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht deuten und musste schlucken. Ich atmete einmal durch und lächelte ihn vorsichtig an.

„Ich muss noch eine Mail an Waldi schreiben. Danach würde ich für heute auf die Verbrecherjagt verzichten und Feierabend machen. Gehen wir gemeinsam?“ Als er nichts sagte, fühlte ich mich wieder unbehaglich. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht wieder irgendwas Unpassendes zu sagen. Fritz sah zu Boden und ich dachte schon, dass er ohne mir zu antworten gehen würde, aber dann sah er mich an und fing an zu lächeln.

„Ich fahr nur noch meinen PC runter, dann können wir los.“

Ich erwiderte sein Lächeln. „Ich bin dann gleich bei dir, schreibe nur noch schnell die Mail an Waldi.“
 

Fritz verschwand in seinem Büro und ich schrieb schnell die Nachricht zu Ende, bevor wir uns auf den Weg zum Parkplatz machten.

„Ich soll dich wirklich nicht fahren?“, fragte er mich erneut, als wir auf dem Weg nach draußen waren.

„Nein, wirklich nicht. Das wäre ein viel zu großer Umweg. Aber schön, dass du dir Sorgen um mich machst.“

„Ich mache mir doch keine Sorgen um dich. Eher um die armen Verbrecher, die dir vielleicht in die Arme laufen könnten.“ Fritz grinste mich frech an und ich rollte (konnte nur) mit den Augen (rollen).

„Ich verstehe sowieso nicht, warum du dir nicht endlich eine Plakette für den Wagen holst“, sagte er, als wir den Flur entlang gingen.

„Ich werde mir eh bald einen Neuen holen müssen. Meiner wird nicht mehr lange machen.“

„Weißt du denn schon, was es für einer werden soll?“, fragte er mich.

„Ich mag meinen Jetzigen. Ich denke, dass ich mir den Nachfolger holen werde.“
 

Draußen angekommen hatte ich mich schon fast zum Gehen abgewandt als ich mich doch noch einmal zu ihm umdrehte. „Ihr wartet doch morgen auf mich?“

„Du hast also vor morgen später anzufangen?“, fragte er mich.

„Ja, habe noch einen Termin. Werde wohl gegen zehn Uhr da sein.

„Ich denke, solange wird Alex wohl warten können. Wir wollen dir ja nicht den Spaß nehmen, den Täter wieder dingfest zu machen.“ Er lächelte mich verspielt an und auch ich konnte ihn endlich entspannt anlächeln.

„Dann verpass nicht deinen Bus“, sagte er, als er seinen Wagen nach einem Moment der Stille öffnete.

„Du hast Recht. Ich sollte mich auf den Weg machen. Nacht, Fritz.“

„Nacht, Bielefeld“, erwiderte er.
 

***
 

„Ich frage Sie noch einmal, Herr Grünert“, hörte ich die Stimme von Fritz durch die Lautsprecher. „Haben Sie Herrn Richter geschlagen an dem Abend?“

Ich saß neben Ewald und wir schauten beide auf den Monitor vor uns. So konnten wir den Tatverdächtigen beobachten, der von Fritz und Alex verhört wurde. Wieder einmal war ich am Verhör nicht beteiligt. Mir war es schleierhaft, wie die beiden das immer hinbekamen. Aber zumindest hatte man mir gewährt Herrn Grünert heute Morgen festzunehmen. Ich hatte es durchgehen lassen, weil ich gestern etwas zickig gewesen war.
 

Er verschränkte seine tätowierten Arme, als er Fritz und Alex abwechseln beobachtete ohne was zu sagen. Ich versuchte Verletzungen an seinen Händen zu finden, aber nach über zwei Wochen konnten wir wohl nicht mehr erwarten etwas zu erkennen. Tereza hatte Blessuren beim Opfer entdeckt, die auf einen Schlag ins Gesicht deuteten. Vielleicht hatte Herr Grünert also das Opfer geschlagen, bevor er ihn über den Balkon gestoßen hatte. Mit seinem muskulösen Körperbau hatte er auf jeden Fall die Kraft dafür.
 

„Herr Grünert“, warnte Fritz ihn, als er noch immer schwieg und meine beiden Kollegen mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah.

„Ich war sauer“, begann er schließlich mit einem rauen, aber energischen Tonfall. „Der wollte Nacktfoto von meiner Freundin veröffentlichen... Was würden Sie denn tun? Erst bringt er Christine dazu sich vor ihm auszuziehen und dann macht er auch noch Fotos von ihr, die er der ganzen Welt zeigen will. Das konnte ich doch nicht so stehen lassen.“

„Also haben Sie ihn ins Gesicht geschlagen?“, schlussfolgerte Alex. Unser Tatverdächtiger nickte.

„Und dann haben Sie ihn vom Balkon gestoßen“, sagte Fritz ruhig.

„Nein, Herrgott noch mal. Ich habe ihn doch nicht getötet“, sagte er entschieden. „Ich habe ihm eine gescheuert. Ja, das gebe ich zu. Ich habe ihm gesagt, dass er die Finger von Christine lassen und mir die Bilder und die Negativen geben soll. Er meinte, dass die Bilder sein Vermächtnis an die Welt seien und er mir die Fotos nicht geben würde. Daraufhin habe ich ihm eine geknallt und bin gegangen. Aber ich habe ihn nicht vom Balkon gestoßen.“
 

Fritz und Alex ließen nicht locker. Die Befragung dauerte an und ich konnte die Erschöpfung in den Augen des jungen Mannes sehen. Entweder war er ein sehr guter Lügner oder er war wirklich unschuldig. Aber wenn dieser Mann unser Opfer nicht umgebracht hatte, waren wir wieder bei Null. Er blieb bei seiner Aussage und langsam bekam ich das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte. Aber wenn er nicht der Täter war, gab er nur noch eine Möglichkeit...
 

Es klopfte an unserer Tür und ein junger Mann betrat den Raum. Ich stand vom Stuhl auf und ging auf ihn zu.

„Hallo“, sagte ich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Martin Felber“, begann er. „Der Bruder von Christine Felber.“ Im nächsten Moment sah er an mir vorbei und zum Monitor, auf dem Herr Grünert zu sehen war.

„Er war es nicht“, sagte Herr Felber, als er mich wieder ansah. Ich folgte seinem Blick zum Monitor, dann blickte ich ihn wieder an.

„Ich gehe davon aus, dass Sie eine Aussage machen möchten?“, fragte ich ihn.

Nachdem Herr Felber die Frage bejahte, wandte ich mich an Waldi. „Kannst du dich bitte kurz um Herrn Felber kümmern? Ich hole die Jungs.“ Ewald nickte. Dann sah ich wieder Herrn Felber an. „Warten Sie hier bitte auf mich.“ Im nächsten Moment war ich auch schon aus dem Zimmer verschwunden.
 

Ich klopfte an die Tür, bevor ich eintrat. Fritz und Alex sahen mich fragend an. „Ihr solltet vielleicht kurz hier unterbrechen“, ließ ich beide wissen. Fritz zog die Augenbrauen hoch.

„Bielefeld, wir sind hier mitten in einem Verhör“, entgegnete er und deutete auf Herrn Grünert.

„Das weiß ich, Fritz“, antwortete ich ruhig. „Aber hier draußen wartet jemand, der eine Aussage machen will. Und es könnte dieses Verhör hier völlig verändern“, sagte ich mit Nachdruck und sah beide eindringlich an. Sie verstanden und folgte mir nach draußen.
 

Wir gingen zu Herrn Felber, der mit Waldi zusammen im Büro auf uns wartete. Fritz und Alex stellten sich vor und begrüßten ihn.

„Sie wollen eine Aussage machen, Herr Felber“, erinnerte ich ihn und forderte ihn auf anzufangen.

„Ja, das will ich.“

„Warum glauben Sie, dass Herr Thomas Grünert unschuldig ist?“, fragte ich Herrn Felber.

„Weil ich den Abend mit ihm in einer Bar verbracht habe.“

Die Jungs sahen ihn genauso skeptisch an, wie ich es tat. War es ein verzweifelter Versuch Herrn Grünert ein Alibi zu verschaffen? „Aber wir haben Fotos von ihm und er hat auch zugegeben, dass er da war und einen Streit mit dem Opfer hatte“, entgegnete ich Herrn Felber.

Der junge Mann nickte zustimmend. „Ich habe auch nicht gesagt, dass wir nicht da gewesen sind.“
 

„Wir?“, fragte Alex. „Sie waren also auch da?“

„Ja, ich war auch da. Thomas wusste nicht wo Andreas wohnte, deswegen habe ich ihn hingebracht. Wir hatten uns verabredet für einen Männerabend im `Finnegan´s Irish Pub´ in Steglitz. Er war sehr betrunken und fing die ganze Zeit an über die Fotos zu faseln. Ich sagte ihm, er sollte mit Andreas darüber reden. Er sei vielleicht ein wenig abgehoben manchmal, wenn es um seine Kunst ging, aber generell konnte man mit Andreas vernünftig reden. Ich wusste nicht, dass dort eine Party stattfand.“ Er machte eine kurze Pause und gab uns Zeit über das gesagte nachzudenken.

Ich verengte meine Augen, da mir etwas nicht ganz nachvollziehbar erschien. „Aber es war doch schon nach Mitternacht“, wandte ich ein. „Wenn Sie nicht wussten, dass eine Feier geplant war, warum sind Sie da noch hingefahren? Jeder normale Mensch schläft um so eine Uhrzeit.“
 

„Andreas schlief nie vor 3 Uhr“, informierte Herr Felber uns. „Er war ein Nachtschwärmer und entwickelte am liebsten Nachts seine Fotos. Ich hatte Christine oft von ihm abholen müssen, weil es sehr spät geworden war und sie nicht alleine durch Berlin fahren sollte. Ich war mir sicher, dass er noch wach war.“

„Was ist dann passiert?“, fragte Fritz nach.

„Wir sind mit dem Taxi hingefahren und ich habe unten gewartet. Es hat mir aber zu lange gedauert. Also bin ich nach oben gegangen. Habe die beiden streitend auf dem Balkon gefunden. Thomas hatte Andreas gerade ordentlich eine gewischt und ich bin dazwischen gegangen. Ich musste ihn halb aus der Wohnung zerren. Er war sehr aufgebracht, beruhigte sich aber als wir wieder draußen waren. Den Rest der Nacht waren wir im Irish Pub. Aber eines ist sicher: Thomas ist nicht verantwortlich dafür, dass Andreas vom Balkon gestürzt ist. Andreas war noch sehr lebendig, als wir los sind.“
 

Ich sah Alex und Fritz an. Beide sahen nachdenklich aus, ließen die Informationen langsam sacken. Die Aussage von Herrn Felber klang plausibel. Natürlich mussten wir das Ganze noch überprüfen. Wenn das Alibi sauber war, standen wir wieder ganz am Anfang. Und langsam bekam ich ein ungutes Gefühl.
 

***
 

„Und?“, fragte ich Fritz, als dieser ins Büro kam.

„Der Taxiservice hat eine Fahrt mit zwei Männern um die 25 Jahre um 1:50 Uhr von der Wohnung zum Irish Pub bestätigt. Die Leute vom Irish Pub konnten wir noch nicht erreichen. Alex ist gerade dran und versucht da jemanden zu erwischen.“

Fritz stand neben mir, als ich auf meinem Stuhl sitzend zu ihm hoch sah. Er stand mit verschränkten Armen vor mir und schnaubte. „Es ist unglaublich, dass wir diesen Grünert wirklich gehen lassen mussten.“

„Aber wieso festhalten, wenn er es nicht wahr?“, fragte ich ihn nachdenklich.

„Du glaubst an seine Unschuld?“, entgegnete er mir skeptisch.

„Du nicht?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht“, begann er. „Ich weiß nur, dass er der Einzige ist, den wir bisher als Tatverdächtigen festnehmen konnten. Alles spricht gegen ihn, außer die Aussage vom Schwager. Und der könnte auch ein Mittäter sein. Immerhin ist dieser Grünert bereits polizeilich bekannt wegen Körperverletzung.“

Natürlich hatte Fritz Recht. Aber als ich alle Fakten in Gedanken noch einmal durchging, ergriff mich wieder dieses ungute Gefühl.
 

„Dir geht doch schon wieder etwas durch den Kopf, Bielefeld“, sagte Fritz, als er sich an meinen Schreibtisch lehnte und mit seinem Zeigefinger auf seine Schläfe klopfte.

„Weißt du, Fritz“, begann ich und lehnte mich mit verschränkten Armen in meinen Stuhl zurück. „Bei uns auf dem Dorf gab es eine alte Dame, die sich immer beklagt hat, dass irgendjemand ihre Eier über Nacht klaute. Sie lagen nicht mehr im Nest, wie sonst. Das ging etliche Tage so. Wir hielten als Kinder sogar einmal Wache, um den Täter zu überführen. Später stellte sich raus, dass niemand ihr jemals auch nur ein Eier geklaut hat. Ein Großteil der Hühner war einfach zu alt und legte nicht mehr und die beiden jungen Hühner hatten ihre Eier nie ins Nest gelegt, sondern immer draußen ins Gras. Es war erst ihrem Enkel nach etlichen Wochen beim Rasenmähen aufgefallen.“
 

Fritz sah mich stirnrunzelnd an. Offensichtlich verstand er nicht, was ich ihm damit sagen wollte.

„Würdest du mir bitte erläutern, was du mir mit dieser Dorfgeschichte sagen willst? “ Ich zog eine Augenbraue hoch.

„Ich möchte damit sagen, dass wir jede Nacht hätten Wache schieben können vor diesem Hühnerstall und nie einen Täter entdeckt hätten, weil es keinen gab.“ Er sah mich noch immer stirnrunzelnd an, ohne etwas zu sagen. Ich konnte sehen, dass Fritz über die Worte nachdachte.

„Kein Täter?“, begann er skeptisch. „Meinst du, dass er ohne Fremdverschulden vom Balkon gestürzt ist?“

„Wir haben doch nur einen Mordverdacht nicht ausschließen können wegen des Streits auf dem Balkon und den Verletzungen im Gesicht, die nicht vom Sturz stammten. Aber wenn diese Hinweise nicht zu dem Sturz geführt haben...“

„Du redest von Selbstmord?“, unterbrach er mich.

Ich sah ihn ernst an. „Oder kannst du mir eine andere Erklärung liefern?“
 

Wir schwiegen beide für eine Weile. Er blickte im Raum umher und ich tippte mit meinen Fingern auf dem Schreibtisch, als mein Handy anfing zu vibrieren. Ich beugte mich vor, um auf den Display zu sehen. Als ich den Namen las, ergriff ich schnell das Handy, bevor Fritz ebenfalls den Namen lesen konnte. Ich stand auf.

„Ich gehe mir mal ´nen Kaffee holen“, sagte ich und verließ den Raum. Sobald ich das Zimmer verlassen hatte antwortete ich dem Anrufer.

„Herr Altenburg...“

„Hallo Frau Klick“, begann er. „Was macht der Fall?“, fragte er mich mit freundlicher Stimme. Ich war verwundert. Warum rief er mich an? Er hatte doch gesagt, dass er warten würde, bis der Fall abgeschlossen sei. „Machen Sie Fortschritte?“

„Wir stecken gerade ein wenig fest“, antwortete ich. „Ich weiß nicht, wie lange wir noch für den Fall brauchen. Sonst hätte ich mich auch schon längst bei Ihnen gemeldet.“

„Das versteh ich.“ Er schwieg, setzte im nächsten Moment aber wieder erneut an. „Ich muss Ende nächster Woche nach Frankfurt auf einen mehrwöchigen Lehrgang“, informierte er mich.

„Oh“, sagte ich nur. Warum erzählte er mir das? „Wie lange wird der dauern?“

„Er ist für drei Wochen angedacht“, teilte er mir mit, schwieg dann wieder für einen Augenblick. „Frau Klick, ich kann verstehen, wenn Sie gerade viel zu tun haben“, setzt er erneut an. „Aber ich habe mir gedacht, dass ich Ihnen vielleicht eine Kopie der Akte vorbeibringen könnte. Auch wenn Sie noch keine Zeit dafür haben. Vielleicht passt es ja irgendwann, während ich in Frankfurt bin. Ich fände es schade, wenn es sich wegen meiner Abwesenheit noch weiter nach hinten verschieben würde.“

Jetzt verstand ich, warum er angerufen hatte.

„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Das ist eine gute Idee. Ich würde mich dann in den Fall einlesen, sobald es zeitlich passt.“

„Vielleicht können wir uns ja auf einen Kaffee morgen treffen“, schlug er vor.
 

Ich stutzte einen Augenblick. Auf einen Kaffee treffen? Vielleicht wäre es nicht gut, wenn man uns irgendwo in einem Cafè mitten in Berlin sichten würde. Der Fall von Fritz war noch nicht lange her und man könnte etwas Falsches annehmen.

Wie konnte ich das Problem diplomatisch lösen? Selbst wenn ich dem Fall zustimmen würde, wüsste ich noch nicht wann ich den Chef danach fragen konnte. Wie lange sollten wir warten, um genug Gras über den Fall von Fritz wachsen zu lassen?
 

Es machte keinen Sinn jetzt darüber nachzudenken. Ich hatte den Fall noch nicht einmal gelesen. Vermutlich konnte ich ihm gar nicht helfen. Auch wenn er sich anscheinend sicher war.

„Ich habe momentan wirklich sehr wenig Zeit, Herr Altenburg“, begann ich zögernd. „Vielleicht kann mir Sophia die Unterlagen vorbei bringen?“

„Sie denken, dass ich mich noch nicht wieder auf dem Revier blicken lassen kann?“, fragte er ernsthaft besorgt.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich. „Aber ich denke in einigen Wochen, sollte das kein Problem mehr sein.“
 

Ein längeres Schweigen breitete sich am anderen Ende aus. „Na gut“, willigte er ein. „Ich werde Sophia vorbei schicken, sobald es passt.“

Er verabschiedete sich von mir und wir beendete das Gespräch. Ich ging zum Getränkeautomaten und zog mir in aller Ruhe einen Kaffee. Ich war etwas erschöpft und brauchte jetzt ein starkes Getränk, welches mich durch den Rest des Tages bringen würde. Mit dem Kaffeebecher bewaffnet, machte ich mich wieder auf den Weg in mein Büro.
 

Im Zimmer angekommen, lehnte Fritz noch immer - mit vor der Brust verschränkten Armen - an meinem Schreibtisch.

„Den Kaffee zu holen, hat ja ganz schön lange gedauert“, sagte er und klang dabei ein wenig schroff.

Ich sah ihn erstaunt an. Woher kam der Stimmungswechsel? Ich hatte doch verhindert, dass er sehen oder hören konnte, dass Herr Altenburg angerufen hatte. Er reagierte immer so schrecklich empfindlich, wenn es um diesen Mann ging.

„Wieso gehst du eigentlich immer raus beim Telefonieren?“ In seiner Stimme klang ein gereizter Unterton mit.

“Ist es dir lieber, wenn ich meine ganzen privaten Gespräche im Büro erledige und meine Kollegen damit behellige?“, sagte ich in neutralem Ton.
 

Er ging jedoch nicht weiter darauf ein. „Was hast du denn so Wichtiges zu besprechen? War das schon wieder dieser Altenburg?“ Ich seufzte. Ich hatte schon befürchtet, dass er es erahnen würde.

„Ja war er“, bestätigte ich seine Vermutung. Ich konnte sehen, wie der Kieferknochen von Fritz anfingen zu arbeiten, wie sich die Augenbrauen langsam zusammenzogen und er mich ernst ansah. Ich fuhr in ruhigem Ton fort.

„Fritz, haben wir nicht schon einmal darüber gesprochen, dass ich das Recht habe, dass Privates privat bleibt?“

Ich konnte ein Funkeln in seinen Augen erkennen. Es war ein gefährliches Funkeln. Er stieß sich vom Schreibtisch ab und kam langsam auf mich zu, fixierte mich.

„Was hast du denn mit diesem Typen zu klären, was du als privat bezeichnen würdest?“, fragte er mich in einem erschreckend ruhigen Ton.

Langsam begann auch ich mich innerlich anzuspannen. Es hatte sich doch gerade erst alles zwischen uns einigermaßen normalisiert. Ich wollte jetzt nicht schon wieder einen unnötigen Streit provozieren, aber ich war auch nicht bereit nachzugeben.
 

Mein Telefon klingelte in diesem Moment und ich konnte sehen, dass sich der Blick von Fritz noch

mehr verfinsterte, wenn das überhaupt möglich war. Ich holt mein Handy aus meiner Jackentasche. Aber noch bevor ich ans Telefon gehen konnte, schnappte sich Fritz mein Handy und beantwortete den Anruf.

„Jetzt hören Sie endlich auf meine Kollegin ständig zu belästigen“, begann Fritz in einem energischen Tonfall. „Das ist ja nicht zum Aushalten. Vielleicht können Sie es sich schwer vorstellen, aber wir sind im Dienst und haben wichtigeres zu tun, als nur auf Anrufe von Leuten wie Ihnen zu warten...“

Fritz holte Luft und ich konnte in seinem Ausdruck sehen, dass er dem Anrufer noch einiges an den Kopf werfen wollte, aber plötzlich hielt er inne und wurde ganz ruhig.
 

Als seine Augen sich weiteten wurde ich hellhörig. Ich versuchte zu lauschen, was am anderen Ende gesagt wurde, konnte aber nichts verstehen.

„Na-natürlich“, sagte Fritz. Seine Tonlage hatte sich völlig geändert. Er klang beinahe unsicher. Neugierig sah ich ihn an als er mir langsam das Handy reichte. Er schaut mich schuldbewusst an, vermied aber den Blickkontakt mit mir und sah zu Boden.

„Dein Vater“, sagte er zögernd.
 

Ich musste laut Auflachen, als ich den Gesichtsausdruck von Fritz saß. Beinahe hätte man ihn als niedlich bezeichnen können. Es musste ihm peinlich sein, das konnte ich ihm ansehen. Ich fand, dass ihm dieser sanfte Gesichtsausdruck stand. Ich kicherte noch als ich das Telefon an mein Ohr nahm.

„Papa?“, fragte ich.

„Kleines“, antwortete er. „Was ist denn bei euch los? Ist alles ok mit deinem Kollegen?“

„Ja, keine Sorge“, entgegnete ich. „Fritz meinte das nicht so. Er hat dich mit jemanden verwechselt.“ Ich sah Fritz an und zog meine Augenbrauen hoch. Er drehte sich grummelnd weg. Ich musste innerlich grinsen.

„Warum rufst du an?“, fragte ich meinen Vater.

„Bist du das Wochenende auf dem Gestüt?“

„Ja, bin ich“, antwortete ich verwundert. „Warum willst du das wissen?“

„Ich wollte das Wochenende hochkommen und dich und Viktor besuchen. Der neue Hengst soll ja ein Prachtexemplar sein.“

„Ja, Viktor hat ein gutes Händchen für solche Sachen. Der Hengst ist sehr gut ausgewählt.“

„Ich komme Samstag Vormittag. Würde dir das passen?“

„Natürlich passt das.“ Wir sprachen noch einen Moment miteinander und verabschiedeten uns.

Sobald ich mein Handy wieder in meiner Jackentasche verstaut hatte, nahm ich ein Schluck Kaffee und sah Fritz an. Er mied meinen Blick.

„Mein Vater lässt dich grüßen“, setzte ich an. „Er weiß es sehr zu schätzen, dass du versuchst mich vor Stalkern zu bewahren und ich soll dir seine Entschuldigung aussprechen, dass er uns bei der Arbeit gestört hat.“

„Du weißt doch, dass ich das gar nicht zu ihm sagen wollte“, gab er unzufrieden zurück.

„Hast du aber...“, sagte ich leichthin und zuckte die Schultern. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr. „Wo bleibt eigentlich Alex?“, wunderte ich mich. „Vielleicht sollte wir mal nach ihm sehen.“ Fritz folgte mir als ich in das Büro der beiden ging. Ich fand Alex an seinem Schreibtisch. Er telefonierte gerade.

„Ja, es kommt gerade an“, sagte er. „Vielen Dank für die Information. Sagen Sie bitte Herrn Richter, dass uns das allen schrecklich leid tut. Ja, ich weiß Bescheid. Wenn noch was sein sollte, melden wir uns. Vielen Dank.“ Alex legt auf und atmete schwer bevor er uns ansah.
 

„Was ist los“, fragten Fritz und ich im selben Moment.

„Selbstmord“, antwortet Alex. Er schien noch ein wenig verwirrt zu sein von der Information. Einen Moment lang herrschte Stille. Wir wussten natürlich, was er mit diesem einen Wort meinte. Gerade vor wenigen Minuten hatten wir doch selber noch über diese Möglichkeit gesprochen. Zum Schluss hatte ich es also doch geahnt. Das war natürlich auch der Grund, warum wir keine Beweise finden konnten.

Fritz stöhnte auf. „Ich glaube es nicht. Bielefeld hat schon wieder Recht.“ Ich musste mir bei seinem gequälten Gesicht ein Grinsen verkneifen.

Alex sah Fritz fragend an. „Wie meinst du das?“

„Während du hier telefoniert hast, hat Bielefeld den Schluss gezogen, dass es sich um Selbstmord handeln müsse, wenn der Streit auf dem Balkon nicht zum Sturz führte.“ Alex sah zu mir und zog fragend die Augenbrauen hoch.
 

„Es war nur eine Vermutung“, sagte ich.

„Es war auf jeden Fall nichts im Affekt. Er hat am Tag der Party einen Brief im Postamt abgegeben. Der Brief ging nach Seoul zur Firma vom Vater. Es handelt sich um einen Abschiedsbrief. Er scheint das alles geplant zu haben“, sagte Alex, als er zum Fax ging und den Ausdruck holte.

„Der Abschiedsbrief“, sagte Alex. „Der Vater hat die Handschrift bestätigt und die Sekretärin hat uns eine Kopie gefaxt.“

„Also ist der Fall abgeschlossen?“

Alex nickte mir zu. „Abgesehen davon, dass wir den Fall den Kollegen übergeben müssen, sind wir mir allem durch. Auch das Alibi von Grünert und Felber wurde bestätigt. Es gibt also nichts mehr für uns zu tun. Ihr wisst doch was das heißt, oder?“
 

Als Fritz und ich ihn fragend ansahen begann er zu grinsen. „Wir können heute Nachmittag am Schießtraining teilnehmen“, sagte Alex und sah uns unschuldig an. Ich rollte mit den Augen und selbst Fritz schüttelte mit dem Kopf. Es war eher untypisch für Alex so etwas `Unkorrektes´ zu sagen. Aber genau das war unser Beruf. Und so grausam es war, der Alltag ging weiter.
 

***
 

„Bielefeld“, sagte Fritz, der neben mir an den Schießstand trat, als ich gerade damit beschäftigt war, meine Dienstwaffe nachzuladen.

„Ja?“, fragte ich.

Er lächelte mich verschmitzt an. „Du hast auch schon mal besser getroffen“, sagte er, deutete auf die Zielscheibe vor mir und sah mich herausfordernd an.

„Vielleicht“, sagte ich leichthin und tat gelangweilt. „Und trotzdem bin ich um einige Punkte besser als du.“ Es überraschte mich, dass er darauf nicht reagierte und was fieses erwiderte. Er lächelte mich weiterhin nur an.

„Was hast du eigentlich am Wochenende vor?“, fragte er mich, als ich erneut meine Waffe nachladen musste. Ich wandte mich zu ihm. Hatte er dem Telefonat heute doch nicht gelauscht?
 

„Mein Vater kommt dieses Wochenende Viktor und mich besuchen.“

„Oh“, sagte er, als wenn er sich jetzt erst wieder daran erinnern konnte. „Dann wirst du wohl keine Zeit haben, oder?“, fragte er mich. Ich sah ihn verwundet an. Klang er enttäuscht?

„Warum?“, fragte ich.

„Ich habe das Wochenende endlich mal wieder Benny und er hat beim letzten Mal schon gefragt, ob wir dich und Wotan mal wieder besuchen könnten.”
 

Jetzt verstand ich endlich die Fragerei. Ich lächelte ihn an. “Natürlich habe ich Zeit für ne Reitstunde. Papa und Viktor werden eh hauptsächlich sich mit dem neuen Hengst beschäftigen. Also wenn Benny ein bisschen reiten will oder sich den neuen Hengst ansehen mag, könnt ihr gerne vorbei kommen.”

„Da wird er sich freuen”, Fritz wirkte erleichtert.

„Das ist doch selbstverständlich. Ich habe es ihm versprochen” , entgegnete ich. Er sah nachdenklich aus.

„Ich möchte aber nicht, dass du es als Verpflichtung empfindest. Wenn es dir also nicht passen sollte...”

„Das ist doch Quatsch. Mach dir mal keine Gedanken deswegen”, unterbrach ich ihn. “Ich mag Benny sehr und ich freue mich schon, wenn ihr am Wochenende vorbeikommt.“
 

Es war nicht nur daher gesagt. Ich mochte Benny wirklich. Er war ein freundlicher, aufgeweckter Junge. Fritz konnte froh sein, so einen tollen Sohn zu haben. Ich konnte immer den Stolz in Fritz´s Augen sehen, wenn er von seinem Sohn sprach.

Ich schob das gefüllte Magazin in meine Waffe und fixierte abermals die Zielscheibe vor mir. Dann hielt ich inne und schaute zu Fritz. Er stand noch immer da und sah mich an.

“Falls ihr Großstädter so was wie Gummistiefel haben solltet, bringt sie mit!”

Langsam bildete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht.

„Viktor hat wirklich ein feines Händchen, wenn es um Pferde geht. Findest du das nicht auch, Josephine?“ Ich konnte meinem Vater nur zustimmen. Ich hatte den Hengst jetzt schon einige Tage beobachten können. Er sah prachtvoll aus, wenn er über die Koppel galoppierte. Er war noch nicht eingeritten. Dafür war er noch zu jung.
 

Apollo, so hieß der Hengst, hatte einen guten Stammbaum und Viktor hatte sich das einiges Kosten lassen. Gerade deswegen überlegt er noch immer, ob eine Kastration wirklich in Frage käme.

Ein Wallach war deutlich ruhiger und mit ihm besser arbeiten, aber als Hengst konnte er einiges mehr an Kapital abwerfen.

„Was denkst du, Josephine?“, fragte mich Viktor.

„Schwer zu sagen. Wenn du dich wirklich darauf konzentrieren willst, ihn gut auszubilden, macht es die Sache vielleicht einfacher, wenn du ihn kastrierst. Aber ich verstehe natürlich auch den finanziellen Aspekt. Ich glaube, dass ich mich in diesem Fall eher auf die Ausbildung konzentrieren würde.“

Er schaute mich nachdenklich an. „Ich glaube auch, dass ich ihn kastrieren lassen werde.“

„Überstürze nichts“, entgegnete ich. „Du hast ja noch Zeit dich zu entscheiden.“

Apollo war jetzt erst ein gutes dreiviertel Jahr. Vor drei Monaten wurde Apollo von der Mutterstute getrennt. Er kam erstaunlich gut mit seinen Artgenossen klar und wir hatten nach dem Umzug auf das Gestüt keine seelischen Probleme erkennen können. Es sah alles sehr vielversprechend aus und ich freute mich für Viktor.
 

Als Er und mein Vater Apollo wieder begutachteten, hörte ich Geräusche im Eingangsbereich. Bevor ich mich umdrehen konnte, schnellten mir Schritte entgegen und eine kindliche Stimme rief nach mir.

„Josephine!“ Benny kam auf mich zugerannt. Fritz trottete langsam hinter Benny hinterher und schenkte mir ein breites Grinsen. Ich lächelte zurück, sah dann aber Benny an, der auf mich zu rannte.

Er begrüßte mich und zeigte dann auf seine Füße. „Guck, ich habe heute extra Stiefel an“, sagte er und sah mich erwartungsvoll mit diesen großen Kinderaugen an. Mein Lächeln wurde breiter.

„Hervorragend!“, lobte ich ihn. „Dann kann uns der Schlamm heute ja nichts anhaben.“ Er grinste mich an, während er energisch nickte und ich ihm zuzwinkerte. Es hatte über Nacht leicht geregnet und der Boden war etwas aufgeweicht. Das sollte aber kein Problem für Wotan sein.
 

„Benny, du solltest auch die anderen beiden Erwachsenen begrüßen“, hörte ich Fritz, als er beinahe neben mir stand. Benny nickte seinem Vater entschuldigend zu und wandte sich zu meinem Vater und Viktor, die hinter mir standen und sich zu uns umgedreht hatten. Benny stellte sich vor und begrüßte die beiden. Fritz stellte sich hinter Benny und begrüßte ebenfalls die beiden Männer mit Handschlag.
 

Als mein Vater ihn übertrieben ernst ansah, rollte ich beinahe mit meinen Augen. Natürlich würde er etwas zum Telefonat sagen. Ich hatte das schon befürchtet.

„Ich hoffe, dass meine Tochter Ihnen meine Entschuldigung übermittelt hat. Ich wollte nicht bei der Arbeit stören.“

Ich konnte sehe, wie sich Fritz bei der Äußerung meines Vaters verkrampfte. Er räusperte sich kurz, bevor er etwas erwidern konnte. „Herr Klick, ich bitte mein Verhalten am Telefon zu entschuldigen. Ich wusste nicht, dass Sie es waren. Ich hätte nie-...“
 

Mein Vater lachte und ich schüttelte den Kopf. Das Schauspiel hätte von mir sein können. Nun ja, der Apfel fiel anscheinend nicht weit vom Stamm. Zumindest was diese Sache anging. Bei anderen Dingen würde ich dem Spruch lauthals widersprechen.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, setze mein Vater an und wedelte beschwichtigend mit seiner Hand. „Ich bin doch froh, dass meine Tochter Kollegen hat, die sich um sie kümmern und sich sorgen.“ Fritz entspannte sich sichtlich. „Es ist nicht leicht auf Josephine aufzupassen“, erzählte er weiter und lächelte Fritz an. „Sie ist immer so stur. Jemand wie Sie wäre genau der Richtige für meine Tochter.“ Mein Atem stockte für eine Sekunde, als mir bewusst wurde, was er da gerade gesagt hatte. Fritz nickte zögerlich und fühlte sich ganz offensichtlich unwohl. Ich stellte mich zwischen die beiden.
 

„DEINE Tochter steht zufällig direkt vor dir, Papa. Also rede bitte nicht so, als wäre ich nicht da. Und hör auf ständig Entscheidungen für mich treffen zu wollen. Das kann ich sehr gut alleine.“

„Ich will doch nur, dass du glücklich bist“, seufzte mein Vater und blickte mich mit einer Wärme an, die ich noch nicht bereit war anzunehmen.

„Ich BIN glücklich“, erwiderte ich. „Und noch glücklicher wäre ich, wenn jeder endlich aufhören würde zu denken, sich sicher zu sein, was mich glücklich macht. Ich bin erwachsen!“ Ich sah meinen Vater warnend an. Er verstand, dass ich nicht weiter darüber reden wollte. Vor allem, wenn ein Kollege dabei war.
 

Mein Vater sah entschuldigend zu Fritz. „Sehen Sie was ich meine? Stur ohne Ende. Das hat sie von ihrer Mutter.“

Fritz erwiderte das Lächeln meines Vaters. „Mit der Sturheit ihrer Tochter habe ich auch schon Erfahrung machen dürfen.“

Mein Vater sah zu Ben und lächelte ihn an. „Und was machst du hier, kleiner Mann?“

„Josephine hat mir versprochen, dass ich auf Wotan reiten kann“, sagte Ben und blickte dabei äußerst euphorisch zu mir. Dann sah er wieder zu meinem Vater, beugte sich ein wenig vor und flüsterte halblaut. „Außerdem würde Papa Josephine übers Wochenende sonst bestimmt zu sehr vermissen.“
 

Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke. Hatte ich mich gerade verhört? Auch Fritz schien aus der Fassung gebracht und blickte seinen Sohn ungläubig an. Viktor lachte los und ich konnte meinen Vater grinsen sehen. Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ich schüttelte vielsagend meinen Kopf. Er sollte das nicht in den falschen Hals kriegen. Ben war ein Kind. Kinder sagten manchmal solche Dinge, ohne über die Bedeutung nachzudenken.
 

„Dein Papa konnte es bestimmt nicht abwarten sich wieder mit mir zu streiten, das tuen wir nämlich ständig auf der Arbeit. Macht ja auch irgendwie Spaß“, sagte ich mit einem aufgesetzten Lachen. „Wo wir gerade von Spaß reden“, wechselte ich das Thema. „Willst du dir den neuen Hengst ansehen? Der ist noch ganz jung.“

Ben stimmte zu und ich nahm seine Hand, als wir zur Box gingen. Er war noch ein wenig zu klein, um über die Tür der Box zu sehen. Ich schob eine Kiste ran und er stellte sich rauf.
 

„Siehst du?“, sagte ich und deutete auf Apollo. „Schönes Pferd, oder?“ Ben nickte, als er sich an den Stangen der Box hoch zog, um den Hengst noch besser sehen zu können.

„Er heißt Apollo“, flüsterte ich ihm verschwörerisch zu, als wäre es ein Geheimnis.

Die Männer hatten sich uns angeschlossen und wir sahen alle Apollo zu. Das schien ihn ein wenig nervös zu machen. Er ging unruhig in der Box auf und ab.
 

„Der ist aber noch ziemlich wild“, sagte Fritz während er sich neben mich stellte.

„Ja, dass ist er. Aber wir lassen ihn kastrieren. Als Wallach wird er ruhiger.“ Fritz sah mich bei meinen Ausführungen skeptisch an. Das war wohl für Männer, die mit Tieren nichts zu tun hatten, ein Unwort. Ich verdrehte meine Augen.

„Was ist ein Wallach?“, fragte mich Benny. Ich blickte ihn an und wollte gerade erklären, dass ein Wallach ein kastrierter Hengst sei dem die Hoden entfernt wurden, aber ein Seitenhieb von Fritz´s Ellenbogen in meine Rippen und ich hielt inne.

Ich hatte den Wink verstanden. Er sah mich warnend an. Mit sieben Jahren hatte ich schon längst über solche Dinge Bescheid gewusst. Aber Ben war in der Stadt aufgewachsen. Da lernte man solche Sachen vielleicht erst etwas später.

Ich blickte wieder zu Ben, während ich noch überlegte, wie ich ihm das Thema am besten erklären konnte. „Wotan ist zum Beispiel ein Wallach. Ein Hengst ist ein männliches Pferd, das Fohlen zeugen kann. Ein Wallach kann das nicht. Das ist der einzige Unterschied.“

Ben sah nachdenklich zu Apollo, bevor er mich wieder ansah. „Das ist aber traurig. Dann können Wotan und Apollo ja nie Kinder haben und ein Papa sein.“

„Da hast du Recht.“ Es war sicherlich schwer, das als Kind zu verstehen.

Eine Weile standen wir noch da und sahen Apollo zu, dann beugte ich mich zu Ben vor. „Wollen wir uns jetzt um Wotan kümmern? Er hat sich schon so gefreut, als ich ihm heute Morgen erzählt habe, dass du ihn wieder besuchen kommst.“ Sofort leuchteten seine Augen und er nickte ungestüm.
 

Wotan wartete wirklich schon äußerst ungeduldig auf uns.

„Na, mein Großer“, begrüßte ich ihn als ich die Box aufmachte und seinen Hals tätschelte. „Ich habe dir doch gesagt, dass Ben heute vorbei kommt.“ Ben folgte mir vorsichtig und streichelte ihn ebenfalls.

Wir putzen Wotan ausgiebig und konnten ihn danach Satteln und Trensen. Auf dem Longierplatz ließ ich ihn erst einige Runden drehen, bevor ich Ben aufsteigen ließ. Dieses Mal bekam Ben Hilfe von seinem Vater.

„Halt dich gut fest“, sagte Fritz zu seinem Sohn bevor er zurück zu mir kam.

„Bereit?“, rief ich zu Ben. Er nickte und hielt sich am Sattelknauf fest.

Als Fritz wieder neben mir stand, gab ich Wotan das Signal sich in Bewegung zu setzen. Ben hatte sich schnell wieder an das Reiten gewöhnt und ich konnte Wotan traben lassen.
 

„Und? Steigst du heute wieder aufs Pferd?“

„Wehe, du bringst Benny wieder auf diese Idee!“, warnte mich Fritz. Ich musste lachen. Dabei hatte er sich letztes Mal doch ganz gut geschlagen.

„Schon gut, schon gut“, sagte ich beschwichtigend. „Ich werde mich hüten.“ Eine Weile standen wir wortlos nebeneinander.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er soviel Freude daran hat“, sagte Fritz, der seinen Sohn nachdenklich betrachtete.

„Viele Stadtkinder vermissen die Verbundenheit mit der Natur und den Tieren. Vielleicht hat er so großen Gefallen daran, weil er so etwas bisher noch nicht kennengelernt hat.“ Fritz sah seinen Sohn nachdenklich an.
 

„Ich wollte ihn eigentlich zum nächsten Schuljahr bei einem Kampfsportverein anmelden. Jetzt bin ich mir aber nicht mehr sicher.“

„Reiten kann er auch immer mal bei mir. Wotan freut sich immer über Abwechslung. Ich denke, es ist bestimmt wichtig, dass er eine Kampfsportart lernt. Wir sind hier immerhin in Berlin.“

Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Was soll das denn schon wieder heißen?“

Ich seufzte. „Das soll heißen, das Berlin gewiss mehr Gefahren und Kriminalität birgt, als irgendein Dorf mit ostfälischen Kuhwiesen.“
 


 Er verzog bei dem Ausdruck `ostfälischen Kuhwiesen´ sein Gesicht merklich. Ich war mir sicher, dass er sich noch daran erinnern konnte, wie er mich anfangs immer damit aufzog, woher ich kam und das ich keine Ahnung von Großstädten hatte. Im Streit hatte er es mir oft genug an den Kopf geworden, aber ich nahm es sportlich. Irgendwie hatte er ja Recht. Wir hatten viele Kuhwiesen in der Gegend. Da gab es nichts zu leugnen.
 

Wir schwiegen eine Weile. „Tut mir leid, dass mein Vater dich vorhin wegen des Telefonates aufgezogen hat.“

Er schüttelte nur den Kopf. „Ich hatte es verdient. Da sind mal wieder die Pferde mit mir durchgegangen.“ Ich sah ihn skeptisch an. Hatte er etwa tatsächlich gerade versucht einen Witz zu machen?

Ich grinste ihn an. „Naja, wenigstens bist du einsichtig.“

Sein Blick wurde ernster und er zögerte einen Augenblick ehe er antwortete. „Ich kann diesen Altenburg einfach nicht leiden.“ Ich seufzte. Da war wieder dieses leidige Thema.
 

„Fritz“, begann ich mit ruhiger Stimme. „Ich verstehe, dass ihr euch nicht unbedingt in einer guten Situation kennengelernt habt. Aber ich glaube wirklich, dass ihr gut miteinander auskommen würdet, wenn ihr beide euer herrisches Alpha-Tier-Gehabe ablegen würdet.“

„Darum geht es doch gar nicht, Bielefeld“, sagte er, als er wieder von Ben zu mir sah. „Ich finde einfach, dass du dich nicht mit ihm treffen solltest. Er passt einfach nicht zu dir.“

Ich sah ihn überrascht an. Er hielt meinem Blick aber nur kurz stand. „Da hat noch eher dieser aufdringliche Förster zu dir gepasst“, murmelte er grimmig und sah dabei zu Boden, während er einen kleinen Stein, der vor seinen Füßen lag, wegstieß.

Ich musste mir bei seinem Gesichtsausdruck das Lachen verkneifen. Aber da es das erste Mal war, dass wir normal über Herrn Altenburg reden konnten, wollte ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen.
 

„Fritz“, setzte ich an. „Es ist wirklich sehr lobenswert, dass du dich darum sorgst... Aber Herr Altenburg? Wirklich? Davon abgesehen, dass es absolut meine Entscheidung ist mit wem ich mich treffe, habe ich keinerlei Interesse an Herrn Altenburg. Zumindest auf diese Art und Weise. Ich habe doch auch nie behauptet, dass wir ausgehen. Wie kommt ihr alle nur auf diese Idee? Ich bin mir sicher, dass auch er kein Interesse an mir hat.“

„Du bist manchmal so blind, Josephine“, sagte er und klang dabei beinahe ein wenig verbittert. „Ich sehe doch, wie er dich ansieht. Ich kann es in seinen Augen sehen.“

„Das ist doch Wochen her, dass du ihn gesehen hast“, sagte ich skeptisch.

„Als wenn das was ändern würde. Interesse verschwindet nicht einfach so von heute auf morgen, selbst wenn man es will.“

Ich schnaubte. „Fritz“, sagte ich und bemühte mich ruhig zu bleiben. „Selbst WENN er Interesse hätte - was ich stark bezweifle - ICH habe es nicht. Momentan habe ich überhaupt kein Interesse mich auf irgendwas oder irgendwen einzulassen.“

„Manchmal geht das schneller als man denkt oder will“, widersprach er mir mit gedämpfter Stimme und klang dabei beinahe heiser. Ich zog meine Augenbrauen zusammen, als ich ihn nachdenklich ansah. Warum sprachen wir überhaupt darüber?
 

Ich musste wieder an das Gespräch mit dem Chef denken. Hatte das Getratsche Fritz erreicht? Dachte er sein Fall würde wieder aufgerollt werden?

„Ich kann dir versichern, dass du ihn falsch einschätzt“, begann ich ruhig. „Es ist nicht das wonach es aussieht. Ich verstehe dein Problem. Erst vor wenigen Wochen hat er noch deinen Fall bearbeitet und dann sieht man ihn so oft mit mir. Das könnte auf dem Revier natürlich Gerede geben und das willst du nicht. Ich verstehe schon.“

„Das Gequatsche ist mir doch egal“, entgegnete er mir mit fester Stimme.

„Wirklich?“, fragte ich verwundert. Was war dann sein Problem? „Der Chef hat mich auch schon darauf angesprochen. Aber das lag vielleicht auch mehr an dem Fall, für den ich angefordert werden sollte.“ Er sah mich überrascht an und ich erkannte in diesem Moment meinen Fehler.

„Für einen Fall?“, fragte er nach. Ich biss mir auf die Unterlippen. Verflucht nochmal, ich und mein loses Mundwerk. Ich versuchte mich wieder auf Ben und Wotan zu konzentrieren, die noch immer ihre Runden drehten. Ben bekam anscheinend nichts von unserer Diskussion mit. Er quiekte noch immer vergnügt umher, wenn ich das Tempo von Wotan immer mal wieder beschleunigte und er zum leichten Galopp ansetzte.
 

„Kannst du das bitte für dich behalten?“, bat ich Fritz, als ich ihn zögerlich ansah. „Du solltest das gar nicht wissen. Es gibt einen Fall für den ich angefordert wurde. Vielleicht rührt daher sein Interesse.“

„Worum geht es in dem Fall?“, harkte er nach.

„Fritz, bitte. Denkst du nicht, dass ich euch schon davon erzählt hätte, wenn es nicht geheim wäre?“ Davon abgesehen, dass ich sowieso kaum was über diesen Fall weiß, dachte ich. Sophia wollte mir Montag die Unterlagen vorbeibringen. Solange würde ich mich wohl noch gedulden müssen.
 

Er blickte mich weiterhin skeptisch an. Dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Du nimmst den Auftrag aber nicht an. Auf keinen Fall nimmst du einen Fall ohne uns an, ist das klar?“ Er sah mich erst etwas überrascht an, dann verfinsterten sich seine Augen. „Willst du etwa das Revier wechseln?“ fragte er mich mit erhobener Stimme. Ben sah uns fragend an. Ich lächelte ihm beruhigend zu und gab Wotan das Signal sein Tempo zu verlangsamen.

Ich sah noch immer zu Ben und Wotan als ich Fritz mit gedämpfter Stimme antwortete: „Das ist doch Quatsch! Was ist das denn für eine Mutmaßung? Natürlich will ich nicht das Revier wechseln. Erst mal hat der Chef auch den Fall abgelehnt. Vielleicht wird das Thema später noch mal zur Sprache kommen. Aber ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich den Fall überhaupt annehmen werde.“

Ich hörte, wie Fritz neben mir brummte. „Mir wäre es lieber, wenn du den Fall nicht annimmst.“

Ich sah Fritz fragend an. „Wieso?“

Er zögerte mit der Antwort und bevor er was sagen konnte hörte ich Ben.
 

„Josephine?“, rief er mir zu. Ich blickte zu ihm und lächelte ihn an.

„Alles ok bei dir?“, fragte ich.

„Reitest du vielleicht wieder mit mir eine Runde?“ Ich sah Fritz an, der mir zustimmend zunickte, dann schaute ich mir Wotan an, der offensichtlich noch bei Kräften war.

„Na klar“, stimmte ich zu. Fritz hielt wieder die Longe während ich hinter Ben aufs Pferd stieg. Wir ritten quer über den Reitplatz und ich setzte immer wieder zu schnellem Galopp an. Es war wirklich erstaunlich, dass Ben so viel Freude daran hatte und keine Angst bei dem Tempo verspürte.

„Warum heißt er eigentlich Wotan?“, fragte mich Ben, als wir das Tempo nach einer Weile verlangsamten.

„Wotan ist der Name eines nordischen Gottes. Es soll Kraft und Stärke ausdrücken“, erklärte ich Ben. Ich deutete auf die dunklen Flecken in seinem Fell und erklärte weiter: „Die Flecken in seinem Fell nennt man Paint. Das kommt aus dem Englischen. Cowboys haben früher Pferde wie Wotan geritten. Er ist eine Art Quarter Horse. So heißt die Rasse.“
 

„Warum weißt du eigentlich so viel über Pferde?“

„Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Wir hatten schon immer viele Tiere um uns rum und ich habe früh schon mein erstes Pferd bekommen.“

„Das war bestimmt schön“, seufzte Ben als er sich ein wenig nach vorne beugte und den Hals von Wotan streichelte.

„Natürlich war es schön. Aber es war auch viel Verantwortung. Man konnte nicht immer einfach so wegfahren. Immer musste man sehen, ob sich auch jemand um das Pferd kümmert. Es bedeutet immer viel Verantwortung ein Tier zu halten.“
 

Ben nickte, schwieg dann eine Weile. Wir ritten weiter langsam über den Reitplatz und hatten bereits den Stall angesteuert.

„Danke, dass du auf Papa aufgepasst hast“, sagte Ben nach einem Moment, blickte aber weiter geradeaus.

Ich musste lächeln als ich mich an das Gespräch von damals erinnerte. Ich hatte ihm versprochen, dass ich auf seinen Vater aufpassen würde. Der Fall war für Fritz gut ausgegangen. Daher hatte ich wirklich das Gefühl mein Versprechen eingehalten zu haben.

„Dein Papa hat ja auch schon auf mich aufgepasst“, erwiderte ich.

Als Ben seinen Kopf plötzlich zu mir umdrehte, sah er ungewohnt ernst aus. „Josephine? Hast du einen Freund?“, fragte er mich - ich konnte ihn nur erstaunt angucken. Wie war er denn auf diese Frage gekommen? „Papa sagt immer, dass dich oft jemand besucht.“

„Sagt er das?“, fragte ich skeptisch und zog mit einem Lächeln eine Augenbraue hoch.

„Ja“, bestätigte mir Ben überzeugt. „Und Papa sagt auch, dass der Mann ein Vollidiot ist.“

Ich musste lachen, als er das mit solcher Überzeugung sagte, dass der Satz auch direkt von Fritz hätte stammen können.

„Also wirklich, Benny. Das ist aber kein schönes Wort!“
 

Er sah mich etwas schuldbewusst an, schenkte mir aber dann ein schiefes Lächeln. In diesem Moment hatte er unglaubliche Ähnlichkeit mit Fritz. „Papa sagt das Wort sehr oft. Er ist dann bestimmt traurig oder wütend. Papa sollte nicht so oft alleine sein. Er mag deinen Freund nicht. Mama sagt immer, ich darf so böse Wörter nicht sagen, also sagt es bitte niemanden.“

Er sah mich bittend an. „Nein, natürlich nicht. Das bleibt unser Geheimnis. Aber deine Mama hat Recht. So etwas solltest du nicht sagen und dein Papa eigentlich auch nicht. Außerdem ist der Mann, über den dein Papa gesprochen hat, kein Vollidiot und auch nicht mein Freund.“

Ich sah das Funkeln in den Augen von Ben. „Wirklich? Kann dann mein Papa nicht dein Freund sein?“, sagte er euphorisch und starrte mich erwartungsvoll an.
 

Auf so eine Frage war ich nicht gefasst daher verschlug sie mir die Sprache. Als ich seine fragenden Augen betrachtete, zog sich meine Brust unweigerlich zusammen. Wie sollte ich einem sieben jährigem Jungen erklären, dass das nicht so einfach war.

„Wir sind doch Kollegen, Ben. Das geht bei uns Erwachsenen nicht so leicht.“

„Meine Mama und ihr neuer Freund arbeiten auch zusammen“, ließ er sich nicht von seiner Idee abbringen. “Du hast doch gesagt, dass du meinen Papa magst“, sagte er und klang dabei beinahe beleidigt.

„Ich mag deinen Papa ja auch“, versicherte ich ihm.
 

Mit Fritz ausgehen? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Unweigerlich musste ich an den Kuss denken. Natürlich mochte ich Fritz und ich hatte seinen Kuss sehr genossen, mehr als das, wenn ich an meine Reaktion darauf dachte. Ich versuchte die Gedanken daran abzuschütteln. Sie waren einfach fehl am Platz. Ich sah Ben mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Wir arbeiten in einem Team zusammen und da es manchmal gefährlich werden kann, ist es besser, wenn wir einfach nur gute Kollegen sind.“

Er sah mich mit einem zerknirschten Kindergesicht an. „Ich mag dich aber auch sehr“, sagte er schmollend. „Und Papa redet sonst über keine andere Frau. Mama hat einen neuen Freund und Papa soll auch glücklich sein. Außerdem kann ich dich dann so oft ich will besuchen kommen.“

Ich lächelte ihn an und wuschelte ihm durch die Haare. „Das kannst du doch auch so. Ich freue mich immer über Besuch. Wotan übrigens auch.“

Er wirkte nicht zufrieden, akzeptierte aber den Ausgang unseres Gespräches. Als wir am Stall ankamen, wartete Fritz dort auf uns. Ich stieg ab und half Ben dann anschließend. Zusammen kümmerten wir uns um Wotan und brachten ihn in die Box. Als Wotan genügend Heu und Hafer hatte, schauten wir ihm noch ein wenig beim Fressen zu.
 

Ich blickte Fritz an, der neben mir stand und musste an die Worte von Ben denken. Ich hatte Fritz nie als potentielle Partner gesehen. Darüber hatte ich wirklich noch nie nachgedacht. Ich kannte ihn doch eigentlich nur dienstlich und wusste so gut wie nichts über sein Privatleben. Es stand außer Frage, dass er ein guter Vater war. Er würde vermutlich noch viel mehr für Benny machen, wenn Stefanie das zuließe. Er war auf der Arbeit zwar oft hitzig und benahm sich anfangs wie ein Platzhirsch, dem man das Revier streitig machte, aber er hatte auch ganz andere Seiten. Er konnte auch hilfsbereit und zuvorkommend sein. Und er nahm seinen Job immer ernst. Um seine Kollegen zu schützen ging Fritz durchs Feuer. Ich hatte es selber erlebt als er mir das Leben gerettet hatte. Ich vertraute ihm und das war schon ein Wunder an sich, wo ich doch niemanden außer mir selbst bisher vertraute.
 

Als ich seine Blicke auf mir spürte, begriff ich, dass ich ihn angestarrte - ziemlich offensichtlich sogar. Ich konnte die Frage in seinen Augen sehen. Meine Wangen brannten, als ich blinzelte und meinen Blick von ihm abwandte. Was war nur los mit mir? Warum waren meine Gedanken so abgedriftet? Ben hatte mich ganz durcheinander gebracht mit seiner Fragerei. Das letzte Mal, dass ich so dachte, war in Bielefeld, aber das war lange her. Damals ging es um Stefan. Er hatte ebenfalls zu meinem Team gehört. Aber es hatte mit uns kein glückliches Ende genommen. Meine Brust zog sich zusammen. Nein, so einen Fehler würde ich nicht noch einmal begehen.
 

Ich setzte eine möglichst ungezwungene Miene auf als ich Ben ansah. „Da hat dein Papa sich aber heute besonders gut vorm Reiten gedrückt.“

„Bielefeld“, ermahnte mich Fritz und erinnerte mich daran, dass ich eigentlich zum Thema schweigen sollte. Aber jetzt war es zu spät.

„Beim nächsten Mal steigt dein Papa bestimmt wieder auf, oder – was meinst du, Fritz?“ Sein Gesichtsausdruck brauchte mich zum lachen. Die Vorstellung wärmte mich, dass er nur für seinen Sohn aufs Pferd stieg. Ich sah Fritz an und seine Züge entspannten sich langsam.

Ja, dachte ich. Ich wünschte mir ein freundschaftliches und ungezwungenes Miteinander wie jetzt. Und so sollte es auch bleiben. Ich legte ihm entschuldigend meine Hand auf den Oberarm, als ich etwas Beschwichtigendes sagen wollte.
 

„Josephine“, hallte es durch den Stall. Beim Klang der Stimme gefror mein Lächeln und ich erstarrte für einige Sekunden. Mein Kopf fuhr rum. Ich musste mich verhört haben. Das konnte nicht sein. Ich betete, dass ich mich irrte. Aber als ich meinen Kopf zur Eingangstür wendete, musste ich mit erschrecken feststellen, dass meine Sinne mir keinen üblen Streich spielten.

„Stefan“, keuchte ich mit erstickter Stimme, als ich ihn im Türrahmen stehen sah.
 

Meine Brust verkrampfte sich. Hatte ich vor wenigen Wochen noch gesagt, dass es mir gut ginge und ich mit dem Thema abgeschlossen hatte? Offensichtlich war das nicht der Fall. Die unterschiedlichsten Gefühle und Erinnerungen kochten in mir hoch, als ich Stefan anstarrte. Er kam langsam auf mich zu.

Ich spürte einen Druck auf meiner Hand, die ich auf den Oberarm von Fritz gelegt hatte. Erst da merkte ich, dass ich zitterte. Als ich meinen Kopf zu Fritz drehte, blickte ich auf seine Hand, die meine vorsichtig drückte. Nie hatte ich Stefan ihm gegenüber erwähnt oder mit ihm über die ganze Sache gesprochen. Wie viel konnte er darüber wissen? Hatte er auf der Brücke von der Geschichte mit dem Junggesellenabschied etwas mitbekommen bevor er versuchte mich zu retten? Hatte ihm Alex alles erzählt? Zumindest hatte er nie nachgefragt. Ich konnte den besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht sehen.
 

Es war kein Mitleid. Das hätte ich auch nicht ertragen. Trotzdem entzog ich ihm langsam die Hand. Ich wusste, dass er einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hatte und es ehrte ihn, aber diese Sache musste ich ohne Hilfe überstehen.

Ich drehte mich wieder zu Stefan und sah ihn fest an. „Was machst du hier?“, fragte ich in einem möglichst kühlen Ton.

„Ich will mit dir reden“, antwortete er fast zögerlich.

„Ich aber nicht mit dir. Ich habe dir nichts zu sagen.“ Aus meiner Sicht konnte die Message nicht deutlicher sein, aber offensichtlich war es ihm egal.
 

„Ich habe aber etliches, was ich dir sagen will.“ Er war bereits auf der Hälfte der Stallgasse angekommen und ich betete, dass er dort stehen blieb, aber er setzte seinen Weg fort. Ich wünschte, ich könnte ihn aufhalten.

„Findest du nicht, dass es nach einem dreiviertel Jahr ein bisschen spät ist?“ Meine Stimme war so kühl, ich hätte damit vermutlich jeden anderen abgeschreckt, aber nicht Stefan.

„Hättest du überhaupt eher mit mir gesprochen?“, fragte er und sah mich dabei wissend an.

„Vermutlich nicht“, musste ich zustimmen, bemühte mich aber noch immer um eine feste Stimme.

„Ich kenn dich doch, Josy“, sagte er in einem samtigen Ton, den ich immer so an ihm geliebt hatte. „Ich wusste, dass du Zeit für dich brauchen würdest. Aber das hat nichts daran geändert, dass ich jeden Tag an dich gedacht habe.“
 

Ich musste mir eingestehen, dass ich gerade die ersten Monate auch jeden Tag an ihn gedacht hatte. Aber seit meiner Entführung war es jeden Tag weniger geworden. Warum musste er jetzt auftauchen, wo ich ihn schon fast vergessen hatte?

Ich sah in das Gesicht von Stefan, er war der Mann, den ich so viele Jahre geliebt hatte, den ich heiraten wollte. Ich hatte so viele Gefühle und Jahre an diesen Menschen verschwendet. Meine Gefühle für Stefan hatten sich verändert. Wut, Traurigkeit und Schmerz oder gekränkter Stolz verblassten mehr und mehr. Ich erwartete, dass mich meine Gefühle erneut einholen würden. Aber das einzige was ich fühlte war Wut, Wut darüber, dass er wirklich wagte nach all der Zeit sich hier blicken zu lassen.
 

Als er einen weiteren Schritt auf mich zumachte, ging ich instinktiv ein Stück zurück. Mein Rücken stieß gegen Fritz. Sofort spürte ich, wie seine Nähe mich beruhigte. Seine Hand lag auf meinem Oberarm.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich ihn neben mir flüstern. Ich nickte langsam, während ich weiterhin meinen Gegenüber fixierte.

„Stefan?“, hörte ich die erstaunte Stimme meines Vaters, der gerade mit Viktor den Stall betrat.

Ich sah meinen Vater ernst an. „Wusstest du davon?“ Wenn er das alles geplant hatte, würde er wohl nie wieder mein Vertrauen erlangen können. Und gerade in den letzten Wochen hatte sich alles einigermaßen normalisiert.

„Nein, natürlich nicht“, beteuerte mein Vater und sah verwirrt von Stefan zu mir.
 

„Ich wusste, dass dein Vater dich dieses Wochenende besucht“, sagte Stefan und mein Blick ging wieder in seine Richtung. „Ich habe gehofft, dass wir gemeinsam über alles reden könnten.“

„Es gibt nichts zu bereden. Du solltest gehen!“

„Josy, lass mich doch erklären“, bat er und kam einige weitere Schritte auf mich zu. Da Fritz noch immer dicht hinter mir stand, hatte ich keine Möglichkeit weiter nach hinten auszuweichen. Ich fühlte mich von Stefan in die Ecke gedrängt.

„Ich will das nicht hören“, schrie ich ihn an. „Ich will nicht, dass du hier bist. Warum gehst du nicht einfach und lässt mich in Ruhe.“
 

Stefan stand jetzt ganz nah vor mir und ich konnte sehen, dass er nach meiner Hand greifen wollte. Was bildete er sich eigentlich ein? Eine Berührung von ihm und ich wäre wieder das naive, verliebte Mädchen von damals? Ich entzog ihm meine Hand noch bevor er sie greifen konnte.

„Fass mich nicht an!“, zischte ich ihn an. Er stutzte, blieb einem Moment reglos vor mir stehen und beäugte mich. Als er ein weiteres Mal nach meiner Hand greifen wollte, wurde ich plötzlich nach hinten geschoben und Fritz stellte sich vor mich.

Die Stimme von Fritz klang gefährlich und drohend. „Sie hat gesagt, dass du sie nicht anfassen sollst. Was hast du davon nicht verstanden?“ Ich sah an Fritz vorbei und konnte sehen, wie die Augen von Stefan sich verengten. Genau das hatte ich vermeiden wollen. Fritz sollte diesen Kampf nicht für mich kämpfen. Er hatte mit der Sache überhaupt nichts zu tun.
 

„Und wer bist du?“, fragte Stefan herablassend und überheblich, wie ich ihn auch in der Vergangenheit schon oft erlebt hatte. Damals war ich blind dafür gewesen. Jetzt erkannte ich, dass es eine schreckliche Charakterschwäche von ihm war.

„Fritz!“, antwortete er knapp.

„Ahhh“, antwortete Stefan gedehnt lässig. „DER Fritz... Manfred hat mir schon von dir erzählt. Hast du nicht für Josephine jemanden die Kehle durchgeschnitten?“

„Stefan“, hörte ich die Stimme von meinen Vater mahnend rufen.

„Pass lieber auf, was du sagst“, knurrte Fritz. Wie konnte Stefan so etwas in Gegenwart eines kleinen Jungen sagen? Ich erkannte ihn kaum wieder. Meine Augen suchten nach Ben, der wie versteinert immer noch neben der Box stand. Ich ließ beide Männer einen Augenblick aus den Augen und ging auf Ben zu.
 

„Benny“, flüsterte ich, als ich mich zu ihm beugte. Er sah unsicher aus.

„Hat Papa wirklich...?“ Er brachte seinen Satz nicht zu Ende. Das würde ich Stefan nie verzeihen. Was musste der arme Ben nur denken. Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, hat er nicht. Der Mann will deinen Papa nur ärgern. Mach dir deswegen keine Gedanken. Vielleicht wäre es besser, wenn du schon mal zu Viktor und meinem Vater gehst“, sagte ich und wollte ihn gerade an den beiden Männern vorbei lotsen, als ich plötzlich einen dumpfen Knall hörte. Sofort fuhr ich rum und konnte gerade noch sehen, wie Stefan hart auf dem Boden landete und langsam Blut aus seiner aufgeplatzten Lippe floss.

Fritz kochte vor Wut. Was war in diesen wenigen Sekunden zwischen den beiden passiert? Seine Hände waren geballt und ich konnte in seinen Augen das Brennen sehen. Machte er sich für einen weiteren Schlag bereit? Ich drehte mich schnell zu Benny.

„Geh bitte zu meinem Vater, ok?“ Er zögerte zwar einen Moment, folgte dann aber meiner Bitte, während ich mich zwischen die beiden Männer stellte.

Ich fragte Fritz nicht nach seinen Motiven. Stefan lag auf dem Boden und wischte sich das Blut von seiner Lippe.

„Was hast du gemacht?“, fragte ich ihn.

„Nichts“, sagte er frustriert als er weiterhin seine Wunde betastete. „Ich habe ihn nur gefragt, ob du dich bei ihm schon bedankt hast. Immerhin hat er dir ja das Leben gerettet“, Stefan klang verbitter. Er rappelte sich wieder auf und putzte sich den Staub von seiner Kleidung.
 

Ich verzog mein Gesicht. Bei Stefan konnte ich mir sicher sein, dass er die Frage definitiv nicht so gestellt hatte. Warum benahm sich Stefan so seltsam? Hatte er sich in dem dreiviertel Jahr so sehr verändert? Oder erkannte ich erst jetzt sein wahres Gesicht? War ich damals wirklich so blind vor Liebe gewesen?
 

„Hör auf dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen. Wir sind Kollegen, wir vertrauen und verlassen uns aufeinander, aber DAS dürften für dich ja wohl Fremdworte sein“, entgegnete ich Stefan. Sein Blick verriet, dass meine Worte ihn trafen. Seine Miene verfinsterte sich, als er Fritz ansah.
 

„Vielleicht solltest du mit ihr über das Wort Vertrauen noch einmal reden. Bin mir sicher, dass sie überrascht sein wird was sie alles noch nicht weiß. Soll ich...?“, sagte er an Fritz gewandt und klang dabei so spöttisch, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ich konnte nicht über das Gesagte nachdenken, da Fritz sich an mir vorbei schob, um wieder auf Stefan loszugehen. Ich zerrte an seinem Arm und drängte mich vor ihn.
 

„Fritz“, ermahnte ich ihn. „Geh doch nicht auf sein Gerede ein.“ Ich konnte sehen wie ein Muskel in seinem Gesicht zuckte, als er seine Hände erneut zu Fäusten ballte. Ich musste was unternehmen. Fritz würde Stefan gleich ein weiteres Mal schlagen. Stefan hatte das ohne Frage verdient, aber er war nicht der Typ für Prügeleien. Warum provozierte er Fritz also so offensichtlich? Wusste er von Fritz’s Probezeit? Aber er würde doch niemals... Nein, soweit würde er nicht gehen.
 

Ich versuchte zwischen den beiden stehen zu bleiben und Fritz von Stefan fernzuhalten, aber Fritz schob mich problemlos beiseite.

„Fritz, hör auf!“, sagte ich energisch, als ich versuchte mich wieder vor ihn zu stellen, aber er schien mich nicht wahrzunehmen. Seine Augen flackerten vor Zorn. In diesem Moment fehlte mir Alex, der ihn immer wieder in den Griff bekam, wenn mal was aus dem Ruder lief. Warum sich Viktor und mein Vater nicht einschalteten, verstand ich auch nicht. Aber dafür war keine Zeit.
 

Ich kämpfte mich an ihm vorbei. Er durfte sich nicht auf diesen Streit einlassen. Sein Sohn stand nur wenige Meter von uns entfernt. Ich hatte noch immer Bens erschrockene Augen vor mir. Er sollte nicht den falschen Eindruck von seinem Vater bekommen. Bevor ich wusste was ich tat, spürte ich, wie meine Hand mit einem lauten Knall auf Fritz’s Wange aufschlug.

Fritz hielt augenblicklich in seiner Bewegung inne und verharrte einen Moment so. Ich starrte ihn entgeistert an. Hatte ich ihn gerade wirklich ins Gesicht geschlagen? Seine Wange, die sich langsam rosa färbte und sein überraschter Blick, gaben mir die Antwort, die ich befürchtete.

Mir lag bereits ein `Tut mir leid´ auf der Zunge, aber ich konnte es einfach nicht aussprechen. Ich spürte, dass meine Hand noch immer von dem Schlag kribbelte. Meine Ohrfeige musste ordentlich wehgetan haben. Als ich daran dachte, zog ich ruckartig meine Hand an meine Brust und hielt sie dort fest. Reflexartig ging ich einige Schritte nach hinten um ein wenig Abstand zu gewinnen.
 

Ich konnte seinem Gesichtsausdruck nicht ablesen, ob er stinksauer, beleidigt oder enttäuscht war. Ich konnte gar nichts erkennen. Für wenige Sekunden hatte ich seine Überraschung gesehen, aber schnell hatte sich sein Blick verfinstert, als er zu Stefan blickte. Natürlich hatte ich mich zwischen die beiden gestellt. Ich wollte doch verhindern, dass sie aneinander gerieten. Dachte er etwa, dass ich versuchte Stefan zu schützen?
 

Wenn ich ihn jetzt ansah, konnte ich keine Regung in seinem Blick erkennen, keine Wut oder Bedauern, keine Überraschung - einfach nichts. Und das beunruhigte mich. Ich wollte was sagen, aber mir blieben die Worte im Hals stecken.

Er hob eine Hand zu seiner Wange und fuhr sich zwei, drei Mal über die Stelle, an der ich ihn getroffen hatte. Er straffte seine Schultern. „Dann wäre das ja auch geklärt“, sagte er ohne mich dabei anzusehen. Im nächsten Augenblick drehte er sich von mir weg. Er ging auf Benny zu.
 

„Wir gehen“, sagte Fritz zu Benny mit Nachdruck, der keinen Protest zuließ. Benny folgte ihm, sah aber immer wieder zu mir. Ich konnte in seinen Augen das Flehen sehen. Ich sollte etwas sagen, sollte Fritz aufhalten. Aber während die beiden sich von mir entfernten, konnte ich nur wie angewurzelt da stehen und ihnen nachsehen ohne ein Wort zu sagen.

`Dann wäre das also auch geklärt.´ Die Worte hallten noch immer in meinem Kopf, als ich regungslos zur Stalltür starrte, aus der Fritz mit Ben im Schlepptau verschwunden war. Ich hatte ihn geohrfeigt. Erst mit dieser Erkenntnis erlangte ich wieder meine Sinne. Ich hatte Fritz geohrfeigt. Um Himmelswillen, warum hatte ich das getan? Ich war mir sicher, dass er es falsch verstanden hatte. Ich konnte ihn doch nicht fahren lassen ohne jegliche Erklärung, nachdem er mich so beherzt verteidigt hatte.
 

Wie lange hatte ich so dagestanden und die Tür angestarrt? Wenn er noch da war durfte ich keine Zeit verlieren. Ich wollte rausgehen, als Stefan sich mir entgegen stellte, um etwas zu sagen. Ich schob ihn beiseite. Ich hatte jetzt weder die Zeit noch den Nerv mich mit ihm auseinander zu setzen. Meine Schritte wurden immer schneller bis ich schließlich rannte.

Am Ende vom Stall angekommen, riss ich die Tür auf und lief auf den Innenhof. Ich hörte den Motor, mein Kopf schnellte in die Richtung - ich war zu spät. Wenige Sekunde früher und ich hätte ihn noch aufhalten können. Aber jetzt konnte ich nur zusehen, wie sein Auto vom Hof fuhr und hinter der Mauer verschwand.
 

Es hatte angefangen zu regnen, aber das war mir egal. Ich stand da und sah in die Richtung, in die Fritz mit Benny verschwunden war. Hinter mir hörte ich Schritte.

„Etwas empfindlich, dein Kollege“, sagte Stefan. Er hatte noch immer diesen überheblichen, spöttischen Ton. „Nur wegen einer Ohrfeige gleich so einen Abgang hinzulegen...“, sprach er weiter. Langsame drehte ich mich zu ihm um. Seine Körperhaltung hatte sich geändert. Er straffte nicht mehr seine Schultern und streckte auch nicht mehr seinen Brustkorb vor, wie ein eitler Gockel.
 

Warum war er hierher gekommen? Hatte er nicht gesagt, dass er sich mit mir und meinem Vater aussprechen wollte? Warum war er also so auf Krawall gebürstet und hatte Fritz so provoziert? Bei dem Gedanken verengten sich meine Augen. Ich war mir sicher, dass er keine Ahnung hatte, wie dünn das Eis war, auf dem er sich so überheblich bewegte.
 

„Du kannst jetzt aufhören das Arschloch zu spielen“, fuhr ich ihn an. „Oder ist hier noch jemand, den du provozieren möchtest?”

Er wirkte überrascht. Dachte er wirklich, dass ich das nicht merken würde? Offensichtlicher hätte er es wohl kaum machen können. Warum ließ sich Fritz auch immer so leicht aus der Reserve locken?

Fritz hatte sich schützend vor mich gestellt, sich zwischen uns gedrängt um Stefan von mir fernzuhalten. Ich war nie jemand, der Schutz benötigte oder von meinen Kollegen in Bielefeld erhalten hatte. Alle waren der Meinung, dass ich mich gut alleine durchschlagen konnte. Aber Fritz war das egal. Ob ich Hilfe wollte oder nicht, ob ich Schutz brauchte oder nicht. Er war immer da, wenn er das Gefühl hatte, dass es nötig war.
 

Mich erschreckte die Erkenntnis, aber gab mir auch das Gefühl der Geborgenheit. Das Gefühl fühlte sich so warm an, es durchzog meinen Körper und ließ mein Gesicht glühen. Fritz hatte meine Hand gehalten, als sie zitterte. Wie viel wusste er über Stefan und mich? Ich senkte meinen Blick und sah auf meine Hand die ich auf dem Brustkorb gepresst hielt. Sie kribbelte noch immer.
 

So wie ich Fritz einschätzte, hatte er versucht meine Ehre zu verteidigen und als Dank hatte ich ihm eine geknallt. Ich schüttelte meinen Kopf bei diesem Gedanken. Nachdem wie Stefans Äußerungen Fritz zugesetzt hatten, war ich mir sicher, dass es was Anzügliches gewesen sein musste. Er verharmloste immer seine Fehltritte, ob sie verbaler oder anderer Natur waren. Das war schon immer so. Er hatte noch nie verlieren können. Wenn er nicht das bekam was er wollte, wurde er herablassend. So war er schon als Kind gewesen.
 

Warum war ich erst die letzten Monate bereit gewesen all diese Fehler zu erkennen? Warum hatte mein Vater immer so große Stücke auf ihn gehalten? Aber was noch viel wichtiger war, warum hatte ich ihm je mein Herz geschenkt und es damit verwundbar gemacht?

Als sich Stefan neben mir räusperte, hob ich meinen Kopf. Ganz offensichtlich schienen meine Worte ihn wirklich getroffen zu haben. Er sah mich etwas unsicher an. Nein, dachte ich, es würde mir nicht leid tun. Ich würde mich nicht einlullen lassen. Das hatte er schon zu oft in der Vergangenheit geschafft.
 

Er hatte noch viel mehr verdient, als nur diese harmlosen Worte.

„Hör zu, Josephine“, begann er und klang dabei wieder ganz sanft, wie zu Anfang als er im Stall auf mich zugekommen war. „Es tut mir leid. Ich habe mich eben wirklich furchtbar benommen...“

Ich verdrehte meine Augen. Dieser Mann machte mich rasend. Dachte er, dass es mit dieser Entschuldigung getan wäre? Dachte er wirklich, dass er nur ein Gespräch mit mir brauchte und alles, was vor einem dreiviertel Jahr passiert war, wäre vergeben und vergessen? Da hatte er sich aber gewaltig geirrt. Er kannte mich anscheinend wirklich nicht so gut, wie er glaubte.

„Dämlich, trifft es wohl eher“, entgegnete ich scharf.

„Josy, du kennst mich doch“, begann er entschuldigend und wollte noch was sagen, aber ich schüttelte meinen Kopf und unterbrach ihn.

„Nein, Stefan“, sagte ich mit Nachdruck. „Anscheinend tue ich das nicht. Ich dachte es zwar immer, aber offensichtlich habe ich dich nie gekannt.“

„Josy“, sagte er mit dieser Sanftheit, die mich damals immer weich gestimmt hatte, aber das war lange vorbei. Als er meine Hand ergreifen wollte, nahm ich Abstand und hob warnend die Arme. Es reichte mir jetzt wirklich mit ihm.
 

„Ich habe dich nicht gebeten hierher zukommen“, sagte ich barsch. „Ich habe nichts mit dir zu bereden. Und trotzdem bist du hier, beleidigst meinen Kollegen vor seinem Sohn, beleidigst mich und anschließend soll alles gut sein, wegen einer lausigen Entschuldigung von dir?“ Ich wusste, dass ich mich gerade in Rage redete. Aber ich konnte nicht anders. Es hatte einfach zu lange in mir gebrodelt. „Du konntest es noch nie vertragen, wenn es nicht nach deinem Willen ging. Du warst schon immer ein schlechter Verlierer. Aber das ist mir egal. Hörst du, Stefan? Es. ist. mir. egal. Ich bin über dich hinweg. Wie du siehst gibt es also nichts über das wir reden sollten.“
 

Er sah mich eine Weile schweigend an. Regentropfen liefen sein Gesicht hinunter. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten, als er mich. „Ist es wegen ihm? Ist es wegen diesem Kollegen?“ Er sprach die Worte so abfällig aus, dass sich meine Wut nur steigerte. Er war wirklich die letzte Person, die sich über irgendjemanden ein Urteil erlauben durfte.

„Er hat nichts damit zu tun“, gab ich zurück. „Es gab für dich keinen Grund ihn so zu provozieren. Er ist mein Kollege.“
 

Der Gesichtsausdruck von Stefan veränderte sich in diesem Moment. Er sah mich wieder mit so einem herablassenden Ausdruck an als er sich frustriert durch die regennassen Haare fuhr. „Er hat also nichts damit zu tun?“, fragte er mich skeptisch. „Glaubst du das wirklich oder redest du dir das ein? Darin warst du ja schon immer besonders gut. Was geht da zwischen euch?“

„Selbst wenn da was wäre, ginge es dich nichts an!“

Der Regen wurde stärker, lief über mein Gesicht und durchtränkte meine Sachen, während ich den Blick von Stefan erwiderte. Es wäre sinnvoller reinzugehen. Aber ich wollte ihn nicht ins Haus lassen. Er hatte dort nichts zu suchen und ich sah keinen Sinn darin, die Konversation mit ihm fortzuführen. Aus meiner Sicht war alles gesagt.
 

Ich atmete tief ein und aus. Ich wollte mich nicht von ihm aus der Ruhe bringen lassen. Aber mein Puls pochte in meinen Adern, als er mich noch immer mit diesem arroganten Blick ansah. Ich wusste, dass er versuchte seinen Stolz zu schützen. Aber warum war er überhaupt gekommen? Er konnte nicht erwarten, dass er mit dieser Einstellung irgendwas bei mir wieder gut machen konnte.
 

„Wir waren auch mal Kollegen, Josy. Ich bin doch nicht blind. Er ist auch nur ein Kerl und wie er sich hier aufgeführt hat spricht Bände.“ Er kam einen Schritt auf mich zu und sah mich aus kalten Augen an, als er mit gesenkter Stimme fortfuhr. „Hast du ihn etwa in dein Höschen gelassen? Du warst schon immer recht schnell darin Männ-“ Er stoppte mitten im Satz, als ich ihm mit voller Wucht eine Ohrfeige gab.

Meine Lippen pressten sich fest aufeinander, um ihn nicht anzuschreien. Ich atmete einige Male schwer, bis ich mich soweit wieder im Griff hatte, dass ich ihn kein zweites Mal schlagen würde. Zweifelsfrei hatte er die Ohrfeige verdient, für all den Kummer, den er mir bereitet hatte, für die vielen Stunden, die ich wegen ihm geweint hatte und für alles, was heute wegen ihm passiert war.
 

Stefan sah mich erstaunt an, als ich mich zu ihm vorbeugte, war meine Stimme nur ein drohendes Flüstern. „Pass auf was du sagst, Stefan. Du kannst mich nicht mehr verletzten, bloß weil es nicht so läuft, wie du es willst. Ich bin dir mittlerweile sogar dankbar für den Scheiß, den du beim Junggesellenabschied abgezogen hast. Du hast mich vor dem größten Fehler meines Lebens bewahrt. Und da wir jetzt alles geklärt haben, solltest du lieber zurück nach Bielefeld.“

Ich lehnte mich wieder zurück. Ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, drehte ich mich um und ging über den Hof zum Haus.
 

***
 

Ich saß auf meinem Bett und starrte aufs Handy. Ich hatte jetzt schon einige Male versucht Fritz anzurufen, aber er war nicht rangegangen. Ich musste mit ihm sprechen und wollte nicht bis Montag warten. Im Büro war einfach keine Möglichkeit für solche Themen.

Ich dachte an die letzten Worte von Stefan, bevor ich ihn geohrfeigt hatte. `Hast du ihn in dein Höschen gelassen?´ Hatte er Fritz die gleiche Frage gestellt? Ich würde Fritz´s Reaktion darauf verstehen. Ein weiterer Grund, warum ich mit Fritz reden wollte. Gerade als ich ein weiteres Mal versuchte ihn zu erreichen, klopfte es an meiner Tür.
 

„Wer ist da?“ wollte ich wissen.

„Ich bin es, Josephine“, antwortete mein Vater.

„Komm rein“, sagte ich und legte mein Handy beiseite, als ich vom Bett aufstand. Vorsichtig betrat mein Vater den Raum und schloss die Tür hinter sich.

„Ist er weg?“, fragte ich und hoffte inständig, dass Stefan endlich gegangen war. Viktor und mein Vater hatten ihn tatsächlich ins Haus gelassen. Ich war in mein Zimmer gegangen um nicht Gefahr zu laufen ihm noch eine zu knallen. Als mein Vater jedoch nicht gleich antwortete und auswich, verengten sich meine Augen und ich ging auf ihn zu.

„Er ist noch da?“ Es war keine Frage. Ich war mir sicher, dass er noch hier war. „Wann geht er denn endlich?“, wollte ich wissen.

„Josephine“, begann mein Vater vorsichtig. „Es ist schon recht spät. Er kann doch heute nicht mehr zurück nach Bielefeld fahren.“

„Papa!“, sagte ich warnend und musste mich bemühen mich nicht in meinem Ton zu vergreifen. Ich wusste was das bedeutete. Wie waren die beiden nur auf diese Idee gekommen?
 

„Wir sind hier in Berlin, Papa. Das ist hier kein Dorf. Es gibt überall Hotels. Warum muss er unbedingt HIER übernachten?“ Das konnte doch nicht deren ernst sein.

„Josephine, du musst das verstehen. Er ist heute den ganzen Tag hier hergefahren. Wir können ihn doch nicht einfach vor die Tür setzen.“

„Also erst mal braucht man nicht einen ganzen Tag von Bielefeld nach Berlin und ja, dass können wir!“

„Josephine“, ermahnte mich mein Vater.

Ich atmete durch, als ich versuchte mich wieder zu beruhigen. Bitte sehr, sollten die Männer doch machen was sie wollen. Ich würde hier keine Minute länger bleiben, solange Stefan hier war. Ich drehte mich um und ging zu meinem Kleiderschrank. Als ich mir einen kleinen Rucksack schnappte und aus dem Schrank verschiedenen Kleidungsstücke zog, trat mein Vater hinter mich.
 

„Was machst du da?“, fragte er verwundert.

Ich drehte meinen Kopf zu ihm als ich gerade meinen Schlafanzug in den Rucksack stopfte. „Wenn Stefan nicht in der Lage ist sich einen anderen Schlafplatz zu suchen, dann werde ich es tun.“

„Aber Josephine“, begann mein Vater, ich unterbrach ihn. „Papa, ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben, verstehst du das nicht?“ Nach eine Weile senkte er seinen Kopf und nickte. Ich schob die restlichen Sachen in meinen Rucksack und zog ihn zu.

Ich verlies das Zimmer und mein Vater folgte mir. Als ich am Wohnzimmer vorbei ging, sah ich Stefan zusammen mit Viktor auf dem Sofa sitzen. Ich ging weiter zum Flur und Stefan folgte mir.
 

„Wo willst du hin?“, fragte er mich.

„Wenn du nicht fähig bist dir eine Bleibe für heute Nacht zu suchen, dann werde ich es tun“, entgegnete ich kühl, als ich an ihm vorbei ging.

„Das ist doch kindisch“, rief er mir hinterher. Ich blieb bei seinen Worten stehen und drehte mich zu ihm um. Kindisch? Hatte er das gerade wirklich gesagt? Viktor und mein Vater standen nun ebenfalls im Flur nur weniger Meter hinter Stefan und sahen mich unsicher an.

„Es war ein Junggesellenabschied, Josy“, begann Stefan. Wollte er wirklich über DIESES Thema sprechen? Vor Viktor und meinem Vater? Hatte ich ihm die Sache nicht schon deutlich genug vorm Haus gesagt?

„Das macht doch keinen Unterschied, Stefan“, entgegnete ich knapp und bemühte mich, weiterhin kühl zu klingen. Ich wollte mich davon nicht weiter aufreiben lassen. „Ein Junggesellenabschied ist doch kein Freibrief fürs Rumhuren“, fuhr ich fort. „Du hättest mich am nächsten Tag auf unserer Hochzeit mit diesem Mund geküsst, mit dem du den Abend zuvor eine Nutte beglückt hattest. Weißt du wie sehr mich dieser Gedanke angeekelt hat? Aber mach dir keine Sorgen, ich hatte ein dreiviertel Jahr und diese Zeit war lang genug, um mit allem und vor allem mit dir abzuschließen. Also bemühe dich nicht weiter um irgendwelche Erklärungen.“ Ich drehte mich wieder um, wollte meinen Weg zur Tür fortsetzen.
 

„Gehst du zu ihm?“, fragte mich Stefan mit gedämpfter Stimme. Ich hielt erneut inne. Er verdiente es nicht, dass ich ihn weiter beachtete. Trotzdem drehte ich mich um.

„Vielleicht“, sagte ich und sah ihn dabei an, als wenn ich darüber noch nachdachte. „Und vielleicht lass ich ihn heute Nacht noch in mein Höschen, Stefan. Du weißt doch, wie leicht das bei mir ist.“ Ich hatte ins Schwarze getroffen, das konnte ich erkennen.

Mir war bewusst, dass ich sowohl Viktor, wie auch meinen Vater damit schockierte, aber das war mir egal. Stefan sollte erkennen, was für einen Müll er mir heute, aus welchen Gründen auch immer, an den Kopf geworfen hatte.

Er erwiderte nichts, sah mich nur ernst an. Ich wandte mich an Viktor. „Da ihr ja so unglaublich freundlich seid und ihm Asyl gewährt, suche ich mir heute Nacht eine andere Bleibe. Ich wäre dir verbunden, wenn du sicherstellst, dass Stefan weg ist, wenn ich wiederkomme. Bis zehn Uhr sollte das doch möglich sein, oder?“ Viktor nickte zustimmend. Ich lächelte ihn an. Er verstand mein `Danke´, auch ohne das ich es aussprechen musste. Das liebte ich so sehr an Viktor.

Ich verließ das Haus und setzte mich in mein Auto. Als ich den Motor starten wollte, sprang er nicht an. Ich hatte heute einfach kein Glück. Ich musste mir wirklich zeitnah ein neues holen. Normalerweise würde ich jetzt am Auto rumschrauben, aber ich wollte hier weg. Also stieg ich aus und verließ den Hof zu Fuß.

Es hatte aufgehört zu regnen und ich kam trockenen Fußes zur nächsten Bushaltestelle. Mit dem nächsten Bus würde ich zum Revier fahren. Ich hatte schon einmal auf der Couch dort übernachtet. Ich würde wohl eine weitere Nacht dort auch überstehen.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Bus. Ich setzte mich ans Fenster und lehnte meinen Kopf seitlich gegen die Scheibe, bevor ich meine Augen für eine Weile schloss. Es wurde langsam dunkel und die Straßenlaternen gingen nach und nach an. Als der Fahrer durch die Straßen von Berlin fuhr, sah ich gedankenverloren nach draußen und versuchte eine Lösung zu finden. Ob Ben schon schlief? Vielleicht würde Fritz dann endlich an sein Handy gehen. Ich wühlte in meiner Jackentasche und sah auf das Display.

Fritz hatte weder auf meine Anrufe reagiert noch auf die Nachrichten, die ich ihm geschrieben hatte. Wie oft hatte ich ihn schon angerufen? Ich rief ihn ein weiteres Mal an, aber wieder einmal antwortete mir nur die bekannte Stimme seiner Mailbox. Ich fluchte leise und beendete den Anruf. Wie sollte ich die Sache klären, wenn er auf stur schaltete?
 

Ich wollte mich nicht nur für die Ohrfeige entschuldigen. Natürlich wollte ich ihm erklären, warum ich das getan hatte. Aber eine leise Stimme in mir fragte sich auch, warum Fritz so aggressiv auf Stefan reagiert hatte. Als Kollege war es durchaus verständlich, wenn er mich vor Beleidigungen schützen wollte. Aber hatte er nicht ein wenig übertrieben reagiert? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich für mich Interessierte. Auch wenn mein Vater, Benny und selbst Stefan merkwürdige Andeutungen gemacht hatten.
 

Es machte keinen Sinn. Ich musste an die Ex-Frau von Fritz denken. Diese schöne junge Frau - top gestylt und modisch angezogen. Sie schien viel Wert aufs Aussehen zu legen und genau so stellte ich mir auch immer die Frauen vor, denen Fritz vermutlich hinterher sehen würde. Ich entsprach so gar nicht diesem Bild und noch dazu war ich zwei Jahre älter als er. Wir gerieten ständig aneinander und er fluchte unentwegt über meine Ermittlungsmethoden.
 

Fritz hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und Gerechtigkeitssinn. Ich bin Teil seines Teams und natürlich beschützt er mich und sorgte sich um mich. Wäre das nicht eine logische Erklärung für sein Verhalten heute? Warum machte ich mir darüber überhaupt Gedanken? Fritz war mein Arbeitskollege. Es wäre nicht gut. Es wäre zu kompliziert, zu emotional. Ich sah frustriert aus dem Fenster und mir stockte für eine Sekunde der Atem. Was für eine Ironie, dass ich in diesem Moment an einem Taxistand vorbei fuhr.
 

Augenblicklich musste ich wieder an den Abend denken, als Fritz mich geküsst hatte. Es hatte sich nicht kompliziert angefühlt und ich musste zugeben, dass dieses Verhalten alles andere als kollegial gewesen war - . weder von ihm noch meine Reaktion darauf. Bei dem Gedanken glühten meine Wangen. Warum zog sich meine Brust zusammen, wenn ich daran dachte? Die Gedanken in meinem Kopf machten mich noch verrückt, ich versuchte sie abzuschütteln.
 

„Wenn Sie schon den Knopf drücken, junge Frau, dann müssen Sie auch aussteigen.” Bei den Worten des Busfahrers horchte ich auf und sah zu ihm. Meinte er mich? Ich sah mich im Bus um. Es war niemand außer mir hier. Er konnte nur mich meinen.

Der Bus hatte angehalten und die Tür stand offen. Als mein Blick zu meiner Hand schweifte, lagen meine Finger auf dem Stop-Knopf. Ich sah zurück zum Taxistand, der sich nur wenige Meter hinter der Bushaltestelle befand. Ich zögerte nur eine Sekunde. Dann stieg ich aus dem Bus und ging auf den Taxistand zu. Ich war mir sicher, dass ich heute Nacht keinen Schlaf finden würde, wenn ich nicht mit ihm reden konnte. Wenn Fritz also nicht bereit war am Telefon mit mir zu sprechen, musste er wohl damit leben, dass ich andere Wege gehen würde, um meinen Willen zu kriegen. So gut sollte er mich eigentlich kennen.
 

***
 

Jetzt wo ich vor der Wohnungstür von Fritz stand, zögerte ich die Klingel zu drücken. Ich war zum Taxistand gelaufen und hatte mir eine Taxe bestellt, obwohl ich noch gar nicht wusste wo Fritz wohnte. Alex war über meinen Anruf verwundert, hatte mir aber die Adresse von Fritz gegeben.
 

Fritz wohnte in Friedrichshain in einem modernen Block mit Tiefgarage und Security. Der Pförtner war sehr freundlich, nannte mir die Wohnungsnummer von Fritz und zeigte mir den Weg zu den Fahrstühlen. Und jetzt stand ich vor der Tür und starrte auf die Klingel.
 

Ich atmete einmal tief durch und drückte dann den Knopf. Mir lief ein Schauer über den Rücken und mein Magen verkrampfte sich merkbar. Würde Fritz mir gleich wieder die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er mich sah? Wie wütend konnte er noch sein? Ich hörte Schritte auf der anderen Seite, bevor die Tür aufgerissen wurde. Er schien nicht durch den Türspion gesehen zu haben, denn als er mich erblickte, sah ich den überraschten Gesichtsausdruck.
 

Auf dem Weg hierher hatte ich mir überlegt, was ich ihm alles sagen wollte, aber als ich in sein Gesicht sah, war mein Kopf plötzlich leer. Ich starrte auf die Stelle, wo ich ihn geohrfeigt hatte. Es war nichts mehr zu sehen, was mich beruhigte, aber die Sache nicht ungeschehen machte.

Fritz sah mich schweigend an. Mir war bewusst, dass jetzt ich dran war mich zu erklären. Zumindest hatte er die Tür nicht gleich wieder geschlossen und gab mir die Zeit meine wirren Gedanken zu sammeln. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Ich öffnete meinen Mund einige Male, wollte etwas sagen, aber da ich nicht wusste was, schloss ich ihn wieder.
 

„Warum bist du hier?“, fragte er schließlich ruhig. Ich konnte keinen Ärger in der Stimme erkennen, keine Wut.

„Ich habe Stefan auch eine geknallt“, platze es aus mir raus und ich verzog im selben Moment das Gesicht. Was erzählte ich da nur für einen Scheiß? Das war wirklich nicht das, was ich ihm erzählen wollte. Ich senkte meinen Blick für einen Moment und knetete unruhig meine Hände. „Bloß als Ausgleich...“, sagte ich kleinlaut und sah ihn wieder vorsichtig an. „Aber das ist eigentlich nicht der Grund, warum ich hier bin...“ Wieder schwieg ich und biss mir aus Frustration auf meine Lippen.
 

„Es tut mir leid, Fritz“, brachte ich endlich heraus. Es fühlte sich wie ein Sack Steine an, den ich endlich loslassen konnte. Als er fragend eine Augenbraue hochzog, rollte ich mit den Augen. Ich wusste, dass ihm das als `Erklärung und Entschuldigung´ nicht genügen würde.

„Die Ohrfeige galt doch gar nicht dir“, erklärte ich. „Du warst nur näher dran als Stefan. Du musst doch verstehen, dass eine Schlägerei während deiner Probezeit sich nicht gut machen würde. Und ich kann dir versprechen, dass solche Sachen nicht bei Stefan bleiben würden. Warum lässt du dich auch von so einem Idioten provozieren...“ Ich holte Luft und wollte noch mehr sagen, wollte ihn fragen warum er nicht an sein Handy gegangen war als Fritz aus dem Türrahmen einen Schritt zurück machte.
 

„Josephine“, sagte er. Aber ich schüttelte den Kopf. Wollte er wirklich die Tür jetzt schließen? Ich hatte doch noch gar keine Chance gehabt ihm alles zu erklären.

„Nein Fritz, schicke mich jetzt noch nicht weg. Ich muss das loswerden, sonst wundert sich Alex, warum ich erst nach deiner Adresse am Wochenende um so eine Uhrzeit bettele und wir dann Montag kein Wort miteinander reden...“

Er schwieg einen Moment, aber sein Mundwinkel zuckte. Ich sah ihn überrascht an. Amüsierte es ihn? Es war nur eine Sekunde gewesen, aber ich hatte es deutlich gesehen. Er deutete auf den Flur hinter sich und sah mich wieder etwas ernster an.

„Willst du vielleicht reinkommen, Josephine? Meine Nachbarn wird es wohl nicht interessieren, was du mir sagen möchtest.“ Ich stutzte. Er ließ mich in seine Wohnung? Er würde mich nicht einfach hier stehen lassen? Etwas verdutzt nickte ich. Er stellte sich seitlich, während er die Tür aufhielt und mir mit einer Handbewegung signalisierte, dass ich eintreten sollte.
 

Als ich im Flur stand, schloss er die Tür und sah mich an. „Ben schläft schon“, sagte er mit gedämpfter Stimme und deutete auf eine der Türen. „Vielleicht sollten wir im Wohnzimmer reden?“ Ich nickte, zog meine Schuhe aus, stellte meinen Rucksack ab und folgte ihm.

„Tut mir leid, dass ich dich um diese Uhrzeit noch störe“, sagte ich, als ich auf seiner Couch platz nahm. Er ging zu einem Schrank und holte zwei Gläser raus.

„Möchtest du was zu trinken?“, fragte er mich. Ich sah ihn nachdenklich an. Irgendwie benahm er sich seltsam.

„Du bist nicht sauer?“ Bei meiner Frage stutzt er für einen Moment, zuckte dann aber die Schultern. Er stellte die Gläser auf den Tisch und setzte sich in den Zweier-Sitz mir gegenüber.

„Ich war sauer“, bestätigte er mir.

„Ich wollte dich nicht schlagen“, beteuerte ich. „Und es tut mir leid, dass ich es getan habe.”
 

Er schenkte mir ein gedehntes Lächeln. “Für jemand der Probleme mit `Es tut mir leid´ hat, verwendest du es gerade recht häufig.”

„Ich will nicht, dass du mich rausschmeißt, bevor ich nicht sichergestellt habe, dass wirklich alles in Ordnung ist und keine Missverständnisse zwischen uns stehen“, murmelte ich. Er lehnte sich mit seinen Ellenbogen auf seine Knie, als er sich vorbeugte.

„Welche Missverständnisse gibt es deiner Meinung nach denn?“, seine Stimme klang zwar ruhig, aber ich konnte einen leisen fordernden Unterton raushören.

Ich beugte mich ebenfalls vor und sah ihn fest an. „Ich habe in keinster Weise versucht Stefan zu schützen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du ihn festhalten können und ich hätte ihm selber eine verpasst.“ Der ernste Ausdruck wich aus seinem Gesicht, Fritz entspannte sich ein wenig.
 

Er erwiderte nichts, also fuhr ich fort. „Hast du nicht an deine Probezeit gedacht?“ Ich konnte in seinen Augen lesen, dass er keine Sekunde daran gedacht hatte. „Denkst du ich riskiere, dass du doch noch ein Strafverfahren bekommst, weil du dich von Stefan hast provozieren lassen? Ich kenne Stefan. Er war sich schon immer zu fein, um sich die Hände schmutzig zu machen. Warum sollte er sich also mit dir prügeln?“

„Wusste er denn von der Probezeit? Woher hätte er davon wissen sollen?“, fragte mich Fritz skeptisch.

„Woher hättest du davon wissen sollen, dass ich fünf Mal aufs Ortsschild geschossen habe, bevor ich nach Berlin gekommen bin?“, entgegnete ich. Es dauerte nicht lange bis er mich verstand.

„Er hat meine Akte?“, fragte Fritz ungläubig. Ich zuckte mit den Schultern.

„Woher soll ich das wissen? Du wirst dir hoffentlich vorstellen können, dass ich nach dem Zwischenfall mit dir und ihm nicht gerade zu einem Kaffeeklatsch mit ihm bereit war.“
 

Nach einem Moment fragte mich Fritz vorsichtig „Ist er noch da?“. Ich nickte zustimmend. „Hast du mit ihm noch geredet?“

Ich seufzte. „Das ließ sich wohl kaum vermeiden“, murmelte ich. Wieder breitete sich Schweigen im Raum aus.

Plötzlich stand Fritz auf und mein Blick folgte ihm. „Was möchtest du zu trinken?“, fragte er, als er langsam zur Tür ging.

„Wasser würde mir reichen“, antwortete ich. Ich wollte ihm keine Umstände machen. Fritz verließ für einen Moment das Wohnzimmer. Ich rutschte etwas unruhig hin und her, bis ich schließlich aufstand und ans Fenster ging. Ich konnte nicht stillsitzen, wenn mir so viele Gedanken durch den Kopf geisterten.
 

Auf dem Fensterbrett standen einige Fotos von Benny und Fritz. Ganz links war ein großer Rahmen der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Fritz stand mit Benny vor einem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum und direkt neben ihnen standen zwei ältere Personen. Das mussten die Eltern von Fritz sein. Ich nahm das Foto in die Hand um es genauer zu betrachten.
 

Der Mann neben Fritz war etwas größer als er. Er hatte volles Haar, auch wenn es schon durch und durch ergraut war. Ich schätzte ihn um die 60. Er hatte das gleiche Lächeln wie Fritz mit den tiefen Grübchen die sich bildeten, wenn er lächelte. Fritz war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die beiden hatten sogar die gleiche Körperhaltung. Neben Fritz und Benny stand eine kleine, zierliche Frau, die mit einem warmen Lächeln in die Kamera blickte. Sie hielt die Hand von Benny und hatte sich bei Fritz eingeharkt. Sie musste in etwa das gleiche Alter haben wie der Mann, der neben Fritz stand.
 

Ich hatte nie sonderlich viel über das Privatleben von Fritz erfahren. Ich war immer zu sehr damit beschäftigt gewesen, mein Eigenes zu schützen. Aber ich war neugierig. Ich wollte wissen, wer Fritz war - wie er früher war. Hatte er das gleiche Temperament schon als Kind? Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie wild er gewesen sein musste.

Seinem Vater konnte man selbst im Alter noch ansehen, dass ihm der Schalk im Nacken saß. Die Mutter hingegen wirkte besonnen und bodenständig. Selbst wenn die Kinder es immer abstritten, Familie und besonders die Eltern prägten doch am meisten einen Menschen.
 

„Was Interessantes gefunden?“ Ich drehte mich zu Fritz, der mit zwei dampfenden Getränken vor der Couch stand und mich mit hochgezogener Augenbraue ansah. Ich blickte entschuldigend.

„Tut mir leid, dass ich hier so rumschnüffle. Das bringt der Beruf so mit sich.“ Ich stellte den Bilderrahmen wieder auf das Fensterbrett.

„Schon ok“, entgegnete er und verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln, als er die Getränke auf den Couchtisch stellte.

„Sind das deine Eltern?“, fragte ich und zeigte auf das Bild hinter mir. Er sah mich an, blickte dann zum Bild und nickte. Als er das Foto betrachtete, bekam sein Gesicht weiche Züge. Er musste sehr viel für seine Eltern übrig haben, dachte ich.
 

„Du siehst deinem Vater sehr ähnlich.“

„Hör ich oft“, sagte er nur achselzuckend. Ich ging wieder auf die Couch zu und Fritz nahm auf dem Zwei-Sitzer platz. Ich sah ihn fragend an, als ich mich auf die Couch setzte und mein Getränk in Augenschein nahm.

„Ich habe dir einen Tee gemacht“, erklärte er knapp. Ich hatte zwar gesagt, dass mir ein Wasser genügen würde, aber dieser Tee roch verlockend und war genau das, was ich jetzt brauchte.

„Danke.“ Ich umschloss die warme Tasse mit beiden Händen und pustete einige Male bis ich einen Schluck trinken konnte. Die ganze Zeit beobachtete mich Fritz ohne etwas zu sagen. Seine Blicke machten mich nervös, also starrte ich weiter meinen Tee an.
 

„Benny war sich sicher, dass du heute noch herkommen würdest“, sagte Fritz schließlich. Ich blickte auf. „Er hat lange auf dich gewartet.“. Fritz nahm einen Schluck von seinem Tee, bevor er mich dieses Mal angrinste. „Er hat mir verboten schlafen zu gehen, bevor du hier bist.“

„Hast du auf mich gewartet?“, fragte ich ihn und fühlte mich dabei ein wenig atemlos. Eine Weile sagte Fritz nichts als wenn er wirklich über diese Frage nachdenken musste. Dann schüttelte er aber den Kopf.

„Er ist ein Kind, Bielefeld.“
 

Ja, das stimmte. Er war ein Kind, aber ein sehr schlaues. Und er hatte rechtbehalten mit seiner Vermutung. „Aber ich bin hier“, entgegnete ich leise als ich einen weiteren Schluck von meinem Tee nahm.

„Ja, das bist du“, sagte er und schenkte mir ein so warmes Lächeln, dass sich meine Brust zusammenzog. Ich hoffte, der Tee war der Grund, warum sich mein Körper so warm anfühlte. Ich war hierher gekommen, um mich bei Fritz zu entschuldigen, damit wir Montag wieder normal unseren Dienst antreten konnten. Aber irgendwie hatte es sich zu etwas viel persönlicherem entwickelt und das verwirrte mich, machte mich sogar ein wenig panisch.
 

„Warum bist du nicht sauer?“, fragte ich Fritz und versuchte meine Gedanken wieder ein wenig mehr auf den eigentlichen Grund meines Besuches zu konzentrieren.

„Wie gesagt, ich war sauer. Aber ich habe langsam das Gefühl, dass ich dich verstehe.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich überrascht.

„Ich hätte wissen müssen, dass du hochsensibel reagierst, wenn dein Ex-Verlobter plötzlich auf der Matte steht. Temperament hin oder her, ich hätte anders reagieren müssen.“

Das erstaunte mich. Ich sah ihn überrascht an.

“Nun sieh mich nicht so an, Bielefeld”, sagte er spielerisch und verdrehte seine Augen.
 

`Hochsensibel´ hatte er gesagt. So hatte ich auf ihn gewirkt? Ich hatte mich bemüht so gleichgültig wie möglich zu wirken, aber Fritz hatte durch die Fassade gesehen. Er wusste also alles?

„Wer hat es dir erzählt?“, fragte ich Fritz möglichst beiläufig. Er verstand was ich meinte.

„Alex kam mal darauf zu sprechen“, sagte er vorsichtig.

„Warum“, begann ich. „Warum hast du mich eigentlich nicht danach gefragt?“ Er hatte sich doch sonst nie eine Frage verkneifen können. Warum also gerade bei diesem Thema?

Er zögerte einige Augenblicke, dann zuckte er mit den Schultern und seufzte. „Ich denke, dass ich weiß wie es ist, wenn man über eine gescheiterte Beziehung nicht reden will.“ Fritz sah bei diesen Worten nachdenklich aus und wir beide schwiegen einen Moment.

Ich beobachtete Fritz, wie er mit gesenktem Blick die Tasse in seine Hand nahm und sich in den Zwei-Sitzer zurücklehnte. Ich konnte mich daran erinnern, dass er dem Thema auswich, wann immer ich ihn darauf ansprach. Ich biss mir auf die Lippen, konnte die Worte aber nicht stoppen.
 

„Liebst du sie noch?“

Bei der Frage sah er mich erstaunt an und ich hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum hatte ich die Frage gestellt? Mich ging das wirklich nichts an. Und dennoch merkte ich meinen erhöhten Puls und die innere Unruhe, als ich auf eine Antwort von ihm wartete. Seine Reaktion dauerte für mich eine Ewigkeit und die Erleichterung, die mich durchströmte, als er seinen Kopf schüttelte, machte mir Angst.

„Anscheinend habe ich nicht genug Gefühl investiert, um sie halten zu können. Mittlerweile glaube ich, dass Benny der einzige Grund war, warum unsere Ehe überhaupt solange gehalten hat. Sie hat sich jemanden gesucht, der ihr mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat und mir dann die Scheidungspapiere auf den Tisch gelegt. Ich war lange Zeit sehr sauer auf sie. Aber ich habe die Ehe nie bereut – allein schon wegen Benny.“ Fritz sah mich erst nach einigen Sekunden an, schenkte mir dann aber ein Lächeln, das ich erwiderte.
 

„Wie ist das bei dir?“, fragte Fritz zögernd als er sich leicht räusperte und sich langsam vorbeugte.

Ich sah nachdenklich auf den Couchtisch, während ich über seine Frage nachdachte. Ich hatte darüber die letzten Monate viel nachgedacht. Aber das Treffen mit Stefan hatte heute alles durcheinander gewirbelt. „Ich weiß es nicht“, sagte ich und sah Fritz dabei etwas gequält an.
 

Er hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. „Ehrlich gesagt weiß ich im Moment weniger als vorher“, fuhr ich fort. „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt wirklich je geliebt habe. Manchmal glaube ich, dass diese Trennung mehr meinen Stolz und meine Ehre getroffen hat als alles andere.“ Es stimmte. Ich war mir mittlerweile wirklich nicht mehr sicher, ob ich Stefan wirklich geliebt hatte. Zumindest nicht so, wie man jemanden lieben sollte, den man heiraten wollte.
 

„Ich kannte Stefan seit meiner Kindheit.“ Ich wunderte mich, warum ich Fritz das alles erzählte. „Wir sind zusammen groß geworden, waren Nachbarn. Wir verstanden uns und ich musste mich nicht verstellen. Es war einfach mit ihm Zeit zu verbringen, bequem, unkompliziert. Und irgendwie war es dann so natürlich, dass wir zusammengekommen sind, dass wir über Hochzeit und Kinder gesprochen haben. Aber genau das hatte mich so verletzlich gemacht. Er war einfach zu sehr in meinem Leben involviert, privat und beruflich...“ Ich machte einen Moment Pause und dachte über die vergangenen Jahre nach, dachte daran, wie Stefan mein ganzes Leben mit einer Dummheit verändert hatte.
 

„Ich glaube ich war verliebt in die Idee verliebt zu sein und geliebt zu werden.“ Ich sagte das mehr zu mir selbst als zu Fritz und die Erkenntnis frustrierte mich. Ich hatte es wohl laut genug gesagt, dass Fritz es verstand. Als ich dem Blick von ihm nicht länger standhalten konnte, wandte ich meinen Blick von ihm ab. Ich betrachtete meine Hände, ich wusste nicht, wohin ich sehen sollte. Mein Puls schlug deutlich hörbarer in meinen Ohren.
 

Als Fritz auch nichts sagte, atmete ich einmal durch und stand auf. Es war wirklich genug gesagt für den Tag. Ich musste mich erst mal selber sammeln und es war Zeit zu gehen. „Es ist spät geworden, eigentlich wollte ich mich nur bei dir entschuldigen und dich nicht vom Schlafen abhalten.“

Fritz sah mich einen Moment an, erhob sich aber ebenfalls und folgte mir zur Tür.

„Du gehst wieder zurück?“, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf.

„Stefan hat sich doch bei uns einquartiert“, sagte ich entnervt. „Ich habe keine Lust mich weiter mit ihm rumzuschlagen. Viktor hat versprochen, dass er bis morgen zehn Uhr das Gestüt verlassen hat.“

„Und wo schläfst du?“

„Ich fahre zum Revier. Die Couch durfte ich dank euch ja schon mal austesten“, sagte ich und musste dabei grinsen.

„Das ist doch Quatsch“, sagte er.

„Quatsch?“, fragte ich.

„Du kannst doch hier schlafen!“ Ich sah ihn erstaunt an. Es klang mehr wie ein Befehl und nicht nach einem Vorschlag.

„Ist schon gut, Fritz“, winkte ich ab. „Mich wird eine Nacht auf dem Revier nicht umbringen.“ Ich war ihm dankbar für das Angebot. Aber ich konnte das einfach nicht annehmen. Es wäre besser allein zu sein und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und ich brauchte Abstand von Fritz. Seine Nähe brachte mich im Augenblick durcheinander.
 

Gerade als ich meinen Rucksack schnappen wollte, legte er eine Hand auf meine Schulter. Seine Berührung durchfuhr mich und ich war mir seiner Nähe zu bewusst. Ich stoppte in meiner Bewegung und sah ihn an. Er wollte was sagen, zögerte aber noch. Im selben Moment ging die Tür zum Schlafzimmer auf.
 

„Papa?“, hörte ich die verschlafene Stimme von Benny. Ich sah ihn an, als er sich die Augen rieb und aus dem Zimmer sah. Als er mich erblickte, schenkte ich ihm ein Lächeln. Ich hatte gar nicht mehr mit ihm reden können. Hoffentlich hatte ihn Fritz beruhigen können, nachdem was Stefan über den Vorfall auf der Brücke erzählt hatte. Seine Augen wurden groß als er mich erkannte.

„Josephine“, rief er aus und rannte auf mich zu, als er seine Arme um meine Hüften legte. Fritz ließ im selben Moment meine Schulter wieder los und ich konnte mich ein wenig entspannen. „Ich wusste, dass du kommst“, sagte Benny und blickte zu mir hoch, als er mich zufrieden angrinste. „Hat sich Papa bei dir entschuldigt?“, wollte er wissen. Die Frage verwirrte mich. Bei MIR? Wieso bei mir?
 

„Papa macht manchmal Blödsinn.“ Ich musste lachen und sah Fritz kurz an, der nur die Augen rollte. Als ich wieder Benny ansah, strich ich ihm durch die Haare.

„Wir haben über alles geredet“, versicherte ich ihm. Er wirkte zufrieden, als er mich losließ und sich bei Fritz anlehnte. Vater und Sohn. Es war ein schönes, inniges Bild.

„Bleibt Josephine hier?“, fragte Benny und sah Fritz hoffnungsvoll an. Fritz schüttelte den Kopf als er seinen Sohn ansah.

„Josephine wollte gerade gehen.“ Benny sah mich stirnrunzelnd an. Ich konnte sehen, dass ihm das gar nicht gefiel.
 

***
 

Ich konnte nicht glauben, dass ich der Bitte von Benny zugestimmt hatte. Nachdem er einfach nicht aufgeben wollte und weiter darauf bestand, dass ich heute Nacht hier bleiben sollte, hatte ich schließlich zugestimmt. Er wollte mir noch soooooo viel erzählen, aber es dauerte nicht lange und er war neben mir auf der Couch eingeschlafen. Fritz hatte ihn ins Schlafzimmer gebracht und wollte mir dann die Couch für die Nacht fertig machen, aber ich hatte ihn ins Bett geschickt. Ich musste im Moment allein sein.
 

Es war verrückt. Der Tag war wirklich schön bis Stefan aufgetaucht war. Aber ab da war alles nur noch ein Chaos mit Stefan, mit Fritz und mit mir selbst. Ich wollte mich nicht davon durcheinander bringen lassen, aber es schlichen sich seltsame Gefühle in meine Brust, die ich einfach nicht abschütteln konnte, die mir bekannt vorkamen, aber trotzdem sehr fremd. Mein Gott, was war nur los mit mir? Irgendwas war heute mächtig schief gelaufen. Ich hätte ablehnen und ins Revier fahren sollen. Mein Kopf fühlte sich überfüllt an und ich hatte ein flaues Gefühl im Magen.
 

Ich lag rastlos im Bett und fand einfach keinen Schlaf. Ich drehte mich um und die Bettdecke schmiegte sich warm um mich, als ich sie über meinen Kopf zog. Ich atmete tief, als ich versuchte zur Ruhe zu kommen. Irgendwie roch die Bettdecke so angenehm - angenehm nach Fritz. Es beunruhigte mich, dass mir sein Duft das Gefühl von Wärme gab.

„Kommst du mit?“, fragte mich eine Stimme und riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte meinen Blick von den Unterlagen vor mir ab zur Tür hin, wo Fritz und Alex standen.

„Wohin?“, fragte ich verwirrt. Beide sahen mich ungläubig an.

„Zu Addie! Heute ist Mittwoch“, sagte Fritz und zog seine Augenbrauen hoch.

„Was ist denn los mir dir, Josephine? Du bist den ganzen Tag schon so seltsam drauf.“ Alex war verwundert.

Er hatte Recht. Heute war Mittwoch. Die letzten Tage waren rasend schnell vergangen. Als mich beide immer noch fragend ansahen, schüttelte ich meinen Kopf. „Nee, geht ohne mich. Ich habe noch einiges zu erledigen.“
 

Eines davon war jemandem heute kräftig in den Arsch zu treten. Bei dem Gedanken legte ich meine Stirn in Falten und schnaubte frustriert. Bei meiner Laune sollte ich im Moment lieber alleine bleiben, jedenfalls verdienten die Jungs es nicht, das abzukriegen, denn Ausnahmsweise hatte sie sich mal nichts zu schulden kommen lassen. Ich drehte mich wieder um und stützte mein Kinn in meiner Hand ab.
 

„Habt Spaß, Jungs!”, sagte ich ohne mich zu den beiden umzudrehen als ich schon wieder die Unterlagen vor mir sichtete. Ich versuchte mich wieder auf den Bericht zu konzentrieren. Im Hintergrund brabbelten die beide noch einen Moment, dann verklangen die Stimmen und die Tür fiel ins Schloss.
 

Endlich wieder alleine, dachte ich und beugte mich über die Akte um nach der Passage zu suchen bei der ich Unterbrochen worden war. Bevor ich das Revier verlies, wollte ich diesen Bericht noch fertig kriegen. Ich kaute auf meinem Stift rum, als ich den letzten Abschnitt eines Berichtes von unserer vergangenen Ermittlung überflog.
 

„Alles klar bei dir?“, fragte eine Stimme neben mir und ließ mich hochschrecken. Der Stift fiel mir aus der Hand und rollte vom Schreibtisch.

„Meine Güte, Fritz“, stieß ich halb keuchend, halb fluchend aus und legte meine Hand auf meine Brust. Ich drehte mich zu ihm und versuchte meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Wie hatte er sich so anschleichen können?

„Willst du Schuld sein, wenn ich heute Abend noch mit ´nem Herzinfarkt im Krankenhaus lande?“

Er lehnte sich an meinen Tisch und stützte sich mit seinen Händen ab. „Geht´s dir denn nicht gut?“, fragte er mich ernst.

Ich verdrehte die Augen. „Wenn du mich so erschreckt, dann geht´s mir gewiss nicht gut.“

„Und sonst?“, harkte er nach. Ich sah ihn verwirrt an. Als ich nicht antwortete, lehnte er sich mit seinem Kopf ein wenig dichter zu mir.

„Irgendwas hast du. Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Jaaa“, sagte ich gedehnt und bemühte mich meine Stimmung etwas besser zu kontrollieren. Er konnte nichts für meine schlechte Laune und ich sollte es nicht an ihm auslassen. Ich bemühte mich ihn anzulächeln, aber irgendwie mussten mir meine Gesichtszüge dabei entglitten sein.
 

„Dieses gekünstelte Lächeln kannst du dir sparen, Bielefeld. Ich sehe doch, dass du angepisst bist.“ Er lehnte sich wieder ein wenig zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Etwas spitzbübisch sah er mich an. „Ich kenn’ diesen Gesichtsausdruck. Habe ich schon oft genug selbst zu verantworten gehabt.“

Fritz grinste mich schief an und ich musste dieses Mal wirklich schmunzeln. Es hellte meine Stimmung zumindest für diesen Moment etwas auf.
 

„Keine Sorge, Kollege“, begann ich und setzte ein unschuldiges Gesicht auf. „Ich denke nicht Gefahr zu laufen jemanden heute noch anzuschießen.“ Sein ungläubiger Gesichtsausdruck brachte mich zum Lachen.

Bei diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck von ihm verebbte mein Lachen. Seine Nähe machte mich ungewohnt nervös, deshalb hatte ich seit Montag bewusst ein wenig Abstand gesucht. Ich drehte mich von ihm weg um den Stift aufzuheben.

„Es ist also niemand gefährdet. Also entspann dich und kümmere dich endlich um Alex. Er ist bestimmt schon am verdursten.“ Fritz sah mich unzufrieden an, akzeptierte aber, dass ich nicht reden wollte.
 

„Na gut“, entgegnete er gedehnt und stieß sich langsam vom Schreibtisch ab. „Dann mach heute nicht so lange. Kein Fall drängt zu Überstunden. Nutze das mal.“

Ich legte meine rechte Hand in einer salutierenden Geste an meine Schläfe und sah ihn gespielt ernst an. „Zu Befehl.“

Fritz schüttelte den Kopf, schenkte mir aber ein Lächeln, bevor er zum Ausgang ging. Im Türrahmen blieb er stehen und sah mich noch mal an. „Du weißt ja wo wir sind, wenn du dich doch noch für ein Bier entscheiden solltest“, ließ er mich wissen.

„Ich komm vorbei, wenn es passen sollte“, entgegnete ich. „Aber wartet nicht auf mich. Ich denke nicht, dass es heute noch was wird.“

Er nickte und verabschiedete sich mit einer Handbewegung. Als die Tür ins Schloss fiel blickte ich sie noch eine Weile an. Irgendwas hatte sich seit Samstag geändert. Etwas in mir hatte sich verändert und ich spürte, dass es sich auf das Verhältnis zu Fritz auswirkte. Ich fühlte mich irgendwie... Zufrieden? Akzeptiert? Glücklich? Ich wusste nicht was es war, wusste nicht wie ich mich fühlte und das verwirrte mich.
 

Nachdem ich in der Nacht von Samstag zu Sonntag nicht einschlafen konnte, wollte ich früh aufstehen und verschwinden, bevor Fritz und Benny aufwachen würden. Aber als ich mich an die Umgebung gewöhnt hatte und die Müdigkeit mich übermannte, war ich so fest eingeschlafen, dass ich erst wach wurde, als Benny auf die Couch gekrabbelt war und meine Schultern leicht schüttelte.
 

„Joooosephiiine“, hatte er leise in mein Ohr geflüstert. Ich hatte ganz benommen meine Augen geöffnet und ihn angesehen. Mit seinen großen Kinderaugen sah er mich erwartungsvoll an und flüsterte „Papa hat das Frühstück fertig und er hat gesagt, dass wir erst essen, wenn du wach bist. Darum hab´ ich mich ins Wohnzimmer geschlichen. Ich hab’ gaaaaanz doll Hunger.“ Sein Magen knurrte im selben Moment und er verzog sein Gesicht. Ich hatte mich aufgesetzt und ihn entschuldigend angelächelt als ich mir den Schlaf aus den Augen rieb. „Tut mir leid, Benny. Ich bin jetzt wach.“
 

„Benny!“, hatte Fritz leise, aber streng gerufen, als Fritz die Tür zum Wohnzimmer leise öffnete und sah, dass Benny mit mir auf der Couch saß. „Ich habe dir doch gesagt, dass du Josephine schlafen lassen sollst.“

Benny hatte seinen Vater mit großen Augen. „Aber ich habe doch so einen Hunger, Papa.“

Bevor Fritz noch was sagen konnte, wandte ich mich an Benny. „Und deswegen war es richtig, dass du mich geweckt hast. Ich ziehe mich nur schnell um, dann können wir frühstücken, ok?“ Benny’s Augen leuchteten, als er mir energisch zunickte. Dann war er von der Couch gekrabbelt. Fritz bekam einen weichen Gesichtsausdruck. Er konnte nicht lange streng ihm sein, wie auch bei diesen Augen...

„Wasch dir die Hände, Benny, wir frühstücken gleich!“

Auch ich stand von der Couch auf und sammelte meine Sachen zusammen als ich zu Fritz, der noch immer im Türrahmen stand, sagte, dass er mich ruhig hätte wecken können.

„Selbst du musst mal ausschlafen, Bielefeld“, antwortete er gelassen. In diesem Moment fiel mir auf wie unglaublich müde er selber aussah. Wie viele Stunden Schlaf er wohl bekommen hatte?

Ich bedankte mich und verschwand im Bad um mich rasch fertig zu machen. Ich war überrascht, dass es bereits nach 9 Uhr war - Benny sollte nicht noch länger auf das Frühstück warten müssen.
 

Es war bereits nach zehn Uhr und wir saßen noch immer gemütlich am Frühstückstisch. Eigentlich hätte ich nach Hause gekonnt. Viktor hatte mir sogar schon geschrieben, dass Stefan los sei. Aber mein Handy war wieder in meiner Hosentasche verschwunden bevor Fritz mich darauf hätte ansprechen können.

Ich genoss es zuzusehen, wie Vater und Sohn miteinander umgingen, zusammen lachten. Es erinnerte mich an meine Kindheit und das fühlte sich nach Zuhause, nach Familie und Wärme an. Ich hatte dieses Gefühl lange nicht mehr erlebt. Es tat so gut...
 

Mein Handy klingelte neben mir auf dem Schreibtisch und riss mich aus meinen Gedanken, brachte mich wieder zurück ins Revier. Ich brauchte einige Sekunden, schnappte mir dann aber mein Handy. Beim Blick auf das Display verfinsterte sich meine Stimmung.

„Hallo“, sagte ich tonlos, als ich den Anruf annahm.

„Frau Klick?“, fragte die Stimme am anderen Ende. „Ich habe Ihre Nachricht auf der Mailbox eben gerade erst abhören können. Sie wollten mit mir reden.“

„Ja, das stimmt. Sind Sie Zuhause?“, fragte ich kurz angebunden.

„Bin ich.“

„Dann warten Sie dort. Ich mache mich auf den Weg.“ sagte ich nur knapp und beendete das Gespräch ohne eine Antwort abzuwarten. Eigentlich wollte ich den Bericht heute noch zu Ende bringen. Aber Fritz hatte Recht. Die Zeit saß mir nicht im Nacken. Ich konnte das auch morgen noch machen. Jetzt musste ich aber dringend noch was erledigen. Ich schnappte mir meine Sachen und machte mich auf den Weg zu Herrn Altenburg.
 

***
 

Ich knallte die Akte auf den Tisch, der im Wohnzimmer stand. Die Blätter hatten lose im Umschlag gelegen und verteilten sich jetzt über den ganzen Tisch. Ich blickte Herrn Altenburg finster an, während ich mit meinem Finger auf die Akte zeigte.
 

„Ist das Ihr ernst?“, fauchte ich ihn an.

Er wirkte nicht überrascht, sah mich ganz ruhig an. Schon während des Telefonates hatte ich das Gefühl, dass er diese Reaktion von mir erwartet hatte. Das machte mich rasend. Warum zum Teufel hatte er sich also trotzdem die Mühe gemacht, mich um Hilfe bei diesem Fall zu bitten? Er hätte doch wissen können, dass ich so einen Fall nicht annehmen würde.
 

„Möchten Sie sich nicht setzen? Vielleicht kann ich Ihnen was zu trinken anbieten“, sagte er in einem ruhigen und höflichen Ton als er auf einen der Stühle deutete, die am Esstisch standen.

Ich schüttelte energisch meinen Kopf. „Ich will mich nicht setzen und ich will auch nichts trinken.“ Ich atmete tief durch, um mich ein wenig zu beruhigen bevor ich weitersprach. „Ich will wissen, was hier eigentlich los ist?

„Ich gehe davon aus, dass Sie sich den kompletten Fall durchgelesen haben?“

„Natürlich habe ich das. Auch wenn ich ernsthaft überlegt hatte nach dem ersten Bericht aufzuhören. Da war für mich schon klar in welcher Verbindung Sie zu dem Opfer standen.“
 

Er zuckte ein wenig zusammen bei meinen Worten, aber das war mir egal. Sophia hatte mir am Montag die Akten gebracht, ich war jedoch erst gestern sehr spät abends dazu gekommen die Unterlagen zu sichten. Nachdem ich die Fakten kannte, war ich restlos sauer auf ihn, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir mit Absicht einiges verheimlicht hatte. Seine offene und ehrliche Art schätzte ich an ihm – er sagte gerade heraus was er dachte und allein aus diesem Grund stimmte ich überhaupt zu, den Fall mit ihm aufzuarbeiten. Das war der einzige Grund. Hatte ich mich so in ihm getäuscht?

„Christin“, sagte er stumpf. „Sie hieß Christin. Bezeichnen Sie sie bitte nicht als Opfer“
 

„Genau das meine ich“, entgegnete ich ihm, als ich einen Schritt auf ihn zuging. „Für jeden Ermittler ist es normal ein Mordopfer auch als solches zu betiteln. Damit schafft man eine gewisse Distanz um die Objektivität beibehalten zu können. Aber für Sie ist es mehr. Für Sie ist es keine Fremde. So können Sie doch nicht den Fall bearbeiten! Das sollte jemand anderes tun!“

„Deshalb habe ich ja Sie gefragt, Frau Klick“, entgegnete er mir. „Ich war mir sicher, dass Sie sachlich und unvoreingenommen an die Ermittlungen gehen.“
 

Ich wehrte ab. „Ich kann diesen Fall nicht annehmen.“

„Warum nicht?“, wollte er wissen. Seine Stimme brach. Die Ruhe, die er bis eben noch ausgestrahlte war verloren.

„Weil es Ihre Partnerin war, Herr Altenburg! Herr Gott noch mal, Sie müssen doch wissen wie es auf die Leute wirkt, wenn ich Ihnen bei einem persönlichem Fall helfe.“ Hatte er sich darüber wirklich keine Gedanken gemacht? Das traute ich ihm eigentlich nicht zu. Er war ein guter Ermittler. Das hatte ich ja schon erfahren dürfen.

„Immerhin haben Sie gerade erst den Fall von MEINEM Partner bearbeitet“, fuhr ich fort. „Und es ging gut für ihn aus. Ich riskiere doch nicht, dass darüber geredet wird oder schlimmeres passiert. Wann hatten Sie vor mir davon zu erzählen? Nachdem ich bereits bei meinem Chef angefordert wurde?“

„Sie wissen doch, dass nicht ich, sondern mein Vorgesetzter Sie bei ihrem Chef angefordert hat“, wehrte er ab. „Ich konnte Ihnen die Details nicht erklären. Ich wollte nicht riskieren, dass Sie meine Bitte ablehnen. Hätten Sie sich die Akte angesehen, wenn ich Ihnen davon erzählt hätte?“

„Natürlich nicht“, entgegnete ich.

„Sehen Sie? Ich musste zumindest versuchen, dass Sie sich den Fall ansehen. Ich war mir sicher, dass Sie Fehler in der Ermittlung entdecken würden.“
 

Bei seiner Vermutung musste ich ihm Recht geben. Mir waren wirklich einige Berichte nicht schlüssig vorgekommen. Es passten einige Dinge einfach nicht zusammen. Und gerade bei internen Untersuchungen war schlampige Arbeit ungewöhnlich. Ich hatte einige Fälle in der Vergangenheit in Bielefeld schon aufgearbeitet, die katastrophal ermittelt worden waren, aber bei diesem Fall war mir das schon seltsam vorgekommen.

Ich atmete durch, als ich versuchte mich wieder zu beruhigen. Es war richtig, dass ich gekommen war und mich mit ihm aussprechen konnte, als einfach nur den Fall abzulehnen, wie ich es ursprünglich geplant hatte.
 

Ich sah ihn nachdenklich an. „Warum beauftragen Sie nicht einen Untersuchungsausschuss? Oder warum arbeiten die Kollegen, die den Fall damals ermittelt haben das Ganze nicht noch einmal gründlich auf? Die erinnern sich vielleicht noch an Einzelheiten, an Kleinigkeiten, die für uns nicht mehr greifbar sind.“

„Weil ich denen nicht vertraue“, antwortete er simpel.

Ich sah ihn skeptisch an. „Und mir vertrauen Sie?“

„Ja“, sagte er entschieden ohne zu zögern.

„Warum?“, fragte ich ihn und schüttelte ungläubig meinen Kopf. „Warum gerade mir?“

„Wollen wir uns vielleicht doch setzen?“, entgegnete er mir und deutete erneut auf den Esstisch. „Ich denke, dass Gespräch wird noch ein wenig länger dauern und ich würde Ihnen gerne was zu trinken anbieten.”

Dieses Mal stimmte ich zu. Ich nahm am Esstisch platz und er setzte sich mir gegenüber, nachdem er die Getränke hingestellt hatte und fing mit seiner Erklärung an.
 

„Das erste Mal, dass ich von Ihnen gehört hatte, war nach dem Fall der erschossenen Muslimin und anschließend habe ich Ihr Profil studiert. Sie haben eine andere Art zu ermitteln und haben sich nicht von anderen Kollegen beeinflussen lassen. Sie sind immer Ihren Weg gegangen. Genau danach habe ich gesucht. Noch dazu hatte Sie vorher nie mit irgendwelchen Fällen aus Berlin zu tun.“

„Wie meinen Sie das denn nun schon wieder?“, unterbrach ich ihn und fragte mich, warum es so wichtig war, dass ich bis zu meinem Umzug noch nie in Berlin gearbeitet hatte. Aber er ging nicht weiter auf meine Frage ein und fuhr fort.

„Ich hatte Sie nach dem Fall der Muslimin eigentlich schon ansprechen wollen, nur waren mir ständig Termine dazwischen gekommen. Und an dem Tag, an dem ich anrief, waren Sie gerade entführt worden. Ich sprach mit Ihrer Kollegin, alle waren in Aufregung. Und dann wurde ich am gleichen Tag zu den Ermittlungen bestellt bezüglich des Vorfalls auf der Brücke mit Ihrem Entführer und Herrn Munro. Da konnte ich Sie natürlich nicht auf mein Anliegen ansprechen.“
 

„Sie haben also schon alles über mich gewusst, während Sie mich befragt haben?“, wollte ich wissen. Er nickte und lächelte mich an.

„Ja und ich war begeistert, wie souverän Sie die Befragung absolviert haben. Ich möchte nicht arrogant klingen, aber ich weiß, dass ich für meine strengen, erfolgreichen Ermittlungen und gezielten Fragen bekannt bin. Ich habe es Ihnen nicht leicht gemacht.“

„Sie haben mich vorgeführt“, sagte ich streng. Ich erinnerte mich sehr genau an diesen Tag. Ich hatte an einigen Stellen wirklich mit ihm zu kämpfen. Er war ein unglaublich guter Ermittler. Und die Fragen die er gestellt hatte, hätten Fritz wirklich schaden können, wenn ich mich nicht vorher über bereits bekannte Fälle informiert hätte. Ich sah ihn mit verengten Augen an, als mir ein Verdacht kam. „Die Fragen, die sie gestellt haben, waren die wirklich relevant für den Fall?“
 

Ich musste es einfach wissen. Waren die Ermittlungen im Fall von Fritz nur ein Test, ob ich wirklich für SEINEN Fall geeignet wäre? Wenn das wirklich stimmte, hätte ich mich ein weiteres Mal in einem Menschen schwer getäuscht und das würde mich wirklich an meiner Menschenkenntnis zweifeln lassen.

„Sie meinen, dass man ihrem Kollegen versucht hat irrationales Verhalten vorzuwerfen? Sie müssen Akten ähnlicher Fälle gelesen haben, Sie waren gut vorbereitet, Frau Klick. Das habe ich während der ganzen Befragung gemerkt. Und auch während der Ermittlungen haben Sie clevere Schachzüge gewählt.“
 

Ich musste wieder an die Ermittlungen denken. Es waren keine cleveren Schachzüge. Wie so oft war ich einfach meiner Intuition gefolgt. Ich schüttelte meinen Kopf. Was ich jetzt brauchte waren keine Komplimente, sondern Antworten. Ich nahm ein Schluck Wasser, das er mir hingestellt hatte und sah ihn dann wieder ernst an.
 

„Warum haben Sie mir geholfen?“, fragte ich ihn. „War das auch ein Plan von Ihnen?“

„Geholfen?“, fragte er mich und sah wirklich verwirrt aus. Ich verdrehte meine Augen. Er musste sich doch daran erinnern. Würde er jetzt so tun, als ob er mir nie Informationen gegeben und Fotos gezeigt häatte?

„Sie haben mir immer wieder Informationen während laufender Untersuchungen zukommen lassen.“

Ich konnte das `Verstehen´ in seinen Augen erkennen. „Ich habe nur weitergegeben was den Untersuchungen nicht schaden konnte. Ich wollte, dass Sie zu mir Vertrauen aufbauen.“
 

Bei dem Wort Vertrauen verengte ich meine Augen. Hatte das alles nur seinem eigenen Zielen gedient? Meine Vermutungen gingen zumindest dorthin, auch wenn ich immer noch hoffte, dass ich mich täuschte.

„Vertrauen aufbauen?“, wiederholte ich seine Worte. „Haben Sie Fritz deswegen laufen lassen? Wäre er vor Gericht gekommen, wenn ich nicht schon für diesen Fall eingeplant gewesen wäre? Das würde natürlich Sinn machen. Ohne Fritz hätte Alex nur mich als Partner und ich könnte keinen anderen Fall annehmen.“
 

„Also wirklich Frau Klick“, sagte er und seine Stimme klang streng. So klang er, wenn er im Dienst war. „Jetzt muss ich aber Ihrer Vorstellungskraft Einhalt gebieten. Ich hatte wirklich gehofft, dass Sie mich besser einschätzen würden. Wenn ich Ihren Kollegen wirklich für schuldig gehalten und keine Notwehr gesehen hätte, dann wäre mein Bericht auch entsprechend ausgefallen. Ich würde niemals einen Fall dazu benutzen mir persönliche Vorteile zu verschaffen.“ Er atmete entnervt aus, als er sich in seinem Stuhl für einen kurzen Moment nach hinten lehnte und sich den Nacken leicht massierte.
 

Erst da fiel mir auf wie angespannt und erschöpft er aussah. Seine Augen waren rot unterlaufen und seine Haut wirklich fahl. Er musste viel gearbeitet haben, so hatte ich ihn kennen gelernt – hart arbeitend. Er war gründlich und fair. Das war von Anfang an mein Eindruck und ich hatte Mühe ihn während der Ermittlungen gegen Fritz nicht dafür zu bewundern. Vielleicht war ich deswegen so sensibel. Ich hatte Angst, dass es alles nur zum Schein war.
 

Als er seinen Kopf zur Seite neigte und seinen Hals langsam streckte, sprach er ruhig aber erschöpft weiter ohne mich anzusehen. „Sie würden nicht so reden, wenn Sie wüssten, wie ich Herrn Munro verhört habe. Es gibt einen Grund, vielleicht auch mehrere, warum er mich nicht leiden kann. Ich habe meine Untersuchungen gründlich gemacht und keine Vorteile für mich dabei gesucht. Unterhalten Sie sich mit Ihrem Kollegen, der wird es Ihnen bestätigen. Er kennt die Protokolle, die ich an die Staatsanwaltschaft gegeben haben und an die Befragungen wird er sich wohl auch noch lebhaft erinnern.“
 

Es war merkwürdig, aber ich glaubte ihm. Es würde auch erklären, warum Fritz so einen Hass auf ihn hatte. Fritz hatte es sicherlich nicht leicht, als Herr Altenburg ihn auf Herz und Nieren geprüfte.

Ich erinnerte mich an den Moment, als Fritz uns auf dem Polizeirevier begegnet war. Sofort hatte die Luft zwischen den beiden gebrannt und zu diesem Zeitpunkt hätte Fritz mir auch noch nicht unterstellen können, dass ich mich heimlich mit Herrn Altenburg treffe, obwohl er die Ermittlungen gegen ihn leitete. Es musste also etwas bei der Befragung vorgefallen sein. Was war dort nur passiert?
 

„Warum dürfen ausgerechnet Sie einen Fall öffnen, indem Sie involviert sind?“, lenkte ich die Unterhaltung wieder auf den eigentlichen Punkt. Ich war mir sicher, dass er nichts zur Befragung preisgeben würde.

„Weil ich die Leitung interner Ermittlungen seit einem halben Jahr übernommen habe, deswegen habe ich die Kompetenz dazu“, erklärte er ohne Umschweife. Es klang arrogant, aber eigentlich präsentierte er nur die Fakten.
 

„Und Ihre erste Amtshandlung ist gleich diesen Fall wieder aufrollen zu lassen? Haben Sie etwa darauf spekuliert?“ Ich hatte mir die Akte sehr genau durchgelesen und mir war bewusst, dass er vor drei Jahren von seiner jetzigen Position noch weit entfernt war. „Laut Bericht waren Sie vor drei Jahren Hauptkommissar. Wie schafft man in so kurzer Zeit einen solchen KarriereSprung?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es war nicht meine erste Amtshandlung diesen Fall aufzunehmen. Ich habe genug andere bereits bearbeitet. Und den Sprung habe ich geschafft durch sehr viel harte Arbeit, viel Training und Willenskraft. Ich habe nichts geschenkt bekommen, Frau Klick.“ Ich hatte auch nicht erwartet, dass er etwas geschenkt bekommen hatte. Mir war bewusst wie viel er arbeitete und wie ernst er die Aufgaben nahm, die er bekam.
 

„Alles für diesen Fall?“, harkte ich nach.

Er nickte zur Bestätigung. „Alles um das Versprechen einzulösen, dass ich den Eltern von Christin gegeben habe.“

„Was war das für ein Versprechen?“, wollte ich wissen.

„Das ich den Fall aufklären werde.“

„Das Sie sich rächen werden?“

„Nein, Frau Klick. Ich plane keinen Feldzug. Natürlich will ich wissen wer es war. Und natürlich will ich, dass er seine Strafe bekommt. Trotzdem bin ich in der Lage mich an die Regeln zu halten, während ich versuche den Fall zu lösen. Aber ich halte meine Versprechen und ich akzeptiere nicht, dass so ein Fall vertuscht wird“

Die letzten Worte hatte er mit einer ungewöhnlichen Härte ausgesprochen. Seine Äußerung überraschte mich. - Vertuscht? „Warum sollte eine interne Untersuchung vertuscht werden?“, fragte ich verwirrt. Er zog eine Augenbraue hoch, als er mich ansah.

„Sie sollten doch clever genug sein, um sich das selbst zu beantworten.“ Mir war klar, welche Gründe es für eine Vertuschung gab. Aber das konnte ich mir kaum bei diesem Fall vorstellen. Zumindest hoffte ich inständig, dass es nicht der Fall wäre.
 

„Das macht nur Sinn, wenn intern jemand die Schuld an der Tat trägt. Die Person könnte aber auch eine andere, außenstehende Person schützen wollen. Wissen Sie überhaupt, was Sie da mutmaßen? Sie reden hier von... von-“

„Korruption?“, warf Herr Altenburg ein und seine Stimme klang beinahe nach einem Flüstern, als er mich mit ernster Miene ansah. „Ich glaube, dass war das Wort nachdem Sie gesucht haben.“

„Wie kommen Sie darauf? Sind Sie sich wirklich sicher?“, fragte ich angespannt. Wenn es stimmte was er sagte, dann gab es jemanden in unseren Reihen, dem man nicht vertrauen sollte.
 

„Sicher kann man sich erst sein, wenn einem genügend Beweise vorliegen“, entgegnete er. „Vorher kann man nur Mutmaßen, wie Sie das eben schon so schön gesagt haben.“ Er füllte sein Glas nach und nahm einen Schluck. Ich sah ihn nachdenklich an, während tausende von Fragen durch meinen Kopf schossen.

Wir schwiegen uns beide einen Moment an. Er atmete einmal tief durch, bevor er sein Glas bei Seite stellte und seine Ellenbogen auf den Tisch legte. Er beugte sich vor und sah mich eindringlich an.
 

„Mutmaßung hin oder her. Ich möchte diesem Verdacht zumindest nachgehen. Wenn es wirklich so sein sollte und wir schaffen, dass der Fall aufgeklärt wird, dann haben wir nicht nur den Mord an einer jungen, unschuldigen Kommissarin geklärt, sondern auch dafür gesorgt, dass unsere Reihen wieder sauber sind. Finden Sie nicht auch, dass es zwei sehr gute Gründe sind, dass dieser Fall wieder aufgenommen werden sollte? Wer weiß, was sonst noch passieren könnte.“
 

Ich verstand seine Beweggründe und ich stimmte ihm vollkommen zu, dass dieser Fall bearbeitet werden musste. Aber ich stand noch immer am Anfang. Ich hatte noch immer die gleichen Gründe diesen Fall nicht anzunehmen. Es ging immer noch darum, dass ich ihm bei SEINEM persönlichen Fall helfen sollte, nachdem er einen persönlichen Fall von MIR untersucht hatte. Korruptionsvorwürfe hin oder her, er konnte es noch nicht beweisen. Die Kollegen würden davon nichts wissen und sich wundern, warum ich den Fall annehme. Es würde Gerede geben und ich war nicht bereit dadurch Fritz vielleicht Probleme zu machen.
 

Ich rieb mir mit meiner linken Hand meine Schläfe als ich meine Augen schloss und weiter darüber nachdachte. Herr Altenburg musste den Zwiespalt in mir erkennen, musste wissen welche Sorgen und Bedenken mich plagten.

„Ich habe Sie nie belogen“, begann er. Ich öffnete meine Augen und sah ihn vermutlich etwas gequält an. „Ich habe alle Fragen von Ihnen ehrlich beantwortet. Und ich schätze es sehr, dass auch Sie mir so ehrlich gegenübertreten. Mir wird jedes Mal aufs neue wieder klar, dass ich mit Ihnen die richtige Wahl getroffen habe. Ich fahre morgen nach Frankfurt und bin erst in einigen Wochen wieder da. Sie müssen mir nicht gleich antworten. Nehmen Sie die Unterlagen mit nach Hause. Schlafen Sie drüber. Aber versprechen Sie mir, dass Sie zumindest noch einmal darüber nachdenken und wir später darüber reden, wenn ich wieder da bin.“
 

Es fiel mir schwer Augenkontakt zu halten, als er mich so voller Hoffnung ansah.

„Ich brauche Sie“, sagte er leise. „Versprechen Sie mir, dass Sie darüber nachdenken.“

„Meine Antwort wird vermutlich die Gleiche bleiben“, warf ich ein.

„Dann muss ich damit leben“, entgegnete er mir. Er sah mich noch einen Moment an und ich merkte, wie ich langsam und zögernd nickte.

„Ich werde darüber nachdenken“
 

***
 

Ich hatte nicht vorgehabt noch zu Addie zu gehen. Jetzt stand ich zögernd vor der Tür. Ich brauchte dringend ein Bier und ich wollte Fritz sehen. Ich wollte mir sicher sein, dass es richtig war den Fall abzulehnen. Er durfte nicht wieder Gesprächsthema werden. Ich konnte das nicht riskieren, das war ich ihm das schuldig. Immerhin hatte er mir das Leben gerettet.
 

„Bielefeld“, sagte Fritz erstaunt, als ich mich neben ihn setzte. Er sah mich an und lächelte. Mein Brustkorb zog sich zusammen, als ich ihn ansah. Ich erwiderte sein Lächeln und fühlte mich augenblicklich besser. „Du hast ja doch noch Zeit gefunden.“

„Wo ist Alex?“, fragte ich ihn. Er zuckte mit den Schultern.

„Caroline hat angerufen.“ Ich setzte mich neben Fritz als Addie zu mir kam.

„Josephine“, begrüßte er mich. „Ein Bier wie immer?“ Ich nickte und er stellte mir kurze Zeit später die Flasche Bier auf den Tresen.

„Danke, Addie.“ Ich nahm einen kräftigen Schluck bevor ich die Flasche wieder auf den Tresen stellte.
 

„Pflichten erfüllt ohne jemanden zu erschießen?“, fragte mich Fritz und grinste mich an.

„Kann man so sagen“, entgegnete ich nur knapp und blickte wieder meine Flasche Bier an. Was sollte ich auch weiter erzählen? Eigentlich erzählte ich immer viel, wenn wir bei Addie waren. Aber heute fragte ich mich, was ich überhaupt erzählen konnte. Im Augenwinkel sah ich, wie mich Fritz noch immer anblickte.

„Willst du drüber reden?“, fragte er vorsichtig.

Ja, dachte ich und wollte es hinaus schreien, aber ich konnte nicht. Ich hielt meine Versprechen und ich verstand jetzt umso mehr, warum die Details dieses Falls absolut geheim gehalten wurden. Ich schüttelte langsam meinen Kopf.
 

„Der mysteriöse Fall?“, fragte mich Fritz nach einem Moment und hatte damit ins Schwarze getroffen. Ich sah ihn wieder an. Ich nickte zustimmend.

Fritz verzog das Gesicht. „Du warst beim Altenburg?“

„Ja, war ich.“ Ich hatte mich am Wochenende verplappert, also konnte ich auch zugeben deswegen bei Herrn Altenburg gewesen zu sein.

Er sah nicht glücklich aus. „Immer noch Geheimhaltung nehme ich an.“

„Immer noch“, bestätigte ich.

„Keine Sorge, ich werde dich nicht danach fragen“, sagte er als er mich mit schiefen Lächeln ansah und mir seine Flasche zum Anstoßen hinhielt.
 

Es war die richtige Entscheidung hier herzukommen. Nach dem Gespräch mit Herrn Altenburg war ich so unruhig, dass ich Fritz einfach sehen musste. Und jetzt war ich hier und es war gut. Alles wirkte klar.

„Danke“, sagte ich etwas leiser, als ich mit ihm anstieß.

„Wo fahren wir hin?“, fragte ich, als ich auf einem der Rücksitze des Dienstwagens platz nahm und mich anschnallte.

„Ist mir völlig egal. Hauptsache es geht endlich wieder in den Außendienst“, entgegnete Fritz gelassen und machte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich. Er sah zufrieden aus dem Fenster. Sein Lächeln konnte ich im Seitenspiegel sehen. Ich hatte zwar den Beifahrersitz aufgeben müssen, war aber froh, dass Fritz endlich wieder mit uns in den Außendienst fuhr. Er hatte es sich verdient.
 

„Nach Kreuzberg“, beantwortete Alex meine Frage. Er ließ den Motor an und wir fuhren los. In Kreuzberg war ich schon mal gewesen, erinnerte ich mich. Nach und nach erkundigte ich die Stadt und lernte sie immer besser kennen. Wohnte dort nicht auch Tereza? Ich war mir sicher, dass sie schon am Tatort war.
 

Ich fand immer noch, dass Berlin viele hässliche Ecken hatte und alles viel zu groß war. Aber einige Plätze waren wirklich schön und ich verbrachte dort gerne Zeit. War Kreuzberg nicht gleich neben Friedrichshain? Dann wohnte Fritz wohl auch nicht weit weg vom Tatort.

„Die Kollegen warten am Tempelhofer Ufer, Ecke Großbeerenstraße an der Brücke auf uns“, sprach Alex weiter als er sich in den Straßenverkehr eingeordnet hatte.
 

Die Gegend sagte mir was. “Ist das nicht beim technischem Museum?”, fragte ich nach. Alex sah mich durch den Rückspiegel kurz verwundert an, nickte dann aber.

Fritz drehte sich zu mir um während er seinen Mundwinkel leicht hochzog. “Mensch Bielefeld, langsam klappt es.” Fritz und seine Komplimente. Ich rollte mit den Augen.
 

„Was wissen wir denn schon?“, fragte ich. Wir hatten noch nicht über den Fall gesprochen. Ich stand gerade mit Karin am Kaffeeautomaten, als die beiden Jungs mir auf dem Flur entgegen kamen. Fritz hatte wild mit seinen Händen gestikuliert, als wollte er mich zu einem Sprint anfeuern.

„Wir haben einen Fall, also komm in die Hufen, Bielefeld“, und grinste mich dabei frech an. „Sonst fahren wir ohne dich und du kannst den Bus nehmen... oder das Pferd.“

„Jaha, ich komm ja schon!“ Ich nahm noch einen großen Schluck aus den Kaffeebecher und drückte ihn Karin in die Hand. Ich rannte ins Büro und schnappte mir meine Sachen, während die Jungs im Auto auf mich warteten.
 

„Wir wissen noch nicht so viel“, begann Fritz Erklärung. „Die einzige Info von den Kollegen ist, dass es sich bei dem Opfer um eine junge Frau handelt, die vor ein paar Stunden am Rand vom Landwehrkanal gefunden wurde.“

Ich verzog mein Gesicht. „Ne Wasserleiche?“ Wasserleichen waren besonders ekelige Fälle. Zumindest, wenn der Verwesungsprozess schon vor längerem eingesetzt hatte. Meistens fand man dann auch erst die Leichen. Die Bilder in meinem Kopf von älteren Fällen waren wirklich nicht für so eine Uhrzeit geeignet. Eigentlich zu keiner Uhrzeit, wenn ich es mir recht überlegte.
 

„Verzieh nicht so das Gesicht, Bielefeld. Die Frau scheint noch nicht aufgedunsen zu sein. Die Kollegen glauben, dass sie noch nicht lange tot sein kann.“

Ich entspannte mich. So früh am morgen hätte ich nur ungern schon so etwas gesehen. Eine Wasserleiche, die noch nicht lange tot war, aber an der Oberfläche gefunden wurde? Das war nicht typisch und machte mich stutzig.

Als ich über den neuen Fall nachdachte, musste ich an die Akte von Herrn Altenburg denken, die noch immer auf meinem Nachtisch lag. Die ersten Tage hatte ich mir die Berichte immer wieder durchgelesen. Gestern Abend war das erste Mal, dass ich mir die Unterlagen nicht mehr angesehen hatte.
 

Was sollte das auch bringen? Natürlich hatte ich ihm versprochen, dass ich darüber nachdenken würde. Aber egal in welche Richtung ich es lenkte, es kam immer auf das Selbe raus. Ich würde den Fall von Fritz vielleicht erneut zum Gesprächsthema machen und das wollte ich nicht riskieren. Ich konnte nicht einfach so ohne triftigen Grund den Fall annehmen und erwarten, dass es niemanden interessieren würde. Auf so viel Anonymität konnte man wohl selbst in Berlin nicht hoffen.
 

In drei Wochen würde Herr Altenburg wohl wieder da sein. Mir graute es davor ihm die Entscheidung mitzuteilen. Aber ich musste damit endlich abschließen und mich auf den neuen Fall konzentrieren.
 

Ich lehnte mich ein wenig zurück und rieb mir die Schläfen. Ich war ziemlich erschöpft und irgendwie pochte mein Kopf und fühlte sich warm an. Wurde ich etwa krank? Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Die letzten Tage hatte ich Schlafprobleme. Es lag bestimmt nur daran, dass ich übermüdet war. Ich würde heute Abend einfach eher ins Bett gehen, vielleicht vorher einen Rotwein trinken.

„Alles ok, Josephine?“, fragte mich Fritz ohne sich umzudrehen. Ich konnte sehen, dass er mich im Seitenspiegel beobachtete.

„Ja, alles Bestens.“ Er sah mich durch den Spiegel skeptisch an, sagte aber nichts weiter.
 

***
 

Tereza war schon am Tatort. Sie unterhielt sich mit zwei Beamten. Die anderen Kollegen standen an der Absperrung. Ich erkannte Chris. Er arbeitete als Streifenpolizist im gleichen Revier wie wir und hatte meistens die Spätschicht. Ich sah ihn immer, wenn ich besonders früh aufs Revier kam und er gerade Feierabend machte.
 

Er sprach gerade mit einem Kollegen von der Feuerwehr und notierte sich etwas. Als er aufblickte und uns sah hob er kurz zur Begrüßung die Hand. Dann tauschte er sich noch kurz mit dem Feuerwehrmann aus, klopfte ihm auf die Schulter und kam auf uns zu.

„Josephine“, begrüßte er mich freundlich. Ich lächelte zurück. Er wirkte erschöpft. Vermutlich hatte er wieder die Nachtschicht gehabt und schob gerade Überstunden aufgrund des neuen Falls.
 

„Nachtschicht?“, fragte ich ihn, nachdem auch Fritz und Alex ihn begrüßt hatten.

„Wohl eher Frühschickt, wenn ich auf die Uhr sehe. Ich wollte bloß noch mit euch die Übergabe machen, dann bin ich auch verschwunden.“

„Was hast du denn für uns?“, wandte sich Fritz an Chris und nahm ihm die Unterlagen ab.

„Ein Jogger hatte heute Morgen Gegen halb acht die Frau am Rand des Kanals gefunden und uns verständigt. Sie lag nur halb im Wasser. An einem der Brückenpfeiler ist eine Metallplattform. Da lag sie. Als ich mit meinem Kollegen ankam, haben wir euch angerufen und die Feuerwehr informiert. Da ist ohne deren Kran sonst kein rankommen und wir wollten auch nicht unnötig Spuren verwischen, wenn wir es über die Böschung probieren.“
 

Ich sah zu den Feuerwehrmännern. Sie hatten die Brücke abgesperrt und das Feuerwehrauto für den Einsatz platziert. Chris war wirklich ein guter Polizist der mitdachte. „Ist die SpuSi denn durch mit allem?“, fragte Alex als er Chris ansah. Alex nahm sich die Unterlagen von Fritz und las das Formular quer.

„Wenn ihr keine Taucher einsetzt, dann sind die Kollegen nur noch mit der Böschung beschäftigt. Aber da sind keine frischen Spuren - weder Fußabdrücke noch abgebrochenen Äste”, antwortete Chris. Fritz fragte Alex nach der Tiefes des Kanals und ob Taucher überhaupt was bringen würden.
 

Ich klinkte mich bei diesem Thema aus und wandte mich wieder an Chris.

„Wenn das Opfer von der Brücke gestoßen wurde, dann wird in der Böschung vermutlich auch nichts zu finden sein“, sagte ich zu Chris. Ihm ging irgendwas durch den Kopf, das konnte ich sehen. Aber er zögerte noch es auszusprechen.

„Du glaubst nicht, dass das Opfer von der Brücke gestoßen wurde?“, fragte ich ihn. Er wirkte nachdenklich.

„Nicht?“, sagte Fritz und wandte sich zusammen mit Alex wieder an uns.
 

„Zumindest nicht von dieser“, setzte er an. „Vielleicht solltet ihr einfach mal mitkommen. Es kann natürlich sein, dass ich mich irre. Ich wollte hier nichts ohne euch ins Rollen bringen.“

Wir folgten ihm auf die Brücke und stellten uns an die Brüstung. Ein Kollege der Spurensicherung hatte sich über die Böschung am Rand des Kanals gestellt und machte Fotos vom Opfer und der direkten Umgebung.

Als ich hinunter ins Wasser blickte, verstand ich seine Bedenken. Wir mussten als erstes von Tereza klären lassen, ob es sich hierbei wirklich um Mord handeln konnte oder ob die Frau aus irgendwelchen Gründen ins Wasser gefallen und ertrunken war. Aber wenn das passiert wäre, hätten wir den Leichnam erst deutlich später gefunden. Leichen gingen zunächst immer erst mal unter.
 

Auch wenn in Filmen leblose Körper kurz nach Eintritt des Todes an der Oberfläche schwammen, die Realität sah anders aus. Erst durch den Verwesungsprozess bildete der Körper Gase, die den Leichnam an die Wasseroberfläche trieben. Das konnte sich in kalten Jahreszeiten Wochen hinauszögern. Und der Körper wäre dann in genau dem Zustand, an den ich vorhin im Auto noch gedachte hatte.
 

Egal ob Mord oder nicht, niemand hatte das Opfer so platziert. Sie musste also noch gelebt haben, als sie ins Wasser gestürzt war. Es sah aus, als ob sie noch versucht hätte sich aus dem Wasser zu ziehen, ihr aber dann die Kraft gefehlt hatte. Ertrinken konnten wir also mit hoher Wahrscheinlichkeit als Todesursache ausschließen. Wir würden aber auf den Bericht von Tereza warten müssen um ganz sicher zu sein.
 

Der leichten Strömung nach zu urteilen, war sie vermutlich nicht von hier ins Wasser gefallen. Also war der Tatort, sofern es sich um eine Tat handelte, eher weiter stromaufwärts.

Fritz und Alex schienen ebenfalls zu dem Schluss gekommen zu sein, als sie sich anblickten. „Die nächste Brücke ist doch gar nicht weit weg von hier, oder?“, fragte Fritz.

„Maximal hundert Meter“, antwortete Alex.
 

„Wir sollten die Kollegen vielleicht noch die nächsten zwei Brücken aufwärts der Strömung absuchen lassen“, schlug Fritz er vor.

Vielleicht reicht es nicht nur die Brücken nach Spuren untersuchen zu lassen. „Die Böschungen sollten auch nach frischen Spuren abgesucht werden“, mischte ich mich ein. „Sie muss ja nicht von einer der Brücke gefallen oder gestoßen worden sein”. Beide stimmten mir zu und wir veranlassten alle weiteren Schritte. Nach der Übergabe konnte Chris Feierabend machen. Gerade als wir mit den Feuerwehrmänner sprachen, kam Tereza auf uns zu.
 

“Sind wir soweit?”, fragte sie. Einer der Feuerwehrmänner würde mit Hilfe des Krans zusammen mit einem Kollegen der Spurensicherung den Leichnam bergen. Tereza konnte sich anschließend einen ersten Eindruck verschaffen. Die Bergung erfolgte zügig und nach einer groben Untersuchung zog Tereza den Reißverschluss des schwarzen Leichensacks zu.
 

“Und, Tereza?”, fragte Fritz, der gerade die Feuerwehrmänner verabschiedet hatte. “Kannst du eine erste Einschätzung geben?”

“Sie ist auf jeden Fall noch nicht lange tot. Es muss wohl in den frühen Morgenstunden passiert sein. Die Todesursache ist momentan noch nicht erkennbar. Ich muss erst die Lunge prüfen und nach möglichen weiteren Verletzungen suchen, die vielleicht zum Tod geführt haben. Das Einzige was offensichtlich ist, sind die vielen äußeren Verletzungen und blauen Flecke. Einige davon sind älter, einige davon sind aber auch frisch. Allerdings nichts, was sie hätte umbringen sollen. Ich melde mich sobald ich mehr weiß.”
 

Als der Leichnam durch die Kollegen von Tereza im Wagen verstaut wurde, drehte sie sich noch mal zu mir um. „Wie geht ihr jetzt vor?“

Ich schrieb noch meine Notiz zu Ende, während ich ihr antwortete. „Der erste Schritt wird wohl die Identifizierung der junge Frau sein. Also gehen wir erst mal die Vermisstenanzeigen durch. Sie hatte keine Papiere dabei, also müssen wir ein Gesichtsabgleich vornehmen.“ Ich blickte von meinem Notizblock hoch. „Ich ruf dich an, sobald wir jemanden haben, der zur Identifizierung vorbei kommen kann.“
 

„Mach das“, stimmte sie zu, sah dann auf die Uhr. „Aber nicht vor 16 Uhr. Ich werde wohl eine Weile brauchen bis sie jemanden gezeigt werden kann.“

„Ich glaube nicht, dass wir so schnell jemanden finden werden“, antwortete ich.

„Denkst du?“, fragte sie. „Die junge Frau sieht gepflegt aus. Da steht meistens auch eine fürsorgliche Familie hinter oder zumindest sehr gute Freunde, vielleicht aber auch ein besorgter Arbeitgeber. Spätestens morgen werdet ihr sicherlich jemanden haben. Wie gesagt, ab 16 Uhr müsste ich soweit sein. Das Foto habt ihr?”

„Ja“, sagte ich zu ihr. „Fritz hat ein Foto von ihrem Gesicht gemacht. Die Anfrage ist schon raus.“ Tereza verabschiedete sich noch von meinen beiden Kollegen und fuhr dann zurück in die Gerichtsmedizin. Die Kollegen der Spurensicherung hatten schon Verstärkung angefordert und die Untersuchungen am Tempelhofer Ufer hoch zur nächsten Brücke fortgesetzt.
 

Gleich an der ersten Brücke hatten wir kleine Blutspuren gefunden. Wenn die Mediziner es schafften daraus DNA zu gewinnen, konnten wir es mit dem Blut vom Opfer abgleichen. Vielleicht führte es uns aber auch zum Täter. Wir fuhren wieder zurück ins Revier. Sobald sie identifiziert war und wir ein entsprechendes Foto hatten würden wir Bars, Geschäfte und Anwohner befragen könnten. Es musste doch jemand was mitbekommen haben.
 

***
 

„Rebecca Manske“, sagte Ewald als er in das Büro von Fritz und Alex kam, wo wir uns gerade besprachen. Waldi wedelte mit einem Zettel umher, als er auf uns zukam und das Papier auf den Schreibtisch von Fritz legte. Alex und ich gingen um den Tisch, um ebenfalls auf die Informationen zu blicken.
 

„Entweder sie ist das oder es existiert noch eine Zwillingsschwester“, sagte er. Waldi legte das Foto vom Personalausweis neben das Foto, das Fritz am Tatort gemacht hatte. Natürlich war das Gesicht vom Leichnam von verschiedenen Verletzungen etwas geschwollen, aber der Knochenbau war sehr ähnlich, wenn nicht sogar identisch und sie hatte unter der Lippe den gleichen kleinen Leberfleck.

Sie war 29 Jahre alt und wohnte in Berlin-Mitte. Ihre Eltern haben sie gestern Abend als vermisst gemeldet. Tereza hatte Recht behalten. Wir hatten zügig die Informationen bekommen, die wir brauchten.

Es war immer schwierig zu einer Familie zu fahren und um Mithilfe bei einer Identifizierung zu bitten. Dazu noch bei einer, wo es um das eigene Kind ging. Natürlich würden sie hoffen, dass es nicht ihre Tochter war.
 

Gegen halb sieben am Abend hatten wir mit dem Ehepaar Manske die Gerichtsmedizin erreicht. Tereza war extra länger geblieben, damit wir die Identifizierung noch durchführen konnten. Ich war mit Fritz zu Familien Manske gefahren, um sie abzuholen. Alex hatte darauf verzichtet mitzukommen und lieber früher Feierabend gemacht. Wir konnten heute sowieso nicht mehr viel machen. Und ihm kam es recht, da Caroline heute Abend wieder zum Yoga wollte.
 

Wenn es wirklich die Tochter des Ehepaars war, und aus meiner Sicht bestand daran kein Zweifel, sollten sie nach der Identifizierung kein Auto mehr fahren. Fritz und ich würden sie anschließend nach Hause bringen. Sofern ein Psychologe notwendig wäre, würden wir diesen verständigen. Mehr konnten wir im Moment nicht tun.
 

Tereza begrüßte das Ehepaar und wir gingen in das Untersuchungszimmer. Als Tereza das weiße Tuch vom Gesicht des Leichnams nahm, brach die Mutter in Tränen aus und keuchte `Rebecca´. Sie suchte Halt bei ihrem Mann, der ebenfalls um Fassung rang.

Während er seine Frau fest in den Armen hielt, nickte er mir wortlos zu und eine einzelne Träne lief ihm über die Wange. Bei dem Anblick musste ich schlucken. Aber so war der Job und es gehörte mit dazu. Das Einzige, was wir für die Familie tun konnten, war den Täter zu finden, sofern es hierbei sich um einen Mord und nicht um einen Unfall handelte. Tereza und die Spurensicherung würde uns hoffentlich morgen bereits die ersten Ergebnisse liefern können.
 

Fritz stand neben mir, als wir dem Ehepaar einen Moment Zeit gaben. Als sich sein Blick auf mich richtete, sah er mich aufmunternd an. Auch ohne Worte verstand ich, dass er mir sagen wollte: `Kopf hoch, das ist nun mal unser Job. Lass es nicht zu sehr an dich heran´.
 

Der Mann sah Fritz und mich an, wie es nur ein Vater konnte, der seine Tochter über alles geliebt hatte und nun Antworten wollte.

“Wer hat das meinem kleinen Mädchen angetan?”, fragte er mit zitternder, Stimme als er noch immer die weinende Frau in seinen Armen hielt. Ich straffte meine Schulter etwas, als ich versuchte in angemessenem Ton zu antworten.

“Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch keine endgültige Aussage treffen. Wir warten noch auf die Berichte der Spurensicherung und die Untersuchung der Gerichtsmedizin. Es ist noch nicht klar, ob es sich hierbei um einen Unfall oder ein Fremdverschulden handelt. Morgen wissen wir bestimmt mehr.” Eine Weile sah er mich einfach nur an. In seinen Augen konnte ich den unglaublichen Schmerz sehen.
 

Als ich bei der Kripo anfing dachte ich, dass Leichen mich mental am Meisten beschäftigen würden. Aber man lernte damit umzugehen. Was man jedoch nie lernt, war unbeeindruckt zu bleiben von den Emotionen der Hinterbliebenen.

Ich spürte wie Fritz seine Hand sachte auf meinen Rücken legte. Seine Berührung und Nähe beruhigte mich und das tat in solch einem Moment einfach gut.

Frau und Herr Manske brauchten noch eine Weile bis wir sie wieder aus dem Untersuchungszimmer führen konnten. Sie waren heute nicht mehr bereit für Fragen. Das verstand ich. Die Menschen brauchten unterschiedlich viel Zeit, um sich mit dem Thema auseinander setzen zu können. Leichter wurde es dadurch aber auch nicht. Familie Manske brauchte mehr Zeit. Sie stimmten zu, dass wir morgen noch einmal mit ihnen sprechen mussten. Obwohl beide das Angebot einen Psychologen zu holen ablehnten, gab ich ihnen vorsichtshalber die Kontaktdaten. Gemütszustände in solchen Situationen konnten sich schlagartig ändern.
 

Wir brachten das Ehepaar nach Hause und fuhren wenig später los. Ich ließ mich in meinen Sitz zurücksinken und atmete einmal tief durch.

„Alles klar?“, fragte mich Fritz und sah kurz zu mir, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete.

„Ich muss an die junge Frau denken“, sagte ich etwas abwesend, als ich aus dem Fenster sah. Ich hatte immer noch das Bild vor Augen wie wir den Leichnam der jungen Frau vorgefunden hatten. Ich wandte meinen Kopf zu Fritz, als ich mich wieder gerade in den Sitz setzte.

„Du glaubst doch auch, dass sie versucht hat sich aus dem Wasser zu ziehen, oder?“
 

Fritz sah kurz zu mir, schwieg aber eine ganze Weile. „Es bringt doch nichts zu spekulieren, Bielefeld. Wir wissen noch viel zu wenig. Lass uns auf den Bericht der SpuSi warten. Der Bericht von Tereza wird uns auch weiterhelfen.”

Ich verstand natürlich was er meinte. Aber ich hatte gelernt manchmal auf meine Intuition zu hören und ihr zu folgen.

„Aber war es nicht merkwürdig, wie sie am Pfeiler lag? Nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche? Also ertrunken ist sie definitiv nicht. Sie muss also noch genügend Kraft gehabt haben, sich hochzuziehen. Es hatte aber nicht gereicht, um komplett aus dem Wasser zu kommen. Was ist da also passiert?“
 

Ich hörte Fritz seufzen, als ich das Thema nicht ruhen ließ. „Gut“, sagte er und wirkte einen Augenblick nachdenklich. „Vielleicht war sie so schwer verletzt, dass ihr die Kraft fehlte.“

„Das sie deswegen stirbt?“, fragte ich skeptisch. „So schlimm sahen die äußeren Verletzungen aber nicht aus.“

Fritz rollte mit den Augen, als er den Kopf schüttelte. „Ich rede von inneren Verletzungen. Sie hatte einen Streit mit jemandem, der eskaliert ist. Sie ist ins Wasser gefallen oder wurde gestoßen, hat sich vielleicht den Kopf angeschlagen-“

„Dann wäre sie aber ohnmächtig geworden und ertrunken“, unterbrach ich ihn.
 

„Dann hat sie sich eben nicht den Kopf angeschlagen. Dann muss etwas passiert sein, dass sie nicht so schwer verletzt hat, dass sie sofort verstorben ist. Sie konnte sich noch eine Weile an der Oberfläche halten, trieb mit der leichten Strömung zur nächsten Brücke und schaffte sich dort festzuhalten, wo wir sie gefunden haben.“

„Genau“, stimmte ich zu, als mir eine Theorie durch den Kopf ging. „Es war also etwas, dass erst später Wirkung gezeigt hat.“

„Du meinst chemische Substanzen?“

„Warum nicht? Hattest du noch nie einen Fall, wo jemand vergiftet wurde?“

„Natürlich hatten wir schon Fälle, wo diverse Substanzen eine Rolle gespielt haben. Wir sind hier in Berlin. Hier kriegt man alles.“

„Also wäre es eine Möglichkeit.“

„Es wäre eine Möglichkeit von vielen. Genauso gut könnte es ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall oder eben doch die inneren Verletzungen gewesen sein. Vielleicht hat das Adrenalin sie nicht gleich untergehen lassen“, gab Fritz zu bedenken. Ich musste ihm Recht geben.
 

Ich atmete frustriert aus und sah aus dem Fenster. „Stimmt schon“, sagte ich unzufrieden. Natürlich könnte das sein. Vielleicht hatte ihr Herz versagt oder ein anderes Organ. Vielleicht würde Tereza schwere innere Verletzungen finden, die wir nicht sehen konnten. Es musste kein Gift sein.

hatte Ewald heute Nachmittag nicht erzählt, dass sie in einem Institut für Drogenkranke arbeitete? Vielleicht hatte sie dort Streit mit jemanden gehabt oder vielleicht sogar mit einem der Drogenkranken? Das war überhaupt der Grund, warum mir diese Idee gekommen war. Wir mussten unbedingt mit dem Arbeitgeber, den Kollegen und den Patienten sprechen um die sich Rebecca gekümmert hatte.

Fritz stoppte das Auto, als wir an einer roten Ampel stehen bleiben mussten.
 

„Bielefeld“, begann Fritz. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn an. Er hatte seinen Blick auf mich gerichtet und sprach in einem ruhigen Ton. „Du überschlägst dich schon wieder. Der Fall ist keinen Tag alt. Du musst ihn heute nicht mehr lösen.“

„Ich weiß!“ Mir war das schon klar, aber ich hasste es, wenn der Tag zu Ende ging und ich eine These nicht überprüfen konnte.

„Du siehst müde aus. Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen, ohne das dich ein Fall beschäftigt hat?“, fragte er und sah mich besorgt an.
 

Wann ich das letzte Mal richtig geschlafen habe? Da war ich mir nicht sicher. Mich beschäftigte immer etwas und ich wurde oft in der Nacht wach. Meistens holte ich mir dann mein Handy vom Nachttisch und machte mir Notizen für den nächsten Tag. Irgendwann war ich dann wieder müde genug um weiterzuschlafen. Ich ging die letzten Nächte durch. Es war immer das selber, bis...

Bei Fritz, dachte ich und mir stieg die Röte ins Gesicht. Ich hatte durchgeschlafen als ich bei Fritz übernachtet hatte. Ich war nur wach geworden, weil Benny mich weckte. Wie viele Stunden hätte ich sonst noch geschlafen?
 

„Josephine?“, sagte Fritz und ich merkte, dass ich ihn anstarrte ohne etwas zu sagen. Die Erkenntnis machte mich nervös. Warum hatte ich gerade bei Fritz Schlaf gefunden? Natürlich hatte ich anfangs Probleme zur Ruhe zu kommen. Ich musste erst einmal den Tag verarbeiten. Es war soviel passiert mit Stefan, mit Fritz und mit mir. Aber als mich die Geborgenheit des Zimmers eingenommen hatte, wurde ich ruhiger und war schließlich eingeschlafen ohne auch nur einmal in der Nacht aufzuwachen.
 

„Ist alles ok mit dir?“, fragte er mich und kam etwas dichter. Ich schüttelte meinen Kopf, als ich versuchte meine Gedanken zu sortieren. Was war nur los mit mir? Die letzten Wochen hatten mich schrecklich aufgewühlt. Ich sah immer noch in das Gesicht von Fritz und versuchte Antworten zu finden. Und noch immer sah er mich mit diesem warmen, besorgten Ausdruck an. Vor einem halben Jahr wäre es ihm vermutlich egal gewesen, wie es mir ging. Aber wir hatten uns angenähert, waren gute Kollegen mit der Zeit geworden. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen und irgendwie war er für mich ein Anker geworden. Ähnlich war es mit Alex, aber mit Fritz war es anders, es war... tiefer.
 

Die Hand von Fritz legte sich auf meine Stirn und ich zuckte leicht zurück bei der Berührung. Er verengte seine Augen, als er mich ansah.

„Hast du etwa Fieber?“ Ich nahm seine Hand von meiner Stirn und lehnte mich etwas zurück. Wenn er mich so berührte, hatte ich wirklich das Gefühl Fieber zu haben. Seine Hand fühlte sich ungewöhnlich kühl an, was bisher nie der Fall gewesen war.

„Nein, habe ich nicht“, entgegnete ich bestimmt bevor ich meinen Blick von ihm abwandte.

„Josephine“, begann er mit warnender Stimme, wurde aber durch ein Auto, dass hinter uns hupte unterbrochen. Er fluchte als er sich kurz nach hinten drehte.
 

„Wir haben grün“, sagte ich und deutete mit meinen Finger auf die Ampel vor uns.

„Ich weiß“, murmelte er und fuhr los.

Eine Weile schwiegen wir, als wir durch Berlin fuhren. Er fuhr nicht die gewohnten Straßen zum Revier und ich wurde stutzig. Das war aber nicht der Weg, oder?

„Mussten wir nicht da vorne abbiegen?“, fragte ich verwundert.

„Nein, mussten wir nicht.“

„Aber da geht es doch zum Revier“, sagte ich und deutete wieder auf die Kreuzung, die wir hinter uns gelassen hatten.

„Ich fahre dich nach Hause.“ Er hatte seinen Blick stur auf die Straße gerichtet und ich konnte sehen, dass er mal wieder eine Entscheidung getroffen hatte ohne mich zu fragen.
 

„Das ist doch Quatsch. Das ist ein viel zu großer Umweg“, warft ich ein.

Er schnaubte, sah mich aber kurz mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Denkst du wirklich, ich lass dich mit einem Bus durch Berlin gurken, wenn du Fieber hast?“

„Ich hab kein Fieber“, widersprach ich energisch.

„Fühlt sich aber anders an.“

„Vielleicht waren deine Hände nur zu kalt.“

Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Wir können auch gerne zur Notapotheke fahren und dann messen wir noch einmal deine Temperatur nach. Ist dir das lieber?“

Ich traute ihm zu, dass er es machen würde. „Nein“, antwortete ich als ich mich geschlagen gab.

„Na, siehst du“, sagte er und sah mich dabei mit einem zufriedenen Lächeln an. „Also leb damit, dass ich dich nach Hause fahre.“
 

Er richtete seinen Blick wieder auf die Straße und fuhr an der nächsten Kreuzung ab. Ich betrachtete sein Profil eine Weile. Er war soo stur, dachte ich, konnte ihm aber nicht böse sein. Er tat mir einen Gefallen. Er musste doch selber erschöpft sein vom Tag und trotzdem bestand er darauf mich sicher nach Hause zu bringen. Ich musste lächeln bei diesem Gedanken.
 

Fritz konnte ein richtiger Gentlemen sein, ganz die alte Schule. Anfangs fand ich das nervig, aber mittlerweile gefiel es mir immer mehr. Vielleicht lag es daran, dass ich das Gefühl hatte, akzeptiert und respektiert zu werden und niemandem mehr was beweisen zu müssen, besonders nicht mir selbst.

„Danke“, flüsterte ich. Er lächelte ohne den Blick von der Straße zu wenden.

Ich hasste es zuzugeben, aber Fritz behielt Recht. Auf der Fahrt zum Gestüt hatte ich schon gemerkt, dass mein Kopf sich warm anfühlte. Über Nacht war dann das Fieber ausgebrochen. Der Arzt stellte einen grippalen Infekt fest. Drei verfluchte Tage dauerte es bis ich das gröbste überstanden hatte. Es wurmte mich, dass ich bei den Ermittlungen nicht dabei sein konnte. Natürlich waren meine Kollegen gute Ermittler. Aber wir waren ein Team und ich wollte helfe.
 

Ich hatte im Revier angerufen und Karin um den neusten Stand gebeten, aber sie druckst rum. Ich hörte im Hintergrund Fritz mal wieder meckern. Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.

„Du bist krank, Josephine!“, hörte ich seine Stimme. Er verweigerte mir die Informationen. „Werd'e erst mal gesund. Dann kannst du auch wieder am Fall arbeiten.“
 

Eigentlich musste ich ihm die Schuld geben, dass ich meinen Arzt genötigt hatte mich nach fünf Tagen wieder gesund zu schreiben. Ich fühlte mich noch etwas schlapp, aber die Medikamente hatte gut geholfen.

Es war noch sehr früh als ich das Revier betrat. Ob überhaupt schon jemand vom Team da war? Vielleicht gab mir das genügend Zeit mich in den Fall einzulesen. Im Büro stand Waldi und zog gerade seine Jacke aus als ich eintrat.
 

Er sah mich überrascht an. „Josy?“, sagte er fast fragend.

„Morgen, Waldi“, lächelte ich ihn an und ging zu meinem Platz.

„Bist du denn schon wieder gesund?“

„Ist mir sogar vom Arzt bescheinigt worden.“

„Liegt der Arzt noch in Fesseln oder hast du ihn schon wieder gehen lassen?“, fragte er mich skeptisch. Ich verdrehte meine Augen. Als er anfing mich schief anzugrinsen, wurde ich stutzig.

„Ist was?“, fragte ich verwundert.

„Nein, nein. Alles Bestens“, entgegnete er, aber sein Grinsen wurde breiter. Was war nur los mit ihm?
 

Bevor ich fragen konnte, ging die Durchgangstür zum anderen Büro auf. Ich war überrascht Fritz um so eine Uhrzeit zu sehen. Seine Miene verfinsterte sich als er mich sah.

„Du gehörst ins Bett!“, sagte er ernst.

„Nein, tue ich nicht“, erwiderte ich und wedelte mit dem ärztlichen Beweis dafür vor seiner Nase. „Mein Arzt hat mich wieder gesundgeschrieben.“

Er riss mir den Zettel aus der Hand und sah kurz drauf. ”Man sollte ihm die Zulassung entziehen”, knurrte Fritz. Er schüttelte mit dem Kopf als er mir den Zettel wieder in die Hand drückte. „Wenn du wieder umkippst kannst du dir jemand anderen Suchen, der dich in die Krankenstation bringt.“

„Wird nicht passieren“, entgegnete ich überzeugt.

„Warum bist du überhaupt schon wieder hier?“, fragte er genervt. War er heute mit dem falschen Bein aufgestanden oder warum war er so schlecht gelaunt?
 

„Vielleicht ist es dir entgangen, Fritz. Aber wir haben einen Fall.“

„Nein, dass ist mir nicht entgangen. Das ganze Team arbeitet daran. Wir haben auch vor dir schon geschafft Fälle zu lösen.“

„Ich will aber auch meinen Teil dazu beitragen. Du warst es doch, der mir Informationen verweigert hat.“

„Warum sollte ich dir auch Infos geben“, schnaubte er. „Krank ist krank. Dann muss du auch mal Zuhause bleiben und dich auskurieren. Warum hörst du eigentlich nie auf mich, Bielefeld?”

“Vielleicht weil du ja auch nie auf mich hörst?”, fragte ich etwas bissig.

Er stockte kurz und sah mich prüfend an. “Vielleicht würde ich ja, wenn du auch mal bereitwilliger meine Ratschläge annehmen würdest.”

Ich zog eine Augenbraue hoch, dann lächelte ich ihn übertrieben freundlich an. “Und vielleicht würde ich deine Ratschläge auch mal annehmen, wenn diese mehr Sinn ergeben.” Wir sahen uns beide herausfordernd an und ich wartete auf seine Antwort.
 

„Mann, Mann, Mann“, tönte die Stimme von Waldi amüsiert durchs Zimmer. „Ihr seid besser als jedes Frühstücksfernsehen.“ Mein Kopf fuhr zu ihm rum. Er schmunzelte und ließ sich entspannt in seinen Schreibtischstuhl zurückfallen.

„Halt du dich da raus“, sagte ich zu Waldi, stockte aber als ich ein Echo hörte. Ich sah Fritz erstaunt an. Er hatte gerade genau das Gleiche gesagt. Waldi kicherten. Fritz drehte sich mit verengten Augen zu ihm.

„Hast du nichts zu tun, Waldi?“, sagte er in strengem Ton.

Waldi hob beschwichtigend die Hände. „Eh, Leute. Lasst euern Frust nicht an mir aus. Ich bin nur ein Zuschauer.“ Als Fritz ihn scharf ansah, drehte Waldi sich ganz langsam mit seinem Stuhl wieder zum Monitor. Noch immer hielt er die Hände hoch. „Ich bin nicht mal ein Zuschauer. Ich bin quasi gar nicht da und sowieso unglaublich beschäftigt mit der Recherche.“
 

Fritz sah auch mich noch einmal strafend an, bevor er sich auf den Weg in sein Büro machte. Auf halben Weg rief Waldi. „Fritz.“ Er sah aus, als würde er gleich in Deckung gehen wollen. „Ich kriege noch deinen Wetteinsatz.“

Wetteinsatz? Worum hatten die beiden denn gewettet?

Fritz sah Waldi bitterböse an. Seine Kieferknochen arbeiteten und seine Nasenflügel hatten sich geweitet, während er ganz langsam ein- und ausatmete. Er ging auf den Schreibtisch zu, während er sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche zog. Am Schreibtisch angekommen, knallte er Waldi nen Geldschein auf den Schreibtisch.

„Zufrieden?“

„Ich mache doch immer wieder gerne Geschäfte mit dir “, sagte Waldi, nahm den Geldschein und grinste Fritz an. Das Grinsen verflog schnell. „Schon gut, Schon gut. Ich mache mich jetzt an die Arbeit“, sagte Waldi. Ich sah zwar nicht das Gesicht von Fritz, konnte mir aber den Gesichtsausdruck vorstellen.
 

Fritz ging an mir vorbei und sah mich noch einmal kopfschüttelnd an, bevor er die Tür zu seinem Büro mit ein wenig zu viel Elan ins Schloss fallen ließ.

„Was ist denn mit ihm los?“, fragte ich Waldi.

„Keine Ahnung, gestern hatte er noch gute Laune. Vielleicht wegen der Wette?“

Ich sah ihn fragend an. „Was denn für eine Wette?“

Sein Grinsen wurde breiter. „Wie lange du dich von nem Arzt ans Bett Fesseln lässt. Ich war mir sicher, dass du keine Woche Zuhause bleibst. Vor allem nach dem Telefonat mit Fritz, als er dir keine Infos geben wollte.“ Er atmete zufrieden aus. „Er hat dagegen gewettet. Er meinte du würdest vernünftig sein und Zuhause bleiben.“

Ich sah ihn empört an. „Ihr wettet auf MEINE Kosten?“

„Darüber denkst du nach? Ich war eher überrascht, dass dich Fritz für vernünftig hält“, entgegnete er und zwinkerte mir zu. Ich wollte gerade was erwidern als erneut die Tür aufging.
 

„Kommst du, Bielefeld?“, fragte mich Fritz. Als ich nichts erwiderte und ihn nur verwirrt ansah, atmete er einmal tief durch. „Also entweder du willst jetzt auf den neusten Stand gebracht werden oder nicht.“

„Ach so, ja klar. Ich bin sofort da.“ Fritz nickte nur und verschwand dann wieder in seinem Büro. Ich drehte mich nochmal kurz zu Waldi um. Er sah mich vielsagend an.

„Na dann mal ab mit dir in die Höhle des Löwen.“ Ich musste bei seiner Bemerkung etwas kichern.

„Er wird mich schon nicht auffressen.“ Waldi sah skeptisch aus, aber ich ignorierte es und machte mich auf den Weg zu Fritz.
 

Er stand vor der Metaplanwand und befestigte einige Fotos und Notizen. Fritz wirkte zwar etwas ruhiger, aber trotzdem unzufrieden.

„Warum bist du eigentlich so früh hier?“, fragte ich ihn, als ich mich neben ihn stellte.

„Ich wollte heute eigentlich früher Feierabend machen“, entgegnete er knapp ohne mich anzusehen. War er wirklich wegen der Wette so schlecht gelaunt?

„Soll ich dir das Geld für die Wetter wiedergeben, damit deine Laune sich wieder bessert?“, fragte ich. „Immerhin bin ich schuld, dass-“

„Darum geht´s doch nicht“, unterbrach er mich und drehte sich zu mir. Er sah nicht wütend aus, frustriert vielleicht, aber nicht wütend.
 

„Worum geht es dann?“, wollte ich wissen.

„Weißt du, Josephine“, begann er. „Da denkt man, dass man langsam anfängt dich zu verstehen, dass du vernünftiger geworden bist und dann...“ Er schwieg einen Moment und sah mich einfach nur an und kaute an seiner Unterlippe. „Ist egal“, murmelte er und wandte sich wieder der Metaplanwand zu. “Wir sollten uns auf den Fall konzentrieren.”

Fritz befestigte die restlichen Hinweise und begann mit seinen Erklärungen. Da ich selber nicht wusste, was ich zu diesem Thema noch hätte sagen können, harkte ich auch nicht nach und konzentrierte mich wieder auf den Fall.
 

„Also wissen wir, dass das Opfer von der Brücke gefallen oder gestoßen wurde, wo wir die Blutflecken gefunden haben?“, fragte ich und Fritz stimmte dem zu.

„Aber Spuren von einem Kampf waren nicht zu erkennen“, sagte er.

„Gehen wir von einem Mord aus?“, harkte ich nach.

„Ja, nach jetzigem Kenntnisstand können wir davon ausgehen“, entgegnete er. „Du solltest dir den Obduktionsbericht durchlesen.“ Fritz reichte mir einen Ordner. „Du hattest mit dem Gift gar nicht so Unrecht. Rebecca Manske ist an einer Überdosis GHB gestorben.“

„GHB?“, fragte ich und nahm den Ordner entgegen.

„Liquid Ecstasy wird das in der Szene auch genannt“, erklärte er mir.
 

Ich blätterte den Bericht durch, während ich den Inhalt überflog. Einige Begriffe sprangen mir ins Augen. Irgendwo hatte ich einen ähnlichen Bericht schon mal gelesen. Die junge Frau hatte nicht nur eine Überdosis bekommen. Tereza hatte auch Verletzungen im Vaginalbereich von Rebecca festgestellt. Die junge Frau wurde also geschlagen, vergewaltigt und hatte anschließend eine Überdosis verabreicht bekommen, bevor sie vermutlich völlig kraftlos in den Kanal geschmissen wurde. Es war eine grausame Art zu sterben. Durch die Drogen muss sie so benebelt gewesen sein, dass sie vermutlich gar nicht wusste, wo sie war. Trotzdem hatte sie es geschafft sich über die Wasseroberfläche zu ziehen. Ihr Lebenswille musste so riesig gewesen sein.
 

Alex und Fritz hatten mit den Eltern, den Arbeitskollegen und den Patienten gesprochen um die sich das Opfer gekümmert hatte. Alle bestätigten, dass Rebecca immer clean gewesen war und keine Rauschmittel eingenommen hatte.
 

Der Bericht der SpuSi war leider wenig hilfreich. Es waren kaum brauchbare Spuren gefunden worden und das Wasser hatte mögliche DNA Beweise am Opfer vernichtet. Wer auch immer dem Mädchen das angetan hatte, war sich seiner Taten bewusst. Es war nicht im Effekt passiert. Der einzige Fehler, der dem Täter unterlaufen war, war den Lebenswillen der jungen Frau unterschätzt zu haben. Als echte Wasserleiche wäre der Fall vermutlich nach wenigen Wochen zu den ungelösten Fällen ins Archiv gekommen. Aber so hatten wir zumindest eine geringe Chance, vielleicht doch noch den Täter zu fassen.
 

Wir mussten aber noch mehr Leute befragen, die Rebecca vielleicht an diesem Tag gesehen hatten oder sie besser kannten. Gab es einen neuen Freund? Hatte sie mit jemanden Streit gehabt? Jedes Indiz konnte in diesem Fall hilfreich sein. Ein Kollege von Rebecca hatte zu Protokoll gegeben, dass sie sich ehrenamtlich auf der Straße um Drogenkranke kümmerte. Bisher war in diese Richtung noch nicht recherchiert worden. Vielleicht konnten wir dort weitere Erkenntnisse erlangen.
 

Den Vormittag brauchte ich um mir alle Berichte durchzulesen. Ich hatte das Gefühl, dass die Medikamente ein wenig meine Denkfähigkeit einschränkten. Oft musste ich Berichte zwei Mal lesen um den Inhalt zu verstehen. Ich hatte gerade den letzten Bericht beendet als meine beiden Kollegen ins Büro kamen. Fritz hielt den Autoschlüssel in seiner Hand und Alex zog gerade seine Jacke an.
 

„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte ich verwundert.

„In ein Hostel in der Nähe vom Tatort“, antwortete Alex als er seinen Kragen richtete. „Es ist ein Hinweis eingegangen von einer Dame die dort arbeitet. Willst du mit?” Ich überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Vielleicht hatte diese Dame einen Hinweis. Vielleicht wäre es aber auch nur Zeitverschwendung. Ich würde lieber mit den Patienten sprechen, die Rebecca auf der Straße betreut hatte.

„Ich würde heute gerne nochmal zu Rebeccas Arbeitsgeber fahren wegen den Patienten die wir noch nicht befragt haben.“ Fritz wurde sofort hellhörig und es bildeten sich Falten auf seiner Stirn.

„Keine Alleingänge, Josephine!“, mahnte er mich. „Hast du das etwa während deiner Krankheit schon wieder vergessen? Momentan können wir niemanden als Täter ausschließen. Du gehst mir da nicht alleine hin.“
 

Er führte sich wie mein Vater auf. Aber ich hatte natürlich nicht vergesse, was ich versprochen hatte. Bitte sehr, dachte ich und sah Karin an, die gerade einen Bericht eintippte. Ich konnte Fritz stöhnen hören noch bevor ich meine Frage stellte.

„Karin?“ Sie drehte sich zu mir und sah mich fragend an. „Kommst du mit zu einer Befragung?“ Sie sah mich verwirrt an und ihr Blick wechselte von den Jungs zu mir. „Hat doch beim letzten Mal auch wunderbar geklappt.” Sie musste wissen, dass ich auf den Fall Römer anspielte. Langsam bildete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht.

„Du darfst auch deine Dienstwaffe mitnehmen“, zwinkerte ich ihr zu. Fritz brabbelte irgendwas von `unverbesserlich´ und `nicht zum Aushalten´ aber das ignorierte ich. Er marschierte aus dem Büro. Alex folgte ihm, blieb aber im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal zu mir um.
 

„Aber sei heute um 17 Uhr wieder da.“

„Warum?“, fragte ich verwundert.

„Wir haben Verstärkung beim Drogendezernat angefordert. Für diesen Fall brauchen wir die Fachspezialisten. Wir können nicht ausschließen, dass es vielleicht ein Dealer oder ein Drogenabhängiger war. Vielleicht war das Opfer einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Kollegen können uns bestimmt hilfreiche Informationen geben.“

„Alles klar, ich bin dann pünktlich wieder da.“ Alex nickte mir zu und verschwand aus dem Büro.
 

***
 

„Und Sie haben Frau Manske um 19 Uhr das letzte Mal gesehen?“, fragte ich den jungen Mann, der mit Rebecca zusammen gearbeitet hatte.

“Ja. Sie wollte nach der Arbeit noch nach einem Mädchen sehen, die wir hier nicht betreuen.”

„Aber sie hat Ihnen keine Namen genannt?“, harkte Karin nach.

„Nein oder ich kann mich nicht erinnern. Aber Namen waren für uns außerhalb der Arbeit nie ein Thema. Wir haben hier sehr viele Menschen die Hilfe brauchen. Um ihnen helfen zu können, ist aber eine persönliche Verbindung besonders wichtig. Sie können sich also vorstellen, dass man sich hier viele Namen, Gesichter und Geschichten merken muss. Also konzentriert man sich auf seine eigenen Fälle.“
 

Er schwieg eine Weile, schien sich dann aber an etwas zu erinnern. Er stand auf und wühlte in seinen Hosentaschen.

„Irgendwo habe ich doch ... Ach, da ist es ja.“ Der junge Mann holte einen Zettel aus seiner Hosentasche. „Ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft, aber ich hab mit einer ehemaligen Patientin von Rebecca sprechen können. Sie konnte sich noch an drei, vier Orte erinnern, wo Rebecca immer zu finden war. Vielleicht war sie auch an dem Tag dort, wo sie verschwunden ist.“

Er reichte mir den Zettel. „Vielen Dank!“, sagte ich und nahm ihm das Stück Papier ab.

„Tut mir leid, dass ich nicht mehr helfen kann.“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Sie haben uns sehr geholfen. Wir überprüfen die Adressen.“
 

Wir verabschiedeten uns von ihm und machten uns auf den Weg zur ersten Adresse. Wir befragten einige Leute vor Ort. Die meisten kannten Rebecca vom Sehen waren aber keine Patienten von ihr und konnten sich auch nicht daran erinnern, sie an dem Tag gesehen zu haben. Ähnlich ging es und auch bei der zweiten Adresse.
 

Ich befürchtete, dass wir bei der nächsten Adresse ebenfalls in eine Sachgasse liefen. Aber als wir einen älteren Herren vor seinem Obst- und Gemüseladen befragten, konnte er sich erinnern Rebecca an diesem Tag gesehen zu haben.

„Ja, das Mädchen war hier. Sie hatte bei mir ein paar Kleinigkeiten gekauft und nach Lisa gefragt.“

„Wer ist Lisa?“, fragte Karin neben mir. Der alte Mann lächelte Karin liebevoll an.

„Lisa lebt hier auf der Straße, ist immer wieder von Zuhause abgehauen“, begann er. „Sie ist ein gutes Mädchen. Aber ab und zu gerät sie auf die schiefe Bahn und nimmt Drogen. Es gibt aber auch besser Phasen. Dann verkauft sie in den S- und U-Bahnen den Straßenfeger und verdient sich so ein wenig Geld. Im Winter lasse ich sie oft bei mir im Büro übernachten, wenn sie es dann zulässt.”
 

„Wissen Sie, wo wir Lisa finden können?“, fragte ich ihn.

Er sah mich eine Weile nachdenklich an. „Lisa hat momentan wieder eine schwierige Phase. Da weiß man nie, wo sie sich rumtreibt. Sie ist überall, wo es Drogen geben könnte. Aber Rebecca hat Lisa oft in einer alten, kleinen Lagerhalle gefunden. Die ist gar nicht weit weg von hier.“ Der Mann wirkte besorgt als er in die Ferne blickte. „Ich habe Lisa seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.“

„Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr oder können Sie uns beschreiben wie Lisa aussieht?” Er nickte und drehte sich zu seinem Laden um.

„Kommen Sie doch bitte mit.“ Er führte uns in sein Geschäft und ging zur Pinnwand neben der Kasse. Dort entfernte er ein Bild von einem Mädchen, das fröhlich in die Kamera lächelte. Sie hatte abgetragene Kleidung und ihre Haare waren verfilzt. Sie entsprach dem Bild von einem Straßenkind, sah aber clean aus.
 

„Das ist Lisa“, sagte er und lächelte das Bild an.

„Darf ich das abfotografieren?“, fragte ich.

Anschließend erklärte er uns, wo die Lagerhalle sich befand. Es dauerte eine Weile bis wir die Langerhalle gefunden hatten. Sie war umzäunt, aber an einigen Stellen war der Zaun aufgerissen. Also konnten wir durch eines der Löcher klettern und auf das abgesperrte Grundstück gelangen. Hier hielt sich Lisa also immer auf?

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, sagte Karin und blickte etwas unsicher in der Gegend umher. „Immerhin stand dort `Betreten verboten´.“

„Wir sind von der Polizei, Karin. Wir dürfen das. Immerhin ermitteln wir hier in einem Mordfall.“ Sie wirkte immer noch unschlüssig, folgte mir aber, als ich meinen Weg fortsetzte.

Ich hörte Geräusche, als wir dicht am Gebäude standen. War Lisa da?
 

„Lisa?“, rief ich aus. Ich wollte sie nicht erschrecken. Wir konnten ja nicht wissen in welchem Zustand sie sich befand. Wenn sie gerade im Rausch war, konnte sie auch halluzinieren und uns als Bedrohung sehen. Niemand antwortet. Dann hörte ich ein Rascheln und anschließend schwere Schritte. Irgendwas stimmte hier nicht. Das waren keine Schritte einer jungen Frau. Vor allem nicht von einer, die so zierlich auf dem Foto ausgesehen hatte.
 

„Karin“, flüsterte ich als ich mich an die Wand drängte und meine Waffe aus der Halterung löste. „Dienstwaffe!“, sagte ich und deutete auf ihre Handtasche. Sie sah mich mit großen Augen an. „Du bleibst hier. Ich geh rein. Gib mir aber Rückendeckung, wenn´s nötig wird!“

„Josephine, warte! Ich...“, sagte sie, aber ich war bereits im Gebäude und überprüfte den Raum.

Die Lichtverhältnisse in der Halle waren an einigen Stellen wirklich schlecht. Aber ich konnte jemanden sehen, der am anderen Ende regungslos auf dem Boden lag. Als ich ein Geräusch hörte, folgten meine Augen einem Schatten. Ich sah, wie eine große Gestalt sich immer weiter von der anderen Person entfernte, konnte durch das fehlende Licht aber kaum etwas erkennen. Bei der Größe und Statur musste es sich aber um einen Mann handeln.
 

„Polizei!“, rief ich. „Bleiben Sie stehen!“

Aber er dachte nicht daran und schlüpfte in einen der Gänge. Ich hörte, wie sich seine Schritte immer weiter entfernten, hatte aber den Blickkontakt verloren. Ich lief los, um ihn zu verfolgen. Als ich am anderen Ende der Halle angekommen war und ihn hinter der Wand nicht mehr sehen konnte, sondern nur die Tür zum Ausgang, die offen stand, entschied ich mich ihn nicht weiter zu verfolgen. Offensichtlich gab es hier jemanden der Hilfe brauchte. Außerdem durfte ich Karin nicht alleine lassen. Sie war nicht ausgebildet für solche Außendiensteinsätze. In meinem Inneren schrien alle Sinne, dass ich vermutlich den Mörder von Rebecca laufen ließ, aber es waren hier zu viele Baustellen und ich sollte mich zuerst um die Person auf dem Boden kümmern. Vielleicht lebte sie noch.
 

Ich hätte mit den Jungs hierher kommen sollen, dachte ich fluchend. Dann hätten wir diesen Kerl bestimmt geschnappt und ich hätte Karin nicht in diese Gefahrensituation gebracht. Als ich mich umdrehte, durchzog ein Schmerz meinen Schädel als wenn mir einer ein Brett auf den Hinterkopf geschlagen hätte. Ich musste mich einen Moment an der Wand festhalten. Mir wurde schwarz vor Augen und mich überfiel ein heftiges Schwindelgefühl. Ich hatte die fünf Tage fast nur im Bett verbracht. Ich konnte nicht erwarten, dass ich gleich wieder auf Verfolgungsjagd gehen konnte.
 

Ich schüttelte mich um wieder zu Sinnen zu kommen und den Schmerz zu vertreiben. Mit schnellen, aber wackeligen Schritten ging ich auf die Frau zu, die am Boden lag.

Ich kniete vor ihr, konnte aber ihr Gesicht nicht sehen. Es war dem Boden zugewandt. Vorsichtig drehte ich ihr Gesicht, während ich versucht ihren Puls zu fühlen. Der Puls war schwach, aber er war da. Sie lebte, atmete jedoch sehr flach. Als ich ihr Gesicht drehte, lief ihr Blut aus der Nase und eine transparente Flüssigkeit lief aus ihrem Mund. Die Flüssigkeit konnte kein Speichel sein. Ihr Gesicht kannte ich. Ich hatte es bereits auf dem Foto vom Ladenbesitzer gesehen. Das Mädchen vor mir war Lisa.
 

„Scheiße“, fluchte ich, als ich das Mädchen versuchte leicht zu schütteln. „Lisa“, sagte ich und beugte mich dichter zu ihr. „Lisa, kannst du mich hören?“

Als keine Reaktion kam, rief ich nach Karin. Sie kam zur Tür herein und sah erst mich und dann Lisa erschrocken an. „Wir brauchen sofort einen Krankenwagen!“ Sie wühlte ihr Handy aus ihrer Jackentasche. Während sie dem Notdienst beschrieb, wo wir waren und um was es ging, rief ich ihr Worte zu wie `Überdosis´ und `Magen auspumpen´ oder auch, dass die sich `verflucht noch mal beeilen sollen´.
 

Ich schüttelte immer wieder leicht den Kopf von Lisa und sprach mit ihr. Aber sie reagierte nicht. Wir durften sie nicht verlieren. Sie war unsere einzige Zeugin. Wir konnten nicht zulassen, dass es ein zweites Mordopfer in diesem Fall gab. Die Kleine war doch gerade erst 18 Jahre alt.

„Das Mädchen hatte Glück“, sagte der Arzt, als er uns nach einer gefühlten Ewigkeit im Besucherbereich des Krankenhauses aufsuchte. „Sie wäre jetzt vermutlich tot, wenn Sie beide sie nicht gefunden hätten.“

„Also ist sie stabil?“, fragte ich den Arzt.

„Wir konnten das Schlimmste verhindern. Sie ist aber noch immer in einem kritischen Zustand. Wir haben ihr Sedativum verabreichen müssen.“
 

„Sedativum?“, fragte ich.

„Wir mussten die Patientin in ein künstliches Koma legen, damit der Körper in Ruhe genesen kann.“

Wir konnten froh sein, dass Lisa überlebt hat. „Wir brauchen ein Einzelzimmer für das Mädchen“, teilte ich dem Arzt mit. Er sah mich verwirrt an. Er konnte sich denken, dass sie keine Privatpatientin war. Ich trat etwas dichter an ihn heran und sagte leise: “Das Mädchen ist vermutlich Zeugin in einem Mordfall oder hat Kenntnisse, die zum Mörder führen könnten. Wir müssen sie also bewachen.”

Der Arzt verstand mein Anliegen. “Ich werde alles Nötigen veranlassen.”

„Danke.“
 

Er bat uns mitzukommen. Wir folgten ihm. Als wir auf der Intensivstation angekommen waren, blieb er am Empfangsbereich stehen und besprach die Situation mit dem Stationsleiter. Zwei Krankenschwestern bereiteten den Raum vor und wenig später wurde Lisa ins Zimmer geschoben. Sie musste beamtet werden und bekam Infusionen. Mich durchlief ein Schauer. Ich hoffte nie so daliegen zu müssen - so hilflos und allem ausgeliefert.

Wir mussten nach Verstärkung fragen. Wir brauchten Kollegen, die sich um die Bewachung kümmerten. Ich hatte noch nicht im Büro angerufen um Bescheid zu sagen, es war einfach zu viel passiert.
 

„Ist eine Bewachung wirklich notwendig?“, fragte mich Karin.

„Jemand hat versucht sie zu töten, Karin. Diese Person wollte sie zum Schweigen bringen. Also muss sie etwas wissen und vielleicht ist es genau die Information, die wir für unseren Fall benötigen.“

Karin sah mich noch immer skeptisch an. „Warum hat er sie dann nicht eher versucht zu töten?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht hat er erst jetzt von den Ermittlungen erfahren oder er hat Lisa einfach nicht früher gefunden. Versuche mal jemanden zu finden, der keinen geregelten Alltag und keine feste Bleibe hat.”
 

Ich war mir sicher, dass die Überdosis von Lisa mit dem Fall von Rebecca zusammen hing. Das konnte einfach kein Zufall sein. Bei Rebecca ermittelten wir, weil wir davon ausgehen mussten, dass ihr das Mittel gewaltsam eingeflößt wurde. Aber Lisa war bekannt für ihre Drogenprobleme. Jede hätte geglaubt, dass sie an einer Überdosis durch Eigenverschulden gestorben wäre. Die Akte wäre innerhalb weniger Tage geschlossen worden.

Hatte jemand versucht sich der einzigen Zeugin zu entledigen? Welchen Grund hätte er sonst gehabt zu fliehen? Hatte Lisa etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war?
 

Wir brauchten definitiv Kollegen, die Lisa bewachen würden. Ich sollte wohl besser Waldi anrufen. Ich wandte mich an die Krankenschwester, die gerade die Zufuhr der Infusion für Lisa kontrollierte.

„Wo darf man hier telefonieren?“, fragte ich.

„Im Zimmer bitte nicht“, sagte sie und deutete auf die Tür. „Auf dem Flur ist es aber kein Problem.”

Ich sah zu Karin. “Wartest du hier? Ich ruf nur kurz die Kollegen an.” Sie stimmte zu und ich verließ das Zimmer.
 

Mein Handy war auf tonlos gestellt. Als ich es aus meiner Jackentasche nahm, sah ich einige Nachrichten und Anrufe in Abwesenheit. Ich hatte bei der ganzen Aufregung total vergessen mein Handy zu kontrollieren. Fritz hatte mir vor etwa einer dreiviertel Stunde geschrieben. `Seid ihr pünktlich wieder zurück?´ Dreißig Minuten später war eine weitere Nachricht von ihm eingegangen. `Wo zum Henker bleibst du!?!?!´
 

Gerade als ich die Nummer vom Büro wählen wollte, erschien sie auf dem Display, als erneut ein Anruf einging.

„Ja?“

„Gott sei Dank!“, hörte ich die Stimme von Ewald am anderen Ende. „Du glaubst nicht was hier los ist. Fritz wollte schon wieder dein Handy orten lassen. Wo bleibt ihr denn?“ Ich wusste, dass ich mich eher hätte melden müssen. Es war viertel vor fünf und die Kollegen vom Drogendezernat mussten wohl auch bald da sein. Karin und ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Wir konnten hier jetzt nicht so einfach los. Nicht ohne dem Mädchen Schutz zu gewähren.

„Tut mir leid“, sagte ich zu Ewald. „Ist nicht so gelaufen wie geplant. Wir sind hier gerade noch im Krankenhaus und...“

„Ist das Josephine?“, hörte ich die Stimme von Fritz im Hintergrund. Na super, dachte ich. Da würde Fritz mal wieder eine bomben Laune haben, wenn wir zurück waren.

„Krankenhaus?“, fragte Waldi alarmiert. Ich wollte ihn schon beruhigen, konnte aber am anderen Ende ein wildes Handgemenge hören.

Dann hörte ich nur ein `Gib mir den Hörer´ von Fritz und ein `Ehhh!´ von Waldi.
 

„Josephine?“, sagte er und klang etwas atemlos. „Warum seid ihr im Krankenhaus? Ist was passiert?“

Fritz klang besorgt und es tat mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet hatte.

„Wir haben bei unseren Befragungen eine junge Frau gefunden, die Rebecca vermutlich noch am Abend gesehen hatte, bevor sie verschwunden ist.“

„Danach habe ich nicht gefragt, Bielefeld“, sagte er und klang etwas genervt. „Warum seid ihr im Krankenhaus?“

„Jemand hat versucht sie zu ermorden.“

„Was?“, rief Fritz in den Hörer und ich musste mein Telefon etwas vom Ohr weghalten, weil seine Stimme deutlich an Lautstärke zugenommen hatte.

„Keine Sorge, die Ärzte konnten das Schlimmste verhindern. Sie wird es vermutlich schaffen. Aber der Täter ist mir entwischt. Der war einfach zu schnell.“

„Du hast im Alleingang einen Täter verfolgt?“, zischte er in den Hörer. „Ich glaub es nicht“, hörte ich Fritz fluchen. Im Hintergrund hörte ich Gemurmel. Alex und Ewald mussten wohl gefragt haben, was jetzt wieder los ist.

„Wie gesagt, er ist mir entkommen. Karin hat mir Rückendeckung gegeben“, versuchte ich ihn zu beruhigen, ahnte aber schon, dass es wohl nicht dazu beitragen würde.

„Rückendeckung? Von Karin?“, er klang aufgebracht. „Weißt du wann Karin das letzte Mal beim Schießtraining war? Bist du Lebensmüde?“

„Nun schrei mich nicht so an. Immerhin haben wir vermutlich die einzige Zeugin, die wir haben, retten können.“
 

„Du riskierst dein Leben für eine Vermutung?“

„Nein, für einen Menschen, Fritz. Ich bin Polizistin. Außerdem hat der Typ keine Anstalten gemacht MICH umbringen zu wollen. Er ist geflohen, sobald er uns bemerkt hat. Und ich habe ihn dann nicht weiter verflogt.“

Am anderen Ende herrschte Stille. Ich konnte aber noch immer die Stimme von Alex im Hintergrund hören. Fritz schien ihn zu ignorieren, denn er antwortete ihm nicht. „Hör zu, Fritz. Karin geht es gut, mir geht es gut. Es ist nichts passiert.“ Er antwortete immer noch nicht und ich musste selber erst einmal durchatmen, um mich ein wenig zu beruhigen.
 

„Es tut mir leid Fritz, ok? Es war bestimmt nicht geplant, dass wir jemanden in die Arme rennen, der gerade ´nen Mord verüben wollte. Wir wollten einfach nur das Mädchen befragen.“

Ich hörte, dass er am anderen Ende schwer atmete. „Genau wegen solchen Dingen solltest du nicht alleine hinfahren, Josephine”, sagte er. Seine Stimme hatte sich normalisiert, er hatte sich offensichtlich etwas beruhigt und ich ersparte mir den Satz, dass ich nicht alleine hingefahren war. Außerdem hatte Karin ihren Job wirklich gut gemacht.

„Wann kommt ihr wieder rein?“, wollte er wissen.

„Wir brauchen noch jemanden der die Überwachung hier übernimmt, dann machen wir uns auf den Weg.“

„Habt ihr schon jemanden informiert?“

„Nein, ich wollte gerade Waldi anrufen. Kannst du ihm mir noch mal geben?“

„Ja, Waldi steht hier. Sollen wir auf euch warten oder den Kollegen absagen?“

„Nein, die müssten bestimmt gleich da sein. Fangt einfach schon einmal an, wir kommen dann später einfach dazu.“

„Alles klar“, Fritz rief Waldi ans Telefon.

Es dauerte eine halbe Stunde bis die Kollegen uns ablösten. Anschließend machten wir uns auf den Weg zurück ins Revier. Ein Glück hatte Tulpe heute so tadellos funktioniert. Karin packte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg nach Hause und ich ging alleine in den Besprechungsraum. Vorsichtig klopfte ich an, bevor ich die Tür öffnete und ins Zimmer schlüpfte.
 

„Entschuldigt die Verspätung“, sagte ich vorsichtig.

Alex, Fritz und Waldi saßen zusammen mit dem Chef in der ersten Reihe und sahen mich an. Hinter ihnen saßen noch weitere Kollegen, die uns bei größeren Fällen immer unterstützten. Die beiden Männer, die vorne standen kannte ich noch nicht. Es mussten die beiden Ermittler vom Drogendezernat sein. Mein Chef stand kurz auf und ging auf mich zu. Er lächelte mich an. „Gut, dass Sie wieder heil angekommen sind“, sagte er. Ich sah Fritz an. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und tat so, als ob er meinen Blick nicht bemerkte.

„Wir reden später aber noch einmal darüber, verstanden?“, bemerkte der Chef und sah mich vielsagend an. Na super, da konnte ich mir gewiss wieder was anhören. Vielen Dank, Fritz.
 

„Das ist unsere Kollegin, Josephine Klick. Sie ist seit einem dreiviertel Jahr bei uns“, sagte der Chef an die beiden Männer gewandt, die vorne neben dem Flipchart standen.

„Hallo“, sagte ich und ging auf die beiden zu. „Josephine“, bestätigte ich meinen Namen und reichte dem ersten Kollegen die Hand.

„Christopher“, sagte er und lächelte mich an. “Freut mich. Schön zu wissen, dass ich nicht der einzige Neuling hier bin.“

Ich sah ihn verwirrt an „Neuling?“

„Bin selber erst seit einem halben Jahr im Dienst der Berliner Polizei.“

„Ach so“, sagte ich und lächelte ihn an „Dann willkommen in Berlin. Ist schon ein anderes Pflaster, nicht wahr?“

„Ja, aber man gewöhnt sich dran“, bestätigt er.

„Die Kollegen machen es einem aber auch leicht in Berlin Fuß zu fassen“, sagte ich zuckersüß, bevor ich für eine Sekunde Fritz bitterböse ansah. Er verstand es. Aber anstatt sich zu schämen, grinste er mich nur übertrieben freundlichen an. Ich wandte mich dem zweiten Kollegen zu.
 

„Hannes“, stellte er sich vor und reichte mir die Hand.

„Josephine“, wiederholte ich meinen Namen. Sein Blick war intensiv und mich durchlief ein Schauer. Starrte er mich an oder kam mir das nur so vor? Als er meine Hand nicht losließ, fragte ich ihn möglichst höflich, ob alles in Ordnung sei.

Er blinzelte und nahm etwas Abstand von mir. “Nein, nein. Alles Bestens. Die Kollegen habe nur nicht erwähnt, was für eine hübsche Kommissarin wir hier in diesem Dezernat haben”, entgegnete er. „Vielleicht sollten wir sie abwerben“, sagte er und lächelte mir zu.

Sein Lächeln wirkte künstlich und ich war mir sicher, dass er es nicht ernst meinte, machte aber bei seinem Schauspiel mit. Vielleicht hatte er von der Geschichte mit Stefan und mir gehört und wollte jetzt nicht unhöflich sein.

„Lieben Dank. Aber meine Kollegen haben es vermutlich nicht erwähnt, da es ihnen noch nicht aufgefallen ist“, gab ich zurück und versuchte die Situation etwas aufzulockern. Er schien sich zu entspannen. Als er mich anlächelte, wirkte es echter als vorher. Auch Christopher neben uns schmunzelte.
 

„Ich will niemanden länger aufhalten. Macht doch einfach weiter, wo ihr gerade wart. Ich arbeite den Rest dann nach“, sagte ich und begab mich auf den leeren Stuhl neben Fritz.

Er sah mich stirnrunzelnd an, als er mir die Unterlagen reichte.

„Was denn?“, fragte ich und nahm ihm die Unterlagen ab ohne mich zu bedanken. Eigentlich sollte ich sauer auf ihn sein. Ich war mich sicher, dass der Chef von ihm über die Ereignisse informiert worden war. Natürlich hatte ich meinen Fehler erkannt. Aber Karin war Polizistin und keine Sekretärin. Ihr schadete es nicht, wenn man sie ab und an mit nach draußen nahm. Natürlich war es heute nicht unbedingt ein glorreiches Beispiel. Es hätte wirklich gefährlich werden können.

Aber ich versuchte die Gedanken zu verdrängen. Das Mädchen war gerettet. Sie konnte uns vielleicht den Täter liefern. Also sollten wir alle doch zufrieden sein, oder?
 

Als Fritz nicht weiter reagierte, wandte ich mich an die beiden Kollegen vom Drogendezernat, die mit ihren Ausführungen weitermachten. Christopher berichtete gerade über die neusten Aktivitäten der Drogenszene.

Die Substanz, die er gerade ansprach hatte sich in den letzten Jahren immer mehr zu einer Partydroge entwickelt, die mehrfach schon von Männern benutzt worden war um Frauen gefügig zu machen. Sie wurde gerne in Getränke gemischt. Die Frauen verloren dadurch ihr Hemmungsgefühl, in vielen Fällen auch ihr Bewusstsein. So hatten Vergewaltiger natürlich leichtes Spiel. Den Opfern blieb am nächsten Tag nur die schreckliche Erkenntnis, dass sie jemanden vollkommen ausgeliefert gewesen war. Sie hatten es überlebt, würden aber nie wieder die selben Menschen sein.
 

Die Droge war sehr gefährlich, da sie leicht zu kriegen, aber schwer zu dosieren war. Es hatte schon viele Opfer gegeben. Ich beobachtete Christopher, als er eine weitere Folie mit Statistiken auflegte. Er war vielleicht Mitte vierzig, hatte dunkelblonde Haare, die ihm lockig vom Kopf abstanden. Er schien sehr sympathisch zu sein und hatte eine warme, tiefe Stimme. Aus meiner Sicht wirkte er jedoch zu freundlich um ins Drogendezernat zu passen.
 

Hannes passte dort deutlich besser rein. Er wirkte ernst und hatte einen grimmigen Blick, wenn er konzentriert war. Er war vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Er konnte vermutlich sich in eine Drogenbande einschleichen, ohne dass es jemanden auffallen würde, dass er ein Polizist ist. Er strahlte etwas Gefährliches aus. Ich fand es faszinierend, aber irgendwie irritierte es mich auch.
 

Sein Blick traf meinen als ich ihn ein wenig zu lange angestarrte. Er hielt meinem Blick stand, als wenn er mich abschätzen wollte. Mich beschlich ein ungutes Gefühl dabei. Ich rang mir ein zaghaftes Lächeln ab, dass ich ihm schenkte, bevor ich mein Blick auf die Unterlagen vor mir richtete.

Ich blätterte das kurze Handout durch. Liquid Ecstasy wurde im wissenschaftlichem Bereich als Gamma-Hydroxybuttersäure oder auch C4H8O3 bezeichnet. Es fand Anwendung in der Medizin, war aber leider in den letzten Jahres vermehrt als Droge aufgetaucht. Ich stutzte bei diesen Begriffen. Wo hatte ich die schon mal gelesen?
 

Als ich gerade die letzte Seite aufblättern wollte, stieß mir Fritz mit seinem Ellenbogen in die Seite.

Ich drehte meinen Kopf zu ihm.

„Was ist?“, fragte ich im Flüsterton, als ich mich etwas näher zu ihm beugte.

„Können wir nachher noch mal über unsere Ermittlungen heute sprechen?“, fragte er mich leise.

Ich zog bei der Frage meine Augenbraue hoch. “Über eure oder die von Karin und mir?”, fragte ich ihn. Er verdrehte die Augen und ich äffte ihn nach.

„Über beide“, sagte er ruhig. Er beugte sich noch etwas weiter zu mir rüber und flüsterte so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Sag mal, bist du sauer?“

Erst erwiderte ich nichts, konnte mir die Frage dann aber einfach nicht verkneifen. „Hätte ich denn einen Grund dazu?“

„Bielefeld“, mahnte er mich.

„Du hast mich verpfiffen“, warf ich ihn vor.

„Hab ich nicht, der Chef...“

`Tsch´ kam es von Alex, der uns böse ansah und nach vorne deutete. Ich konnte sehen, wie die Kieferknochen von Fritz arbeiteten als er noch was sagen wollte, es sich aber verkniff.

„Später“, sagte er und lehnte sich in seinen Sitz zurück. Seine Arme waren vor der Brust verschränkte und er blickte die Kollegen vom Drogendezernat wieder an.

`Später´, dachte ich missmutig, durfte ich vermutlich im Büro vom Chef antanzen und den Vorgang erklären. Schade, dass Karin nicht mehr da war. Sie hätte mir bestimmt beigestanden.
 

Ich sah nach vorne als Hannes gerade etwas über einen letzten Einsatz und eventuelle Zwischenmänner erzählte. Die meisten Informationen fand ich nicht besonders hilfreich für unseren Fall. Ich sah wieder auf die Aufzeichnungen vor mir und blätterte die vorletzte Seite um. Dort waren die Kontaktdaten der beiden Kollegen aufgeschrieben. Mir fielen die Namen ins Augen: Christopher Haas und Johannes Rombach.
 

Ich starrte auf das Blatt als ich den Nachnamen von Hannes erneut las. Rombach. Johannes Rombach. Mein Magen verkrampfte sich, als ich mich erinnerte, woher ich den Namen kannte. Ich hatte diese ganzen Begriffe schon alle einmal gelesen und ich hatte auch schon mal ein Bericht von Hannes in den Händen gehalten. Das war doch gerade erst zwei Wochen her. Warum war mir das nicht schon eher aufgefallen? War meine Denkfähigkeit durch die Medikamente so eingeschränkt?
 

Ich hatte das Gefühl den gleichen Bericht noch einmal zu lesen. Rebecca und Christin, dachte ich. Natürlich. Der Fall von Rebecca ähnelte in so vielen Punkten dem Fall mit dem mich Herr Altenburg beauftragen wollte. Ich sah auf um Hannes zu beobachten. Er war damals ebenfalls bei der Untersuchung des Falls beteiligt gewesen. Ich hatte einige Aussagen von ihm gelesen. Herr Altenburg schien ihm nicht zu vertrauen, sonst hätte er ihn doch fragen können. War es reiner Zufall, dass er auch bei diesem Fall mitwirkte?
 

Rebecca war durch Drogen umgekommen. Natürlich würden da die Kollegen vom Drogendezernat verständigt werden. Aber Herr Altenburg hatte von Korruption gesprochen. Konnte das sein? Ich musste unweigerlich an heute Nachmittag denken. Die große Gestalt in der Lagerhallt hätte vom Körperbau durchaus Hannes sein können. Er war ebenfalls groß und breitschultrig gebaut. Aber das waren viele Männer. Es konnte auch genauso gut jemand anderes gewesen sein.
 

Warum sollte sich ein Polizist selber die Hände dreckig machen? Nur wenn er sicherstellen wollte, dass kein weiterer Fehler passierte. Wir hatten Rebecca früh gefunden. Vermutlich früher als der Mörder es sich gedacht hatte. Der Person war also ein Fehler unterlaufen und jeder weiterer Fehler könnte uns zu ihm führen.
 

Als ich ihn weiter beäugte, wusste ich nicht, was ich von der Sache halten sollte. Normaler Weise würde ich einfach an Ort und Stelle ein Verhör beginnen, wenn ich etwas vermutete. Aber das war hier eine ganz andere Situation. Wir hatten keinerlei Beweise, keinen dringenden Tatverdacht. Außerdem war er ein Polizist. Ich musste dringend mit Herrn Altenburg sprechen. Der Fall von Rebecca hatte vielleicht keine Geheimhaltung, aber wenn er wirklich mit dem Fall von Christin zusammenhing, dann musste ich aufpassen mit den Informationen. Auch meinen Kollegen gegenüber.
 

***
 

„Und Sie habe ohne Verstärkung jemanden verfolgt?“, fragte mich mein Chef.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, habe ich nicht. Wie schon gesagt, wir wollten nur das Mädchen befragen und dabei ist es zu dieser Situation gekommen. Ich habe die Person aber nicht verfolgt. Nachdem klar war, dass ich Karin mit dem Mädchen hätte allein lassen müssen, bin ich dort geblieben. Ich gefährde doch nicht wissentlich eine Kollegin. Vor allem lass ich niemanden alleine, der nicht regelmäßig im Außendienst arbeitet. Außerdem brauchte die junge Frau Hilfe.“
 

Mein Chef sah mich nachdenklich an, als es sich in seinem Stuhl etwas zurücklehnte. Ich wurde direkt nach dem Treffen mit den Kollegen vom Drogendezernat ins Büro vom Chef gebeten und musste ihm die Einsatzgeschehnisse darlegen.

„Und Sie konnten ihn nicht erkennen?“, fragte er.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, leider nicht. Die Lichtverhältnisse waren dort einfach zu schlecht. Ich konnte nur Umrisse erkennen.“

Eine Weile sagte er nichts, dann nickte er nur. “In Ordnung. Sie dürfen gehen.” Ich stand auf und ging zur Tür.
 

„Josephine?“, sagte er und ich drehte mich noch einmal zu ihm.

„Ja, Chef?“

„Vermeiden Sie doch nach Möglichkeit ständig in solche Situationen zu geraten.“

Ich zuckte mit den Schultern als ich ihn möglichst unschuldig ansah. „Ich suche ja nicht gezielt danach. Ich scheine einfach das Talent zu haben Verbrechen anzuziehen.“

„Ich glaube, dass es Ihren Kollegen gut tun würde, wenn dieses `Talent´ nur zu tagen kommt, wenn sie bei Ihnen sind. Meinen Nerven würde es im Übrigen auch gut tun.“

„Verstanden“, sagte ich. Das war ne klare Ansage. Es war wohl mein letzter, gemeinsamer Außendiensteinsatz mit Karin. Zumindest solange Sie kein Schieß- und Kampftraining besuchte. Mehr brauchte er gar nicht zu sagen. Wir nickten uns noch einmal zu und ich verließ dann schließlich sein Büro.
 

Mit schnellem Schritt ging ich über den Flur in mein Büro. Ich musste unbedingt noch Waldi erwischen. Er stand schon in Jacke da und wollte gerade gehen als ich das Büro betrat.

„Waldi“, sagte ich. „Gut, dass du noch da bist!“

Er sah mich fragend an. „Was ist denn los?“

„Haben wir momentan eigentlich Praktikanten?“

„Praktikanten?“, fragte er verwirrt.

„Ja, Prak-ti-kan-ten.“

Er überlegte kurz. „Ich glaube schon, warum?“

„Denkst du, dass wir jemanden für zwei, drei Tage anfordern könnten?“

Er zog den Reisverschluss der Jacke. „Wenn du willst, frage ich morgen früh gleich mal im Personalbüro nach.“

„Das wäre super“, sagte ich dankbar.

„Aber wozu brauchst du denn einen Prak-ti-kan-ten?“

Ich verdrehte meine Augen, als er meine Art `Praktikanten´ zu sagen, nachahmte. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich mir Mordfälle ansehen wollte in denen Hannes mitgewirkt hatte. Und ich wusste auch noch nicht wie ich den Praktikanten erklären würde, was ich suchte. Aber Waldi konnte ich nicht fragen. Er würde vermutlich ein Muster erkennen und Fragen stellen. Und alleine konnte ich den Haufen von Akten nicht bewältigen.
 

Ich zuckte also nur mit den Schultern. „Da wir mit dem Fall nicht weiterkommen, wollte ich mir gerne alte Akten ansehen. Vielleicht finde ich Hinweise die uns weiterhelfen können.“

„Du willst Archivarbeit betreiben?“ Er sah mich skeptisch an, stimmte aber zu. „Ist eine ungewohnte Methode von dir.“

„Ungewohnte Fälle erfordern ungewohnte Maßnahmen, weiß du doch“, antwortete ich.

„Mir soll es egal sein. Ich frage morgen dann gleich nach. Ist sonst noch was?“

Ich schüttelte meinen Kopf. “Nee, danke. Das war´s erst mal. Mach Feierabend!“

„Dann bis morgen, Josy. Schönen Abend noch.“

„Danke, dir auch.“
 

Als ich alleine im Büro war, ging ich auf und ab und versuchte die Informationen zu verarbeiten, die ich bisher gesammelt hatte. Ich konnte einfach besser denken, wenn ich mich bewegte. Ich hatte also zwei Fälle mit jungen Frauen, denen man Liquid Ecstasy eingeflößt hatte. Nur der Unterschied war, dass Rebecca an einer Überdosis gestorben war, Christin jedoch nicht. Christin wurde mit ihrer eigenen Dienstwaffe erschossen. Man hatte aber das Rauschmittel im Körper noch nachweisen können. Beide Frauen waren Opfer eines sexuellen, gewaltvollen Übergriffs geworden. Und bei beiden hatte man keinerlei Spuren finden können, die zum Täter führten. UND! In beiden Fällen war Johannes Rombach an den Ermittlungen beteiligt gewesen.
 

Aber reichte das wirklich, dass ich annehmen konnte, dass die beiden Fälle zusammenhingen, dass Hannes was damit zu tun hatte? Ich musste einfach mehr Sicherheit haben. Vielleicht gab es noch einen ungelösten Fall, der dem Profil entsprach. Aber vielleicht gab es auch einen gelösten Fall, wo die falsche Person dafür hinter Gittern gelandet war. Es war zum Haare raufen, wenn ich darüber nachdachte.
 

Am liebsten hätte ich sofort mit der Recherche begonnen. Aber ich würde heute keinen Zugriff mehr auf die zentralen Akten erhalten. Es war ja nicht so, dass ich einfach in den Keller spazieren konnte und dort alle Akten mir frei zur Verfügung standen. Ich musste also auch überlegen, wie ich meinen Kollegen am Besten erklärte, dass ich mich die nächsten Tage aus dem Außendienst raushalten würde. Ob sie mir das überhaupt glauben würden? Ich würde wohl so tun müssen als ob ich mich noch etwas schwach fühlte und mich schonen wollte. Fritz würde es vermutlich freuen.
 

Das Seltsamste an der ganzen Sache war aber, dass ich die Informationen mit meinen Kollegen teilen wollte. Ich war noch nie ein besonders guter Teamplayer gewesen. Alleine zu arbeiten war für mich also nie ein Problem. Aber es fiel mir schwer die beiden in diesem Fall außen vor zu lassen. Sie waren für mich Vertrauenspersonen geworden. Ich wollte weder lügen, noch ihnen was verschweigen. Aber ich musste. Zumindest solange, bis ich mit Herrn Altenburg über den Fall gesprochen hatte.

„Christopher?“, fragte ich erstaunt als er den Kopf in mein Büro steckte.

„Josephine“, begrüßte er mich freundlich mit diesem Lächeln, das ihn so sympathisch machte.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn erstaunt.

„Haben dir deine Kollegen nichts gesagt?“ Nein, musste ich feststellen. Meine Kollegen hatten mir nicht gesagt, dass er heute vorbeikommen würde.
 

Ich hatte drei Tage mit einem Praktikanten das Archiv durchwühlt und anschließend hatte ich mich in diesen Akten vergraben. Ich wusste also nicht an was Fritz und Alex gerade arbeiteten. Ich hatte bewusst etwas Abstand gesucht und wollte eine Situation vermeiden, in der ich bezüglich der Akten in Erklärungsnot geriet.
 

„Ich habe die letzten Tage in eine andere Richtung ermittelt“, sagte ich ihm ohne Detail zu verraten.

Ich war die ungelösten und gelösten Akten der letzten Zehn Jahre durchgegangen. Solange arbeitete Johannes Rombach nämlich schon für das Drogendezernat in Berlin. Er war Anfang vierzig, wie ich bei meiner weiteren Recherche herausgefunden hatte. Also war er etwas älter, als ich gedacht hatte. Ebenfalls war mir aufgefallen, dass er eine tadellose Akte besaß. Er war bereits in Gesprächen für einen höheren Posten und dieser Umstand irritierte mich.
 

Warum sollte jemand wie er kriminell oder korrupt sein? Das machte keinen Sinn. Er verdiente genug Geld und bald hatte er eine noch höhere Position. In den ganzen Akten war mir nur ein Fall mit Ähnlichkeiten zum Mord von Rebecca und Christin aufgefallen. Und auch hier war wieder Hannes beteiligt. Es widersprach allen anderen Informationen, die ich zusammengetragen hatte, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich am Ball bleiben sollte.
 

Lisa war auch noch nicht aufgewacht, da die Ärzte sie noch immer in einem künstlichen Koma hielten. Sie meinten zwar, dass sich ihr Zustand täglich verbesserte, es aber noch einige Tage dauern würde, bis das Sedativum abgesetzt werden konnte. Die Ärzte machten mir wenig Hoffnung, dass Lisa in den nächsten zwei, drei Wochen in der Verfassung wäre befragt zu werden. Für den Fall war es natürlich nicht gut. Aber Hauptsache war doch, dass das Mädchen überlebt hatte.
 

Der ältere Mann war von mir verständigt worden und besuchte sie fast täglich. Ich war ihm so dankbar, dass er uns den Weg zur Lagerhalle gezeigt hatte. Ihm alleine war es zu verdanken, dass sie noch lebte. Ich traf ihn oft im Krankenhaus, wenn ich mich über den Zustand von Lisa informierte. Natürlich durfte er nicht ohne die Aufsicht eines Polizisten Lisa besuchen. Wir wussten immer noch nicht, wer versucht hatte sie zu töten. Und vermutlich würden wir es ohne ihre Hilfe auch nicht rausfinden.

Ich hoffte wirklich, dass Herr Altenburg bald wieder hier wäre. Ich musste mit jemanden darüber reden. Ich hatte mich selber oft erwischt, wie ich Fritz ansah und mir die Worte schon auf der Zunge lagen. Warum fühlte ich mich bei diesem Fall so alleine? Warum wollte ich Fritz unbedingt einweihen?
 

„Hast du Hannes gar nicht mitgebracht?“, fragte ich Christopher.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, der hat heute noch andere Termine.“

„Andere Termine?“, fragte ich und sah auf die Uhr. „Um diese Uhrzeit?“ Es war immerhin schon 19 Uhr und ich wunderte mich, warum Christopher noch so spät hier war.

„Im Drogendezernat sind die Arbeitszeiten ein wenig anders als bei euch“, begann er und grinste mich dabei an. „Wir sind am Abend aktiv, wenn die Deals ablaufen. Bei der Mordkommission seid ihr vermutlich immer früh am Werk, da die meisten Leichen am frühen Morgen gefunden werden.“ Ich musste ihm zustimmen und gleichzeitig grinsen. Er und seine Statistiken. Ich fragte mich wirklich, ob er vorher Analytiker oder Polizist an seinem alten Einsatzort gewesen war. Wie lange hatte er gesagt, arbeitete er schon hier in Berlin? Ein halbes Jahr? Wie gut mochte er wohl seinen Partner schon kennen? Vielleicht wäre es hilfreich mit ihm über Hannes zu reden.
 

„Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich ihn und versuchte das Gespräch ein wenig privater werden zu lassen.

„Hannover“, antwortete er und sah dabei etwas gequält aus. Ich kannte diesen Blick. Ich hatte vermutlich die Leute genauso angesehen, wenn sie mich auf Bielefeld ansprachen. Es waren also nicht nur dienstliche Gründe, die ihn nach Berlin gebracht hatten.

„Private Gründe die dich hier her gebracht haben?“, fragte ich.

„Kann man wohl sagen“, entgegnete er knapp. Anscheinend gehörte er nicht zur gesprächigen Sorte. Ich lehnte mich an meinen Tisch. „Ich bin damals hierher gekommen als ich mich von meinem Ex-Verlobten getrennt habe. Ich brauchte einfach ne Änderung: Neue Umgebung, neue Leute, neue Aufgaben.“ Es war nicht meine Art einfach so darüber zu reden, aber ich musste sein Vertrauen gewinnen.
 

Er sah mich erstaunt an, dann lächelte er zögernd. „Ich brauchte auch was Neues und der Job hier wurde gerade ausgeschrieben. Also habe ich mich darauf beworben.“ Gemeinsamkeiten waren immer gut für einen erfolgreichen Gesprächsverlauf.

„Und wie ist es so für dich, hier im großen Berlin zu arbeiten? Sehr anders?“

Jetzt lachte er. „Ja! Definitiv anders. Hier ist viel mehr los.“

„Du gewöhnst dich schon daran“, sagte ich und grinste ihn schief an. Ich wollte ihn gerade danach fragen, wie es war mit Hannes zusammenzuarbeiten als die Tür vom Büro aufging und Fritz in der Tür stand. Er sah uns einen Augenblick fragend an, ging dann aber auf Christopher zu und begrüßte ihn.

„Wir haben schon auf dich gewartet“, sagte Fritz.

Christopher fuhr sich durch seine lockigen Haare und seine Hand verweilte an seinem Genick als er Fritz entschuldigend ansah. „Tut mir leid, ich habe mich wohl mit eurer Kollegin verquatscht. Da hab ich vergessen zu fragen, wo ihr seid.“
 

Die beiden verschwanden im Büro von Fritz. Er fragte nicht mal, ob ich dabei sein wollte, was mich ärgerte. Ich hätte noch einige Fragen an Christopher gehabt. Gehörte ich nicht genauso zum Team? Ich hatte zwar die letzten Tage separat gearbeitet, aber das hieß doch nicht, dass ich nicht mehr mit der Fallklärung beschäftigt war. Außerdem wäre es für mich eine gute Gelegenheit gewesen Christopfer einige Fragen zu Hannes zu stellen. Aber leider hatte Fritz uns unterbrochen. Vielleicht konnte ich ihn mir nach dem Termin nochmal greifen.
 

***
 

„Warum kommst du nicht einfach mit?“, fragte ich Christopher. Ich hatte ihn zusammen mit Fritz und Alex auf dem Flur abgepasst. Heute war Mittwoch und ich hatte kurzfristig beschlossen doch mit zu Addie zu gehen. Eigentlich hatte ich das heute nicht geplant, aber ich konnte nicht die Chance vertun das Gespräch mit Christopher fortzuführen. Er sah mich etwas irritiert an.

„Habt ihr keine Stammkneipe, wo ihr regelmäßig hingeht?“, fragte ich ihn. Mich würde das wundern. JEDER Mann hatte eine Stammkneipe.
 

„Doch haben wir“, sagte er nach kurzem Zögern.

„Na siehst du“, gab ich zurück. „Dann nehmen wir dich heute mit zu unserer.“ Ich sah zu den Jungs. „Das ist doch ok, oder?“

„Klar, warum nicht“, stimmte Alex zu und klopfte Christopher auf die Schultern während er ihn anlächelte.

„Oder hast du schon was anderes vor?“

„Nein, heute liegt eigentlich nichts mehr an“, sagte er und blickte mich an.

„Hervorragend“, sagte ich und zog meine Jacke zu. „Dann können wir ja endlich los.“

Als Christopher und Alex vorneweg gingen, passte sich Fritz meinem Tempo an.

„Hattest du heute Morgen nicht noch gesagt, dass du nicht mit zu Addie kommst?“, fragte er mich leise.

„Darf ich nicht meine Meinung ändern?“, gab ich zurück und sah ihn an. Ihm passte schon wieder irgendwas nicht, dass konnte ich sehen. Heute Abend war Fußball. Vielleicht wollte er einfach mit Alex einen ruhigen Abend haben und das Spiel sehen.
 

Mir konnte das egal sein. Ich hatte sowieso nicht vor viel Zeit mit den beiden zu verbringen. Ich musste es schaffen mit Christopher zu reden, ohne dass meine Kollegen sofort misstrauisch wurden. Und genau das würde passieren, wenn ich ihm so viele und vielleicht auch offensichtliche Fragen über seinen Partner stellte. Das musste ich vermeiden. Vielleicht sollte ich ihn zum Dart oder Billard spielen einladen. Da wären wir ungestört.
 

Wir gingen gerade auf den Ausgang zu als von draußen jemand das Gebäude betrat. Fritz murmelte irgendwas, aber das verstand ich nicht. Ich blieb erstaunt stehen, als ich sah, wer dort im Gang stand.

„Herr Altenburg!“, rief ich aus und merkte dabei selber wie erleichtert meine Stimme klang. Ich hatte ihn die ganze Woche nicht angerufen, weil ich das Gefühl hatte, noch nicht genügend recherchiert zu haben. Er hatte gesagt, dass er sich melden würde, wenn er wieder hier sei. Was macht er also hier ohne mich vorher anzurufen? Ich hätte auch schon längst im Feierabend sein können.
 

„Frau Klick“, sagte er in einem ruhigen, freundlichen Ton und kam auf mich zu während er mich anlächelte. Aber es war nicht echt, dachte ich. Es war sein Dienstlächeln. Er wirkte angespannt, als er näher kam. Er begrüßte höflich Alex und stellte sich Christopher vor. In diesem Moment war ich froh, dass Hannes heute nicht aufs Revier gekommen war. Kannten sich die beiden? Würde er was ahnen, wenn er wirklich in die Sache verwickelt war und er mich mit Herrn Altenburg sah?
 

„Ich sehe, dass sie gerade in den Feierabend starten wollen”, sagte er und stellte sich vor Fritz und mich. Die beiden begrüßten sich knapp und ich konnte sehen, dass Fritz sich augenblicklich wieder anspannte. Ich fragte mich wirklich, was bei dieser Befragung zwischen Herr Altenburg und Fritz vorgefallen war, dass Fritz jedes Mal seinen Kamm aufstellte, wenn Herr Altenburg sein Territorium betrat.

„Wir wollten gerade noch in unsere Stammkneipe gehen“, sagte ich zu Herrn Altenburg als ich meine Tonlage wieder etwas unter Kontrolle hatte. „Aber ich nehmen an, dass Sie mit mir reden wollen?“

„Wenn es gerade passt, wäre ich Ihnen für Ihre Zeit sehr dankbar.” Er sah mich vielsagend an, wirkte plötzlich viel ernster. Mir war natürlich klar um welches Thema es sich handelte und ich wollte auch unbedingt mit ihm reden. Aber gerade jetzt, wo Christopher da war und ich einige Fragen an ihn loswerden konnte, passte es mir weniger. Ich sah kurz Christopher an und traf dann meine Entscheidung.
 

„Ihr könnt ja schon vorgehen. Ich komm spätestens in einer halben Stunde nach“, sagte ich und schaute in die Runde. Alex stimmte zu, auch wenn er mich skeptisch anblickte. Christopher sah etwas enttäuscht aus und Fritz sah ich lieber gar nicht erst an. Ich konnte mir seinen grimmigen Gesichtsausdruck auch so gut vorstellen.

„Dann lassen Sie uns doch ins Büro gehen“, sagte ich und führte Herr Altenburg zu meinem Arbeitsplatz.

Auf dem Weg dorthin sprachen wir kein Wort miteinander und ich fragte mich, was in seinem Kopf vor sich ging. Warum war er so angespannt?

Ich schloss die Bürotür wieder auf und knipste das Licht an als wir den Raum betraten. „Warum haben Sie mich nicht angerufen?“, fragte ich ihn, stellte meine Tasche auf den Stuhl und lehnte mich an meinen Tisch.
 

„Ich wollte es Ihnen nicht so einfach machen“, sagte er und steckte die Hände in die Hosentaschen als er nachdenklich zu Boden sah.

„Einfach machen?”, fragte ich verwirrt. “Was meinen Sie damit?”

„Ich wollte nicht, dass Sie mir eine Absage einfach übers Telefon erteilen. Ich habe die Hoffnung, dass es Ihnen schwerer fällt, wenn Sie mir zumindest gegenüberstehen und Sie wissen, welche Gründe es gibt, warum ich Sie für diesen Fall brauche.“

Seine Stimme klang ein wenig kehlig und ich sah wie seine Kieferknochen arbeiteten. War er deswegen so angespannt? War er sich so sicher, dass ich den Fall ablehnen würde? Ich musste an unsere letzte Begegnung denken. Er hatte Probleme mich davon zu überzeugen, mir den Fall überhaupt noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Aber er wusste nicht, was in den letzten Wochen passiert war.
 

Wenn ich den Fall annehmen würde, konnten wir vielleicht zwei Morde auf einmal lösen und beide Akten konnten geschlossen werden. Und ich müsste mir in diesem Fall keine Sorgen machen, dass der Fall von Fritz erneut Gesprächsthema werden könnte. Dazu musste aber geklärt werden, ob der Fall von Christin mit dem Fall von Rebecca überhaupt zusammenhingen. Sonst würden wir in die Irre geführt werden. Mittlerweile war ich mir aber sicher, dass das der Fall war. Mein Bauchgefühl hatte sich beruflich eher selten getäuscht.
 

Herr Altenburg hatte nichts weiter gesagt, mich aber nachdenklich angesehen.

„Sie glauben also, dass ich ablehne?“, fragte ich ihn nach einer Weile.

„Ja, das befürchte ich in der Tat.“

„Es gab einige Ereignisse in den letzten Wochen über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte und die den Fall betreffen könnten.“

Er wurde hellhörig. „Haben diese Ereignisse Ihre Meinung geändert?“, fragte er beinahe zögerlich.

Ich sah ihn an und nickte dann langsam. „Ja“, sagte ich.

„Ja?“, wiederholte er meine Worte, als wenn er ganz sicher sein wollte. Er kam einige Schritte auf mich zu. „Heißt das, dass Sie den Fall annehmen?“ Er klang atemlos als er mich erwartungsvoll ansah.
 

Als ich seine Fragen bejahte, sah ich die Erleichterung in seinen Augen und langsam zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er auf mich zugehen und mich umarmen würde. Ich war etwas erschrocken, als er mich an sich zog. Das entsprach so gar nicht meinem Bild von ihm.

Er hatte seinen Kopf dicht neben meinem Ohr, als er ein `Danke´, flüsterte.

„Nur weil ich annehme, ist der Fall noch lange nicht gelöst, Herr Altenburg“, murmelte ich und klopfte ihm auf seinen Rücken. Mit dieser emotionalen Reaktion von ihm hatte ich wirklich nicht gerechnet.

„Natürlich. Aber Sie glauben nicht wie mich Ihre Entscheidung erleichtert“, sagte er flüsternd und ließ mich noch immer nicht los.

„Ich merke es“, sagte ich etwas erstickt, als seine Umarmung noch fester geworden war. Augenblicklich ließ er von mir ab und sah mich entschuldigend an.
 

„Tut mir leid“, sagte er.

„Schon ok“, erwiderte ich und richtete meine Kleidung. Er nahm ebenfalls wieder Haltung an, als er sich von seinem emotionalen Ausbruch erholte.

„Wir sind jetzt also Partner?“, fragte mich Herr Altenburg und grinste.

„Ich frage Sie jetzt aber nicht, ob Sie noch mit in die Bar kommen wollen. Mein Kollege kann Sie leider weniger leiden“, gab ich zurück.

„Ich verstehe“, erwiderte er und sein Grinsen wurde breiter.

„Außerdem ist nichts sicher, solange der Chef nicht zugestimmt hat“, gab ich zu bedenken.

Er wurde wieder ernster. „Ich kann gleich morgen früh bei ihm vorsprechen.“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Vielleicht sollten Sie erst mal mich mit meinem Chef reden lassen. Er fordert Sie dann an. Das wäre aus meiner Sicht vorteilhafter für uns.“ Herr Altenburg stimmte der Idee zu.
 

„Was ist passiert, das Ihre Meinung geändert hat?”, wollte er wissen.

„Wir haben einen neuen Fall“, begann ich. „Eine junge Frau wurde tot in einem Kanal entdeckt. Sie ist aber nicht ertrunken. Das Opfer ist an einer Überdosis gestorben.“

„Es war kein Selbstmord?“, fragte er mich.

„Nein, dass können wir ausschließen. Ihr wurde Liquid Ecstasy verabreicht.“

Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Als er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah, war ich mir sicher, dass er verstand, wo meine Ausführungen uns hinbringen würden. „Wer vom Drogendezernat wurden Ihnen zur Verfügung gestellt?“

„Herr Christopher Haas“, begann ich. „Den Kollegen haben Sie ja heute schon kennengelernt und sein Partner Johannes Rombach.“
 

Bei dem Namen verhärteten sich sofort seine Gesichtszüge und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er vertraute ihm nicht, wie ich es geahnt hatte. Wusste er schon etwas über Hannes, was mir nicht bekannt war?

„Seine Akte ist sauber“, begann ich, wurde aber von Herrn Altenburg unterbrochen.

„Natürlich ist seine Akte sauber.“

„Habe Sie gegen ihn schon einmal ermittelt?“ Er verneinte die Frage. Ich konnte die Frustration in seinen Augen sehen.

„Das ist unmöglich“, begann er. „Er hat sich nie was zu schulden kommen lassen, was man ihm hätte nachweisen können.“

„Aber Sie glauben, dass er was damit zu tun haben könnte?”

„Was glauben Sie, Frau Klick?“, stellte er mir die passende Gegenfrage. Ich senkte bei dieser Frage meinen Blick.

„Ich glaube, dass man ihm nicht vertrauen sollte.“

Ich sah Herrn Altenburg an, als er den Blick ernst erwiderte.

„Dito“
 

***
 

Herr Altenburg hatte von mir eine Kurzfassung des Falls bekommen. Wir wollten morgen noch einmal miteinander reden sobald ich das Thema beim Chef anbringen konnte. Anschließend war er so freundlich gewesen und fuhr mich zu Addie.

Als ich in die Kneipe kam, saßen jedoch nur Alex und Christopher an der Bar und verfolgten das Fußballspiel.

„Hey Jungs“, sagte ich und setzte mich neben die beiden.

„Wo ist Fritz?“, fragte ich nachdem ich ihn nirgendwo sehen konnte.

„Hast du ihn nicht getroffen?“, fragte mich Alex verwundert.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Warum hätte ich ihn treffen sollen?“

„Er ist noch mal zurückgegangen, wollte seine Schlüssel holen.“

Fritz war noch einmal zurückgegangen? Wann? Hatte er etwa das Gespräch zwischen Herrn Altenburg und mir mitbekommen? Ich hatte niemanden auf dem Flur bemerkt, aber wir hatten die Tür auch nur angelehnt. Mir wurde mulmig bei diesem Gedanken. Ich hoffte nicht, dass Fritz was mitbekommen hatte, sonst würde ich in Erklärungsnot geraten.
 

Ich bestellte mir ein Bier und versuchte mich abzulenken. Also konzentrierte ich mich auf Christopher. Glücklicher Weise war er nicht der große Fußballfan und ich konnte ihn überreden mit mir später ein wenig Billard zu spielen. Er wirkte sogar erleichtert, dass wir nicht ausschließlich zum Trinken und Fußballgucken in der Bar waren.
 

Das Spiel im Fernsehen lief schon eine gute halbe Stunde als Fritz die Bar betrat. Ich nutzte die Gelegenheit um mit Christopher zum Billardtisch zu wechseln. Vor allem, nachdem mich Fritz grimmig angesehen hatte. Vielleicht war es nur Einbildung oder Paranoia, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich mit diesem `Ich weiß alles´-Blick ansah. Da ich an dieser Tatsache jetzt nichts ändern konnte, musste ich meinen Fokus auf das Gespräch mit Christopher legen.
 

Wir spielten jetzt schon eine Weile am Billardtisch, aber ich hatte bisher kaum Informationen sammeln können. Es war schwer was aus Christopher rauszukriegen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich nicht voll bei der Sache war. Fritz sah immer wieder in unsere Richtung und ich hatte das Gefühl, dass seine Blicke regelrecht auf meiner Haut brannten.

Langsam machte ich mir wirklich Sorgen, was er mitbekommen hatte. Sollte ich doch noch heute mit ihm reden? Aber vielleicht wäre er dazu auch gar nicht mehr in der Lage. Neben ihm stand nicht nur ein Bierglas, sondern auch eine halbleere Flasche Tequila. Trank er das Zeug etwa alleine?

Ich versuchte mich wieder auf das Spiel und meinen Billardpartner zu konzentrieren. Ich hatte schon vier Durchgänge verloren. Christopher war unglaublich gut im Billard oder ich war heute einfach nicht in der Lage die Kugeln richtig anzuspielen.
 

„Du spielst das aber nicht zum ersten Mal, oder?“, fragte ich Christopher als er die dritte Kugel in Folge versenkte.

Er schüttelte den Kopf als er mich entschuldigend ansah. „Nee, ich bin in Hannover in einem Verein gewesen. Wir haben uns einmal in der Woche zum Billard spielen getroffen.“

„Also ist Billard dein Hobby? Hast du hier auch einen Verein?“

„Ich habe noch nichts passendes gefunden“, sagte er etwas bedrückt.

„Aber Hannes spielt doch bestimmt mit dir ab und zu Billard, oder?“, fragte ich nach und versuchte erneut etwas über Hannes zu erfahren.

„Hannes ist nicht der Typ, der nach dem Feierabend mit Kollegen was macht“, sagte er.

„Nie?“, hakte ich nach.

„Seit ich hier angefangen habe, sind wir nur zu meinem Einstand einmal alle zusammen in ne Bar gegangen. Er trennt sein Privatleben sonst sehr von der Arbeit. Ich weiß daher kaum was über ihn.“

„Ist bestimmt nicht leicht. Gerade wenn man als Partner so eng zusammenarbeiten muss“, sagte ich mitfühlend und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern, während ich ihn anlächelte.
 

„Er hat einen eigenen Kopf, arbeitet aber sehr korrekt“, sagte Christopher. Dann wirkte er nachdenklich. „Aber es ist nicht so wie bei euch.“

„Bei uns?“, fragte ich verwirrt.

Christopher nickte. „Eure Zusammenarbeit wirkt so natürlich. Fritz und Alex sehen sich an und tauschen Gedanken aus ohne ein Wort zu wechseln. Das finde ich schon bemerkenswert.“

Ich musste lachen. Mir war das damals auch aufgefallen. Die beiden waren wie Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden und sich im Berufsleben wieder gefunden hatten.

„Ja“, stimmte ich zu. „Die beiden sind ein eingespieltes Team. Da bleibt man immer irgendwie ein bisschen außen vor.“

„Findest du?“, fragte er skeptisch. „Ich hab das Gefühl, dass die beiden viel Wert auf deine Meinung legen. Bei unserem ersten Termin hat Fritz darum gebeten, dass wir später anfangen, weil du dich verspäten würdest. Außerdem behält er dich immer im Blick und studiert deine Mimik. Ist dir das etwa noch nie aufgefallen?“
 

Ich stutze bei seiner Bemerkung. Hatte Fritz das getan? Unweigerlich spürte ich, wie sich mein Gesicht ein wenig erhitzte und ich sah etwas unsicher zu Boden.

„Bevor ich hier angefangen habe, war ich in Hannover Profiler. Ich analysiere Menschen und Situationen. Und aus meiner Sicht hast du mit Fritz auch eine sehr spezielle Partnerschaft.“ Es gefiel mir nicht, wie er das Wort speziell betonte.

„Ich glaube, dass du den falschen Eindruck von Fritz und mir gewonnen hast. Wir sind Kollegen. Da ist nichts anderes zwischen uns.“

Christopher sah mich skeptisch an. Wie waren wir auf so ein Thema gekommen? Bevor ich noch was sagen konnte, stellte sich Alex neben uns und klopfte auf den Billardtisch.
 

„Ich werde los“, sagte er.

Ich drehte mich überrascht zu Alex. „Schon?“, fragte ich ihn. War das Fussballspiel etwa zu Ende?

„Was heißt hier `schon´, Josephine? Es ist gleich Mitternacht!“

„Mitternacht?“ Ich sah auf meine Uhr. Er hatte Recht. Es war kurz vor Mitternacht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit vergangen war.

Mein Blick ging an Alex vorbei zur Bar und ich sah wie Fritz bei Addie gerade noch ein Bier bestellte. Wie viel hatte er getrunken? Er sah ein wenig mitgenommen aus, müde und seine Haare waren zerzaust.

„Nimmst du Fritz gar nicht mit?“

Alex zuckte nur die Schultern, als er eine Augenbraue hochzog. „Der wollte noch hier bleiben.“ Warum sollte Fritz alleine noch hier bleiben wollen?

„Also dann“, sagte Alex. „Ich wünsch euch noch einen schönen Abend.“

„Danke, dir auch“, sagte Christopher.

Alex verließ die Bar und ich sah ihm noch eine Weile hinterher.
 

„Alles klar?“, fragte mich Christopher.

Ich drehte mich zu ihm um. „Ja, sorry. Habe nur nicht mitbekommen, wie spät es schon ist.“

„Wir können die Runde ja noch zu Ende spielen und machen dann Schluss für heute.“

„Klingt nach einem guten Plan“, stimmte ich zu.

Christopher lehnte sich zurück und deutete auf den Billardtisch. Ich war an der Reihe. Dieses Spiel war für mich bisher besser gelaufen und ich hatte gute Chancen zu gewinnen, wenn ich die nächste Kugel versenkte. Sie lag etwas kompliziert, aber ich traf sie an der richtigen Stelle und sie schnellte ins Loch. Ich musste grinsen, als ich Christopher ansah. „Sieht schlecht für dich aus“, scherzte ich.
 

Christopher nahm es gelassen. Er lehnte sich noch immer entspannt gegen die Wand während er mich beobachtete. „Mein Ego ist nicht so ausgeprägt wie das der Kollegen. Ich werde das wohl verkraften. Viel spannender finde ich dich dabei zu beobachten“, sagte er und zwinkerte mir zu.

Mich irritierte das ein wenig. Mich zu beobachten? Sagte er das nur so, damit ich mich nicht auf den nächsten Stoß konzentrieren konnte? Um ihn zu beweisen, dass mich das nicht aus der Ruhe brachte versenkte ich auch die restlichen Kugeln und hatte damit das Spiel für mich entschieden.
 

Ich ging auf ihn zu und klopfte ihn auf die Schultern. „Du bist ein guter Verlieren“, sagte ich. Er hob sein Bierglas zum Anstoßen. Ich nahm ein Schluck aus meinem Glas und stellte es dann wieder auf den Tisch.

„Du warst also Profiler?“, fragte ich ihn. Es bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen. Anscheinend hatte er seinen Job in Hannover wirklich gern gemacht.

„Ja. Ich hatte vorher weniger mit dem Drogendezernat zu tun“, gab er zu.

„Das hatte ich mir schon gedacht. Aber ich glaubte eher, dass du aus dem Innendienst kommst und den ganzen Tag nur Statistiken in Powerpoint Präsentationen gepackt hast.“

Bei meiner Bemerkung musste er lachen. „Ich scheine dich ja nicht beeindruckt zu haben mit meinen Statistiken bei unserem Termin.“

„Du musst doch zugeben, dass dieser Teil recht einschläfernd war“, entgegnete ich entschuldigend.

„Aber du glaubst nicht wie hilfreich solche Analysen sind, wenn man Menschen beobachten und einschätzen will.“

Ich sah ihn verwirrt an. Schon wieder fing er damit an. Ich hatte das Gefühl, dass er mich heute im Laufe des Abends analysiert hatte. Was hatte er rausgefunden? Ich kam nicht dazu ihn zu Fragen, da sich jemand neben mich stellte. Als ich mich umdrehte erkannte ich Fritz.
 

„Fritz?“, fragte ich überrascht, als er ohne was zu sagen ein Euro-Stück auf den Billardtisch legte. Ich sah ihn verwirrt an.

„Was soll das?“, fragte ich ihn.

„Ich will mich anmelden“, entgegnete er mir.

„Anmelden?“

„Macht man das nicht so bei euch in Bielefeld?“, fragte er mich und klang dabei ein wenig spöttisch. Was war denn mit ihm los?

„Du kommst aus Bielefeld?“, fragte mich Christopher. Bevor ich antworten konnte, mischte sich Fritz ein.

„Ja“, sagte er an Christopher gewandt und klang bissig. „Sie wollte mal die Großstadt schnuppern.“ Dann wandte er sich wieder an mich. “Was ist nun oder wollt ihr den ganzen Abend hier den Billardtisch blockieren?”

Wusste er nicht wie spät es war? Wie tief hatte er ins Glas gesehen? Zumindest wirkte er nicht allzu betrunken. Aber irgendwas stimmte nicht. “Willst du hier alleine spielen?”, fragte ich ihn.

Fritz sah mich bitterböse an, als sich seine Stirn in Falten legte und ich seine Kieferknochen arbeiten sah. Er musste mich missverstanden haben. Christopher und ich wollten los, also wäre hier niemand mehr mit dem er spielen konnte, da Alex auch schon auf dem Weg nach Hause war. Ich bekam aber keine Chance das richtig zu stellen. Er sah mich einen Moment mit verengten Augen an, dann wandte er sich von mir ab.
 

“Vergiss es”, sagte er und entfernte sich von uns. Was war denn los? Er ging zur Bar und rief Addie irgendwas zu, griff sich seine Jacke und verschwand.

“Speziell”, sagte Christopher hinter mir. Ich drehte mich zu ihm. Er deutete zum Ausgang. „Vielleicht solltest du hinterher.“

Er hatte Recht. Ich sollte mit Fritz reden. Irgendwas ging schon wieder vor sich. “Komm gut nach Hause, Christopher. Du schuldest mir noch eine Revanche für die verlorenen Spiele. Lass uns das irgendwann mal nachholen”, sagte ich noch schnell bevor ich mich auf den Weg machte.

Bevor ich die Straße erreichte, zog ich mir meine Jacke halbherzig über. Wo konnte Fritz wohl langgegangen sein? Ich entschied mich für den Weg rechts von mir. Fritz hatte reichlich Alkohol getrunken. Er suchte bestimmt nach einem Taxi.
 

Als ich um die Ecke bog, sah ich Fritz in einiger Entfernung den Gehweg entlang laufen. Er war noch nicht weit gekommen.

„Fritz“, rief ich und lief hinter ihm her. Aber er reagierte nicht und setzte seinen Weg fort.

„Fritz, nun warte doch!“, forderte ich ihn auf. Ich hatte ihn fast erreicht. Als er immer noch nicht reagierte, zog ich an seiner Jacke. Ich versuchte ihn zum Stehen zu bringen, aber er riss sich los. Langsam reichte es mir mit ihm. Ich rannte an ihm vorbei und stellte mich vor ihn.

„Was ist denn los, Fritz?“, wollte ich wissen. „Wenn ich schon wieder was falsch gemacht habe, dann sage es doch einfach. Du hälst doch sonst nicht damit hinterm Berg.“

Er sah mich mit verengten Augen an, schüttelte dann aber seinen Kopf. „Lass es für heute einfach gut sein, Josephine“, sagte er und wollte sich wieder an mir vorbei drängen.
 

„Fritz“, sagte ich warnend und stellte mich ihm wieder in den Weg.

„Es ist keine gute Idee heute mit mir zu reden.” Es klang beinahe wie eine Drohung.

Ich konnte sehen, dass er innerlich mit irgendwas kämpfte. Er wirkte verkrampft und seine Nasenflügel waren geweitet als er tief atmete.

„Du bist sauer auf mich“, sagte ich. Ich war mir sicher, dass ich das nicht als Frage formulieren brauchte.

„Nein“, sagte er, fuhr sich dann durch seine Haare. „Ja, doch. Aber...“ Er fluchte etwas vor sich hin als er wieder versuchte sich an der Wand entlang an mir vorbei zu drängen.

Ich hielt ihn am Arm fest. “Ich will, dass du mit mir redest!”
 

„Bielefeld“, sagte er warnend, aber ich ließ ihn nicht los. In der einen Sekunde hörte ich ihn knurren und in der nächsten Sekunde packte er mit beiden Händen meine Schultern und schob mich an die Wand. Als er meinem Rücken an die Wand drückte, atmete ich keuchend aus. War ihm überhaupt klar wie viel Kraft er hatte?

Seine Hände lagen noch immer auf meinen Schultern als er mich festhielt. Er atmete schwer und sah mich mit verengten Augen an.

„Warum kannst du nicht mal akzeptieren, wenn es nicht so läuft wie du es willst?“, fragte er mich heiser.

„Warum kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?“, entgegnete ich und sah ihn ernst an.

„Du bist doch sonst immer so clever, Bielefeld. Sag du es mir“, forderte er mich auf und klang bitter.

„Geht es um Herrn Altenburg?“, fragte ich und konnte sehen, wie sich sein Blick noch mehr verfinsterte, wenn das überhaupt noch möglich war. „Hast du uns belauscht?“, fragte ich etwas atemlos. Was würde ich ihm erzählen, wenn er mir Fragen zum Fall stellte? Ich wollte ihn nicht anlügen. Nicht Fritz. Ich...
 

„Belauscht? Mir hat gereicht was ich gesehen habe!“, sagte er.

„Gesehen?“, fragte ich verwirrt.

„Du hast dich in seinen Armen offensichtlich wohlgefühlt“, sagte Fritz bissig.

Wohlgefühlt in seinen Armen? Bitte, was? Meinte er etwa die Umarmung von Herrn Altenburg? Die war doch total harmlos. Anscheinend hatte er nicht gehört, was Herr Altenburg und ich besprochen hatten. Die Umarmung wäre dann gewiss das kleinere Problem gewesen.

„Du hast nicht gehört, was wir besprochen haben?“, fragte ich erneut und die Erleichterung sprach aus mir. Das schien ihn nur noch mehr aufzuregen.

Er stemmte seine linke Hand dicht neben meinem Kopf an die Wand und beugte sich näher zu mir.

„Ich dachte, dass du einfach mehr Zeit brauchst.“ Seine Stimme war heiser und kaum mehr als ein Flüstern.
 

„Zeit?“, flüsterte ich fragend. Seine Nähe macht mir zu schaffen. Ich konnte kaum denken. Ich roch den Alkohol und sein Aftershave. Ich musste dringend etwas Abstand gewinnen und versuchte mich von der Wand zu lösen und ihn wegzustoßen, aber er stand wie ein Fels in der Brandung. Ich konnte mich nicht bewegen.

Mein Puls raste als er sein Gesicht dicht vor meinem hielt. Er sah mich an ohne was zu sagen.

„Fritz“, sagte ich flehend. Warum konnte er mich nicht einfach loslassen? Warum musste alles immer so kompliziert zwischen uns sein? Warum konnten wir nicht einfach normale Kollegen sein? Und warum um Himmels Willen raste mein Herz jedes Mal, wenn er mir so nahe kam? Ich war nicht nach Berlin gekommen um die Fehler von damals zu wiederholen.
 

Er sah mich mit diesen unsagbar traurigen Augen an und mich zerriss es, schnürte mir meine Kehle zu und mein Brustkorb verkrampfte sich. Ich wollte nicht, dass er mich so ansah. Konnte es wirklich sein, dass er auf diese Art und Weise für mich empfand oder sprach nur der Alkohol aus ihm? Er musste damit aufhören. Ich würde ihm nur wehtun. Er war mein Kollege. Er verdiente mehr. Er war ein wunderbarer Mensch, einfach zu wertvoll, um ihn zu verletzen und ich wollte ihn nicht verlieren, nicht als Kollege und besonders nicht als Freund, dafür bedeutete er mir zu viel.

„Lass mich bitte los, Fritz“, sagte ich heiser. Er schüttelte seinen Kopf langsam ohne seinen Blick von mir zu lassen. Seine linke Hand löste sich von der Wand und bewegte sich behutsam meinem Oberarm hinab um mich am Ellenbogen zu halten. Seine rechte Hand verfing sich in meinen Haaren.
 

„Fritz”, sagte ich und fand selber, dass meine Stimme panisch und verzweifelt klang.

„Du weißt nicht, was du tust.” Aber er hörte nicht auf mich und meine Worte verklangen, als er seine Lippen auf meine legte.

Da war es wieder, dieses Gefühl, so wie beim letzten Mal als er mich so berührt hatte - noch viel stärker. Mein Körper glühte und mir wurde schwindelig, als sein Duft mich umhüllte. Mein Puls raste und ich hatte das Gefühl, dass mich die Einsamkeit umbringen würde, wenn er mich jetzt losließe. Aber er tat es nicht und ich schloss langsam meine Augen. Seine Hände umfingen zärtlich mein Gesicht und er drängte sich noch dichter an mich. Ich ließ zu, dass er mich küsste und genoss es, genoss seine Lippen, seine Nähe. Ich brauchte mehr von dieser Wärme, die meinen Körper durchströmte, wann immer er mich so berührte.
 

Dieses Mal konnte ich nicht dem Alkohol Schuld geben. Ich konnte es nicht darauf schieben, dass es ein emotionaler Tag war. Ich konnte allein meinen eigenen Gefühlen die Schuld geben und das machte mir Angst es machte mich regelrecht panisch. In einem letzten Versuch gegen meine Gefühle anzukämpfen, entzog ich ihm mein Gesicht und drehte es zur Seite. Er hielt inne ohne mich erneut zu küssen. Mich durchzog ein Schauer als ich seinen heißen Atem auf meinem Hals spürte.
 

„Ich will das nicht“, sagte ich erstickt. Ich atmete schwer als ich seine Lippen ganz sanft an meinem Hals spürte. Meine linke Hand legte sich auf seinen Brustkorb und er ließ es zu, dass ich ihn einige Zentimeter von mir schob. Aber als ich meinen Kopf hob um ihn anzusehen, musste ich feststellen, dass sein Gesicht nur wenige Millimeter von meinem entfernt war.
 

„Du solltest das nicht tun“, sagte ich und sah ihn dieses Mal etwas fester an. Es fiel mir schwer seinem Blick stand zu halten. Ich sah so viel Wärme in seinen Augen, dass meine Knie sich zittrig und weich anfühlten.

„Warum?“, fragte er mich sanft als seine rechte Hand langsam durch mein offenes Haar fuhr.

Warum ich nicht wollte, dass er mich küsste? Es gab tausende Gründe. Er war mein Kollege. Wir sollten keine intime Beziehung eingehen. Außerdem machten mich seine Berührungen verrückt und ich hatte Angst vor diesem Gefühl. Ich war noch nicht bereit mich wieder auf jemanden einzulassen. Wir hatten nie über Gefühle gesprochen. Ich würde ihm wehtun und er würde mir vielleicht das Herz brechen. Und dieses Mal würde es wirklich gebrochen sein und sich vermutlich nie wieder erholen. Ich dachte an seine Probezeit und daran, dass es vermutlich nicht gut wäre, wenn etwas, dass wir abgestritten hatten, plötzlich nicht mehr so wäre. Welche Dinge davon sollte ich ihm als Grund nennen?
 

„Einfach, weil ich es nicht will“, sagte ich und verfluchte mich für meine schwache Stimme als meine Augen zu seinen Lippen wanderten. Sie verharrten dort eine Weile ohne das einer von uns was sagte. Ich biss mir auf die Lippen als ich noch immer das Kribbeln seines Kusses auf meinem Mund spürte.

„Wenn du nicht willst“, fragte er mich mit heiserer Stimme und beugte sich ein Stück vor. „Warum erwiderst du dann meinen Kuss?“ Und wie zum Beweis legte er erneute seine Lippen auf meine.
 

Dieses Mal gab er mir mehr Zeit darauf zu reagieren. Ich hätte meinen Kopf wieder wegdrehen können, aber ich hatte es nicht getan. Und wieder verlor ich mich in seiner Berührung, erwiderte seinen Kuss, krallte meine Finger in seiner Jacke fest als ich ihn näher zu mir zog.

Er sollte verflucht sein, dass er mir das antat. Warum musste ich gerade bei ihm so schwach sein? Ich wollte das nicht fühlen, wollte mich nicht wieder so abhängig machen. Ohne das ich etwas dagegen tun konnten, bildeten sich Tränen in meinen Augen und liefen über meine Wangen. Er fühlte meine Tränen als seine Hände mein Gesicht streichelten. Er hielt inne und löste seine Lippen von meinen.
 

„Verflucht, Josephine!“, keuchte er, als er Abstand nahm um mich anzusehen. Es bildeten sich immer neue Tränen. Ich konnte einfach nicht damit aufhören. Ich sah den Schmerz in seinen Augen, was das Ganze nicht leichter für mich machte.

„Es tut mir leid“, flüsterte er als er mir die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er sah mich wortlos an, ließ meine Tränen laufen um sie immer wieder mit seinem Daumen wegzuwischen. Ich nahm etwas Abstand von ihm und er ließ es zu, gab mir Raum zum Atmen, zum Denken. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, sah ich ihn an.
 

„Ich will nicht wieder irgendwo neu anfangen müssen“, sagte ich zu ihm.

„Das musst du doch auch nicht“, entgegnete er mir und sah mich mit so viel Wärme an, dass mein Brustkorb sich schmerzhaft zusammen zog. Warum hatte er mich geküsst? Warum hatte ich seinen Kuss erwidert? Schon beim ersten Mal hatten mich diese Fragen nicht losgelassen und ich brauchte lange bis sie nicht mehr ständig in meinem Kopf waren.

Als ich nichts erwiderte sah er mich ernster an. Er fuhr sich durch seine Haare, atmete einmal tief durch. „Dann sag mir was du willst, Bielefeld.“
 

Ich brauchte einen Moment um etwas sagen zu können. Wie sollte ich ihm erklären, was ich wollte, wenn ich es selber nicht wusste. Ich wusste wovor ich Angst hatte und das Fritz etwas in mir auslöste wovor ich mich fürchtete.

„Ich möchte, dass wir Partner bleiben“, sagte ich.

„Aber das können wir doch auch“, wandte er ein.

„Nur Partner, Fritz. Alles andere kann ich nicht.“ Meine Stimme klang heiser und drohte zu brechen.

Fritz sah mich schweigend an und ich bereute meine Worte noch im selben Augenblick, als ich den Ausdruck in seinem Gesicht sah. Ich sah, dass sich etwas in ihm veränderte, dass sein Stolz sich schützend vor ihm aufbaute, ich musste schlucken.
 

„Verstehe“, sagte er und klang erschreckend fremd. Er drehte sich um und ging weg.

„Fritz“, rief ich ihm hinterher. Er stockte kurz und wandte seinen Kopf noch einmal zu mir.

„Mache dir keine Gedanken wegen morgen. Es besteht kein Grund irgendwas klären zu wollen. Du hast alles gesagt.“

Er gab mir keine weitere Chance etwas zu erwidern als er sich umdrehte und verschwand. Ich zog an meiner Kleidung, die sich plötzlich zu eng anfühlte. Ich hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen.

Das Motorrad von Fritz stand neben dem Eingang als ich am nächsten Tag das Revier erreichte. Mich durchzog ein flaues Gefühl und ich wäre am liebsten wieder umgedreht und nach Hause gefahren. Es war das erste mal in meinem Leben, dass ich mich krankmelden wollte obwohl ich gesund war. Aber was sollte das bringen? Früher oder später musste ich ihm gegenübertreten. Vor allem wenn ich wollte, dass sich das Verhältnis zu ihm wieder normalisierte.
 

Heute Morgen war ich wieder bei Lisa im Krankenhaus gewesen und kam dadurch später ins Büro. Vielleicht hatte ich die erste Begegnung mit Fritz auch einfach nur heraus zögern wollen. Ich betrat das Büro. Fritz stand am Schreibtisch von Waldi. Ich hatte böse Blicke erwartet oder dass er mich ignorierte, aber das er mich ansah und lächelte warf mich völlig aus der Bahn.
 

„Morgen Bielefeld“, sagte er. „Bist spät dran.“

Ich stand nur da und starrte ihn an. In diesem Moment kam mir der gestrige Abend wie ein Traum vor oder träumte ich jetzt? Das hier konnte doch nicht echt sein. Warum lächelte er mich an und begrüßte mich wie jeden anderen Morgen. Ich erinnerte mich, dass ich ihn genau darum gebeten hatte, dass wir einfach nur Kollegen sein sollten. Er hatte irgendwas über Nacht beschlossen und ich musste jetzt damit leben. Ich räusperte mich und senkte meinen Blick, als ich ein `Morgen´ murmelte und auf meinen Platz ging.
 

Den Vormittag über arbeitete ich an einigen Berichten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Jedes Mal wenn Fritz ins Büro kam oder ich seine Stimme hörte, zog sich mein Magen zusammen. Genau das hatte ich vermeiden wollen. Genau deshalb wollte ich, dass wir einfach nur Partner blieben. Ich wollte nicht die Präsenz von jemandem so dauerhaft spüren oder suchen, doch genau das löste er in mir aus.

Ich schnappte mir schließlich meine Akten, einen netzfähigen Laptop und ging in einen der kleinen Besprechungsräume. Dort hatte ich Ruhe. Dort konnte mir Fritz nicht ständig über den Weg laufen und mich wahnsinnig machen. Tat er das nicht mit Absicht? Ich hatte das Gefühl, dass er regelrecht nach Gründen suchte, um mir zu bewiesen, dass wir nicht einfach nur Partner sein konnten oder bemerkte er gar nicht sein Verhalten?
 

Ich brauchte bestimmt nur ein paar Tage Abstand. Der Abend gestern hatte mich einfach durcheinander gebracht. Aber wie sollte ich bei so einem Fall ohne meine Kollegen arbeiten? Wenn Herr Altenburg zu unserem Team stoßen würde, konnte ich unabhängig von meinen Kollegen arbeiten und es würde mir vielleicht den nötigen Freiraum geben, den ich jetzt brauchte. Ich hatte schon mit unserem Chef gesprochen. Es hatte eine Weile gedauert bis ich ihn überzeugen konnte. Außerdem musste ich ihm erklären, woher ich von Christin´s Fall wusste.
 

Er konnte sich denken, dass ich seinen Anweisungen nicht gefolgt war und den Fall heimlich unter die Lupe genommen hatte. Aber er ging darauf nicht weiter ein, wofür ich ihm dankbar war: Er stimmte zu Herrn Altenburg für den Fall anzufordern. Er half uns bei unseren Fall und anschließend sollte ich dann mit ihm zusammen den Fall von Christin aufarbeiten.
 

Ich hatte nichts vom Korruptionsverdacht erwähnt. Herr Altenburg sollte entscheiden wie weit er den Chef einbinden wollte. Er hatte mich angerufen, nachdem er die Anforderung von meinem Chef erhielt. Am frühen Nachmittag war ein Termin zur genaueren Abstimmung vereinbart worden.

„Wenn wir Partner werden, Frau Klick”, hatte er am Telefon gesagt. “Dann können Sie mich Falk nennen. Partner sollten sich vertrauen und siezen ist da wohl Fehl am Platz.” Ich stimmte ihm zu, auch wenn der Gedanke ihn Falk zu nennen gewöhnungsbedürftig war.
 

Am Nachmittag sollten wir uns im Büro vom Chef einfinden. Ich ahnte schon den Grund dafür. Im Büro stand Herr Altenburg zusammen mit dem Chef hinter dem Schreibtisch. Herr Altenburg drehte sich zu mir und lächelte mich an.
 

“Josephine”, begrüßte er mich freundlich mit einem vielsagenden Blick. Das Gespräch war also erfolgreich verlaufen, dachte ich. Wir wären jetzt Partner, zumindest für die Dauer der Ermittlungen.

“Falk”, antwortete ich ebenfalls zur Begrüßung.

Der Chef informierte uns über die Verstärkung. Die Kollegen waren überrascht, als Ihnen Herr Altenburg als neues Teammitglied vorgestellt wurde – auch Fritz. Er hatte also wirklich nichts vom gestrigen Gespräch mitbekommen - nur die Umarmung. Und die hatte ihn anscheinend rasend gemacht. Bei dem Gedanken spürte ich meinen erhöhten Herzschlag und das Kribbeln in der Bauchgegend.
 

„Herr Altenburg wird mit Josephine zusammen arbeiten. Bleibt trotzdem transparent und haltet euch gegenseitig auf dem Laufenden. Das sollte doch im Interesse aller sein”, sagte der Chef abschließend. Mir war klar, dass er seine Bedenken bezüglich der Zusammenarbeit von Fritz und Falk hatte.
 

In den nächsten Tagen kam es aber kaum zu Schnittstellen und ich war dankbar darum. Während Alex und Fritz weiteren Hinweisen nachgingen, versuchten Falk und ich Kontakte zur Liquid Ecstasy Szene zu knüpfen ohne dabei auf das Drogendezernat zuzugehen. Das war zwar nicht das normale Vorgehen, aber wenn der Fall wirklich mit Korruption zu tun hatte, dann konnten wir uns auf die Aussagen der Kollegen nicht verlassen. Vielleicht auf die von Christopher. Aber selbst da konnten wir uns nicht sicher sein.
 

Wir arbeiteten die ersten Tage die Akten aus dem Archiv durch, versuchten Zusammenhänge zu finden. Der Chef sagte zwar, dass der Fall von Rebecca zuerst bearbeitet werden sollte, aber da die beiden aus unserer Sicht zusammenhingen, war eine Trennung einfach nicht möglich.
 

Die erste Teambesprechung hatten wir nach drei Tagen. Ich hatte dadurch etwas an Raum gewonnen um mich wieder auf die Arbeit konzentrieren zu können. Aber sobald ich mit Fritz in einem Raum war, spürte ich die Anspannung in mir. Ich fühlte seinen Kuss auf meinen Lippen und sein Atem an meinem Hals. Ich konnte mich an die Wärme erinnern. Ich vermisste es und das machte mir Angst. Aber was ich noch viel mehr vermisste war Fritz - sein Lachen, seine Scherze und auch seine Stänkereien, obwohl er oft nur ein Büro weiter saß.
 

An seinem Verhalten mir gegenüber hatte sich nichts geändert und das verwirrte mich. Mich machte diese gespielte Höflichkeit von ihm krank. Sein benehmen wirkte nach außen wie immer, aber ich spürte die Distanz zwischen uns.
 

Ich war Falk dankbar, dass er mich mit Arbeit ablenkte. Die ersten Erfolge verzeichneten wir nach etwa einer Woche. Falk hatte durch alte Kontakte jemanden gefunden, der uns vielleicht weiterhelfen konnte. Und wir wollten uns mit ihm treffen. Als wir Fritz und Alex darüber informieren, bestand Fritz darauf mitzukommen. Falk stimmte nur sehr widerwillig zu. Das Thema war durch den Korruptionsverdacht sehr heikel und je weniger Beamte an diesem Fall beteiligt waren, umso sauberer konnte alles aufgedeckt werden. Aber es wurde immer schwerer die beiden da raus zu halten. Falk war jedoch noch nicht bereit jemanden in diesem Fall zu vertrauen. Ich war es. Ich vertraute Fritz und Alex.
 

***
 

„Wir sind nicht zum Babysitten hier“, sagte Fritz, als wir aus dem Auto stiegen und auf die Bar zugingen, in der wir uns mit dem Informanten treffen wollten. „Wir sind zum Ermitteln hier.“ Fritz blieb stur und bestand darauf, dass er mit in die Bar kam.
 

Ich konnte sehen, dass Falk ungeduldig wurde. „Sie können nicht erwarten, dass sich EIN Informant mit uns trifft, wenn ihm VIER Ermittler gegenübersitzen und ihn befragen. Wir müssen vorsichtig sein”, sagte Falk. Er versuchte noch immer zu verhindern, dass die beiden beim Gespräch dabei waren.

Fritz verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir alle“, sagte er. „Wir alle oder das Ganze wird abgesagt!“
 

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass das nicht ratsam ist“, entgegnete Falk.

„Und warum schleifen Sie Josephine dann als Einzige mit rein? Wenn Sie den Informanten nicht verunsichern wollen mit zu viel Polizeipräsenz, dann gehen sie doch allein.“

„Josephine ist meine Partnerin“, sagte Falk und legte seinen Arm um meine Schulter als er sich mit mir repräsentativ vor Fritz aufbaute.
 

Fritz war die letzten Tage erstaunlich ruhig geblieben, wann immer er mit Falk in Kontakt kam. Aber jetzt stand er kurz vor einem Wutausbruch. Er ballte seine Fäuste und spannte seinen Oberkörper an.
 

„Für diesen Fall vielleicht“, sagte Fritz in einem warnenden Ton. Ich merkte, dass er am Limit seiner Geduld angekommen war. „Vergessen Sie aber nie, dass Josephine UNSERE Partnerin ist in UNSEREM Revier. Das ist hier kein Spiel, Herr Altenburg. Wann haben Sie das letzte Mal einen echten Einsatz gehabt? Machen Sie überhaupt noch irgendetwas anderes außer Bürokram und Präsentationen?“

„Durchaus mache ich noch andere Sachen“, entgegnete Falk trocken, bevor er Fritz mit dieser dienstlichen Arroganz ansah. „Vielleicht können Sie sich noch an die Befragung nach Ihrer Verhaftung erinnern?“"
 

Ich stöhnte als ich seine Worte hörte. Das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für einen Machtkampf. Ich konnte sehen, wie es in Fritz brodelte. Wenn jetzt niemand dazwischen ging, würde es wohl knallen. Warum provozierte Falk ihn so sehr?
 

„Falk“, sagte ich ermahnend und löste mich aus seiner `Umarmung´ um ihn strafend anzusehen. Ich stellte mich an die Seite von Fritz. „Wir können uns wohl alle an diesen Tag erinnern. Ich hätte dich da am liebsten gewürgt für deine Arroganz. Also fang gar nicht erst wieder damit an. Dann geh ICH nämlich alleine in diese Bar und IHR könnt alle nach Hause gehen.“
 

Er verstand meine Warnung, sah aber ein wenig unzufrieden aus. Diese eine wirklich unangenehme Charaktereigenschaft von ihm fiel mir nur auf, wenn er dabei war, Fritz zur Weißglut zu bringen. Ich musste dringend mit Falk darüber reden. Aber dafür wäre später gewiss noch Zeit genug.

Ich wandte mich an Fritz. „Und DU“, sagte ich und boxte ihm leicht in den Oberarm. „Solltest endlich gelernt haben, dich nicht so leicht provozieren zu lassen. Es wäre schön, wenn wir ausnahmsweise mal ALLE konstruktiv miteinander arbeiten. Kriegen wir das hin?“ Alex beipflichtete mir bei und sehr langsam stimmten mir dann auch Fritz und Falk zu.
 

Wir diskutierten noch eine Weile über das Vorgehen, konnten uns dann aber einigen. Falk würde mit mir zusammen das Gespräch führen und Fritz setzte sich mit Alex zusammen an einen Tisch in unserer Nähe. Sie würden sich natürlich nicht am Gespräch beteiligen, aber in der Nähe bleiben. Falk kam dieser Kompromiss eindeutig entgegen. Vielleicht konnten wir heikle Themen leise genug besprechen, dass unsere Kollegen nichts mitbekommen würden.
 

Der Informant ließ Falk und mich eine Weile warten bis er an unseren Tisch kam. Er hatte uns von der Bar aus beobachtet und gab sich erst nach einigen Minuten zu erkennen. Zum Glück hatten wir Alex und Fritz vorgeschickt und waren selber erst zehn Minuten später in die Bar gekommen.
 

„Er will da unbedingt raus“, sagte der Informant mit dem wir jetzt schon eine Weile sprachen. Er wirkte etwas entspannter, als zu Anfang, sah sich aber trotzdem immer wieder um. Auch Alex und Fritz beäugte er. Benahmen sich die beiden zu auffällig? Ich hoffte nicht, konnte mich aber schlecht zu ihnen umdrehen, um mich zu vergewissern. „Mein Kumpel weiß aber nicht wie er da aussteigen kann. Das sollen andere schon vor ihm probiert haben. Ist wohl keinem von denen gut bekommen.”
 

„Wie ist er in diese Szene geraten?“, fragte ich ihn. Er selber hatte keinen Kontakt zur Szene, nahm laut eigener Aussagen auch keine Drogen, aber sein bester Kumpel war irgendwie in die Sache reingeschlittert und kam offensichtlich nicht wieder raus.
 

„Sie wissen doch wie das ist. Man kennt jemanden, der jemanden kennt. Tom war auf der Suche nach einem Job, wo man möglichst wenig Zeit investieren muss und schnell zu Geld kommt. Er hat alle Hände voll zu tun mit seinem Studium und konnte es sich zeitlich nicht leisten ´nen normalen Nebenjob bei McDonald´s oder Rossmann zu machen, wie die meisten Studenten. Er dachte es wäre schnell gemachtes Geld mit einer harmlosen Droge. Aber das ist irgendwie alles eskaliert.“
 

„Warum ist er bisher nicht zur Polizei gegangen?“, fragte ich ihn.

Er lehnte sich etwas zu mir rüber und sprach im Flüsterton. „Tom ist sich sicher, dass die Leute Kontakte zur Polizei haben und er dort niemanden vertrauen kann.“

„Er glaubt also, dass Polizisten mit der Szene zusammenarbeiten?“, fragte Falk als sein Körper sich anspannte. Er hatte gehofft, dass wir auf dieses Thema kommen würden. Der junge Mann bejahte die Frage und lehnte sich wieder ein Stück zurück. „Warum waren Sie dann bereit mit uns zu sprechen? Wir sind immerhin auch von der Polizei.“
 

Er sah Falk bei seiner Frage erstaunt an als wenn die Antwort offensichtlicher nicht sein könnte. „Sie sind Sophias Bruder! Ich vertraue ihr. Wenn Sophia sagt, dass Sie sauber sind, dann sind Sie das auch.“
 

Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass Sophia solche Leute kannte. Wobei er selber ja auch nur indirekt mit der Drogenszene was zu tun hatte. Aber das war schon schlimm genug. Falk sollte mir ihr darüber reden. War er nicht besorgt? Wenn er mit ihr nicht sprach, dann würde ich das tun!

„Hat ihr Kumpel Kontakte in der Szene, die mit diesen Polizisten schon zu tun hatten?”, fragte Falk als er sich dichter zu den jungen Mann beugte und leiser sprach.

Er sah Falk nachdenklich an bevor er antwortete. “Er kennt Leute die aussteigen wollen und wohl mehr darüber wissen als er.”
 

Wir sammelten noch weitere Fakten und baten den jungen Mann mit uns in Kontakt zu bleiben. Er versichert uns, dass er mit seinem Kumpel noch einmal reden würde. Wir hatten also gute Chancen an weitere Informationen zu gelangen. Er ging als erstes und wir warteten noch eine gute viertel Stunde bis wir die Bar verließen.
 

Fritz und Alex trafen wir einige Blöcke weiter an einer anderen Bar, wo wir unser Auto geparkt hatten. Es war Freitag und die Straßen von Kreuzberg waren voll mit Leuten.

„Und?“, fragte Alex. „Was haben wir rausgefunden?“

Die Bar war sehr laut und die beiden hatten nichts mitbekommen. Ich konnte die Erleichterung in den Augen von Falk sehen. Ob er es wollte oder nicht, wir mussten früher oder später mit den beiden darüber reden. Falk nannte zusammenfassend die Erkenntnisse, die wir erlangt hatten. Das wir nach Angaben des Informanten Kontakt zu einer Person aufbauen konnten, die in der Szene steckte und raus wollte. Er ließ den Part weg, dass vermutlich Polizisten in der Szene aktiv waren.
 

„Das ist doch krass“, sagte Alex. „Dann ist das dieses Mal wirklich so eine Gangsache?“

Fritz verschränkte die Arme vor der Brust als er Alex angrinste. „Dann musst du dieses Mal Caroline wenigstens nicht anlügen was den Mord angeht. Das ist bei den Römers ja auch schief gegangen.“

Alex sah ihn an. „Das ist Caroline egal. Das hier ist Kreuzberg. Da erwartet sie Mord und Totschlag an allen Ecken. Das mit den Römers war nur drei Straßenblöcke von uns entfernt.“
 

Ich sah die beiden kopfschüttelnd an. Worüber die Jungs sich Gedanken machten. Caroline war eine erwachsene Frau. Sie würde schon mit den Tatsachen klar kommen. Ich drehte mich zu Falk, der gerade mit Sophia telefonierte. Anscheinend hatte ihn das Ganze doch nicht so kalt gelassen. Würde er ihr verbieten den Typen wieder zu sehen? Es klang zumindest danach. Dabei hatte er uns einen großen Schritt weitergebracht. Und er hatte ja eigentlich nichts damit zu tun.
 

Mein Blick ging an Falk vorbei als ich in einiger Entfernung einen Mann beobachtete, der gerade eine Frau belästigte. Sie schüttelte mit ihrem Kopf und versuchte Abstand zu ihm zu gewinnen, während er weiter auf sie einredete. Ich verengte meine Augen als er begann sie am Oberarm zu packen, um sie am Weitergehen zu hindern. Wenn er damit nicht aufhörte, musste ich wohl dazwischen gehen. Meine drei Kollegen schienen hier nichts mitzukriegen und waren nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.

Ich schob mich gerade an Falk vorbei um auf die beiden zuzugehen als der Typ sich die Tasche der Frau schnappte und losrannte. Das durfte ja wohl nicht war sein, dachte ich und rannte ihm hinterher. Ich hörte hinter mir ein fluchendes `Bielefeld´, aber ich hatte wirklich gerade andere Sorgen als auf Fritz oder einen der anderen zu warten. Ich folgte dem Typen in eine Seitenstraße. „Polizei“, rief ich ihm hinterher. „Bleiben Sie stehen!“
 

Warum hörten diese Typen eigentlich nie? Wir bekamen Sie ja am Ende doch. Er rannte weiter. “Bleiben Sie stehen oder ich schießen”, rief ich ihm hinterher als ich an der Halterung meiner Dienstwaffe zerrte, aber irgendwas hakte und ich bekam sie nicht auf Anhieb gezogen.
 

Er sah kurz über seine Schulter zu mir, lief aber weiter. Er kam ins Straucheln und musste sich mit seiner Hand am Asphalt abdrücken um nicht zu fallen. Das gab mir genug Zeit um die Distanz zwischen uns zu verkürzen und ich bekam seine Jacke gepackt. Ich war aber nicht dicht genug dran und verlor sie aus meinem Griff.
 

„Bleiben Sie stehen!“, brüllte ich und griff erneut nach ihm. Dieses Mal bekam ich seinen Oberarm zu packen und ich riss ihn rum. Ich versuchte ihn gegen die Mauer zu drücken, aber er wehrte sich mit aller Kraft. Die geklaute Tasche fiel beim Handgemenge zu Boden. Ich hörte schnelle Schritte und ich war mir sicher, dass meine Kollegen uns gleich erreichten. Ich musste ihn nur noch ein wenig festhalten, dann würde-
 

Im nächsten Moment spürte ich einen kräftigen Hieb mitten ins Gesicht und war wie benommen, als sich der Schmerz durch meinen ganzen Körper zog. Der Typ hatte mich voll mit seinem Ellenbogen erwischt. Er drückte mich von sich weg und ich landete unsanft an der rauen Fassade. Er riss sich los und wollte wegrennen. Ich versuchte ihn mit aller Kraft festzuhalten, aber verlor den Halt und landete auf dem Boden. In dem Moment, wo ich den Asphalt berührte, zog sich ein stechender Schmerz durch mein rechtes Handgelenk. In meinem benommenen Zustand hatte ich noch versucht nicht mit meinem Kopf auf dem Boden zu schlagen, war dadurch aber unglücklich mit meiner Hand aufgekommen. Ich stöhnte bei dem Schmerz auf und mein Körper krümmte sich auf dem Asphalt als ich auf der Seite liegen blieb und meine verletzte Hand hielt.
 

Ich hörte wie die Kollegen an mir vorbei rannten. Sie würden ihn kriegen, da war ich mir sicher. Ich brauchte einen Moment um meine Augen wieder öffnen zu können. Mein Handgelenk tat verflucht weh und einige Gesichtspartien brannten.

„Josephine“, hörte ich eine Stimme neben mir. Als ich meine Augen öffnete sah mich Fritz schwer atmend mit besorgtem und gleichzeitig wütendem Gesichtsausdruck an. Er kniete neben mir während er mit einer Hand über mein Haar strich und versuchte mögliche Verletzungen zu erkennen.

„Hey“, sagte ich und lächelte Fritz etwas verzerrt an als ich meine Zähne zusammen biss, um den Schmerz zu unterdrücken. Ich setzte mich langsam auf und er half mir indem er meine Schultern stützend festhielt.
 

„Alles klar?“, fragte er und sah auf meine verletzte Hand. Ich legte meinen Kopf schief und betrachtete das Handgelenk. „Ja, bin nur mit der Hand etwas dumm aufgekommen.“

Er atmete schwer und sah mich wütend an. „Lass diese scheiß Alleingänge, Bielefeld! War es so schwer uns Bescheid zu geben?“
 

Ich rollte mit den Augen als er mich langsam aufrichtete. Mit meinem Fuß war ich auch leicht umgeknickt, aber nachdem ich ihn einige Male aufsetzte ging es wieder.

„Geht´s?“, fragte mich Fritz als wir langsam wieder zurückgingen.

„Hatte schon Schlimmeres.“

In dem Moment fiel mir die Handtasche der Frau wieder ein. „Holst du noch die Handtasche?“, bat ich ihn und deutete in Richtung der Wand, wo der Typ sie hatte fallen lassen. Fritz ging zur Hauswand und hob die Tasche auf. Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an als er wieder auf mich zukam.
 

„Wegen ´ner Handtasche hast du den Typen verfolgt?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Du weißt gar nicht wie wichtig für manche Frauen ihre Handtaschen sind“, sagte ich und lächelte ihn unschuldig an.

Er stöhnte frustriert auf und stützt mich. Wir gingen zurück zu unserem Ausgangspunkt.

„Du bist echt nen Fulltime Job“, knurrte er neben mir. Trotz der Schmerzen musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Ein Fulltime Job? Ja, damit hatte er wohl Recht.
 

Falk und Alex hatten den Taschendieb erwischt und die Kollegen von der Streife verständig, damit er abgeführt werden konnte. Die Frau stand immer noch ganz verdattert da. Wir gaben ihr die Handtasche zurück und sie bedankte sich bei uns tausend Mal. Falk und Alex hatten gerade noch mit dem Typen zu tun als mich Fritz zum Auto zerrte. Er öffnete den Kofferraum vom Kombi.

„Setzt dich hin“, sagte er. Ich sah ihn fragend an, folgte aber seinen Aufforderungen. Im nächsten Moment zog er den Verbandskasten neben mir raus und riss die Folie ab.
 

„Was machst du denn da, jetzt ist der doch ungültig. Ich bin doch überhaupt nicht verletzt.“

„Bist du wohl“, unterbrach er mich barsch. „Und jetzt sei still“, forderte er mich auf und griff vorsichtig mit seiner Hand nach meinem Kinn um mein Gesicht zu begutachten. Er öffnete eine Tube und schmierte davon ein wenig in ein desinfiziertes Verbandstuch. Als er damit über meine Stirn fuhr, zuckte ich bei dem brennenden Schmerz zusammen.

„Tut mir leid“, sagte er sanft. „Aber das muss gesäubert werden. Du hast dir deine Haut ganz schon aufgeschrammt.“
 

Ich musste schlucken als er mir durchs Haar fuhr und mich sanft anlächelte. Das war der echte Fritz, dachte ich. Keine gespielt freundliche Fassade oder übertrieben korrektes Verhalten.

Ich spürte wieder ein Brennen als er erneut mit dem Tuch über mein Wange tupfte. Er ging so behutsam mit mir um und berührte mich so zärtlich, dass mein Pulsschlag sich erhöhte und ich mich konzentrieren musste nicht zittrig ein- oder auszuatmen. Er stopfte das Verbandstuch in eine Tüte und beugte sich zum Kasten um sich ein Neues zu holen. Dabei lag mein Gesicht fast in seiner Halsbeuge und ich senkte meine Augen, als ich seinen Geruch wahrnahm. Er roch so gut. Ich spürte die Wärme seiner Haut und mein Brustkorb zog sich zusammen. Ich biss mir auf die Lippen als ich mir sagte, dass ich mich endlich zusammenreißen musste.
 

„Tut´s sehr weh?“, fragte mich Fritz vorsichtig und ich sah wieder hoch. Sein Gesicht war so dicht an meinem. Und seine Nähe ließ mich nicht mehr klar denken. Als er mich mit diesem sanften, schiefen Lächeln ansah, wollte ich mich nach vorne beugen und ihn küssen.
 

„Josephine“, hörte ich die Stimme von Falk und ich erstarrte im selben Moment. Ich blinzelte und räusperte mich als mir bewusst wurde, was ich beinahe getan hätte. Ich schüttelte meinen Kopf um wieder etwas klarer zu denken und senkte meinen Blick bevor ich Falk dann endlich ansehen konnte.

„Wie geht´s dir?“, kam er auf mich zu und sah mich besorgt an. Ich rang mir ein Lächeln ab.

„Bestens!“, entgegnete ich. „Man wird ja von seinen Kollegen gehegt und gepflegt.“

Ich hörte Fritz neben mir schnauben. Ich sah ihn an, muss aber meinen Blick wieder senken als er mich mit diesem sanften aber traurigen Ausdruck ansah.
 

„Du solltest deine Hand röntgen lassen“, sagte Fritz. Ich nickte, ohne ihn anzusehen.

„Hier in der Nähe ist gleich ein Krankenhaus“, fuhr er fort. „Ich kann dich hinfahren.“ Hinfahren? Bei dem Gedanken wurde ich nervös. Jetzt noch einmal mit Fritz alleine sein? Das konnte ich nicht zulassen.

„Nicht nötig”, sagte ich. “Ich muss erst zurück ins Revier und meine Krankenkarte holen. Danach kann mich Falk fahren. Wir wollten eh noch was besprechen.”

Ich sah den fragenden Ausdruck im Gesicht von Falk und befürchtete schon, dass er mich fragen würde, was wir noch zu besprechen hatten. Aber er nickte nach einigen Augenblicken.

“Klar, kann ich machen.” Ich atmete erleichtert aus.

„Morgen“, begrüßte ich meine Kollegen und betrat das Büro. Ich war recht spät dran. Alle Kollegen außer Falk waren schon da. Aber er hatte sowieso bei uns einen Sonderstatus. Er bearbeitete zwar den Fall mit uns, musste aber weiterhin in seiner eigenen Abteilung Aufgaben erledigen. Das brachte eben seine Position so mit sich. Heute stand wieder eine Teambesprechung an und er verspätete sich wohl dadurch.

Ich bewunderte wie er das alles unter einen Hut bekam. Wenn es um die Arbeit ging war er noch schlimmer als ich. Hatte der Mann jemals frei? Wann hatte er das letzte Mal so richtig Urlaub gemacht?
 

Fritz und Alex standen am Arbeitsplatz von Karin und berichteten vermutlich von gestern. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch als mich Karin besorgt ansah. Die Schürfwunden in meinem Gesicht sahen wirklich fies aus und der Verband um meine Hand nervte mich jetzt schon.

Fritz hatte mein Gesicht gut verarztet. Zumindest laut Aussage des Krankenhausarztes. Trotzdem wurden die Wunden noch einmal behandelt, einfach um sicher zu gehen, dass keine auffälligen Narben zurückbleiben. Man hatte mich lange im Krankenhaus warten lassen, so dass es sehr spät geworden war. Falk war geblieben und hatte mich anschließend nach Hause gefahren. Das rechnete ich ihm hoch an. Ich hatte wirklich das Gefühl in ihm einen guten Freund gefunden zu haben, egal wie kompliziert der Anfang war. Ich schätzte ihn. Und ich wusste, dass auch er mich schätzte.
 

Er hatte ein schlechtes Gewissen, da er auf mich als seine Partnerin nicht genug aufgepasst hatte. Er gab sich die Schuld, dass ich mich verletzt hatte. Ich versuchte ihm das auszureden. Die Kollegen hatten alles richtig gemacht. Ich hatte keinen von ihnen vorgewarnt. Außerdem mochte ich es nicht, wenn ich mit Samthandschuhe angefasst wurde. Und im Moment musste ich mich gegen drei Männer durchsetzten.
 

„Und was sagen die Ärzte?“, fragte mich Alex.

Ich zeigte mein verbundenes Handgelenk. „Dass Fritz mit meinem Gesicht hervorragende Arbeit geleistet hat und mein Handgelenk leicht verstaucht ist. Ich werde heute also vermutlich nicht beim Schießtraining dabei sein.“

Erst nahm Fritz das Kompliment mit einem Lächeln an, aber schnell wurde es zu einem breiten Grinsen. „Bielefeld ohne Waffe? Dann sind die Straßen von Berlin ja endlich wieder sicher.“

„Ha ha“, antwortete ich augenrollend. „Sehr witzig, Fritz. Ich habe trotzdem noch genug Kraft in meinen Beinen um dir in den Hinter zu treten, wenn es nötig ist.”

“Na dann will ich nichts gesagt haben”, entgegnete er abwehrend und lächelte mich weiterhin an.
 

Sein Blick ließ mich unruhig werden und ich wandte mich an Alex um Fritz nicht ansehen zu müssen.

„Außerdem ist es nicht so, dass ich meine Dienstwaffe nicht benutzen kann. Ich soll nur nach Möglichkeit meine Hand schonen.“ So hatte mir der Arzt das natürlich nicht angeraten. Er hatte mir den Gebrauch der Waffe untersagt und meinte, dass mein Handgelenk die nächsten Wochen dringend geschont werden müsste. Aber sollte es zu einem Zwischenfall kommen, wäre mir das natürlich egal und ich würde Gebrauch von meiner Dienstwaffe machen.
 

Aber wann immer ich mein Handgelenk unbewusst belastete, zog sich der Schmerz durch den ganzen Arm. Ich würde also nach Möglichkeit mich an den Ratschlag des Arztes halten.

„Bist du denn gestern noch gut nach Hause gekommen?”, wollte Karin wissen.

„Ja. Falk hat im Krankenhaus auf mich gewartet und mich dann nach Hause gefahren“, erwiderte ich.

„Das war aber nett von Herrn Altenburg”, sagte Karin mit einem schiefen grinsen.

„Ja, das war es. Ihr mögt es vielleicht nicht glauben, aber er kann ein sehr netter Kollege sein, wenn er einen nicht gerade befragt.“

„Ich wusste gar nicht, dass heute Blumen verteilt werden“, hörte ich die Stimme von Falk. Ich drehte mich zu ihm.

„Wenn du dich mit diesen Blumen schmücken willst, kannst du das gerne tun“, entgegnete ich ihm. „Aber übertreibe es nicht, vielleicht haben sie Dornen.“

Er sah mich verspielt an. „Kann ich also annehmen, dass du gerade Rosen an mich verteilst.“

Ich rollte mit den Augen und sah ihn ungläubig an. „Wer es glaubt...“
 

„Der Chef wollte Sie sehen“, mischte sich Fritz ein und unterbrach uns. „Er braucht noch einen Bericht von Ihnen!“

Falk beäugte ihn für einen Moment schweigend, bevor er zu mir blickte. Seine Mundwinkel zuckten. „Na, dann wollen wir mal dem CHEF Bericht erstatten.“ Er legte seine Jacke über meinen Schreibtisch, stellte seine Aktentasche ab und machte sich auf den Weg zum Chef. Für ihn war es vermutlich ungewohnt, dass er einen Bericht abliefern musste. Mein Chef war nicht sein Vorgesetzter. Aber solange er mit mir zusammen an dem Fall von Rebecca arbeitete, solange musste er auch meinen Chef zufrieden stellen.
 

„Wann haben wir heute eigentlich Schießtraining?“, fragte ich in die Runde.

„WIR? Ich dachte, du sollst deine Hand schonen“, sagte Waldi.

Ich stöhne genervt auf. “Ist ja gut. IHR! Wann habt IHR denn heute Schießtraining?“

„Ich denke mal, dass wir loslegen sobald der Chef mit Herrn Altenburg durch ist“, sagte Alex. „Wir haben den ganzen Vormittag die Schießanlage reserviert.“

Falk hatte auch eingeplant am Schießtraining teilzunehmen. Ich hoffte nicht, dass es in einem `Wer trifft besser ´-Kampf zwischen Fritz und Falk ausartete. Ich war mir sicher, dass die beiden ein effektives Team bilden könnten, wenn sie ihre Differenzen beiseite schieben und zusammen arbeiten würden.
 

Ich drehte mich zu Karin. “Und was machen wir in der Zwischenzeit?”, fragte ich sie. Vielleicht konnten wir zusammen das Internet nach neuen Informationen durchsuchen? Wir hatten uns für die ersten Tage Monitoring-Experten dazu geholt, arbeiteten aber jetzt alleine an der weiteren Recherche. Ich konnte ihr einige Themen geben, die nicht so kritisch waren und wo es nicht unbedingt um korrupte Polizisten ging.

Sie sah etwas unsicher aus. „Ich gehe heute mit zum Schießtraining“, sagte sie schließlich.

“Wirklich?”, fragte ich überrascht. Karin beim Schießtraining? Ich hätte nicht erwartet, dass sie sich dafür entscheiden würde.

„Das ist doch super, Karin“, grinste ich sie an und sie lächelte zurück.
 

Ich blieb den Vormittag über also alleine und durchsuchte Foren und Facebook-Gruppen um mehr über diese Ecstasy Szene herauszufinden. Vielleicht gab es sogar einige Insider die verrückt genug waren im Internet Kommentare zu hinterlassen. Es war erstaunlich wie freizügig manche Informationen über Drogenkonsum von Usern ins Netz gestellt wurden. Die musste doch damit rechnen, dass jemand diese Informationen nutzen würde, um vielleicht gegen sie zu ermitteln?
 

Jeder hatte das Gefühl im Netz anonym bleiben zu können. Dabei war es seit etlichen Jahren schon lange nicht mehr so. Jeder konnte über das Internet überwacht werden. Wir hatten die Suche auf das Internet ausbreiten müssen, nachdem keine weiteren Hinweise eingegangen waren. Auch wusste wir nicht, ob der Kumpel des Insiders sich bei uns melden würde oder ob Lisa wirklich Informationen hatte, die uns weiterhelfen konnten.
 

***
 

„Unglaublich“, sagte Ewald und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Die Leute sind so krank. Was die hier alles schreiben...“

Seit dem Schießtraining waren einige Tage vergangen und seitdem recherchierten wir alle gemeinsam im Internet.

„Hier Josy“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf seinem Monitor, bevor er einen der Einträge aus dem Forum vorlas: „Hab den mega Trip mit ner heißen Braut gehabt, dank XTC. Probiert es, Leute. 2BMax ist dafür der geilste Platz. Wer ist mit am Start nächste Woche?“

Ewald sah amüsiert aus und ich konnte mir denken warum.
 

„Haben die nicht letztes Wochenende eine Razzia durchgeführt im `2BMax´?“, fragte ich und konnte sehen, wie das Grinsen von Ewald breiter wurde.

„Japp, das haben sie. Gab auch einige Festnahmen wegen Drogenbesitz. Da war dieser Destroyer94 bestimmt mit dabei.“ Er sah wieder auf den Beitrag des Users, der den Eintrag vor circa zwei Wochen gepostet hatte.

„Wundert mich, dass der das Wort `destroy´ richtig geschrieben hat. Hat er vermutlich bei Google nachgeschlagen.“

Meine Mundwinkel zuckten bei Waldis Bemerkung. Eigentlich war es traurig. Die Leute merkten nicht wie die Drogen schleichend ihr Leben zerstörte. Zu Anfang war es vielleicht nur Spaß. Aber bei den meisten wurde aus diesem Spaß schnell eine Sucht und dann zählte nur noch der nächste Schub – egal wie.
 

„Und du willst jetzt schon los?“, fragte mich Ewald, als ich den Reißverschluss meiner Jacke hochzog.

„Ja, habe noch was vor.“

„Kommt nicht alle Tage vor, dass du zeitig in den Feierabend startest“, sagte Waldi nachdenklich.

„Keine Sorge, heimliche Alleingänge sind für heute nicht mehr geplant. Ich will nochmal ins Krankenhaus zu Lisa. Die Aufwachphase soll bald starten und ich wollte mit dem Arzt sprechen und nachsehen, wie es Lisa geht.“

„Wie geht’s eigentlich deiner Hand?“, fragte er mich.

Ich betrachtete meine Hand bevor ich frustriert ausatmete. „Noch nicht viel besser. Dadurch, dass ich sie ständig schonen soll, schläft sie mir dauernd ein und ich habe das Gefühl, dass ich keine Kontrolle mehr in der Hand habe.“ Es war natürlich schon etwas besser geworden. Aber sie pochte bei falscher Belastung unangenehm.
 

„Ja, ich verstehe“, hörte ich die Stimme von Falk als er das Büro betrat. Ich drehte mich zu ihm um. Er telefonierte noch mit seiner Zentrale. Morgen stand wieder eine Konferenz an.

„Ich bin dann morgen um Zehn im Büro - mit der Präsentation. Danke, dass wünsche ich Ihnen auch. Bis Morgen.“ Er legte auf und ließ sein Handy zurück in seine Hosentasche gleiten, bevor er mich erwartungsvoll ansah.

„Sind wir soweit?“, wollte er wissen.

„Wir? Soweit für was?“, fragte ich verwirrt.

„Um ins Krankenhaus zu fahren.“

„Ich wusste gar nicht, dass du mitkommst“, entgegnete ich.

„Doch, ich wollte noch mit dem Arzt reden“, sagte er zur Erklärung.

Ich zuckte mit den Schultern. Mir konnte es egal sein. Dann musste ich wenigstens nicht den Bus nehmen.

Ich drehte mich noch einmal zu Waldi um, als wir uns bereits auf dem Weg nach draußen machten.

„Bis Morgen, Waldi.“

„Bis Morgen.“
 

Auf dem Flur entschied ich mich noch kurz bei den Kollegen reinzusehen. Ihre Tür war nur angelehnt und ich öffnete sie langsam ein Stück um ins Büro zu sehen. Fritz und Alex hingen gerade höchst konzentriert über dem Fußballtisch, Fritz hatte ein Tor erzielt.

Ich hatte die Freundschaft der beiden immer bewundert, besonders das sie sich auch ohne Worte verstanden. Sie waren ein tolles Team und ich war dankbar ein Teil von diesem Team geworden zu sein. Ich musste schmunzeln, als ich sie beobachtete.
 

Und keinen von beiden wollte ich missen. Besonders Fritz, dachte ich und schob im selben Moment den Gedanken wieder von mir. Ich sollte an so etwas nicht denken. Die letzten Tage hatte es sich zwischen uns zumindest ein wenig normalisiert. Seit dem Gespräch mit Christopher spürte ich, wenn Fritz mich ansah. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Ich kontrollierte nicht ob es stimmte. Seine Nähe machte mich nervös. Daher vermied ich es mit ihm alleine zu sein. Ich glaubte mittlerweile, dass es mehr an mir als an ihm lag. Würde es mit der Zeit besser werden?
 

„Josephine?“, hörte ich die Stimme von Falk hinter mir. Sicher wunderte er sich, dass ich ohne was zu sagen einfach in der Tür stand. Alex und Fritz drehten sich zu mir als sie mich jetzt bemerkten.

„Du machst Feierabend?“, fragte mich Fritz. Sein Blick schweifte kurz zu Falk, bevor er mich wieder ansah.

„Wir wollen noch zu Lisa ins Krankenhaus“, bestätigte ich ihm.

Wieder beäugte er Falk für einen Moment. „Sie auch?“, fragte er ihn und seine Stimme klang etwas kühler.

Falk lächelte mir kurz zu bevor er antwortete. „Jemand muss sich ja um Josephine kümmern bis sie sich endlich ein neues Auto kauft.“

Bei seiner Bemerkung rollte ich genervt mit den Augen. „Jetzt fang du nicht auch noch an“, ermahnte ich ihn. „Ich hatte bisher einfach keine Zeit.“
 

Warum nervten mich eigentlich alle mit einem neuen Auto? Vor allem Fritz fragte ständig, wann ich mir endlich einen neuen Wagen zulegen würde.

„Und deswegen spiele ich solange Chauffeur“, sagte Falk besänftigend.

„Hat dich keiner drum gebeten. Ich werde mir schon noch einen Wagen holen“, sagte ich und sah ihn missmutig an. „Ist ja auch egal“, begann ich und drehte mich zu meinen beiden Kollegen. „Wir sehen uns morgen, Jungs. Schönen Feierabend.“

„Bis Morgen“, hörte ich Alex sagen, bekam aber von Fritz nur ein undeutliches Murmeln.
 

***
 

„Wie lange wird es wohl dauern bis die Patientin ansprechbar ist?“, fragte Falk als er sich weiter mit dem Arzt unterhielt.

„Das kommt auf den Patienten an. Wir müssen abwarten, wie das Mädchen auf das Absetzen der Medikamente reagiert. Das braucht Zeit.“

Falke wirkte frustriert bei den schwammigen Aussagen des Arztes. Aber mehr konnten wir zu diesem Zeitpunkt auch nicht erwarten.

„Lisa soll diese Zeit auch bekommen. Wir befragen sie, wenn sie soweit ist. Hauptsache sie wird wieder gesund.“

Der Arzt lächelte mich an. „Ich bin wirklich optimistisch. Die Patientin hat Fortschritte gemacht. Ihr Genesung schreitet gut voran und der körperliche Entzug ist soweit abgeschlossen.“
 

Ich bedankte mich beim Arzt und wir verabschiedeten uns. Wir verließen die Intensivstation und gingen zum Eingangsbereich. Als ich gerade um die Ecke bog lief mir jemanden in die Arme und ich rannte in dessen Schulter.

„Entschuldigung“, sagte ich etwas schmerzverzehrt, als meine verletzte Hand ein unangenehmer Schmerz durchfuhr. Ich hob meinen Blick und meine Augen weiteten sich.
 

„Hannes?“, fragte ich überrascht. Was machte hier? Wir hatten wohl beide nicht erwartet uns hier zu treffen.

„Josephine“, entgegnete er ebenso überrascht, aber höflich. Sein Blick verfinsterte sich augenblicklich als er Falk erkannte.

„N´abend, Falk“, sagte er kühl.

„Guten Abend”, entgegnete Falk in seiner dienstlichen Höflichkeit. Ich konnte aber den Zorn in seinen Augen sehen auch wenn er versuchte seine Emotionen zu unterdrücken. Falk hatte mir schon gesagt, dass er Hannes nicht vertraute. Aber mir war nicht bewusst, dass so eine Feindseligkeit zwischen den beiden bestand. Was war damals bei den Ermittlungen zwischen ihnen vorgefallen?

„Ich wusste gar nicht, dass ihr euch kennt. Was macht ihr denn hier?“, fragte er beiläufig.

Die Frage sollte ich ihm lieber stellen. Das er sich im gleichen Krankenhaus aufhielt wie Lisa gefiel mir nicht, auch wenn es wirklich Zufall sein konnte.
 

„Wir haben nur jemanden besucht. Und wir kennen uns durch interne Ermittlungen. Da hat er mich verhört“, erklärte ich ohne zu verraten, dass wir gerade an einem Fall arbeiteten. „Und was machst du hier?“, fragte ich ihn.

„Besuche ebenfalls jemanden“, gab er locker zurück. Hannes sah auf seine Armbanduhr. „Und wenn ihr mich entschuldigt, ich bin auch schon spät dran.” Er verabschiedete sich und ging weiter. Waren die Besucherzeiten nicht schon längst rum? Mit wem traf er sich?

Falk stand schweigend neben mir, als ich Hannes noch einen Moment hinterher sah.

„Findest du das nicht suspekt, dass er sich ausgerechnet in diesem Krankenhaus aufhält?”, fragte Falk und ich hörte die Anspannung in seiner Stimme.

„Merkwürdig ist es schon. Aber vielleicht ist es auch nur ein Zufall?”

„Ich glaube nicht an Zufälle, Josephine.“ Als Falk sich umdrehte und den Weg zur Intensivstation wieder zurück ging lief ich ihm hinterher.

„Du glaubst, dass er nach Lisa sucht?”, fragte ich ihn. Er blieb vorm Fahrstuhl stehen und drückte den Knopf.

„Ich glaube, dass er Lisa gefunden hat“, antwortete Falk knapp. Er beugte sich dichter zu mir und sprach leise weiter. „Wenn er versucht hat sie zu ermorden wird er wohl Interesse daran haben, dass sie ihn nicht identifizieren kann.“

„Was hast du vor?“, fragte ich als wir in den Fahrstuhl stiegen.

„Sicherstellen, dass heute Abend keiner mehr das Zimmer von Lisa betritt.“
 

***
 

„Findest du es nicht übertrieb die Beamten zur Überwachung gleich auszuwechseln?“, fragte ich Falk als wir das Krankenhaus verließen.

„Nein finde ich nicht. Ich gehe immer noch von Korruption aus. Wer weiß, ob einer von denen bestochen wurde um ein Auge bei einem Besuch zuzudrücken. Da stell ich die Überwachung lieber mit meinen eigenen Leuten sicher.“

Ich war froh, dass er nicht mein Vorgesetzter war. Er war angsteinflößend, wenn seine Stimme diesen strengen Ton bekam und er einen ernst anblickte. War er mal bei der Armee gewesen? Manchmal erinnerte es mich daran. Mit mir hatte er noch nie so gesprochen. Selbst nicht an dem Tag, wo er mich das erste Mal verhört hatte.

Wir verließen das Krankenhaus und eilten zum Auto. Es regnete in Strömen. Wir kamen platschnass am Auto an. Es dauerte eine Weile bis ich endlich meine Jacke abgestreift bekam. Sie klebte förmlich an mir und ich versuchte noch immer meine Hand möglichst zu schonen.

Falk grinste mich an, als er den Motor laufen ließ und die Heizung aufdrehte. Er wirkte jetzt, wo alles geklärt war, ruhiger. “Nicht, dass du dir noch einen Schnupfen wegholst. Ich brauch dich für die Ermittlungen in gesundem Zustand.“ Er zog seine Jacke aus und warf sie auf den Rücksitz.
 

Gerade als Falk sich anschnallte klingelte sein Telefon und er fluchte leise. Er ließ den Gurt wieder los und beugte sich zum Rücksitz um sein Handy zu holen.

„Altenburg“, nahm er den Anruf entgegen. Ich sah die Anspannung in seinem Gesicht. Als er sich im Sitz aufrichtete wurde ich nervös. Er sah mich kurz an.

„Was ist los?“, flüsterte ich ihm zu, aber er reagierte nicht und hörte weiter dem Anrufer zu.

„Ja, ich verstehe... Natürlich. Wann wäre er dazu bereit...? Ja, dass sollten wir unbedingt tun... Lassen Sie uns morgen dazu am besten noch einmal sprechen, wenn er mehr sagen kann. Vielen Dank. Ja. Alles klar. Ihnen auch.... Wiederhören.”

Als er auflegte, blickte er noch eine Weile auf sein Handy, ohne etwas zu sagen. Meine Neugier war während des Telefonates nur noch gestiegen. Es musste um den Fall gehen. Warum sagte er nichts?
 

„Falk“, mahnte ich ihn. „Nun sag endlich was los ist.“ Sein Blick fokussierte sich wieder und er sah mich an.

„Wir haben ihn.“

„Wen?“, fragte ich verwirrt. „Den Mörder?“ Das konnte nicht sein. Wer sollte denn...

„Nein“, sagte er gedehnt und sah mich ungläubig an. „Wir haben den Kumpel des Informanten. Er will sich mit uns treffen.”

„Wirklich?“, fragte ich überrascht und auch erleichtert. Das war hervorragend. Es konnte uns ein ganzes Stück weiter bringen.

„Er will sich morgen Abend mit uns treffen.“

„Morgen schon?“ War morgen nicht ein wenig zu zeitig?

„Den Ort wird er uns kurz vorher nennen.“

„Muss der Ort nicht von der Polizei abgesichert werden? Das wird zu knapp“, gab ich zu bedenken.

„Erinnere dich an das Gespräch mit dem Informanten. Wer will schon ne Horde Polizisten um sich haben, wenn einer davon korrupt sein könnte. Er wird das nicht wollen und wir können nicht riskieren, dass er das Treffen absagt.“
 

***
 

„Auf keinen Fall!“, brüllte Fritz und schlug mit seiner Hand auf den Tisch. „Josephine geht nicht in diesen Einsatz!“

Ich fasste mir an meine Schläfen und dachte an den vermutlich größten dienstlichen Fehler, den ich je begangen hatte. Falk war heute Morgen aufgrund der Konferenz nicht ins Büro gekommen. Ich stand gerade gedankenverloren am Kaffeeautomaten als Fritz neben mir stehen blieb und mich nach den gestrigen Ereignisse fragte. Ich hatte mich erschrocken ihn so dicht neben mir stehen zu haben, dass ich vollkommen durcheinander war und ihm von den Anruf des Informanten erzählt hatte.
 

Da nahm das Unglück seinen Lauf. Er diskutierte mit mir auf dem Flur, dass Falk und ich uns nicht einfach so mit diesem Mann treffen konnten. Niemand konnte sicher gehen, dass es nicht doch eine Falle war. Der Chef hatte unsere Diskussion mitbekommen und daraufhin darauf bestanden das Drogendezernat einzubinden. Und noch bevor ich was dagegen unternehmen konnte, hatte er Christopher und Hannes verständigt.
 

Das Ganze war derart eskaliert, dass selbst Falk nichts mehr ausrichten konnte als er später dazu kam. Die Aussage vom Chef war klar. Entweder im Team - zusammen mit den Kollegen vom Drogendezernat - oder gar nicht. Ich wusste nicht wie ich das bei Falk wieder gut machen sollte. Gerade das Drogendezernat sollte nicht eingebunden werden. Aber jetzt führte kein Weg daran vorbei. Wir konnten das Treffen nicht absagen. Wir brauchten das Wissen des Insiders.
 

Eine Zusammenarbeit von Falk und Hannes war nicht denkbar. Ich hatte mich als Partner angeboten und Hannes hatte zugestimmt. So konnte ich ihn zumindest im Auge behalten. Wenn wirklich der Insider Informationen hatte, die Korruption vermuten ließ, mussten wir ihn bewachen lassen bis der Schuldigen gefunden wurde. Besonders wenn es sich dabei tatsächlich um Hannes handeln sollte.

Dank Fritz stand jedoch mein Einsatz auf Kippe. Wer sollte es denn sonst machen? Es konnte keiner von meinen Kollegen machen. Keiner von Ihnen wusste bisher von unserem Verdacht.
 

Hätte ich doch nur das Treffen für mich behalten, dann wäre jetzt alles nicht so kompliziert. Falk und ich hätten uns am Abend einfach mit dem Studenten getroffen und niemand hätte Verdacht geschöpft. Ich könnte mich selber ohrfeigen.

„Fritz, ich weiß nicht, warum du dich so aufregst“, mischte ich mich ein und versuchte irgendwie die Wogen zu glätten. Aber so etwas lag mir einfach nicht. „Es geht hier doch nur um ein Treffen.“
 

„Es ist nicht einfach nur ein Treffen“, entgegnete er erhitzt. „Woher willst du wissen, dass es nicht alles geplant ist – aus welchen Gründen auch immer. Hat dir dein letzter Einsatz auf dem Strich nicht gereicht?“

„Das ist doch hier was ganz anderes. Außerdem bin ich Polizistin. Das ist mein Job.“

„Mein Job aber auch!“, entgegnete er und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er wandte sich an den Chef. „Ich mach das, Chef. Ich treffe mich mit diesem Informanten. Wir können da Josephine nicht schon wieder rausschicken.“
 

„Warum solltest du da raus, aber ich nicht?“

„Du kannst im Moment nicht mal deine Waffe richtig halten. Was willst du tun, wenn es zu Komplikationen kommt?”

Ich verzog mein Gesicht. Ich hatte befürchtet, dass er dieses Argument früher oder später anbringen würde. Er hatte nicht Unrecht, aber mir war es egal. „Ich kann sehr wohl eine Waffe halten, wenn es sein muss.“

„Josephine“, ging mein Chef mit beruhigender aber bestimmter Stimme dazwischen. „Wir müssen Sie doch nicht unnötig gefährden, wenn der Job genauso gut von Ihrem Kollegen erledigt werden kann. Ich stimme da Fritz vollkommen zu. Ich verstehe nicht, warum Sie da so stur sind.“ Ich konnte ihm nicht von dem Verdacht erzählen und das wurmte mich. Ich wollte es rausschreien.

Fritz sah zufrieden aus und ich schnaubte vor mich hin. Es hatte keinen Sinn. Ich konnte so viel diskutieren wie ich wollte. Falk und mir würde der Fall abgenommen werden.
 

Falk erwiderte noch etwas, aber der Chef wies ihn nur darauf hin, dass es hier um den Fall Rebecca ging und nicht um den Fall Christin. Er hatte also als Chef die Befugnis das weitere Vorgehen zu bestimmen. Wir mussten seine Entscheidung akzeptieren.
 

***
 

„Was für eine Scheiße“, fluchte ich als Falk und ich in einen der Besprechungsräume gegangen waren, damit wir uns ungestört unterhalten konnten. Ich blieb am Fenster stehen und sah nach draußen. Wir hatten noch sieben Stunden bis uns gesagt wurde, wo wir uns mit dem Insider treffen würden. In sieben Stunden würde Fritz den Einsatz mit Hannes durchführen. Christopher und Hannes waren wieder zurück ins Drogendezernat gefahren, nachdem klar war, dass sie mit von der Partie waren. Vermutlich dachte Hannes, dass er den Einsatz mit mir machen würde. Die Entscheidung, dass Fritz heute Abend den Insider treffen würde, war erst vor wenigen Minuten entschieden worden. Hannes und Christopher waren zu der Zeit schon nicht mehr da gewesen.
 

„Vielleicht sollten wir das Treffen absagen“, sagte ich. Warum war ich momentan so kopflos? Der Gedanke widerstrebte mir Fritz in diesen Einsatz zu schicken. Wenn Hannes wirklich korrupt war gefährdeten wir nicht nur den Insider, sondern auch Fritz. Hannes war nicht überrascht, dass Falk am Fall ‚Rebecca’ mitarbeitete. Hatte er sich Informationen eingeholt? Wusste er, dass wir auch am Fall von Christin wieder arbeiteten?
 

„Ich wollte nicht das Leben von Fritz gefährden nur für eine Information. Abgesehen davon, dass auch der Insider gewiss keine Zielscheibe werden will.”

„Das wird er jetzt schon sein und das könnte er auch heute Abend werden“, sagte Falk ernst, als er sich neben mich ans Fenster stellte. „Die Szene kennt doch ihre Leute, vor allem ihre Dealer. Selbst wenn wir das Treffen absagen, ist bekannt, dass es jemanden gibt der Informationen hat und diese auch teilen will. Ich würde versuchen diese Person aus dem Weg zu räumen, wenn ich davon erfahren würde. Denkst du nicht auch?”
 

Er hatte Recht, das wusste ich. Aber es waren mir einfach zu viele `Wenn´s´ in dieser These.

„Ich kann das nicht“, sagte ich und sah Falk verzweifelt an. „Ich kann nicht zulassen, dass Fritz den Einsatz so durchführt.“ Falk sah mich fragend an. Er verstand offensichtlich nicht, was ich meinte.

„Ich kann Fritz nicht zum Treffen schicken, wenn er nicht weiß um was es vielleicht geht.”

Ich sah die Erkenntnis in seinem Blick. Es gefiel ihm nicht. Aber ich sah keine andere Möglichkeit. Ich sah ihn entschlossen an. „Ich MUSS es ihm sagen, Falk. Sonst bin ich raus und Fritz auch.“
 

Mir war klar, dass das nicht fair war. Aber in der jetzigen Situation war mir das egal. Ich hatte versucht Alex und Fritz da raus zu halten, aber es hatte nicht funktioniert. Jetzt musste ich also die Karten auf den Tisch legen. Zumindest musste ich mit Fritz reden. Er sollte entscheiden, ob er dann immer noch das Treffen durchführen wollte.

Falk schwieg eine Weile und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Mit festem Blick sah er mich an. „Du vertraust ihm?“

Mit meinem Leben, schoss es mir durch den Kopf. Falk würde das aber vermutlich nicht verstehen. Ich nickte und erwiderte seinen Blick. “Zu hundert Prozent.”
 

Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit bis er mir zustimmte. „Dann machen wir das so. Rede mit ihm. Er soll entscheiden, ob er das Treffen dann noch durchführen will.“

Ich spürte die Erleichterung endlich frei darüber reden zu können.

Es klopfte an der Tür und Karin steckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer.

„Hast du einen Moment, Josephine? Es geht um die Verkabelung für heute Abend.“

„Ja, ich komm sofort. Gibst du mir noch eine Sekunde?“

„Ja, klar. Ich warte im Büro.“

„Ich komm sofort nach“, versicherte ich. Karin verschwand wieder aus dem Zimmer und ich sah Falk noch einmal an, der mit den Händen in seiner Hosentasche weiterhin aus dem Fenster blickte.
 

„Falk?“ Er sah zu mir und ich lächelte ihn an. „Danke.“

Langsam erwiderte er mein Lächeln. „Schon in Ordnung. Ich versteh dich ja.“

Ich schwieg einen Moment bevor mir wieder das Anliegen von Karin einfiel. Verkabelung hatte Sie gesagt. Für diesen Einsatz brauchten wir mehr.

„Schaffst du es mir noch einige Utensilien zu besorgen für heute Abend?”, fragte ich Falk.

„Klar, um was geht´s?“

Ich teilte ihm alles mit was ich brauchte. Anschließend machte er sich auf den Weg um die Sachen zu besorgen. Ich ging zu Karin. Es war nicht mehr viel Zeit um alles zu erledigen.

Ich spürte wie mein Magen sich zusammenzog, wenn ich an heute Abend dachte. Wie war es Fritz ergangen, als ich zum Einsatz auf den Strich musste? Erst jetzt verstand ich ihn. Es war ein ungewohntes Gefühl für mich, dass ich so besorgt war um jemanden.

„Wo bleibst du?“, fragte ich Falk übers Telefon. Seit fünf Stunden war er schon unterwegs. Es dauerte nicht mehr lange bis Christopher und Hannes da waren. Vorher wollte ich aber noch unbedingt mit Fritz reden und dafür brauchte ich die Sachen von Falk.

„Ich mache hier kein Wochenendeinkauf, Josephine. Deine Wünsche sind ziemlich speziell”, entgegnete er in einem ruhigen Ton. Er musste meine Anspannung hören.
 

„Kannst du einschätzen, wann du hier bist?“

„Das kann ich durchaus“, sagte er und ich hörte im selben Moment jemanden an die Tür klopften. Ich drehte mich um und sah Falk. Er lächelte mich an während er sein Handy weiterhin ans Ohr hielt und mit der anderen Hand mir einen Rucksack präsentierte.

„Ich habe jetzt wirklich keine Nerven für deine Spielchen“, sagte ich und rollt mit den Augen. Ich ging auf ihn zu und nahm ihm den Rucksack ab. „Du hast alles bekommen?“

„War nicht leicht, aber ich hatte ein wenig Hilfe von einem Kollegen. Ist alles im Rucksack!“

„Danke, Falk.”

„Du weißt, dass ich mehr tun würde, wenn ich könnte.“
 

Ja, dass wusste ich. Aber der Fall lag nicht länger in unseren Händen. Wir durften nur noch im Hintergrund unterstützen. Fritz traf mit Hannes zusammen den Insider. Wie lange dauerte es noch bis er uns den genauen Ort mitteilte? Ich fühlte mich wie auf glühenden Kohlen.

„Du hast einen guten Kollegen.“ Falk hatte einen sanften Ton angeschlagen.

„Ich weiß...“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Auf Fritz konnte man sich immer verlassen. Selbst in Situationen, wo man es nicht erwartete.
 

„Ich bin froh, dass ich dich da nicht reinschicken muss.“ Falk blickte mich zögernd an.

„Ich nicht, Falk!“ Meine Stimme klang warnend. Er kannte meine Meinung zu diesem Thema. Er wusste, dass ich Fritz nicht in diesen Einsatz schicken wollte. Er sah mich entschuldigend an.

„Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wir hätten das Treffen alleine machen können. Aber es ist wie es ist und ich bin erleichtert, dass du nicht mit Johannes in diesen Einsatz gehst.“ Seine Worte halfen nicht. Ich wollte das im Moment nicht hören. Hoffentlich verlief das Treffen ohne Zwischenfälle.

„Ich gehe jetzt zu Fritz.“
 

Ich machte mich auf den Weg, konnte ihn aber nicht im Büro finden.

„Fritz“, sagte ich als ich ihn an der Kaffeemaschine fand. Er lächelte mich an. „Ich muss mit dir reden.“

Sein Lächeln verschwand und er sah mich ernst an. „Wenn es um den Einsatz heute geht... Darüber haben wir wirklich genug geredet.“

„Nein, haben wir nicht.“

Seine Augen wurden schmal. „Josephine, du hälst dich heute Abend da raus, ist das klar? Das ist eine Entscheidung vom Chef!”

„Das weiß ich”, versicherte ich ihm.

„Worum geht es dann?“, fragte er etwas ruhiger.

„Können wir das vielleicht woanders besprechen?“ Er sah mich skeptisch an, folgte mir aber in den Besprechungsraum. Ich musste mit ihm ungestört reden. Als die Tür zuging und er mich fragend ansah, wusste ich nicht wie ich beginnen sollte.
 

Ich ging zum Tisch und legte den Rucksack darauf. Wie konnte ich ihm den Fall am besten erklären? Während ich darüber nachdachte öffnete ich den Rucksack und sichtete den Inhalt. Er würde die Sachen für den Einsatz brauchen. Ich sollte mit der Weste anfangen. Natürlich lag sie ganz unten im Rucksack. Fritz brabbelte irgendwas im Hintergrund, was ich nicht verstand. Ich hörte nicht zu, da ich gerade mit der Weste zu tun hatte.
 

„Zieh bitte dein Oberteil aus“, forderte ich ihn auf als ich endlich dieses widerspenstige Teil in die Hände bekam.

„Bitte was?“ Fritz klang irritiert. Das musste gerade völlig falsch geklungen haben. Ich drehte mich zu ihm und deutete auf die Weste, die ich aus dem Rucksack zog.

„Ich habe hier etwas, das du tragen solltest.“ Er räusperte sich als er mein Anliegen verstand.

„Hast du nicht während der Besprechung behauptet, dass es nur ein Treffen mit einem Informanten ist? Warum dann die schusssichere Weste?”

“Zum Schutz, Fritz.” Er sah mich skeptisch an als ich ihm die Weste gegen den Brustkorb drückte. „Jetzt zieh die an!“
 

Er sah unschlüssig aus, nahm dann aber die Weste entgegen. Er legte die Weste auf den Tisch um sein Sweatshirt auszuziehen. Als er mit blankem Oberkörper vor mir stand musste ich meinen Blick abwenden. Ich schluckte. Warum macht mich das nervös? Mir war beim Kampftraining schon aufgefallen, wie gut Fritz gebaut war. Er hatte einen schönen männlichen Oberkörper. Man konnte die Kraft erahnen, die in ihm steckte. Genau die Sorte Mann an dessen Schulter man sich anlehnen wollte. Ich schüttelte meinen Kopf bei diesem Gedanken. Es war wirklich nicht zu glauben, dass ich in dieser Situation an solche Dinge dachte.
 

„Bielefeld?“, sagte Fritz und ich drehte mich wieder um. “Ich brauch mal Hilfe.” Er hatte eine der Laschen in der Hand, die auf dem Rücken befestigt wurden.

„Natürlich“, sagte ich und ließ den Rucksack los. Er drehte sich um, damit ich die Laschen befestigen konnte. Es war nicht unproblematisch, da ich nur meine linke Hand benutzen konnte. Ich zurrte gerade noch an seiner Weste als er seinen Kopf zu mir drehte und mich über die Schulter ansah.

„Woher hast du die eigentlich?“, fragte er mich. „Wir tragen doch sonst nur Westen zum drüberziehen. Die ist ja kaum dicker als ein Pullover.“
 

„Es würde nicht unbedingt das Vertrauen des Informanten fördern, wenn du mit den herkömmlichen Westen zum Treffen erscheinst. Wir brauchen also etwas Unauffälliges.”

„Trägt Hannes die Gleiche?” Ich zögerte, schüttelte dann aber meinen Kopf. Fritz zog seine Augenbrauen zusammen und drehte sich zu mir als ich gerade die letzte Lasche befestigte.

„Bielefeld“, sagte er warnend und ergriff meine Schultern. „Was ist hier los? Was verheimlichst du?”

Ich musste wegsehen, als ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Warum hatte ich das Gefühl, dass er in meinen Kopf gucken konnte?

„Zieh dir erst mal dein Shirt wieder an, dann erzähl ich es dir.“ Ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn er so vor mir stand.
 

Er zögerte einen Moment, löste dann aber seine Hände und zog sich wieder an. Die Weste lag eng an seinem Körper und das Shirt etwas lockerer darüber. Wenn er seine Jacke anzog, erkannte man nicht, dass er einen Schutz trug. Er sah mich ernst an und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich.

„Also gut, Bielefeld. Erzähl es mir!“

Ich gab ihm alle Informationen, die wir in den letzten Wochen gesammelt hatten. Fritz hörte mir geduldig zu und unterbrach mich nicht. Er blieb selbst ruhig, als er erfuhr, dass Hannes eventuell hinter der Sache steckte.
 

Ich konnte nicht glauben, dass ich ihm wirklich alles erzählt hatte. Aber sollte ich mich jetzt nicht erleichtert fühlen? Ich hatte seit Tagen den Wunsch gehabt ihm davon zu erzählen. Aber angesichts der möglichen Gefahr spürte ich keine Erleichterung. Ich war besorgt, dass ihm etwas passieren könnte.

„Davon wisst nur ihr zwei?“

Ich nickte. „Du bist der Erste mit dem ich darüber geredet habe.“
 

Er verschränkte die Arme vor der Brust und ich konnte seine Armmuskulatur arbeiten sehen. „Wolltest du deswegen unbedingt den Job machen?“, fragte er mich. Er versuchte ruhig zu bleiben, aber ich sah die Wut in seinen Augen. Als ich seine Frage bejahte drehte er sich kurz von mir weg und ich hörte ihn fluchen.

„Merkst du eigentlich wie bescheuert das ist? Du lässt dein Team im Dunkeln während du machst was du willst?”
 

„Ich wollte das nicht!“ Er sah mich strafend an und ich fühlte mich unbehaglich. „Tut mir leid“, sagte ich leise und senkte meinen Blick.

„Anscheinend nicht genug.“ Er klang wütend.

„Ich wollte es euch erzählen“, versicherte ich ihm.

„Warum hast du es dann nicht getan?“

„Ich hatte es Falk versprochen!“

„Dieser Falk kann mich mal“, entgegnete Fritz hitzig. „Der Typ ist nicht dein Partner. Ich, Josephine... Ich bin dein Partner! Und ich habe für deine Sicherheit zu sorgen. Hat sich dieser Vollidiot über die mögliche Gefahr keine Gedanken gemacht? Wie soll ich dich beschützen, wenn du solche Alleingänge machst?”
 

„Du musst den Einsatz nicht machen, wenn du glaubst, dass es zu gefährlich ist”, sagte ich ihm und versuchte zurück auf das eigentliche Thema zu kommen.

Er sah mich eine Weile schweigend an. Sein ganzer Körper wirkte angespannt. Worüber dachte er nach?

„Ich mach es“, sagte er.

Der Gedanke, dass ich ihn an diesem Einsatz nicht hindern konnte, machte mich unruhig. „Warum?“, fragte ich beinahe flüsternd.

„Ich weiß was passiert, wenn wir dieses Treffen absagen.“

Ich blickte ihn fragend an. „Was meinst du damit?“

„Du wirst früher oder später ein neues Treffen mit dieser Person vereinbaren und niemand von uns wird davon erfahren. Denkst du wirklich, dass ich das zulasse?“

Ich wusste nicht wie ich darauf reagieren sollte, also schwieg ich.
 

„Ich mach es“, wiederholte er seine Worte.

Meine Brust zog sich zusammen. Ich hatte wirklich gehofft, dass er ablehnen würde.

„Ich nehme an, dass wir die anderen darüber zunächst nicht informieren?”, fragte er. Ich nickte ihm langsam zu.

„Wir wissen doch gar nicht, ob die Vermutung stimmt. Das sind sensible Informationen.”

„Und trotzdem hast du mir davon erzählt.”

Ich sah ihn ungläubig an. „Natürlich! Ich vertraue dir Fritz. Und ich lasse dich nicht in einen Einsatz gehen bei dem dir Informationen fehlen.“

Sein Blick wurde weicher. „Vielleicht irrt ihr euch.“

„Mittlerweile hoffe ich darauf“, sagte ich leise.
 

Ich drehte mich wieder zum Rucksack und holte ein kleines Mikrophone raus. Er sah mich an.

„Wir werden doch nachher verkabelt.“

„Ich weiß“, entgegnete ich und stellte mir vor ihn. „Aber hiervon weiß keiner!”

„Keiner?“

„Nur Falk. Er hat mir die Sachen besorgt. Das andere Kabel wird dir im Kragen und im Brustbereich angelegt. Wir sollten das hier also woanders platzieren...” Ich betrachtete seine Kleidung und überlegte, wo ich das Mikrophone unauffällig anbringen konnte.

„Vielleicht am Gürtel?“, schlug Fritz vor. „Dann kann ich den Akku in die Hosentasche stecken.“

„Gute Idee!“ Ich befestigte das Mikrophone am Gürtel seiner Hose und zog sein Shirt darüber. Als alles verkabelt war, sah ich ihn an.
 

„Vergiss nicht es zu aktivieren bevor du in den Einsatz gehst, ok?“

„Wenn du mir versprichst dich aus dem Rest heute rauszuhalten?“ Ich wollte ihm widersprechen, aber er unterbrach mich. „Bielefeld, ich meine das ernst. Ich kann mich nicht auf den Einsatz konzentrieren, wenn ich wieder irgendwelche Aktionen von dir befürchten muss. Ich kette dich hier fest, wenn es sein muss.”
 

„Wenn was passiert...“, wandte ich ein, wurde aber erneut unterbrochen.

„Dann verständigt ihr das SEK. Die sind doch eh informiert. Josephine, du hälst dich da heute raus, ist das klar?” Ich konnte es ihm nicht versprechen, also drehte ich mich von ihm weg.

„Ich habe noch was“, sagte ich und wühlte im Rucksack.

„Was denn noch?“, fragte Fritz genervt als ich seiner Bitte aus dem Weg ging. “Hast du noch eine Panzerausrüstung in dem Rucksack?“
 

Ich verdrehte die Augen und zog eine Pistole heraus. Fritz sah mich zweifelnd an.

„Wofür soll die sein?“

„Für dein Fußgelenk!“ Ich überreichte sie ihm mit der passenden Halterung. Sie war sehr klein - dadurch viel sie nicht auf oder erschwerte seine Bewegungen.

„Ich habe doch meine Dienstwaffe. Die sollte reichen.”

„Nimm sie einfach. Es ist nie verkehrt eine Zweite zu haben.”
 

Er sah mich kopfschüttelnd an, nahm aber die Pistole und prüfte sie. Fritz kniete sich auf den Boden um die Pistole am Fußgelenk zu befestigen.

„Zufrieden?”, fragte er mich und stand wieder auf.

„Ja“, sagte ich und versuchte meine Unruhe niederzukämpfen.

„Warum bist du so nervös? Du scheinst dir ja echt Sorgen zu machen“ Seine Stimme klang beinahe spöttisch. Ich musste an den Abend vor meinem Einsatz am Strich denken und wie ich dort mit den Jungs geredet hatte. Er sprach im gleichen Ton mit mir und das machte mich wütend. Ich verengte meine Augen.
 

„Ja, das tue ich. Ich mach mir sogar verdammte Sorgen! Hast du damit ein Problem?“ Er sah bei meinem Ausbruch überrascht aus. Ich war halt so. Meine Grenze war erreicht. Ich hatte Angst um ihn und mir war es egal, was er darüber dachte.
 

Ich ging auf ihn zu und umarmte ihn. Ich wollte diesen Impuls nicht länger unterdrücken. Ich spürte seine Wärme, als ich mich gegen ihn drückte. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Ich hatte seine Nähe die letzten Tage vermisst.

„Pass einfach auf dich auf, ok?“, murmelte ich in sein Shirt und hielt ihn fest. Es dauerte nicht lange bis er meine Umarmung erwiderte und mich enger an sich zog.
 

An der Tür klopfte jemand und ich löste mich von ihm.

„Ja?“, rief ich und trat einen Schritt von Fritz weg. Ich war durcheinander und mied seinen Blick. Ich sollte mich zusammenreißen. Es war wichtig, dass wir vor einem Einsatz hochkonzentriert waren. Also musste ich Abstand zu Fritz gewinnen. Falk betrat den Raum und blickte uns an.

„Kann ich kurz stören?“

„Ja, wir haben alles geklärt.“

Er beäugte uns skeptisch. Ich spürte die Blicke von Fritz auf mir. Es trug nicht sonderlich dazu bei, dass ich ruhiger wurde.
 

„Die Kollegen vom Drogendezernat sind da.“

„Wir sind soweit“, sagte ich Falk, schnappte mir den Rucksack und ging auf ihn zu.

„Kann ich einen Moment mit Ihnen alleine reden, Herr Altenburg?“ Ich drehte mich erstaunt zu Fritz. Warum wollte er mit Falk reden? Mir war nicht wohl dabei die beiden alleine zu lassen. Aber Falk stimmte zu. Ich wurde zu den Kollegen geschickt. Widerwillig verließ ich das Zimmer und ließ die beiden alleine.
 

***
 

Falk saß mit mir zusammen im Wagen unweit der Lagerhalle als wir auf neue Informationen warteten. Der Informant müsste jeden Moment erscheinen. Ich testete unruhig immer wieder die Frequenz vom Zweitgerät, aber Fritz hatte es noch nicht aktiviert. Wollte er mir heimzahlen, dass ich auf seine Bitte mich rauszuhalten nicht reagiert hatte? Das war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine Lektion. Ich konnte ihm schlecht über das Hauptgerät sagen, dass er gefälligst sein zweites Mikrophone aktivieren sollte. Hannes war über die gleiche Frequenz verbunden und hörte alles was wir Fritz sagten.
 

Alex und Christopher hatten sich auf der anderen Seite vom Gelände platziert. Wir standen verdeckt, damit uns der Informant nicht bemerken würde.

„Könnt ihr schon was sehen?“, fragte Alex.

„Nein, noch nichts“, sagte Fritz leise. „Er ist schon eine viertel Stunde zu spät. Ob der noch kommt?“

„Der kommt mit Sicherheit“, sagte Hannes. „Bleibt geduldig!“
 

Es dauerte weitere zehn Minuten bis Hannes Bewegungen meldete. Aber es blieb nicht bei einer Person.

„Scheiße“, hörte ich Fritz fluchen und mein Atem stockte. Er meldete drei maskierte und bewaffnete Männer, die mit einem jungen Mann im Schlepptau auf die beiden zukamen. Es musste sich um den Informanten handeln. Wurde er als Geisel benutzt?
 

Mein Puls hämmerte als Fritz plötzlich seine Meldungen unterbrach. Ich hörte Männerstimmen die rumbrüllten und die Kollegen aufforderten ihre Waffen auf den Boden zu legen und zu ihnen zu schieben. Nein! Es war also doch eine Falle! Wie hatte ich nur zulassen können, dass Fritz dieses Treffen durchführt. Wir mussten ihn da rauskriegen. Und was war mit Hannes? Er wurde ebenfalls bedroht. Hatten wir uns getäuscht ihn zu verdächtigen?
 

Fritz versuchte ruhig mit den Männern zu reden.

Meine Brust zog sich zusammen und mein Magen verkrampfte sich. Alex informierte uns, dass er das SEK verständigt hatte. Er forderte Hannes und Fritz auf aus der Schussbahn zu gehen, wenn gestürmt wurde.
 

Ich blickte zu Falk. Er hatte sich in seinem Sitz vorgebeugt und lauschte mit verengten Augen dem Gespräch. Plötzlich war Funkstille und wir konnten nichts mehr hören. Was war passiert?

„Josephine?“ Es war Alex. Er klang etwas atemlos. „Kannst du mich hören?“

„Ja“, bestätigte ich. Warum hörte ich Alex, aber weder Fritz noch Hannes? Was war mit den Mikrophonen passiert?
 

War uns ein Fehler unterlaufen oder hatte sich der Informant verquatscht? Woher wussten die Männer, dass Fritz und Hannes Waffen trugen? Hatten Sie etwa auch die Kabel der Mikrophone durchtrennt? Diese Ungewissheit macht mich verrückt. Ich musste wissen, was dort passierte – musste in diese Lagerhalle! Falk hielt mich fest als ich aus dem Auto steigen wollte.
 

„Wo willst du hin?”

„Ich will da rein!“ Was dachte er denn, was ich vorhatte?

„Bleib hier, Josephine. Du weißt doch gar nicht was da los ist. Das SEK ist gleich da.“

Ich schüttelte ungläubig meinen Kopf und versuchte seinen Griff zu lösen. „Du willst hier warten? Wer weiß wie lange das SEK braucht. Fritz ist da drin, verflucht noch mal!” Ich brüllte beinahe.

„Du darfst da nicht rein“, sagte Falk ernst und verstärkte seinen Griff um mein Handgelenk.

Ich sah ihn entgeistert an. Wusste er überhaupt, was er da sagte? „Sag mal spinnst du?“

„Ich habe deinem Kollegen versprochen dich da rauszuhalten - egal was passiert.”
 

Ich konnte nicht glauben was ich hörte. Hatte Fritz deswegen mit Falk alleine sprechen wollen? Verflucht sollte er sein. Sobald ich Fritz sicher aus der Sache rausgeholt hatte, würde er sich was anhören können.

„Josephine“, mahnte mich Falk als ich erneut versuchte mich von ihm zu lösen. Ich konnte mich aus seinem festen Griff einfach nicht befreien. “Beruhig dich! Versuch das zweite Mikrophone einzustellen.”

„Das hat er aus!“, fuhr ich ihn an. „Kapierst du das nicht?“
 

„Probiere es einfach noch mal!“

Ich schnaubte frustriert. Am liebsten würde ich ihm einfach eine reinhauen. Mit einer gebrochenen Nase wäre er lange genug abgelenkt, dass ich aus dem Wagen entkommen konnte. Aber er hätte mich vermutlich eingeholt, bevor ich die Halle erreicht hätte. Mein Puls schlug immer höher, aber ich versuchte ruhiger zu werden. Ich verstellte die Frequenz und suchte nach dem Mikrophone von Fritz. Meine Hand zitterte.
 

Fritz hatte tatsächlich das Zweitgerät angeschaltet. Ich hörte verzerrt die Stimme von Hannes. Er wurde eindeutig nicht länger bedroht. Er klang arrogant und überheblich. Wo waren die anderen Männer? Warum hörte ich sie nicht mehr?
 

Die Stimme von Hannes drang durch den Lautsprecher.

„...eigentlich gewünscht, dass ich diesen Einsatz mit deiner lieben Kollegin mache. Das hätte alles einfacher gemacht. Sie ist mir zu dich auf die Pelle gerückt.“ Sprach er von mir? Hatte er gemerkt, dass wir ihn im Verdacht hatten? Falk sah mich angespannt an. Wir hatten Recht! Hannes war korrupt. Er hatte uns mit den Männern in die Irre führen wollen. Wie lange war das schon sein Plan? Mir lief ein Schauer über den Rücken. Fritz war mit ihm in dieser Halle. Wir mussten was unternehmen!
 

„Ich hätte sie damals erschießen sollen als sie mich unterbrochen hat dieses kleine Flittchen unschädlich zu machen. Aber wenn du erst mal aus dem Weg geschafft bist, ist sie als nächste dran... Vielleicht ein tragischer Reitunfall?”

“Hannes,” sagte Fritz. “Das wird dir nichts bringen. Du hast längst die Kontrolle über die ganze Sache verloren. Wie viele willst du noch umbringen? Du kannst es nicht mehr vertuschen.”
 

“Doch das kann ich. Ich hatte alles im Griff bis dieser Fehler am Landwehrkanal passiert ist. Das bieg ich wieder hin und keiner wird was merken.”

Die Stimme von Hannes machte mich krank und mir lief ein Schauer über den Rücken als seine Worte in meinem Ohr nachhallten. Er war bereit alles zu tun. Er war bereit Fritz zu töten. Ich musste hier raus.
 

Ich beäugte Falk ohne meinen Kopf zu drehen. Er war konzentriert und lauschte dem Gespräch. Ich konnte nicht warten bis das SEK hier war und das Gebäude stürmte. Fritz würde bis dahin ganz gewiss nicht mehr Leben.

Ganz langsam ließ ich meine Hand in meine Jacke gleiten und umfing meine Handschellen. Dann ging alles sehr schnell. Eine Handschelle umfing das Lenkrad, die andere seine Hand. In der nächsten Sekunde stürzte ich aus dem Auto. Er bekam mit der freien Hand meine Jacke zu greifen, aber ich konnte mich aus ihr rauswinden. Ich landete unsanft auf dem Boden und meine verletzte Hand pochte schmerzhaft.
 

„Mach das nicht, Josephine“, sagte er flehend.

Er sah besorgt aus, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Es ging um das Leben von Fritz.

“Tut mir leid, Falk.”

Ich drehte mich von ihm weg und lief im Laufschritt zur Lagerhalle. Ich musste vorsichtig sein. Ich konnte nicht wissen, ob die drei Typen von denen Fritz berichtet hatte wirklich weg waren. Waren sie geflüchtet nachdem Hannes sie über das SEK informiert hatte? Was plante er? Wollte er den Informanten und Fritz töten und sich dann selbst verwunden? Alle würden annehmen, dass es ein Überfall gewesen war, bei dem nur Hannes überlebt hatte. Er konnte nicht wissen, dass Fritz ein zweites Mikrophone hatte.
 

Ich musste mich beeilen. Vielleicht würde Falk sich bald von den Handschellen befreien oder Alex verständigen. Aber Alex musste doch genauso Fritz retten wollen.

Ich hörte einen Schuss, gefolgt von einem Zweiten. Mein Herz setzte einige Schläge aus. Panik stieg in mir auf. Hatten die Kugeln Fritz getroffen? Nein, daran durfte ich gar nicht denken. Ich würde nicht zu spät kommen. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich rannte weiter zur Lagerhallte und meine Schritte beschleunigten sich. Mein Herz pochte und es dröhnte in meinem Kopf.
 

Ich riss mit zittrigen Händen die Tür der Lagerhalle auf. Ein weiterer Schuss fiel und jemand stöhnte laut auf. Es war Fritz. Mir stiegen Tränen in die Augen und ich musste mich für eine Sekunde an der Mauer festhalten. Aber gerade jetzt, wo Fritz mich brauchte, durfte ich nicht versagen.

Ich hielt meine Waffe zittrig in den Händen. Würde ich überhaupt schießen können? Durch den Sturz aus dem Auto hatte ich kaum Kraft in der Hand. Ich lief um einige Lagercontainer herum. Was ich dahinter erblickte ließ meinen Atem stocken. Ich sah drei Personen auf dem Betonboden liegen. Überall war Blut. Mein Blick blieb an Fritz haften, der regungslos auf dem Boden lag.
 

„Fritz“ Ich rang nach Luft, hatte das Gefühl ersticken zu müssen. Es bildete sich Tränen in meinen Augen. Ich wollte nicht glauben, was ich sah.

„Fritz”, keuchte ich erneut und konnte mich noch immer nicht vom Fleck bewegen.
 

Plötzlich sah ich wie sich Fritz bewegte. Ich hielt meinen Atem für einen Moment an und ging einen Schritt auf ihn zu. Sein Brustkorb hob und senkte sich, bevor er einen Hustenanfall bekam und sich mit den Unterarmen ein Stück vom Boden abdrückte. Er drehte seinen Kopf und sah erschöpft in meine Richtung. Als er mich erkannte verengten sich seine Augen.
 

„Was machst du hier, verflucht noch mal?“ Seine Stimme klang kratzig. Ich atmete tief ein als mich die Erleichterung durchströmte. Tränen standen mir in den Augen. Er lebte. Fritz lebte. Meine ganze Anspannung ließ langsam nach. Als er vorsichtig aufstand und sich zu mir drehte, erkannte ich, dass seine Lippen aufgeschlagen waren und er eine Platzwunde am Kopf hatte. Ich sah das Einschussloch in seinem Sweatshirt. Die Weste hatte verhindert, dass die Kugel ihn direkt ins Herz traf. Er verschwamm vor meinen Augen als sie sich mit Tränen füllten.
 

„Josephine“, hörte ich die Stimme von Fritz. Er klang so sanft als er auf mich zukam. Ich ließ die Wärme, die er in mir auslöste ohne Widerspruch zu. Meine Ängste waren vergessen. Fritz würde mir niemals das Herz brechen, nein, er hatte es geheilt, ohne dass ich es bemerkt hatte! Vermutlich wusste er nicht mal, was er da tat. Die Angst ihn zu verlieren war größer als alles andere was ich je erlebt hatte. Er würde für mich immer mehr sein als nur ein Kollege, ob ich nun Angst davor hatte oder nicht spielte keine Rolle mehr. Diese Erkenntnis ließ mich erschaudern. Ich zitterte am ganzen Körper.
 

Wenige Schritte vor mir blieb er stehen und sah mich besorgt an.

„Josephine.“ Wie konnte er in so einer Situation um MICH besorgt sein? Dieser Mann war einfach außergewöhnlich. Ich lächelte und wischte mir die Tränen aus den Augen.

Mein Lächeln gefror als ich hinter Fritz eine Bewegung wahrnahm. Es war Hannes, der blutverschmiert und auf wackeligen Beinen mit seiner Waffe auf Fritz zielte.
 

Es blieb keine Zeit für eine Warnung. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich rannte die letzten Schritte auf Fritz zu, um ihn aus der Schusslinie zu bringen. Während ich mit meinem Körper Fritz beiseite stieß, feuerte ich mit meiner Waffe einen Schuss in die Richtung von Hannes ab. Im selben Moment, sprangen die Türen der Lagerhalle mit lauten Gebrüll auf. Mein Körper durchfuhr ein brennender Schmerz, als mich die Kugel traf, die Fritz hätte treffen sollen.

„Fritz!“

Jemand rief meinen Namen. Josephine? War sie es? Ich war nicht so schwer verletzt, dass ich halluzinierte, oder? Mein Kopf dröhnte und ich hatte mir etliche Blessuren eingefangen, als diese Feiglinge mich verprügelten. Die Mistkerle waren geflohen, sobald Hannes sie vor dem SEK warnte.
 

Wieder rief jemand meinen Namen und dieses Mal war ich mir sicher, dass es Josephine war. Was zur Hölle machte sie hier in der Lagerhalle? Sie sollte draußen in Sicherheit sein. Ich hatte das Mikrophone angestellt, damit sie sich nicht einmischt und wusste, dass sie mit Hannes Recht hat. Diese Frau tat wirklich nie was man ihr sagte. Bei dem Gedanken daran hätte ich beinahe gelacht.
 

Sie musste kurz vor dem ersten Schuss losgerannt sein. Anders hätte sie nicht so schnell hier sein können. War dieser Falk Altenburg überhaupt zu irgendwas zu gebrauchen? Er sollte sie doch aus der Gefahrenzone raushalten, verdammt.

Ich wollte zu ihr hinsehen, aber mein Kopf fühlte sich so schwer an. Ich lag noch immer am Boden und versuchte meine Kraft zu sammeln. Die Weste fühlte sich zu eng an. Ich brauchte Sauerstoff. Ich wusste, dass ich dankbar sein sollte. Sie hatte mir das Leben gerettet. Langsam nahm ich einen tiefen Atemzug. Dabei überkam mich ein starker Hustenreiz. Meine Unterarme zitterten als ich mit ihnen meinen Brustkorb vom Boden abstützte um besser atmen zu können.
 

Meine Brust schmerzte, aber die Weste hatte das schlimmste verhindert, als Hannes auf mich geschossen hatte. Fast hätte mich dieser Mistkerl erwischt. Mich erschreckte es noch immer wie eiskalt er war, als er auf den jungen Studenten ohne zu zögern geschossen hatte. Es gab keine Chance ihn aufzuhalten.
 

Hannes wusste nicht, dass ich einen Schutz trug, was mir einen Vorteil verschaffte und mit der zusätzlichen Waffe war ich in der Lage ihn außer Gefecht zu setzen. Ich verdankte Josephine mein Leben. Wenn sie nicht auf die Weste und die Waffe bestanden hätte, wäre ich jetzt tot.
 

Ich biss meine Zähne zusammen und richtete meinen Blick auf. Josephine stand einige Meter von mir entfernt und starrte mich an. Sie war wirklich hier. Diese verrückte Frau war tatsächlich in die Lagerhalle gestürmt. Ich dachte an die gefährliche Situation wenige Sekunden zuvor. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Josephine zu diesem Zeitpunkt schon hätte hier sein können. Allein die Vorstellung daran ließ mich fast durchdrehen und zugleich wütend werden. Ich sah sie mit verengten Augen an.
 

„Was machst du hier, verflucht noch mal?“ Sie erwiderte nichts, starrte mich wortlos an. Ich richtete mich langsam auf.

Die Wut in mir verflog, als ich sie genauer ansah. Ihr standen Tränen in den Augen und ihre Hände zitterten. So zerbrechlich hatte ich Josephine noch nie erlebt. Nicht einmal nachdem sie entführt wurde und im Fluss beinahe ertrunken wäre. Auch da war sie stark geblieben. Es schnürte mir die Kehle zu, sie so aufgelöst zu sehen.
 

„Josephine“, sagte ich zögernd. Hatte sie sich solche Sorgen um mich gemacht? Der Gedanke berührte mich. Ich erinnerte mich, wie sie mich heute unverhofft umarmt hatte, erinnerte mich an mein rasendes Herz und spürte wie heftig es wieder schlug, sobald ich daran dachte.
 

Sie gab mir Kraft und Hoffnung. Auf der anderen Seite verwirrte sie mich aber auch von Tag zu Tag mehr. In einem Moment verstand ich sie und im nächsten hatte ich keine Ahnung mehr was vor sich ging. Sie gewährte mir einen Blick in ihre Welt und verschloss sich in der nächsten Sekunde. War ich zu ungeduldig? Brauchte sie wirklich nur mehr Zeit oder versuchte ich mir das einzureden?
 

Ich hatte ihr oft genug gezeigt, wie ich empfand. Was brauchte sie noch? Große Worte? Dafür war ich nicht der Typ. Ich würde eher einen Drachen bezwingen. Aber wie ich Josephine kannte, würde sie ihn schon gezähmt haben und auf ihm reiten, bevor ich überhaupt die Chance hätte sie zu retten. So war sie halt.
 

Ich dachte daran wie ich sie geküsst hatte. Sie hätte doch nicht so darauf reagiert, wenn ich ihr egal wäre. Wie deutlich musste ich werden, dass sie mich verstand? Hatte sie so eine Angst davor? Ich sah sie besorgt an, als ihr ganzer Körper zitterte und wieder Tränen über ihre Wangen liefen. Sah man so jemanden an, der einfach nur ein Kollege war? Egal, ich wollte zu ihr und sie in die Arme nehmen. Ich wollte sie trösten, ihr sagen, dass alles in Ordnung ist, dass ich bei ihr bin.
 

„Josephine.“

Ich ging auf sie zu. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah mich sanft an. Ihr Lächeln berührte mich tief. Diese Frau wusste nicht, wie tief sie sich in mein Herz gegraben hatte. Ich sollte es ihr sagen.

Ihr Lächeln gefror im nächsten Moment und sie rannte auf mich zu. Ihre Augen waren geweitet. Sie rammte mich und ich hörte Schüsse. Ich strauchelte einige Schritte mit ihr, kämpfte um mein Gleichgewicht, während ich hörte, wie das SEK die Lagerhalle stürmte. Ich war alarmiert und mein Kopf fuhr rum. Als ich Hannes erblickte, zog ich Josephine schützend an mich. Seine Waffe fiel zu Boden und er taumelte benommen. Dann brach er zusammen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich nicht nur den Schuss von Josephine gehört hatte.
 

Sie stöhnte auf und wurde plötzlich schwer in meinen Armen. Mein Kopf schnellte zu ihr, als sie drohte meinen Armen zu entgleiten. Sie sank kraftlos zu Boden und ich hatte Mühe sie zu halten. Erst da realisierte ich, was gerade passiert war. Sie blickte mich schmerzverzerrt an.

„Josephine“, keuchte ich atemlos. Ich kniete neben ihr. Ihr Körper verkrampfte sich, als sie gegen den Schmerz ankämpfte. Sie hatte ihre Augen fest geschlossen und biss ihre Zähne zusammen. Ich starrte sie an, konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Sie atmete stockend, krallte sich mit ihren Händen in ihrem T-Shirt fest.
 

Ich suchte die Wunde. Der untere Teil von ihrem Shirt war von Blut durchtränkt. Vorsichtig zog ich es ein Stück hoch. Ich musste schlucken, als das Blut pulsierend aus der Schussverletzung floss.

„Scheiße“, fluchte ich, als ich mich über sie beugte. Ich musste die Blutung stoppen. Ich zog meine Jacke aus und knüllte sie zusammen um sie auf die Wunde zu pressen.
 

Ihr Bauch spannte sich an und sie stöhnte auf, als ich meine Jacke auf die Schussverletzung presste. Ich hasste es ihr wehzutun. Aber ich hatte keine Wahl. Sie würde verbluten, noch bevor die Sanitäter hier waren.

„Tut mir leid“, sagte ich leise. Meine Stimme drohte zu versage. „Die Blutung...“

Sie nickte schwach, aber lächelte. „Ich weiß...“
 

Meine Jacke saugte immer mehr Blut auf. Der Stoff war durchtränkt und meine Hände färbten sich rot.

„Warum hört der Scheiß nicht auf zu bluten?“, fluchte ich leise und erhöhte den Druck. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerzen. Meine Hände zitterten und mein Herz schlug wie verrückt, als ich Josephine ansah. Dieser Mistkerl hatte sie voll erwischt.
 

„Jetzt sind wir quitt.“ Ihre Stimme war schwach, aber ich war mir sicher mich nicht verhört zu haben. Ich sah sie ungläubig an. Was erzählte sie da nur?

„Ich bin so froh, dass ich rechtzeitig da war.“ Sie umfing langsam mein Handgelenk, als sie stockend ausatmete.

„Erzähl nicht so einen Schwachsinn“, fauchte ich. Sie war verflucht noch mal angeschossen worden. Wie konnte man darüber froh sein?
 

Mir tat mein schroffer Ton im nächsten Moment schon wieder leid. Wir sollten nicht streiten. Aber ich verstand einfach nicht, warum sie das getan hatte. Sie hatte mir eine kugelsichere Weste gegeben, sich aber ohne eigenen Schutz vor mich geworfen und die Kugel abgefangen. Warum tat sie das? Es gab doch einen Grund, warum ich diesen Einsatz machen wollte.
 

Ich hatte keine Kontrolle über die Situation und fühlte mich so hilflos. Bei der Entführung von Josephine wusste ich, was ich tun musste um sie zu retten. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass die Sanitäter bald kamen. Meine Hände waren blutverschmiert, als ich auf die Wunde blickte. Josephines Atem wurde immer flacher. Wo blieb dieser verfluchte Arzt?
 

„Hey, Josephine! Nicht einschlafen!“ Sie sah müde aus. Aber sie durfte jetzt nicht ihr Bewusstsein verlieren. „Bleib wach!“

Josephine lächelte während sie schwach nickte.

Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um. Die Uniform kannte ich. Es war ein Kollege vom SEK. Er sichtete den Bereich und sprach in seinen Funk. Danach kam er auf uns zu.
 

„Wir brauchen einen Arzt“, rief ich ihm zu.

„Habe ich gemeldet. Sobald die Kollegen alle Bereiche gesichert haben, holen wir die Sanitäter.“

Ich glaubte nicht richtig zu hören. War der Typ blind? Sah er nicht die Blutlache? Sah er nicht das blasse Gesicht von Josephine? Wir hatten keine Zeit dafür!
 

„Wir brauchen SOFORT einen Arzt“, sagte ich mit Nachdruck. Er sah zu Josephine bevor er erneut eine Meldung machte.

„Die Kollegen bringen jemanden her“, bestätigte er mir. Ich drehte mich wieder um.

Die Augen von Josephine waren geschlossen.

„Josephine!“

Sie stöhnte leise und öffnete langsam wieder ihre Augen. Der Griff um mein Handgelenk verstärkte sich. Ich musste schlucken.
 

„Josephine, die Ärzte sind gleich da. Hörst du?“ Ich versuchte sie beruhigend anzulächeln. Ihre Nägel krallten sich in meine Haut, als wenn sie nicht wollte, dass ich ging.

„Ich bin hier“, flüsterte ich ihr mit heiserer Stimme zu. Sie lächelte noch immer.

„Tut mir leid wegen der Jacke.” Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und sie atmete schwer. „Ich kauf dir eine Neue...“

„Du solltest jetzt nicht reden, Josephine”, mahnte ich sie sanft. Sie musste sich ihre Kraft besser einteilen. Ich wurde ungeduldig. Wo blieben die verdammten Sanitäter? Ihr Atem war viel zu flach und ihre Lippen zitterten. Ich musste sie irgendwie wach halten.
 

„Du wirst noch deine Kraft brauchen, wenn du den Anschiss vom Chef kriegst. Hörst du, Bielefeld? Denke nicht, dass du dich davor drücken kannst. Du wirst ihm erklären müssen, warum du dich eingemischt und dir die Kugel eingefangen hast.“

Sie atmete kraftlos. „Hannes wollte mich beseitigen, nicht dich, Fritz.”
 

„Und es ist meine Aufgabe dich in solchen Fällen zu beschützen. Verstehst du Bielefeld? Ich beschütze dich und nicht andersrum.” Ihre Daumen strichen über mein Handgelenk, als sie mich entschuldigend ansah. Ihr Gesicht wirkte fahl, ihre Augen leer. Und ihr flacher Atem machte mir wirklich Sorgen.
 

„Ich bin müde“, sagte sie leise und senkte ihre Lider.

Im selben Moment hörte ich zu meiner Erleichterung die Kollegen vom SEK mit den Sanitätern kommen. Mein Blick blieb aber bei Josephine.
 

„Wir fahren dich jetzt ins Krankenhaus. Da kannst du dich ausruhen und schlafen“, sagte ich beruhigend. Jetzt würde man ihr helfen. Ich würde bald wieder ihr Lachen hören, würde bald wieder die starke Frau sehen, die sie war. Sie öffnete kurz ihre Augen und sah mich an. Ich konnte den Ansatz eines Lächelns erkennen. Dann schloss sie wieder ihre Augen. Ihr Gesicht erschlaffte und ihre Hände ließen mein Handgelenk los. Mein Herz setzte einen Moment aus, als ich erkannte, dass sie kaum noch atmete.

“Josephine“, flüsterte ich. Sie reagierte nicht.
 

“Josephine”, rief ich lauter. Wieder reagierte sie nicht. Im nächsten Augenblick drückte mich jemand beiseite.

Es waren die Sanitäter. Mein Kopf setzte aus. Die Stimmen verschwammen zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. `Beatmung. Sie muss beatmet werden´, drangen die Worte an mein Ohr.

Es war wie in einem Film, der in Zeitlupe lief. Josephines regungsloser Körper wurde auf eine Trage gehoben und die Maske zur Beatmung wurde auf ihren Mund gelegt. Dann trugen die Sanitäter sie raus.

Jemand redete auf mich ein. Ich verstand ihn nicht. Was wollte der Typ von mir? Warum half er nicht Josephine?

„Geht es Ihnen gut?“, wiederholte er seine Frage. Ich sah ihn nicht an, blickte Josephine hinterher.

„Sie müssen sich behandelnd lassen“, redete er weiter auf mich ein. Als er sich näherte und meine Wunde am Kopf versorgen wollte, drückte ich ihn von mir weg. Meine eigenen Schmerzen waren vergessen. Ich wollte bei Josephine sein.
 

„Mir geht es gut!“ Ich stand auf und folgte den anderen Sanitätern.

„Sie haben eine Platzwunde!“

„Ich bin nicht verletzt“, erwiderte ich und ging mit etwas wackeligen Beinen weiter. Ich musste zu ihr.

Vorm Krankenwagen hielt mich eine junge Frau auf und versperrte mir den Weg. „Sie können hier nicht rein.“

Ich sah sie ungläubig an. „Sie ist meine Partnerin!“
 

Ich hatte nicht vorgehabt sie anzuschreien, aber ich konnte mich im Moment nicht kontrollieren. Es machte mich noch rasender als sie mich ruhig und mitfühlend ansah.

„Die Patientin ist in einem kritischen Zustand. Sie muss unterwegs behandelt werden.“

Ich spannte meine Kieferknochen an und formte meine Hände zu Fäusten um diese kleine Person nicht einfach beiseite zu schieben und in den Krankenwagen zu steigen. In diesem Moment wurden die Türen des Krankenwagens geschlossen und er fuhr mit Blaulicht los. Ich konnte nur hinterher sehen.
 

„Kommen Sie bei uns mit.“ Ich sah wieder die Sanitäterin an. „Wir behandeln Sie unterwegs und bringen Sie zu Ihrer Partnerin.“

Mir blieb nichts andere übrig als wortlos ihr in den Krankenwagen zu folgen.
 

***
 

„Sie müssen mir doch sagen können, wie es ihr geht!“ Ich war aufgebracht. Die Schwester sagte mir ständig, dass sie keinen aktuellen Stand hatte. Aber irgendeiner musste den doch haben.

„Herr Munro, die Ärzte operieren Ihre Kollegin noch. Es wird sich jemand bei Ihnen melden, sobald die OP beendet ist.“
 

Ich atmete frustriert aus. Mich beschlich das Gefühl, dass mir alle aus dem Weg gingen. Auf der Fahrt zum Krankenhaus kümmerte die Sanitäterin sich um meine Wunde am Kopf. In der Notaufnahme angekommen, bekam ich weitere medizinische Behandlung.
 

Josephine war von der Notaufnahme direkt in einen Operationssaal gebracht worden. Mich hatte man nach meiner Behandlung einige Minuten in einem Zimmer warten lassen, ohne mir irgendwelche Informationen zum Zustand von Josephine zu geben. Ich marschierte zum Empfang um Antworten zu bekommen, aber man hatte mich nur auf eine andere Station gebracht. Dort sollte ich in einem kleineren Aufenthaltsraum warten. Ich war komplett alleine und das machte mich irre.
 

„Ich muss wissen, wie es ihr geht!“

Ich versuchte etwas ruhiger zu werden. Die Krankenschwester war die erste Person, die nach mir sah. Ich stürzte mich also gleich mit Fragen auf sie. Sie blickte mich mitfühlend an.

„Bitte!“

Eine Weile sah sie mich schweigen an.

„Ich kann nichts versprechen Herr Munro, aber ich versuche eine der OP-Schwestern zu fragen. Ob ich eine Auskunft kriege, liegt aber nicht in meiner Hand.“

„Danke!“
 

Sie verließ das Zimmer und ich war wieder alleine mit meinen Gedanken und Ängsten.

Josephine musste wieder gesund werden. Es war eine Schusswunde. Wie schwer konnte die sein? Ich wusste nicht, ob wichtige Organe getroffen waren und dieses Unwissen machte mich verrückt.
 

An meiner Kleidung klebte überall das Blut von Josephine und ich bekam einfach die Bilder nicht aus meinem Kopf. Ich hatte Josephine das letzte Mal am Krankenwagen vor der Lagerhalle gesehen. Seitdem versuchte ich irgendwelche Informationen zu kriegen – bisher aber ohne Erfolg. Ich wanderte im Zimmer unruhig umher. Die Tür ging auf und ich drehte mich um, ich erwartete die Krankenschwester.
 

„Fritz! Ich habe dich überall gesucht.“

Alex kam auf mich zu. Er blickte mich an und verzog sein Gesicht, als er meine Kleidung betrachtete. Ihm musste klar sein, dass es nicht mein Blut war.

„Weiß du schon was von Josephine?“

Ich schüttelte den Kopf. „Die OP läuft noch.“

„Scheiße.“ Alex wirkte nachdenklich und blickte zur Seite. „Wir müssen Viktor verständigen. Er wird wohl die Kontaktdaten von Josephines Vater haben.”
 

Er hatte Recht. Wir mussten ihre Familie informieren. Aber der Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Wir setzten und sonst nur mit Familie in Verbindung, wenn jemand gestorben war.

Ich war unfähig Josephine zu beschützen. Ich hatte die Gefahr in der Lagerhalle unterschätzt, hatte geglaubt Hannes ausgeschaltet zu haben. Es war meine Schuld, dass es zu diesem Zwischenfall gekommen war. Wir konnte ich Viktor anrufen oder ihrem Vater gegenübertreten? Ich vergrub mein Gesicht in meine Hände und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Noch nie hatte mich in meinem Leben etwas so aus der Bahn geworfen.

„Fritz?“ Ich sah Alex an. Ich konnte die Besorgnis in seinen Augen sehen. „Alles klar?“

„Geht schon.“
 

Ich sah, dass er meinen Worten nicht glaubte. Wie konnte er auch. Er kannte mich seit Jahren. Wir waren ein eingespieltes Team und beste Freunde. Er wusste, was mir Josephine bedeutete. Schon vor ihrer Entführung hatte er mir gesagt, wie gefährlich es war sich auf eine Kollegin einzulassen. Aber was sollte ich machen? Ich hatte versucht meine Gefühle zu kontrollieren. Aber nachdem ich Josephine aus dem Fluss gerettet hatte, war es mir nicht länger möglich gewesen, sie einfach nur als Kollegin zu sehen. Sie war für mich viel mehr.
 

„Ich ruf Viktor an.“

Ich sah Alex an, als er sein Handy in die Hand nahm.

„Sollten wir nicht das Ergebnis der Operation abwarten?“

„Du hast recht“, stimmte er zu. „Wir sollten noch ein wenig warten. Es ist eh mitten in der Nacht. Wir wecken ihn so oder so.“
 

In dem Raum breitete sich eine unangenehme Stille aus. Es lag etwas Unausgesprochenes zwischen uns und ich vermutete zu wissen was es war.

„Du hast noch nicht gefragt, was eigentlich passiert ist.“ Alex spannte sich bei meinen Worten an.

„Weil ich es weiß!“ Ich sah ihn überrascht an. „Ich dachte wir sind Partner“, sagte er und ich hörte die Enttäuschung in seiner Stimme.
 

„Wir sind Partner“, versicherte ich ihm.

„Alter, warum hast du mir dann nichts gesagt? Es sollte nur ein Treffen sein um Informationen zu bekommen. In einem Moment ist Funkstille und im nächsten höre ich Schüsse. Weiß du, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Da muss erst ein Herr Altenburg kommen und mir erzählen, dass von Anfang an der Verdacht bestand, dass Hannes korrupt ist.“
 

Ich verstand ihn. Als ich von Josephine davon erfahren hatte, war ich auch sauer. Aber ich hatte zumindest vorm Einsatz von diesem Verdacht erfahren und konnte mich auf eventuelle Zwischenfälle einstellen. Alex war ahnungslos. Er ist mein Partner. Ich hätte ihn informieren müssen.
 

„Tut mir leid!“

Es war nur alles so schnell gegangen. Kaum hatte ich vom Korruptionsverdacht erfahren, waren Hannes und Christopher auch schon auf dem Revier. Ich hatte die Gelegenheit verpasst ihn mit ins Boot zu nehmen.

„Ist ja nicht zu ändern. Herr Altenburg hat uns von dem Verdacht berichtet und was bis zum Schusswechsel in der Halle vorgefallen ist.“
 

„Woher wusste der Altenburg, was los ist?“

„Du hattest das zweite Mikrophone noch an.“

Bei seinem Name spannte sich mein ganzer Körper an. Hatte er den Vorfall mitbekommen und nichts unternommen, um Josephine da rauszuhalten? In mir baute sich unsagbare Wut auf. Und er hatte sich als Josephines Partner bezeichnet? Ich ballte meine Fäuste.

„Er hat mir über Funk mitgeteilt, dass Josephine gerade im Begriff ist zur Halle zu rennen”, sagte Alex. „Das war aber noch vor den Schüssen.“

„Warum hatte er sie nicht aufgehalten?“ Alex verzog das Gesicht, als er mir antwortete.

„Sie hat ihn mit ihren Handschellen ans Lenkrad angekettet.“
 

„Sie hat was?“ Ich konnte nicht glauben was ich hörte. Dann machte ich mir klar, dass es sich hier um Josephine handelte. Diese Frau... Sie war einfach unmöglich. Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden kennengelernt, der so stur war wie sie. Er hatte also versucht sie aufzuhalten? Es verringerte nicht sonderlich meine Wut auf ihn. Warum hatte er SIE nicht angekettet? Ein Mann sollte zu seinen Versprechen stehen.
 

„Er hatte mir gesagt, dass ich sie aufhalten soll. Ich bin natürlich mit Christopher sofort hinterher, aber der SEK hat uns aufgehalten. Dann fielen die Schüsse. Kurz darauf hat der SEK die Halle gestürmt. Es ging alles so schnell. Der Krankenwagen stand an einem anderen Ausgang. Wir haben nach euch gesucht. Aber ihr wart schon weg. Danach haben wir versucht die anderen Typen zu kriegen.“

„Habt ihr sie erwischt?“

„Zwei davon. Aber den anderen kriegen wir auch noch. Da arbeiten so viele Kollegen daran – auch Christopher, dass ich dachte, dass ich vielleicht hier gerade mehr gebraucht werde.“
 

Ich war dankbar, dass er hier war. Endlich konnte ich mit jemandem reden und mich ein wenig ablenken bis wir endlich Infos zu Josephines Zustand bekamen. Die Kollegen würden sich darum kümmern. Mir war der Fall im Moment egal. Hannes war tot und Josephine schwebte vielleicht in Lebensgefahr. Ich musste hier bleiben, wollte der Erste sein den sie sah, wenn sie aufwachte. Ich wollte ihr ein Vortrag halten, wie idiotisch ihr Verhalten war. Im selben Moment wollte ich sie aber auch umarmen, ihr danken, dass sie überlebt hatte. An einen anderen Ausgang durfte ich gar nicht erst denken. Das würde ich nicht überstehen.
 

„Ich hatte den beiden gesagt, dass es eine Falle sein könnte“, fluchte ich vor mich hin, als ich weiter über den Vorfall nachdachte. Ich war erleichtert, dass der Chef zugestimmt hatte mich in den Einsatz zu schicken. Aber was hatte es gebracht?

Alex sah mich nachdenklich an. „Hast du deswegen so vehement darauf bestanden, den Einsatz zu machen?
 

Ich schüttelte meinen Kopf. „Zu dem Zeitpunkt wusste ich davon noch nichts.“

„Wann haben sie es dir gesagt?“

„Direkt bevor ich verkabelt wurde. Josephine hatte mir vorher das Mikrophone, eine Pistole und eine kugelsichere Weste gegeben.“

„Du wusstest von dem Verdacht und wolltest trotzdem den Einsatz machen?“

Ich nickte, zögerte ihm den Grund zu nennen. Aber es war mein bester Freund. Er würde den Grund wohl ahnen. „Ich wollte nicht, dass Josephine in die Schussbahn gerät bei einem späteren Alleingang.“

Ich hörte Alex frustriert stöhnen. „Das hat wohl nicht geklappt.“

Bei dem Gedanken an Josephine zog sich meine Brust zusammen.
 

„Was ist mit dem Studenten?“, fragte ich Alex. Ich erwartete, dass der anwesende Arzt nur noch den Tot hatte feststellen können. „Ich habe probiert Hannes aufzuhalten, aber er hat einfach zu schnell geschossen.“

„Der Junge lebt!“, sagte Alex.

„Wirklich?“, fragte ich überrascht. Wie konnte das sein? Ich hatte doch gesehen, wie Hannes ihn getroffen und er regungslos auf dem Boden gelegen hatte.

„Beim Sturz ist er wohl mit dem Kopf aufgeschlagen und hat sein Bewusstsein verloren. Er hat viel Blut verloren. Aber die Chancen stehen gut, dass er durchkommt.“
 

Damit hatten wir den Studenten als Zeugen und vielleicht auch das junge Mädchen. Aber was nützte mir ein geklärter Fall. Ich wollte endlich wissen, wie es Josephine geht. Hatte die Krankenschwester nicht gesagt, sie würde versuchen Informationen zu bekommen? Wie lange konnte das schon dauern? Hatte sie nur versucht aus diesem Zimmer zu kommen?
 

Die Tür ging auf und ich drehte mich ruckartig um. Mein Körper spannte sich an. War die Operation beendet? Wie war sie ausgegangen? Aber ich sah keinen Arzt und auch keine Krankenschwester. Herr Altenburg trat stattdessen in den Raum.

Es machte mich wütend ihn zu sehen.

„Wie geht es ihr?“, fragte er. Er klang besorgt. Er hatte kein Recht besorgt zu klingen. Immerhin war er Schuld, dass sie es geschafft hatte in die Lagerhalle zu gelangen.
 

Ich ging auf ihn zu. Ich hörte Alex meinen Namen rufen, aber da hatte ich den Mistkerl schon erreicht und verpasste ihm eine. Er sah den Schlag kommen und es irritierte mich für einen Moment, dass er nicht auswich und meine Faust mit voller Wucht in seinem Gesicht begrüßte. Er strauchelte, ging aber nicht zu Boden. Ich atmete schwer als ich versuchte meine Wut zu kontrollieren. Alex hatte mich erreicht und hielt mich zurück.
 

„Sie sind ein elender Lügner“, brüllte ich ihn an.

„Fritz!“, mahnte mich Alex. „Beruhig dich. Das bringt niemanden weiter. Denk an deine Probezeit!“

Ich ließ mich von Alex einige Schritte zurückdrängen, auch wenn ich Lust hatte dem Altenburg noch ein weiteres Mal eine runter zu hauen. Alex hatte meine Wut auf den Idioten durch die Erklärung mit den Handschellen zwar etwas verringert, trotzdem fiel es mir schwer ruhig zu bleiben. Er hatte so viel Zeit mit ihr verbracht. Er musste doch wissen, wie Josephine tickte. Er hätte nicht so nachlässig sein dürfen.
 

Es hatte mich immer gewurmt die beiden miteinander zu sehen. Sie hatte sich in seiner Nähe wohlgefühlt. Ein weitere Grund, warum ich ihn nicht leiden konnte. Karin hatte mal zu Ewald gesagt, dass sie fand, dass Josephine und er ein schönes Paar wären. Ich fand das nicht. Josephine passt nicht zu diesem gestriegelten Lackaffen, genauso wenig wie zu dem Förster. Aber wenn ich jetzt daran dachte, dass sie gerade um ihr Leben kämpfte, zählte das alles nicht mehr. Josephine sollte nur wieder gesund werden. Ich würde alles akzeptieren, wenn sie mich nur wieder gesund und glücklich anlächelte.

Herr Altenburg stand mir schweigend gegenüber.
 

„Sie sollten sie beschützen!“, fuhr ich ihn an.

Er nickte. „Ich weiß. Ich werde das nie wieder gut machen können.“

Sein Gesichtsausdruck verwirrte mich. Es war das erste Mal, dass ich ihn so menschlich erlebte. Keine Arroganz, keinen Hochmut. War es das, was Josephine immer in ihm gesehen hatte? Er nahm die volle Schuld auf sich ohne sich zu rechtfertigen. Ich hatte das nicht erwartet und es brachte mich aus der Fassung.

Ich wusste, dass ich meine Wut an ihm ausließ. Ich hatte mindestens genauso viel Schuld daran wie er. Es war vermutlich auch die Wut auf mich selbst, die ich auf ihn projizierte. Ich hätte sicherstellen müssen, dass keine Gefahr droht, als sie in die Lagerhalle gekommen war. Aber ich hatte nur Josephine gesehen. Der Wunsch sie in meine Arme zu schließen hatte mich unvorsichtig werden lassen und ich hatte sie damit in Gefahr gebracht. Das würde ich mir nie verzeihen können.
 

„Wie geht es ihr?“, fragte er ein weiteres Mal.

„Wir wissen es nicht. Sie wird noch operiert”, antwortete Alex.

Er nickte knapp. Ich hörte wie er `Scheiße´ murmelte. Sein Handy klingelte. Er zog es aus seiner Hosentasche.
 

„Altenburg“, nahm er das Telefonat an. Er hörte eine Weile zu bis er barsch antwortete: „Ich kann jetzt nicht weg... Die Männer können verflucht noch mal 48 Stunden festgehalten werden. Ich werde beim Haftrichter nicht lange brauchen. Es reicht, wenn ich morgen die Genehmigung für die Untersuchungshaft hole... Dann machen Sie diese Befragungen verflucht noch mal selber! Wir haben hier Zeugen, die noch nicht befragt werden können und eine Kollegin die in Lebensgefahr schwebt wegen dieses Einsatzes... Ja, genau! Benutzen Sie Ihren Verstand! Sie haben genügend Aufzeichnungen von mir... Ja, ich melde mich sobald ich kann.”
 

Er legte auf und sah mich an. „Wir brauchen von Ihnen in den nächsten Tagen einen Bericht. Ich kann das Ganze ein wenig hinauszögern, damit sie hier bleiben können. Aber vergessen Sie es bitte nicht.“

Ich nickte ihm zu. Ich war froh, dass ich ohne Diskussionen hier bleiben konnte.

Die Tür ging auf und die Krankenschwester kam zusammen mit einem Arzt in den Raum. Alle Muskeln und Nerven spannten sich an. Er nickte der Schwester kurz zu und sie verließ das Zimmer.
 

„Herr Munro?“, fragte der Arzt.

„Das bin ich.“ Ich ging auf ihn zu.

„Die Patientin ist jetzt stabil“, sagte er einführend und mich durchströmte Erleichterung. Josephine hatte die Operation überstanden. Sie würde also bald wieder gesund werden?

„Sie wird gerade für die Intensivstation vorbereitet?“

„Intensivstation?“, fragte ich alarmiert. „Warum nicht die Wachstation?“

„Frau Klick ist in einem sehr kritischen Zustand hier eingeliefert worden. Die Kugel hat einige Organe getroffen. Wir konnten Ihrer Kollegin die Kugel entfernen und gehen davon aus, dass wir alle Verletzungen entsprechend versorgt haben, aber wir müssen sie unbedingt über Nacht beobachten. Sie hatte Atemaussetzer während der Operation.“
 

Sie hatte Atemaussetzer? Meinte er damit etwa einen Atemstillstand? Mein Brustkorb verkrampfte sich bei diesem Gedanken

„Wenn alles gut verheilt, kann sie in wenigen Tagen verlegt werden“, sagte der Arzt weiter.

„Kann man zu ihr?“, fragte Herr Altenburg.

Der Arzt schüttelte seinen Kopf. „Nein, momentan noch nicht. Vielleicht in einigen Stunden. Aber es ist schon sehr spät, vielleicht sollten Sie Morgen früh-“
 

„Auf keinen Fall“, unterbrach ich ihn. Ich würde nicht einfach nach Hause fahren, mich schlafen legen, am nächsten Morgen frühstücken und mich dann wieder auf den Weg machen, als wenn es ein normaler Tag wäre. Es ging hier um Josephine. Ich wollte zu ihr. Es war mir egal, wie lange ich warten musste. Aber ich wollte sobald es möglich war zu ihr.
 

Der Arzt stimmte schließlich zu. Josephine durfte Besuch empfangen, sobald alles für sie auf der Intensivstation eingerichtet war. Er verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass eine Schwester mich holen würde, sobald ich zu Josephine durfte.
 

Wir einigten uns, darauf das nur ich nach Josephine sehen würde. Herr Altenburg erklärte sich bereit auf den Besuch zu verzichten und sich wieder der Fallklärung zu widmen. Aber ich sollte ihm Bescheid geben, sobald es Neuigkeiten gab.
 

Bevor er sich verabschiedete sprach Alex ihn noch auf meine Probezeit und den Fausthieb an.

“Es war ein Fausthieb unter Männern, nicht unter Polizisten. Das sollte also die Probezeit nicht wirklich beeinflussen“, hatte er geantwortet und dann das Zimmer verlassen.

Mich überraschte seine Reaktion und ich blickte ihm nachdenklich hinterher. Vielleicht war er doch nicht das Arschloch für das ich ihn bisher gehalten habe.
 

***
 

Alex war kurz nach Herrn Altenburg verschwunden. Er hatte sich meine Wohnungsschlüssel geholt, damit er mir neue Sachen bringen konnte. Ich war dankbar für die frische, saubere Kleidung. Sie ließ den schrecklichen Moment in der Lagerhalle ein wenig verblassen.

Alex hatte auch Viktor verständigt. Er würde erst am nächsten Morgen Josephines Vater anrufen. Es würde niemanden was bringen, wenn er übermüdet und aufgebracht von Bielefeld mit dem Auto nach Berlin kommen würde.
 

„Sie können jetzt zu ihr“, sagte die Schwester, als sie endlich in den Wartebereich kam. Ich folgte ihr. Meine Wartezeit hatte sich um einige Zeit verzögert. Ich war unendlich erschöpft, aber der Gedanke Josephine gleich zu sehen hielt mich wach.
 

Die Krankenschwester führte mich durch schwach beleuchtete Gänge, bis wir schließlich das Zimmer von Josephine erreicht hatten. Mein Herz raste und mein Atem ging unruhig, bevor wir die Tür zu ihrem Krankenzimmer öffneten.
 

Als wir das Zimmer betraten, war auch hier das Licht abgedunkelt. Ein ständiges, regelmäßiges Piepen drang durch den Raum. Es musste das EKG Gerät sein, dass den Herzschlag von Josephine aufzeichnete. Meine Augen suchten nach ihr.
 

Sie lag mitten im Raum in einem Krankenbett und es standen zahlreiche Gerätschaften um sie herum. Überall waren Schläuche mit ihr verbunden. Sie hing an einem Tropf und Sauerstoff wurde ihr durch eine Nasensonde zugeführt. Der Anblick ließ mich erschaudern. Ich hatte niemals erwartet Josephine in so einem Zustand sehen zu müssen.
 

„Josephine“, flüsterte ich vor mich hin. Ich ging auf ihr Krankenbett zu. Im Hintergrund ging die Tür mit einem Klacken zu. Die Schwester musste das Zimmer verlassen haben. Ich sah mich jedoch nicht um.

Ich nahm mir einen der Stühle und schob ihn ans Bett. Ich setzte mich hin und nahm vorsichtig ihre Hand in meine. Am Handrücken war eine Kanüle befestigt, die mit dem Tropf verbunden war. Bekam sie dadurch ihre Schmerzmittel?
 

„Hey“, sagte ich leise während ich über ihre Hand strich. Ihre Haut war kalt. Ihre Augen waren geschlossen und sie schlief. Sie atmete schwach, aber regelmäßig.

„Du hast uns alle ganz schön erschreckt.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Konnte sie mich überhaut hören? Es gab so viel was ich loswerden wollte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Sie brauchte Ruhe.
 

Also saß ich nur da, hielt ihre Hand in meiner und sah sie an. Ihre blonden Locken breiteten sich über das gesamte Kopfkissen aus, sie hatte den Kopf zur Seite geneigt. Ich wollte ihre strahlend blauen Augen sehen, die Funken sprühen konnten, wenn sie sauer war und mal wieder endlos diskutierte. Und ich wollte ihr Lächeln sehen mit den Grübchen, die sich dann immer auf ihren Wangen bildeten. Aber am meisten wollte ich sie einfach nur glücklich sehen. Ich stöhnte innerlich. Glücklich sein - konnte sie das nicht mit mir?
 

Ich glaubte heute etwas in ihren Augen gesehen zu haben. Etwas, dass vorher noch nicht dagewesen war. Ich hatte Angst, dass ich mir wieder nur etwas einbildete. Vielleicht hatte sich nichts an ihrer Meinung geändert. Aber ich würde mich nicht länger aufdrängen. Sie sollte ihre Entscheidung treffen und ich würde sie dieses Mal akzeptieren. Selbst wenn sie sich nicht für mich entschied, würde ich zumindest als Kollege an ihrer Seite bleiben.
 

Ich betrachtete weiter ihr Gesicht, als ich mit meiner freien Hand ihr eine lockere Strähne aus dem Gesicht strich und sie ihr vorsichtig hinter ihr Ohr klemmte.

„Du musst bald wieder gesund werden, Josephine.“

Meine Hand ruhte noch eine Weile auf ihrem Haar. Die ganze Anspannung fiel ganz langsam von mir ab und das regelmäßige Piepen des EKG’s ließ meine Augen schwer werden.
 

Ich konnte mich nicht länger wachhalten. Aber ich wollte ihre Hand nicht loslassen. Also legte ich meinen Arm auf die Matratze und bettete meinen Kopf darauf.

`Nur fünf Minuten´, dachte ich und schloss meine Augen. Ich würde ein wenig Energie sammeln. Ich hatte nur noch ein paar Stunden mit ihr alleine. Bald war es Morgen und alle würden ankommen und wissen wollen wie es ihr geht.

`Wo bin ich?´, fragte ich mich als ich langsam aus meinem Dämmerschlaf erwachte. Ich fühlte mich benebelt. Mein Hals kratzte und meine Kehle war trocken. Ich hätte gerne was getrunken, konnte mich aber nicht bewegen. Wie gelähmt lag ich da und meine Glieder fühlten sich unglaublich schwer an.

Meine Nase kribbelte. Was war das? Was machte ich hier? Parallel zu meinem Herzschlag hörte ich ein

gedämpftes Piepen und ganz langsam kam die Erinnerung zurück. Ich sah Hannes mit gezogener Waffe, wie er auf Fritz zielte. Ich ich war vor gesprungen und hatte die Kugel abgefangen. Ich wusste, dass Fritz in Sicherheit war und das beruhigte mich ungemein.
 

Seine Worte hallten noch immer in meinen Kopf, aber ich war mir nicht sicher, ob die Erinnerung daran real war oder ich halluzinierte. Alles verschwamm in meinem Kopf zu einem undurchsichtigen Nebel und ich musste dagegen ankämpfen nicht wieder einzuschlafen. Ich fühlte mich matt und kraftlos. Was hatte man mir verabreicht?
 

Ich musste wohl im Krankenhaus sein. Fritz hatte gesagt, dass man mich ins Krankenhaus bringen würde. Wie lange war ich schon hier? Fritz war in der Halle so besorgt gewesen. Ich erinnerte mich an seinen Gesichtsausdruck, als ich am Boden lag. Wusste er, dass es mir gut ging?
 

Ich spürte eine Bewegung an meiner rechten Hand und einen regelmäßigen, warmen Hauch. Was war das? Warum war meine rechte Hand so warm und die Linke so kühlt? Ich versuchte meine Augen zu öffnen, brauchte aber eine Weile, bis ich alles koordiniert bekam.
 

Das Zimmer war zwar abgedunkelt aber ich konnte die kahlen weißen Wände dennoch wahrnehmen. Ich war definitiv im Krankenhaus. Mir fiel es schwer meine Augen aufzuhalten, aber ich kämpfte gegen den Drang an zu schlafen. Ich sah zu meiner Hand. Jemand hielt sie fest und lag mit dem Kopf auf der Bettkante.
 

Fritz. - er war hier! Ich war erleichtert ihn an meiner Seite zu wissen. Aber was machte er hier? War er vor Erschöpfung eingeschlafen? Warum war er nicht nach Hause gegangen? Ich wollte ihm gerne sagen, dass alles gut war, wollte ihn aber nicht wecken. Meine Augen fühlten sich so schwer an, ich musste sie schließen und gab ich wieder dieser Benommenheit hin.
 

Als ich das nächste Mal wach wurde, dröhnten gedämpfte Stimmen durch den Raum und ein unangenehmer Schmerz zog sich durch meinen Körper.

„Sie wird wach“, hörte ich eine Stimme, die ich nicht zuordnen konnte. Ich öffnete langsam meine Augen und sah meinen Vater und Viktor. Mein Vater hielt meine linke Hand und lächelte mich sanft, aber besorgt an. Wie lange war ich weggewesen, dass er schon hier sein konnte? Ich spürte, wie er meine Hand fester drückte. Mein Gesicht fühlte sich gelähmt an, aber ich hoffe, dass er sehen konnte, dass ich ihn ebenfalls anlächelte.
 

Ich war das erste Mal wach geworden, als alles noch dunkel war. Jetzt wurde der Raum von Sonne durchflutet und ich musste meine Augen zusammenkneifen, weil das Licht mich blendete. Irgendwie sah es hier so anders aus. War ich verlegt worden?

Eine Krankenschwester stand hinter meinem Vater und tauschte gerade die Infusion aus.

„Ihre Tochter wird gleich wieder schlafen“, sagte sie und legte ihre Hand auf die Schulter meines Vaters.

„Vielen Dank. Sie sah aus, als ob sie im Schlaf Schmerzen hätte.“
 

„Das wird vermutlich auch noch ein wenig dauern bis ihre Tochter keine Schmerzen mehr hat.“

Er nickte ihr zu. Ich beobachtete, wie sie an meinem Vater und Viktor vorbeiging und das Zimmer verließ. Ich brauchte eine Weile bis die Worte in meinem Kopf einen Sinn ergaben. Schlafen? Ich wollte nicht schlafen. Ich wollte wissen, was passiert war nachdem ich mein Bewusstsein verloren hatte. Ich fühlte mich immer noch benebelt und hatte das Gefühl, dass es langsam wieder schlimmer wurde. Wie lange verabreichte man mir schon dieses Zeug?
 

Ich erinnerte mich wieder an die Stimme. War noch jemand hier? War es Fritz? Er hatte, als ich das letzte Mal wach war, an der Bettkante gelehnt. Vielleicht war er nach Hause gegangen, weil er sich ausschlafen musste. Das würde ich natürlich verstehen. Ich drehte meinen Kopf ganz langsam nach rechts um zu sehen, ob noch jemand im Raum war. Die Bewegung schmerzte etwas, aber es wurde schon besser. Auf der rechten Seite von meinem Krankenbett standen Alex, Waldi, Karin... und Fritz.
 

Ich musste lächeln, als ich ihn sah. Er war also noch hier. Ich merkte, wie die Medikamente langsam Wirkung zeigten. Das Pochen in der Bauchgegend ließ langsam nach, dafür nahm aber die Müdigkeit zu. Ich durfte jetzt nicht wieder einschlafen. Ich wollte mit ihm reden.
 

„Hey“, sagte ich gedehnt und ich musste darum kämpfen, dass meine Augenlider sich nicht wieder senkten.

„Hey.“

Er blickte mich sanft an und lächelte, als er sich dichter ans Krankenbett stellte. Er ging in die Hocke und stützte sich mit seinem rechten Ellenbogen auf der Kante vom Bett ab, damit ich nicht hochgucken musste.
 

„Schön, dass du noch hier bist, Fritz“, sagte ich lächelnd und konzentrierte mich solange auf meine Armmuskeln bis meine Hand seine ergreifen konnte. Meine Hand fühlte sich kalt an und es tat gut seine Wärme zu spüren. Fritz sah mich erstaunt an. Schnell wurden seine Gesichtszüge aber wieder weicher.
 

„Mein Gott, wie viel von diesen Schmerzmitteln haben die Josy denn gegeben, damit sie so drauf ist?“, hörte ich Waldi im Hintergrund murmeln. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Es war mir auch egal. Ich sah Fritz wortlos an und er erwiderte schweigend meinen Blick. Dann musste ich aber einfach meine Augen schließen. Die Medikamente halfen mir zwar schmerzfrei zu sein, aber sie waren auch der Grund, dass ich mich regelmäßig wie im Koma fühlte.
 

Ich merkte noch, wie Fritz meine Hand etwas fester drückte, bevor ich gegen die Medikamente nicht länger ankämpfen konnte. Irgendwas murmelte ich noch. Aber in meinem Kopf machte es keinen Sinn mehr. Die andere würden es also vermutlich genauso wenig verstehen.
 

***
 

Ich war wieder in der Lagerhalle. Ich hatte Schüsse gehört, wo war Fritz? Ich rannte um einen der Container. Hannes stand mit der Pistole in der Hand vor Fritz, der auf dem Boden lag. Ich konnte die Blutlache neben Fritz sehen.

Wie konnte das sein? Ich hatte ihm doch die kugelsichere Weste gegeben. Meine Brust zog sich zusammen, als ich seinen Namen verzweifelt flüsterte. Im selben Moment sah Hannes zu mir. Seine Augen waren schmal und sein Grinsen wirkte tödlich.

„Na, wenn das Mal nicht ein Zufall ist. So kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“

Ich hielt meine Waffe in der Hand, war aber nicht in der Lage mich zu bewegen.

Er hob seine Pistole und ich konnte ihn nur mit geweiteten Augen anstarren. „Danke, dass ihr mich zum Informanten geführt habt.“ Dann hörte ich den Schuss...
 

Ich zuckte zusammen und riss meine Augen auf, als mein Herz wie verrückt raste. Ein Traum, schoss es mir durch den Kopf, als ich meine Umgebung langsam erkannte. Ich spürte, dass mein Herz noch raste und durch das EKG konnte ich es auch hören. Es war nur ein Traum, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber mein Atem ging immer noch stoßweise, als ich mich langsam in die Kissen zurücksinken ließ. Mein ganzer Körper schmerzte bei der Bewegung. Ich hatte mich durch den Albtraum ruckartig bewegt. Ich hoffte, dass ich keine von meinen Wunden aufgerissen hatte.
 

Ich schloss für einen Moment meine Augen und biss die Zähne zusammen, als mich ein pochender Schmerz durchzog. Vielleicht war es doch gut, dass sie mich so unter Drogen gesetzt hatten. Im Moment fühlte ich mich kaum benommen. Ich konnte klarer denken und hatte meinen Körper besser unter Kontrolle. Sie hatten offensichtlich die Dosierung verringert. Wenn ich ganz still lag, war es zum Aushalten, aber bewegen sollte ich mich lieber nicht
 

Mein Blick schweifte durch den Raum. Es war dunkel und ich konnte nur Umrisse erkennen. Aber durch das Fenster drang genügend Mondlicht ins Zimmer, dass ich eine Person erkennen konnte, die am anderen Ende des Zimmers schlafend auf dem Sofa lag - es war Fritz.
 

Ich beruhigte mich, als ich ihn sah. Mein Atem beruhigte sich, als ich ihn sah. Es ging ihm gut. Natürlich ging es ihm gut! Es war nur ein Traum. Aber die Bilder waren so real, sie spiegelten meine schlimmsten Befürchtungen, als ich nach den Schüssen in die Lagerhalle gerannt bin und jetzt wollten sie einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden.
 

Ich blickte Fritz weiter an, um ganz sicher zu gehen, dass es ihm gut ging. Er atmete ruhig und regelmäßig. Das unangenehme Pochen meiner Wunde, erinnerte mich daran, dass nicht er von der Kugel getroffen worden war – sondern ich. Es war ein seltsames Gefühl, dass mich der Schmerz und die damit verbundene Erkenntnis beruhigten.
 

Fritz hatte sich halb sitzend, halb liegend auf dem kleinen Sofa platziert und die Hände ineinander verschränkt. Wie lange schlief er schon so? Das musste doch unbequem sein. Warum war er nicht nach Hause gegangen?

Ich hörte, wie die Tür aufging und jemand ins Zimmer kam. Als ein gedämpftes Licht angeschaltet wurde, musste ich meine Augen zusammenkneifen. Ich brauchte etwas Zeit um mich an die Helligkeit zu gewöhnen
 

„Sie sind ja wach“, sagte die Krankenschwester überrascht. Ich wandte meinen Kopf langsam zu ihr. Sie lächelte mich an, als sie auf mich zukam. Ich konnte sehen, dass Fritz wach wurde, als die Krankenschwester an ihm vorbei ging. Er sah sie erst etwas verwirrt an, richtete dann aber seinen Blick auf mich.
 

„Josephine“, sagte er überrascht und sprang auf. Er kam auf mich zu und ich lächelte ihm entgegen. Sein Blick wurde sanfter, als er sich neben mein Bett setzte.

„Wie geht´s dir?“, fragte er mich.

„Ausgezeichnet“ Als ich versucht mich etwas aufzurichten verzog ich mein Gesicht. Die Bewegung verursachte Schmerzen. Er sah mich besorgt an.
 

„Tut es sehr weh?“

Bei der Frage hätte ich beinahe mit den Augen gerollt. Was dachte er denn? Ich war angeschossen worden. Natürlich tat das weh! Aber es gab Schlimmeres. Ich hätte ihn verlieren können.

„Nur ein Kratzer“, antwortete ich.

Er sah mich kopfschüttelnd an, sagte aber nichts dazu. Die Krankenschwester machte sich an meinem Tropf zu schaffen.
 

„Wollen Sie mich wieder ruhig stellen?“, fragte ich sie. Sie sah erst etwas irritiert aus, dann nickte sie mir aber freundlichen zu.

„Ich gebe Ihnen was gegen die Schmerzen, Frau Klick. Sie brauchen noch viel Ruhe, damit die Verletzungen heilen können.“

„Aber dann dämmere ich doch wieder weg, oder?“ Ich verzog das Gesicht.

„Das liegt daran, dass Sie noch sehr schwach sind. Sie brauchen noch ein paar Tage Erholung.“
 

Ich spürte, dass sie Recht hatte. Ich fühlte mich unglaublich schwach und die Schmerzen waren wirklich SEHR unangenehm. Aber es war das erste Mal, dass ich nicht total benebelt wach wurde. Und außerdem war Fritz hier. Ich wollte mit ihm reden.

„Können Sie mir das Mittel ein bisschen später geben? Ich wäre jetzt gerne ein wenig wach.“

„Geht´s denn von den Schmerzen?”, fragte sie verwundert.

„Eine Weile werde ich es wohl aushalten können.“

Sie überlegte einen Augenblick, stimmte dann zu. „Ok. Ich komme in einer halben Stunde wieder. Wenn Sie eher die Schmerzmittel benötigen, drücken Sie einfach den Knopf.“
 

Nachdem ich zugestimmt hatte, verlies die Krankenschwester den Raum.

„Bist du sicher, dass du keine Schmerzmittel willst?“, fragte mich Fritz.

„Ich bin mir sicher, dass ich die Schmerzmittel will, aber nicht jetzt.“

Er sah mich etwas ungläubig an und auf seiner Stirn bildeten sich Falten.

Aber vielleicht war auch Fritz froh, dass er endlich mit mir reden konnte? Wie lange hatte er gewartet, dass ich endlich wach wurde? Er sah aus, als wenn er sich mehrere Tage schon nicht mehr rasiert hatte.
 

„Wie lange war ich weg?“, fragte ich ihn. „Du siehst aus, als wenn dein Gesicht schon etwas länger keinen Rasierer mehr gesehen hat.“

Ihm war anscheinend nicht nach Scherzen, denn er reagierte nicht auf meine Bemerkung über seinen Bart.

„Heute ist der dritte Tag.“ Er sah etwas gequält und müde aus, als er mich anblickte. War er die ganze Zeit hier gewesen? Bei dem Gedanken zog sich meine Brust zusammen und ich hatte das Gefühl, dass mein Herzschlag sich beschleunigte. Als das EKG in kürzeren Abständen piepte, bestätigte es meine Vermutung und mein Gesicht fühlte sich augenblicklich warm an. Dieses verräterische Teil! Ich musste versuche mich abzulenken. Es war weder der richtige Ort noch die passende Zeit um über Gefühle wie diese nachzudenken. Und vor allem wollte ich nicht daran denken, wenn mir ein EKG angelegt worden war. Also musste ich das Thema erst einmal beiseite schieben und mich auf andere Dinge konzentrieren.
 

„Was ist passiert? Habt ihr alle festgenommen?“

Er sah mich irritiert an. „Ist das wirklich dein Ernst? Danach fragst du als Erstes?“

War er sauer? Er wirkte durcheinander. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. „Ähm, ... Geht es allen gut?“

Er sah mich eine Weile prüfend an, dann wurden seine Gesichtszüge weicher.

„Ja“, sagte er in sanftem Ton und lächelte mich dabei an. “Es geht allen gut.”
 

Wir schwiegen eine Weile. Ich wusste nicht was ich fragen konnte ohne ihn sauer zu machen. War es so schlimm, dass ich wissen wollte was passiert war?

Ich senkte meinen Blick und sah meine Hände an, als er mich ansah. Es lagen so viele Fragen und so viel Wärme in seinen Augen, dass ich Angst hatte mein EKG würde verrücktspielen.

„Warum hast du das getan, Josephine?“, hörte ich die Stimme von Fritz. „Warum hast du dich vor mich geworfen?“
 

Die Frage schien auf seinen Lippen gebrannt zu haben. Ich konnte die Anspannung sehen, während er auf eine Antwort wartete. „Du hast nicht gesehen, dass Hannes auf dich zielte. Für eine Warnung war keine Zeit.“

„Ich hatte eine kugelsichere Weste an“, gab er zu bedenken. Seine Stimme klang immer noch ruhig. Das Thema musste für ihn sehr ernst sein, wenn er sich so sehr darum bemühte nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Was er bestimmt nach seinem ersten Versuch dich zu erschießen wusste“, gab ich zurück.

„Trotzdem-“, begann er, aber ich unterbrach ihn. Wollte er sich wirklich mit mir streiten? Ich war gerade erst wach geworden und er begann gleich wieder eine Diskussion?
 

„Meine Güte, Fritz. Ich hatte nicht sonderlich viel Zeit darüber nachzudenken. Ich wollte dich aus der Schusslinie kriegen. Willst du jetzt ernsthaft mit mir darüber streiten? In meinem Zustand?“

Er sah mich schweigend an, während er sich auf die Lippen biss. Dann schüttelte er seinen Kopf.

„Nein“, sagte er und lächelte mich wieder an. Als er meine Hand in seine nahm musste ich schlucken. „Ich will mich nicht mit dir streiten.“
 

Mich überraschte seine Geste, sie fühlte sich gut an und ich erwiderte seinen Blick.

„Das Thema ist aber noch nicht vorbei“, ließ er mich wissen. „Wir sprechen darüber später noch einmal, wenn es dir etwas besser geht.“

Ich sah ihn mit einem schiefen Grinsen an. „Ich freu mich schon darauf“, sagte ich mit einem sarkastischen Unterton.
 

Wir verfielen wieder in Schweigen und mein Blick fiel auf seine Hand die meine hielt. Es hatte sich was zwischen uns geändert. Etwas in mir hatte sich geändert. Es war, als wenn ich meine Ängste endlich loslassen und so das erste Mal richtig sehen konnte. Zumindest war mir klar geworden, warum gerade er es immer geschafft hatte mich fuchsteufelswild zu machen und warum ich es genoss ihn mit kleinen Sticheleien zur Weißglut zu bringen. Ich verstand, warum mich dieser Mann so sehr beschäftigte...
 

„Ich bin froh, dass es dir besser geht“, sagte er.

„Das bin ich auch. Und ich freu mich auf den Tag an dem ich entlassen werde.“

„Das erste Mal wach und schon sprichst du von Entlassung?“

„Ich bin nicht das erste Mal wach”, sagte ich und sah ihn verwundert an. Das war doch kein Traum gewesen, oder? Ich konnte mich daran erinnern. Zumindest glaubte ich es.
 

Er sah mich überrascht an. „Wir dachten nicht, dass du wirklich wach warst, du warst so benommen.

„Ich WAR benommen“, erwiderte ich. „Wer ist das nicht bei diesen Mitteln, die man hier kriegt.“

Als er nichts erwiderte blickte ich ihn etwas zögernd an.

„Wann erzählst du mir, was passiert ist?“

„Wenn es dir besser geht“, antwortete er schlicht. Ich wusste nicht was ich darauf erwidern sollte. Im Zimmer breitete sich Stille aus. Langsam machte sich auch der Schmerz immer mehr bemerkbar und ich hatte Probleme mich zu konzentrieren.
 

„Ben möchte dich sehen.“ Ich lächelte, als ich den Namen hörte. Hatte Fritz ihm von dem Vorfall erzählt? “Ist das ok, dass ich Ben mitbringe, wenn ich ihn mal wieder übers Wochenende habe?“

„Natürlich“, antwortete ich. Dann sah ich ihn nachdenklich an. „Wenn ich dann noch hier bin.“
 

„Bielefeld“, sagte er warnend. „An deinen Organen wurde rumgeschnippelt. Das muss erst mal heilen. Wage es nicht dich selber zu entlassen. Ich kette dich hier an das Krankenbett und dieses Mal meine ich das wirklich ernst. Hast du mich verstanden? Gib deinem Körper die Zeit, die er zur Heilung braucht.”

Das war deutlich, dachte ich ein wenig amüsiert über seinen Ton. Ich musste es aber ernst nehmen. Ich war mir sicher, dass er jedes Wort davon so meinte. Mich wunderte es sowieso, warum ich nicht angekettet aufgewacht war.
 

„Verstanden“, willigte ich ein.

„Wirklich?“, fragte er und sah mich skeptisch an.

„Ja, wirklich“ versicherte ich ihm. „Ich verspreche es!“

Er entspannte sich ein wenig.

Ich hatte das Gefühl, dass das Schmerzmittel vollständig aus meinem Körper war, denn die Verletzungen taten im Moment höllisch weh. Fritz konnte das sehen. Er sah mich besorgt an, als er fragte, ob er die Schwester rufen sollte. Ich stimmte zu.
 

Es dauerte nicht lange bis ich das Mittel von der Krankenschwester bekam. Sie wünschte mir einen erholsamen Schlaf und verließ das Zimmer. Ich hatte keine Lust zu schlafen. Aber Fritz hatte Recht. Ich brauchte Ruhe. Mein Körper zeigte es mir mehr als deutlich.
 

„Warum bist du eigentlich noch da? Sind überhaupt noch Besucherzeiten?“, fragte ich ihn nachdem wir wieder alleine waren. Ich merkte bereits, wie das Mittel Wirkung zeigte. Meine Augen wurden schwer und das Sprechen fiel mir nicht mehr so leicht. Aber es gab auch den angenehmen Effekt, dass die Schmerzen langsam wieder nachließen.

„Mir sind Besucherzeiten doch egal. Ich wollte sicherstellen, dass es dir gut geht“, sagte er.

„Mir geht es gut“, versicherte ich ihm. Meine Augen fielen immer öfter zu und ich brauchte immer länger, um sie wieder zu öffnen.
 

„Fritz“, begann ich und merkte, wie sich meiner Stimme immer verwaschener anhörte. „Du solltest nach Hause gehen“ Ich schloss meine Augen, als ich dem Bedürfnis zu schlafen kaum mehr widerstehen konnte.

„Und rasiere dich! Du siehst aus wie ein Wilderer, der sich tagelang im Wald rumgetrieben hat.“

„Ich warte noch bis du eingeschlafen bist.“

Ich murmelte nur noch ein `Hmm´.

Er strich mit seinem Daumen regelmäßig über meine Hand und ich genoss die Wärme, die meinen Körper langsam durchzog, bevor mich der Nebel wieder einschlafen ließ.

Kapitel 33
 

„Wie ist der erste Tag ohne Schmerzmittel?“

Falk war vor wenigen Minuten zu Besuch gekommen. Er saß auf einem Stuhl neben meinem Krankenbett. Es waren einige Tage seit meiner Einlieferung vergangen und die Ärzte hatten die Dosierung meiner Medikamente immer weiter reduziert. Nach der Visite gestern hat der Chefarzt beschlossen ab heute die Medikamente ganz abzusetzen.
 

Ich wurde vor den Nachwirkungen gewarnt. Natürlich wusste ich, dass Medikamente süchtig machen können. Aber ich hatte nie darüber nachgedacht, dass man im Krankenhaus als Patient in der Genesungsphase eine Art Entzug durchlief.

Neben den verletzungsbedingten Schmerzen brummte mein Kopf und mein Magen fühlte sich gereizt. Ich hatte mit Schüttelfrost zu kämpfen und meine Muskeln waren angespannt. Es würde bald besser werden versicherten mir die Krankenschwestern.
 

Ich vertraute darauf und war froh, dass ich wieder bei klarem Verstand war und nicht länger ständig schlief. Mein Rücken tat weh vom ständigen liegen. Es war wirklich an der Zeit, dass ich bald wieder aufstehen konnte.

„Josephine?“, rief sich Falk wieder in mein Gedächtnis. Ich blickte ihn an und rieb mir meine Schläfen.

„Die Entzugserscheinungen haben begonnen, sind aber nicht so schlimm. Die Medikamente wurden langsam reduziert. Tut mir leid, bin heute ein wenig gerädert.“

„Machst du dir wegen den Ermittlungen gegen dich sorgen? Du bist so ruhig.“

„Bis eben habe ich nicht daran gedacht. Vielen Dank, Falk.“
 

Jetzt wo er sie erwähnte, musste ich auch daran denken. Ich kannte den Ermittler bereits. Er hatte den Fall, wo ich Fritz in die Schulter geschossen hatte damals übernommen. Er war beauftrag worden den Fall von Hannes aufzuarbeiten. Es stand außer Frage, dass ich in Notwehr gehandelt hatte. Trotzdem war dabei ein Polizist ums Leben gekommen.
 

Aber nicht nur gegen mich wurde ermittelt. Falk wurde vorgeworfen Informationen zurückgehalten zu haben. Damit hatte er seine Kompetenzen überschritten und Kollegen gefährdet. Selbst Fritz sollte sich in einem Bericht rechtfertigen, wie er an die Informationen gekommen war und warum er seine Führungskraft nicht in Kenntnis gesetzt hatte.
 

Mir war es egal, dass gegen mich ermittelt wurde. Ich machte mir nur Sorgen um Fritz. Er war noch in der Probezeit. Ich konnte nur hoffen, dass er deswegen keine Probleme bekam. Er hatte alles richtig gemacht.

„Bringst du mir morgen einen Laptop mit, Falk? Dann kann ich diesen Bericht endlich fertig schreiben. Ich langweile mich hier sowieso den ganzen Tag. Wer weiß wann ich hier rauskomme.“

Falk holte aus seiner Aktentasche eine Umlaufsmappe hervor und reichte sie mir.

„Ich habe dir deinen Bericht schon geschrieben. Du musst ihn nur noch an einigen Stellen ergänzen. Ich war nicht in der Lagerhalle dabei, konnte dazu also keine Aussagen treffen. “
 

Ich sah verdutzt auf die Mappe vor mir. Warum hatte er meinen Bericht geschrieben? Ich holte das Schriftstück heraus und las es mir durch. Mit jedem gelesenen Wort wurde ich zorniger.

„Was soll das?“, fragte ich Falk und fuchtelte mit dem Bericht vor seine Nase umher. „Was willst du damit bezwecken? Willst du deinen Job verlieren?“

Er blickte mich entschlossen an. „Ich habe zu verantworten, dass ihr in den Fall reingezogen wurdet. Ich werden die Konsequenzen dafür tragen.“
 

Ich sah ihn ungläubig an. „Wir sind keine Kinder, Falk. Wir treffen unsere Entscheidungen alleine – auch wenn wir Fehler machen. Dir muss doch klar sein, dass du mit höchster wahrscheinlich deine Position verlierst, wenn ich diesen Bericht unterzeichne. Das kann doch nicht dein Ernst sein mich als Opfer deiner Pläne darzustellen. Du hast mir alle Entscheidungsfreiheiten gelassen!“
 

„Ich will nicht, dass ihr wegen mir ärger bekommt. Ohne euch wäre der Fall niemals gelöst worden. Das bin ich euch schuldig.“

„Du bist uns nichts schuldig. So funktioniert das nicht in einem Team.“

Bei dem Wort `Team´ wurden seine Züge für einen Augenblick weicher, dann sah er mich aber wieder ernst an. „So funktioniert das aber in der Politik, Josephine. Es wird ein Schuldiger gesucht, damit die anderen unbeschadet und ohne Konsequenzen weiter ihrer Arbeit nachgehen können.“

„Wir sind hier nicht in der Politik!“, entgegnete ich überzeugt und riss seinen Bericht in zwei Teile. „Ich werde morgen meinen Eigenen schreiben, verstanden?“
 

Ich konnte Falk ansehen, dass er darüber nicht glücklich war. Aber er kannte meine Entschlossenheit. Wenn ich etwas partout nicht wollte, hatte er keine Chance mich zu überzeugen. Er seufzte und nahm mir die Mappe und das zerrissene Schriftstück ab.

„Warum seid ihr eigentlich so stur?“

„Wir?“, fragte ich überrascht.

„Dein Kollege hat genauso reagiert. Ihr seid euch in solchen Dingen viel zu ähnlich. Er hat das Gleiche gesagt wie du und mir bereits seinen Bericht vorgelegt. Ich hab gehofft, dass du ihn überzeugen würdest doch noch meinen zu unterschreiben.“
 

„Nicht nur ich bin für meine Sturheit bekannt“, erinnerte ich Falk. Dann musste ich aber wieder an die Probezeit von Fritz denken und verzog mein Gesicht bei dem Gedanken daran. „Wird er deswegen Probleme bekommen?“

„Du meinst wegen seiner Probezeit? Nein, dass glaub ich nicht. So wie der Zwischenfall ablief trifft ihn keine Schuld. Er war zu kurz in diesem Fall involviert gewesen.“

„Aber du glaubst, dass ich Probleme bekommen werde?“

Langsam bejahte er meine Frage. „Sie werden es genauer prüfen. Das du aus Notwehr geschossen hast, steht außer Frage. Aber alles was davor passiert ist... Ich weiß nicht, wie die Kollegen das bewerten werden.“
 

Stille breitete sich im Zimmer aus, als wir eine Weile uns anschwiegen. Worauf spielte er an? Darauf, dass ich ebenfalls Informationen zurückgehalten, vorsätzlich meinen Vorgesetzten übergangen hatte? Oder darauf, dass ich einen weisungsbefugten Ermittler während des Einsatzes in seinem Auto Handschelle umlegte um die Lagerhalle ohne Genehmigung stürmen zu können?

Ich war mir nicht sicher, dass er plante es in seinem Bericht aufzunehmen. Aber es musste doch jemandem aufgefallen sein. Einer musste ihn befreit haben. Oder hatte er es selber geschafft?

Ich verdrängte die Gedanken darüber. Das Einzige was zählte war, dass Fritz nicht bestraft wurde für Entscheidungen die Falk oder ich getroffen hatten.
 

„Wie lange wollt ihr eigentlich noch so weitermachen?“, fragte Falk mich ernst und brachte mich aus meinen Gedanken. Ich sah ihn perplex an. So weitermachen...? „Ist es wegen der Probezeit?“

„Was meinst du?“

Er beugte sich zu meinem Bett vor und stützte sich mit seinem Ellenbogen ab. Er senkte seine Stimme und sprach in einem ruhigen Ton.

„Dein Kollege nimmt einen Einsatz an um dich aus der Schusslinie zu kriegen, befielt mir auf dich aufzupassen und verpasst mir einen kräftigen Fausthieb im Krankenhaus als ich mein Versprechen nicht halten konnte. Du auf der anderen Seite warst unfähig Befehle oder Bitten anzunehmen und hast im Alleingang die Lagerhalle gestürmt um ihn zu beschützen. Keine Partnerschaft oder Freundschaft kann so besonders sein, ohne dass tiefere Gefühle im Spiel sind. Ich hatte auch eine Partnerin. Ich weiß wovon ich rede.“
 

„Woher...?“

„Also wirklich, Josephine“, unterbracht er mich etwas ungeduldig. „Wenn ich es nach diesem Einsatz nicht wüsste, müsste ich blind sein. Ich hab es in deinen Augen gesehen, als du mit aller Macht versucht hast aus dem Wagen zu kommen.“

Ich sah ihn sprachlos an. War es so offensichtlich gewesen? Ich wusste nicht, wann ich mir meiner Gefühle für Fritz bewusst geworden war. Aber spätestens in dem Moment, wo es nicht klar war, ob er überleben würde, hatte ich es nicht länger leugnen können.
 

„Hast du mit ihm darüber geredet?“ Langsam schüttelte ich meinen Kopf. „Warum nicht?“

Warum hatte ich mit ihm nicht darüber geredet? Ich war mir so sicher gewesen, dass ich es ihm sagen würde, als ich wach geworden war und er meine Hand in seiner hielt.

War ich verunsichert, weil er die letzten Tage nicht mehr meine Hand gehalten hatte? Weil er immer genügend Abstand zu mir bewahrte? Mich nicht mehr fragte, warum ich so idiotisch gewesen war und ihm in die Lagerhalle gefolgt bin?
 

„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise und blickte auf meine Hände hinab.

„Wenn es wegen der Probezeit ist, machst du dir unnötig Gedanken.“

Ich sah ihn verwirrt an. „Wie meinst du das?“

„Ich habe damals mit meinen Fragen nur klären wollen, ob Gefühle im Spiel gewesen sind während des Zwischenfalls mit Herrn Bremer. Die Untersuchungen haben ergeben, dass ihr eine rein dienstliche Partnerschaft zu diesem Zeitpunkt hattet. Keiner stellt Fragen, wenn sich im Laufe der Zeit dennoch mehr entwickelt. Nach solchen Ereignissen passiert das sogar häufiger.“

Ich musste schlucken.
 

„Wirklich?“, fragte ich unsicher. Mein Kopf fühlte sich plötzlich überfüllt und schwer an. Ich blickte nachdenklich auf meine Handflächen.

Ich hatte immer geglaubt, dass wir weiterhin beobachtet wurden - vor allem in der Probezeit. Ich war mir sicher gewesen, dass es Fritz schaden, man uns der Lüge bezichtigen würde. Aber die Worte von Falk machten Sinn. Warum hatte ich das nicht selber erkennen können?
 

Ich spürte die Last, die auf meinen Schultern lag, die Ängste, die sich in meinen Verstand gebrannt hatten. Ich hatte Fritz von mir gestoßen, als er sich mir geöffnet hatte und mich küsste. Ich hatte seine Nähe und Berührungen genossen - jedes einzelne Mal.

Aber ich hatte mich nicht darauf einlassen können, fürchtete zu sehr die Konsequenzen, die ihn erwarten würden. Mein Kopf wurde langsam klar, als mich die Erkenntnis durchströmte: Es gab keine Konsequenzen.
 

Das Einzige, was die Blockade in meinem Kopf noch aufrecht gehalten hatte, war verschwunden und ich fühlte mich frei eine ganz egoistische Entscheidung treffen zu können. Die Erleichterung übermannte mich und ich presste meine Hände zusammen, als sie zu zittern begannen.
 

„Du solltest mit ihm reden.“

Ich sah Falk an. Er lächelte mir verständnisvoll und geduldig zu, als ob er mich verstehen würde. Ich wurde augenblicklich ruhiger. Es erstaunte mich, dass ich mich sicher fühlte mit ihm darüber zu reden.

Ich konnte auf seine Worte vertrauen. Wer hätte je geglaubt, dass sich so eine Freundschaft zwischen uns entwickeln konnte...

„Warum sagst du mir das jetzt?“

Er sah mich eine Weile an, dann lächelte er traurig. „Ich habe damals meine Chance verpasst der Person zu sagen, wie ich empfinde und ich bereue es bis zum heutigen Tag. Mach nicht den gleichen Fehler!“
 

„Christin?“, fragte ich vorsichtig. Er nickte wortlos. Sie war mehr für ihn gewesen als eine Partnerin. Ich hatte es vermutet, als ich mir das erste Mal die Akten von ihr durchgelesen hatte. Aber es hätte natürlich auch andere Gründe haben können. Diese Ermittlungen müssen für ihn unglaublich schwer gewesen sein und an seinen Kräften gezerrt haben. Ich verstand ihn besser als je zuvor.
 

Er hatte mir von dem Gespräch zwischen Fritz und Hannes erzählt, dem er im Auto gefolgt war während ich im Begriff stand die Lagerhalle zu stürmen. Hannes hatte sich höhnisch über Falk geäußert, beschrieben wie leicht es war Christin zu beseitigen. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen.
 

„Sie wusste gewiss davon.“

Sein Lächeln wirkte gequält, als er das Thema mit einer Handbewegung beendete. Er wollte es bestimmt ruhen lassen. Drei Jahre lang hatte er nach dem Täter gesucht. Drei lange Jahre hatte er Hannes im Verdacht gehabt. Wie musste es sein, so lange jemandem ständig zu begegnen?

Ich bewunderte seine Geduld, seine Hartnäckigkeit, dass er den Blick für das Wesentliche nie verloren hatte. Er war ihr bis zum Schluss treu geblieben und hatte für die Aufklärung dieses Falls gekämpft.
 

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Stimme klang wieder etwas kräftiger, als sein Mundwinkel zuckte.

„Ich weiß nicht, ob mich der Gedanke kränken soll, dass du für mich vermutlich nicht die Lagerhalle gestürmt hättest. Ich dachte wir waren gute Partner.“
 

Ich musste lachen bei seinen Worten. „Wir SIND gute Partner!“, versicherte ich ihm. Er lächelte mich sanft an, sah erleichtert aus.

Auf seinem Handy ging eine Nachricht ein. Er holte es aus seiner Hosentasche.

„Das ist Sophia. Ich soll dir sagen, dass ein Paket für dich angekommen ist. Sie verbietet mir es zu öffnen und verspricht dir es nach ihren Prüfungen vorbeizubringen.“

„Sag ihr, dass sie sich nicht stressen soll. Ich bin ja noch eine Weile hier.“
 

Er tippte eine Nachricht in sein Handy. Dann sah er mich an. „Ich sollte los. Ich habe Sophia versprochen ihr noch aus der Bücherei Fachliteratur zu besorgen. Die Frau macht mich wahnsinnig mit ihrem Studium.“

Ich grinste ihn an. „Geschwister sind dazu geboren einen in den Wahnsinn zu treiben.“
 

„Da hast du recht“, seufzte er. Dann stand er auf. „Ruh dich aus. Ich bin mir sicher, dass du heute noch reichlich Besuch bekommst.“

Er verabschiedete sich und verließ kurze Zeit darauf das Zimmer.

Kapitel 34
 

Falk war noch nicht lange gegangen, hatte mich noch nicht lange mit meinen Gedanken und den neuen Erkenntnissen alleine gelassen, als sich meine Zimmertür wieder öffnete. Schwester Kerstin kam ins Zimmer und begrüßte mich.
 

„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte sie mich, während sie mein Tablett fürs Mittagessen in das Zimmer trug.

„Jeden Tag komm ich meiner Entlassung ein Stück näher.“

Sie lachte und stellte mein Mittagessen auf den Tisch neben mein Krankenbett. „Und ich dachte, dass es Ihnen hier gefällt.“

„Wenn man die Wahl zwischen Krankenbett und dem eigenen hat... Wer wählt da schon das im Krankenhaus?“

„Kommt wohl auf das Bett an“, scherzte sie. Sie löste den Deckel vom Tablett und schob den Nachttisch dicht neben mein Bett.
 

„Lassen Sie es sich schmecken. Ich habe Herrn Munro schon auf dem Gang rumgeistern sehen. Er kommt sie bestimmt bald besuchen.“ Während sie das Zimmer verlies murmelte sie: „Warum hält sich von Ihren Kollegen eigentlich niemand an die Besucherzeiten?“

„Das ist beruflich bedingt. Wir sind es gewöhnt zu unerwünschten Zeiten, unerwünschte Fragen zu stellen.“
 

Sie nahm die Aussage stirnrunzelnd auf, verabschiedete sich aber mit einer freundlichen Geste.

Ich musste wieder daran denken, was sie gesagt hatte. Was machte Fritz hier? Er hatte mich noch nie mitten am Tag besucht. Hatte er frei? Es war seltsam so kurz nach dem Gespräch über meine Gefühle zu Fritz ihn in meiner Nähe zu wissen.
 

Ich versuchte mich mit meinem Mittagessen etwas abzulenken, was jedoch nur bedingt funktionierte. Schwester Kerstin war jetzt mindestens seit einer viertel Stunde gegangen. Warum kam Fritz nicht in mein Zimmer? War er überhaupt wegen mir hier oder wegen des Falls? Hier waren noch zwei weitere Patienten, die er wegen des Falls aufsuchen konnte.
 

Zu wissen, dass er hier war, aber nicht vorbei sah, wurmte mich. Wenn ich schon nicht mitarbeiten konnte, wollte ich zumindest über den aktuellen Stand informiert werden. Er könnte doch wenigstens kurz in mein Zimmer kommen um `Hallo´ zu sagen.
 

Ich schob unzufrieden mein Mittagessen beiseite. Ich hatte durch das ganze Liegen sowieso schon wenig Appetit, aber ignoriert zu werden half der Sache mit Sicherheit nicht.
 

Draußen auf dem Flur hörte ich Stimmen, aber niemand öffnete die Tür. Fritz hatte bestimmt zu tun. Ich sollte meine schlechte Laune wegen der Langenweile und den Entzugserscheinungen nicht auf ihn schieben.

Ich lehnte mich wieder in mein Kissen zurück und versuchte mich zu entspannen, als plötzlich doch jemand die Tür öffnete.

„Josephine.“

Mein Kopf schnellte hoch bei seiner Stimme und ich musste einfach lächeln, als ich ihn im Türrahmen stehen sah.

„Fritz. Schön dich zu sehen.“

„Wie geht es dir?“, fragte er in sanftem Ton. „Hab gehört, die haben heute deine Medikamente abgesetzt.“
 

Mich wunderte es, dass er im Türrahmen stehen blieb. Warum kam er nicht rein? Wollte er gleich wieder los? Ich richtete mich etwas auf um ihn besser sehen zu können. Er stand an den Türrahmen gelehnt und hielt eine Mappe in seiner Hand. Er war wohl wirklich dienstlich hier.
 

„Mir geht es gut. Ich bin froh, dass ich die Schmerzmittel nicht mehr nehmen muss. So merke ich wenigstens, was mit meinem Körper los ist.“ Ich betrachtete ihn einen Moment. „Was machst du eigentlich hier? Musst du nicht arbeiten? Es ist mitten am Tag.“
 

„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust, als er mich zufrieden anblickte.

„Bitte keine Blumen oder Schokolade. Davon hab ich schon genug im Zimmer stehen“, sagte ich und sah ihn skeptisch an. Was konnte es für eine Überraschung sein?

„Nein, viel besser. Ich bin mir sicher, dass dir das gefallen wird. Hast du Zeit oder wolltest du dich ausruhen?“
 

Ich wurde neugierig bei seinen Worten. „Was hast du denn vor?“

Er antwortete nicht, was mich verwirrte. Ich sah ihm verwundert hinterher, als er das Zimmer für einen Moment verließ und kurz danach mit einem Rollstuhl wieder den Raum betrat.

„Lust auf einen kleinen Ausflug?“, fragte er und verzog sein Mund zu einem schiefen Grinsen. Jetzt sah ich ihn perplex an. „Ich habe mit deinen Ärzten gesprochen. Die meinten, dass es kein Problem ist. Du sollst nur aufpassen, dass du dich nicht so viel bewegst.“

„Wirklich?“
 

Das konnte man wirklich einen Motivationsschub nennen. Es steigerte meine Stimmung in Sekunden. Wie konnte ich ablehnen, wenn selbst die Ärzte keine Bedenken hatten? Zumal ich mich seit Tagen danach sehnte endlich diesem Bett zu entfliehen.
 

Ich griff nach dem Bettgalgen über mir, zog mich hoch und drehte mich zur Kante. Am Rand zog ich etwas schwerfällig meine Beine unter der Decke hervor um in den Rollstuhl klettern zu können.

Ich hatte nicht erwartet, dass mein Körper so kraftlos war. Wie ein Sack Kartoffeln fielen meine Beine vom Bett und ich verlor mein Gleichgewicht. Beinahe wäre ich gestürzt, aber Fritz erreichte mich rechtzeitig und hielt mich fest.
 

„Hey, mach langsam! Die Ärzte haben zwar gesagt, dass ich dich mit dem Rollstuhl kurz entführen darf, aber wenn du dich so hektisch bewegst reißt du noch deine Wunden auf. “

„Tut mir leid.“

Durch die schnelle Bewegung pochte meine Wunde. Aber der Schmerz war schnell vergessen, als ich durch seine plötzliche Nähe ein angenehmes Kribbeln in meinem Körper verspürte.
 

„Warte, ich helfe dir...“

Fritz platzierte die Mappe auf dem Bett neben mir, beugte sich vor und ich legte meinen Arm über seine Schulter, als sein Arm meinen Rücken umfing.

„Halt dich fest“, forderte er mich auf und zog mich langsam vom Bett.

Ich spürte seinen Atem an meinem Hals, fühlte die Wärme die sein Körper ausströmte und schloss meine Augen für einen Moment. Ich hatte seine Nähe vermisst. Die letzten Tage im Krankenhaus waren seltsam gewesen. Er hatte mich oft besucht, blieb aber immer etwas Abseits stehen. Suchte er Abstand? Das bildete ich mir doch nicht ein, oder?
 

Als ich sicher saß und er sich langsam wieder von mir zurückzog ließ ich ihn nur widerwillig los. Er mied meinen Blick und stellte sich hinter den Rollstuhl, als er die Mappe griff und sie mir reichte.

„Was ist das?“, fragte ich und nahm ihm die Mappe ab. Er schob mich aus dem Zimmer und den Flur entlang.

„Ich dachte, dass du bei der Befragung vielleicht dabei sein willst.“

„Wen befragen wir?“ Ich schlug die Unterlagen auf und sichtete den Inhalt.

„Die Ärzte haben uns heute für Lisa grünes Licht gegeben.“
 

Mich überraschte es, dass wir mit Lisa bereits sprechen konnten. War ich selber schon so lange im Krankenhaus? Ich hatte die Übersicht verloren, wie viele Tage ich an dieses Bett gefesselt war. Warum hatte Falk nichts gesagt? Er musste doch davon gewusst haben.
 

„Falk hat gar nichts erwähnt...“, murmelte ich während ich weiter auf die Unterlagen vor mir blickte.

„Der hat gerade andere Dinge um die Ohren“, entgegnete Fritz ruhig. Ich musste ihm zustimmen. Es war für alle bestimmt gerade chaotisch. Mich erinnerte das wieder an den Bericht, den mir Falk heute vorgelegt hatte. Es war richtig ihn zu zerreißen. Was hatte sich Falk nur dabei gedacht?
 

„Habe gehört, dass du auch den Bericht von ihm abgelehnt hast.“

„Du anscheinen ja auch...“ Es war keine Frage und er klang auch nicht überrascht. Fritz hatte wohl damit gerechnet, dass ich ähnlich reagieren würde wie er.

„Natürlich! Was soll das bringen? Irgendeiner kriegt das früher oder später raus und dann trifft es einen nur doppelt und dreifach.“

Fritz stimmte mir zu. „Ich stehe zu meinen Fehlern. Außerdem mach ich mich doch nicht durch so etwas erpressbar.“

Ich drehte meinen Kopf zu Fritz und sah ihn an. „Traust du Falk das etwa zu?“

Er schüttelte langsam seinen Kopf, blickte weiter gerade aus. „Nein.“
 

Ein Gedanke huschte durch meinen Kopf und ich musste lächeln. „Vertragt ihr euch jetzt?“

„Geht so“, brummt Fritz und beäugte mich kurz, bevor er wieder nach vorne blickte. „Er ist sehr herrisch bei der Arbeit, aber auch sehr effizient. Wir kommen schnell voran.“

Ich drehte mich zufrieden um. Die beiden hatten die letzten Tage offensichtlich besser zusammen gearbeitet, als es vorher der Fall war.

„Hab doch gesagt, dass ihr ein gutes Team seid.“

„Wir sind kein Team!“

Ich musste bei seinem ernsten Tonfall lachen. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sich die beiden annähern würden.
 

Mein Blick ging wieder auf die Mappe vor mir. Ich hielt meinen Bericht in der Hand, den ich schreiben musste, nachdem Karin und ich Lisa in der Lagerhalle fanden. Bei dem Gedanken an Lisa fühlte ich Erleichterung. Ich war froh, dass sie es geschafft hatte.

„Danke, Fritz.“ Ich schlug die Mappe wieder zu und legte sie auf meinen Schoß. „Das hier ist echt das beste Genesungsgeschenk, das ich je bekommen habe.“

Ich konnte in seiner Stimme hören, dass ihn meine Worte amüsierten. „Habe ich mir doch gedacht. Bist echt die Einzige, die Arbeit als ein Geschenk sieht.“

„Lieg du mal den ganzen Tag im Krankenbett. Da suchst du auch nach Ablenkung.“
 

Er erwiderte nichts, wurde aber langsamer, als wir eine mir bekannte Station erreichten. Im Flur konnte ich in etwas Entfernung zwei Kollegen von uns stehen sehen. Dort befand sich das Zimmer von Lisa.

Auch wenn von Hannes keine Gefahr mehr drohte, konnten wir bis zu dem Gespräch mit ihr nicht ausschließen, dass weitere Personen involviert waren. Solange wir das nicht konnten, musste sie weiterhin überwacht werden.
 

Als wir die Kollegen erreichten begrüßte Fritz die Männer und sie ließen uns passieren. Wir betraten das Zimmer und ich erblickte Lisa, die aufrecht im Bett saß. Es war das erste Mal, dass ich sie mit offenen Augen und bei vollem Bewusstsein erlebte. Sie hatte uns wohl schon erwartet und lächelte Fritz und mir schüchtern zu.
 

„Hallo Lisa“, begrüßte ich sie.

„Hallo.“ Sie klang zurückhaltend und blickte etwas unsicher von Fritz zu mir. Ihr Blick verweilte länger an meinem Rollstuhl. „Herr Moser meinte, dass es sie auch erwischt hat. Er hat mir gesagt, dass sie mich zusammen mit Ihrer Kollegin ins Krankenhaus gebracht haben. Ich konnte mich noch gar nicht dafür bedanken.“
 

„Das ist auch nicht nötig. Ohne Herrn Moser hätten wir dich gar nicht finden können. Er wusste, wo du warst. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht.“

„Mir geht es sehr gut“, versicherte sie uns. „Ich hatte einen Entzug während ich noch im Koma lag. Ich muss mich nur noch von den Medikamenten erholen, dann kann ich bestimmt bald die Klinik verlassen.“
 

Mich wunderte es, dass sie so positiv von der Entlassung sprach. Was erwartete sie außerhalb des Krankenhauses auf der Straße? Hier hatte Lisa ein warmes Bett, feste Mahlzeiten und es wurde sich gut um sie gekümmert. Aber bevor ich sie darauf ansprechen konnte begann Fritz seine Befragung.

„Du weißt, warum wir hier sind?“, fragte er Lisa. Sie nickte ihm zu und sah etwas unruhig auf ihren Schoß.

Fritz ging um meinen Rollstuhl und nahm mir die Akte ab. Er suchte ein Dokument raus und reichte es ihr. Es musste sich um das Dienstfoto von Hannes handeln. Ein anderes Bild hatte ich dort nicht gesehen. „Hat dir dieser Mann in der Lagerhalle das Mittel verabreicht?“
 

„Ja, dass ist er.“

„Kanntest du ihn schon vorher?“ Als sie mit der Antwort zögerte, trat Fritz ein wenig dichter an sie heran. Seine Stimme war beruhigend, aber auch fordernd. „Es ist wichtig, dass du uns die Wahrheit sagst. Sonst können wir den Fall nicht klären...“

„Ich habe ab und zu Drogen von ihm bekommen“, antwortete sie schließlich.

Bekommen? Drogendealer verschenken nicht einfach so ihre Ware. Mir kam die Formulierung seltsam vor und auch der Ausdruck in ihrem Gesicht. Warum wirkte sie so nervös? Fritz musste es auch aufgefallen sein.
 

„Er hat dir Drogen verkauft?“, fragte er noch einmal nach. Lisa sah ihn einen Moment an, senkte dann jedoch ihren Blick und verneinte langsam mit einer Kopfbewegung seine Frage.

Ich dachte schon, dass sie dem nichts weiter hinzufügen würde, aber dann sah sie Fritz wieder an. Ich konnte Reue und Schuldgefühle in ihrem Blick erkennen.
 

„Ich habe dafür kein Geld bezahlt... Es war eine andere Art der Gegenleistung.“

Bei ihren Worten lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich bekam Gänsehaut. Ich konnte mir vorstellen wie diese Gegenleistungen ausgesehen haben mussten, auch wenn ich hoffte, dass ich mich irrte. Die Kleine war doch gerade erst 18 geworden. Hatte Hannes sich wirklich an einer Minderjährigen vergangen?
 

„Du hast mit ihm geschlafen?“, fragte Fritz und sein Ton klang sanfter als zuvor. Ich konnte die Besorgnis hören. Wir konnten davon ausgehen, dass sie sich ihm wohl nicht an den Hals geworfen hatte. War sie auch ein Vergewaltigungsopfer von Hannes geworden oder hatte sie es aufgrund der Drogensucht einfach über sich ergehen lassen?
 

„Weißt du, ob es andere gab?“, fragte Fritz nachdem Lisa seine Fragen bejahte.

„Nein, weiß ich nicht.“

Es breitete sich für einen Augenblick Stille im Raum aus. Wir hatten durch ihre Aussage etwas den Faden verloren. Unser Anliegen war doch eigentlich zu klären, wie es zu dem Vorfall in der Lagerhalle gekommen war und ob es noch jemand anderen gab, der sie bedrohte. Sie fing von alleine wieder an zu sprechen.
 

„Ich wollte aus der Szene aussteigen, habe jemanden kennen gelernt, der mir viel bedeutet. Also bin ich nicht länger zu Hannes gegangen. Ich hab versucht alleine clean zu werden und habe mich in eine leere Baracke zurückgezogen. Rebecca wusste, wo ich bin. Sie hat regelmäßig nach mir gesehen.“

Sie machte einen Moment Pause und blickte auf ihre Hände, die sie gefaltet über ihren Schoß hielt.
 

„Hannes war sauer auf mich. Ich weiß nicht, wie er mich dort finden konnte. Wir hatten einen Streit und Rebecca ging dazwischen, als sie dazu kam. Sie drohte die Polizei anzurufen, dass sie wusste, wer er war und er im Gefängnis landen würde. Er schlug sie und sie ging zu Boden. Danach kann ich mich nicht mehr an viel erinnern. Hannes hatte mir Drogen verabreicht. Er schrie mich an, dass er mich umbringen würde, wenn ich jemanden davon erzählte. Dann dämmerte ich durch die Drogen weg.“
 

War das der Grund gewesen, warum Hannes versucht hatte sie zu beseitigen? Früher oder später hätte sie von Rebeccas Verschwinden erfahren und natürlich hätte sie ihn damit in Verbindung gebracht. Lisa war die einzige Zeugin. Sie hätte Hannes auffliegen lassen können. Das Mädchen konnte von Glück reden, dass er sie nicht am gleichen Abend mit Rebecca zusammen verschleppt hatte.
 

„Irgendwann wurde ich alleine wach. Ich hatte Angst. Aber ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich konnte doch nicht in der Baracke bleiben. Er wusste doch von diesem Ort. Und welcher Polizist würde einer Drogenabhängigen glauben, die gerade einen kalten Entzug macht? Ich wollte niemanden in Gefahr bringen, also habe ich mich in der Lagerhalle versteckt.“
 

Sie krallte sich in den Bettlaken fest, als ihre Hände anfingen zu zittern.

„Aber er hat dich gefunden?“, fragte ich behutsam.

Ihr lief eine Träne über die Wange, als sie mir zunickte.

„Eigentlich wussten nur Herr Moser und Rebecca, dass ich manchmal dort war und durch den Entzug war ich zu schwach mich zu wehren.“ Ihr liefen weitere Tränen übers Gesicht und ihre Stimme brach. „Er sagte, dass Rebecca wegen mir sterben musste.“
 

Wir gaben ihr einen Moment um sich wieder ein wenig zu beruhigen, bevor Fritz weitere Fragen stellte.

„Wer war die Person mit der du aussteigen wolltest? Wusste Hannes davon?“

„Nein ich habe Hannes nichts von ihm erzählt.“

„Woher kanntest du ihn?“

„Er war ein Dealer, der aufhören wollte. Ich hab nichts erzählt, weil ich Angst hatte, dass Hannes Ärger machen würde. Als wir beide aussteigen wollten, hat er mich in seine Wohnung zum Entzug versteckt, aber ich bin weggerannt, wollte nicht, dass er mich so sieht. Ich wollte es alleine schaffen.“
 

„Weiß er, dass du hier bist?“

„Nein, Herr Moser hat versucht ihn anzurufen, aber sein Handy ist aus.“

„Lisa, dir wird klar sein, dass wir ihn befragen müssen...“ Sie sah nicht glücklich darüber aus. Aber wir mussten mit ihm reden. Er konnte uns wichtige Informationen liefern. Vielleicht waren noch andere Polizisten involviert.

Als sie nicht reagierte setzte Fritz nach. „Er will doch da raus, oder? Wenn er also kooperiert und uns hilf, dann kriegen wir ´nen Deal und er bekommt keine Anzeige.“ Sie ließ die Worte eine ganze Weile auf sich wirken, bevor sie antwortete.

„Max ist sein Name. Maximilian Rother.“
 

Fritz stutzte bei dem Namen. Er sah mich kurz an, aber ich konnte seinen Blick nicht deuten.

„Du hast ihn vermutlich nicht erreicht, weil er hier auch im Krankenhaus liegt. Hannes hat ihn angeschossen“, sagte Fritz zu Lisa. Ich konnte sehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.

War die Person von der Lisa sprach, der Student der beim Einsatz angeschossen wurde? Fritz hatte nie seinen Namen erwähnt. Aber es machte Sinn. Lisa hatte von jemandem erzählt, der aussteigen wollte.
 

„Was ist mit ihm passiert?“, fragte Lisa erstickt.

„Keine Sorge, ihm geht es gut. Er wurde, wie meine Kollegin in der Lagerhalle von Hannes angeschossen, aber seine Verletzungen heilen gut.“

Bei den Worten von Fritz beruhigte sie sich etwas.

„Können Sie ihm sagen, dass ich hier bin und dass es mir gut geht?“

„Vielleicht solltest du ihm selber eine kleine Nachricht schreiben. Das wird ihn bestimmt mehr beruhigen als meine Worte“, schlug Fritz vor und reichte ihr einen Zettel und einen Stift.
 

Wir befragten Lisa noch eine Weile. Die Bewachung durch die Polizei konnte aufgehoben werden. Aus dem Gespräch mit ihr konnten wir keine weitere Bedrohung für Lisa erkennen.

Es war zwar nur eine Befragung, aber durch die Entzugserscheinungen fühlte ich mich schlapp und hatte Probleme mich zu konzentrieren. So sehr ich den Gedanken hasste, aber ich musste dringend wieder ins Bett.
 

Wir verabschiedeten uns und sprachen anschließend mit den Polizisten und den Ärzten. Dann verließen wir die Station. Als sich Fritz wieder auf dem Weg zu meinem Zimmer machte drehte ich meinen Kopf für einen Moment zu ihm und sah ihn fragend an.

„Willst du nicht zum Jungen?“

„Ich bring dich erst zurück. Du musst dich ausruhen.“

„Nein“, widersprach ich ihm. „Erst zu dem Jungen. Er macht sich bestimmt Sorgen. Ich würde auch wissen wollen, wo du bist und ob es dir gut geht, wenn du dich in so einer Situation tagelang nicht melden würdest.“
 

Fritz erwiderte nichts, wurde aber nach einigen Schritten langsamer und schlug schließlich eine andere Richtung ein. Er ließ mich vor dem Zimmer des jungen Mannes stehen und verschwand für wenige Minuten, bevor er mich zurück brachte.

Er half mir wieder in mein Bett. Es verunsicherte mich, dass ich ihn nur zögernd losließ während er sich anscheinend nicht schnell genug von mir lösen konnte. Als ich sicher lag nahm er einige Schritte von mir Abstand.
 

„Ich werde los“, sagte er knapp und schnappte sich den Rollstuhl.

„Sehen wir uns morgen?“

„Ich hab gerade viel zu tun, aber ich sehe wieder nach dir, sobald ich ein wenig mehr Luft hab.“

„In Ordnung.“

Was blieb mir auch anderes übrig außer zuzustimmen? Aber meine Enttäuschung konnte ich nicht verbergen.
 

Er sah mich einen Augenblick wortlos an, als wenn er nach etwas suchte. Dann verabschiedete er sich aber erneut und verließ den Raum.

Ich blickte noch einige Augenblicke auf die verschlossene Tür. Auf was hoffte ich? Er würde nicht wieder ins Zimmer kommen. Das er Abstand suchte kam mir wie eine Strafe vor. Vielleicht verdiente ich es. Ich hatte das Beste, das mir seit langem passiert war, von mir gestoßen.

Kapitel 35
 

„Musst du dann auch immer auf so einem Gummiball hüpfen?“, fragte mich Benny.

„Ja, die Frau von der Physiotherapie meinte, dass es wichtig ist um meine Muskeln wieder langsam aufzubauen.“
 

Ich saß mit Benny und Fritz am Tisch von meinem Krankenzimmer. Die letzten zwei Wochen hatte ich intensiv daran gearbeitet endlich aus diesem Krankenhaus entlassen zu werden, aber bisher teilte der Chefarzt mir bei jeder Visite erneut mit, dass er mich noch ein paar Tage hier behalten wollte.
 

Ich brauchte keinen Rollstuhl mehr und hatte gute Fortschritte gemacht. Auch der Entzug der Medikamente lag erfolgreich hinter mir. Entscheidend war jetzt nur noch, wie schnell meine Werte sich verbesserten, die Wunde verheilte und wie gut ich bei der Physiotherapie abschnitt.
 

Ich rechnete jeden Tag damit endlich das Krankenhaus verlassen zu dürfen ohne anschließend in die Reha-Klinik überstellt zu werden. Mir war klar, dass ich nach der Entlassung nicht um ein zusätzliches Training herum kam. Aber das würde ich in kauf nehmen, wenn ich endlich wieder in meinem eigenen Bett schlafen und meinen Tag selbst bestimmen konnte. Ich hatte das Gefühl irre zu werden, wenn ich noch länger untätig in diesem Gebäude blieb.
 

Ich sah Ben wieder an, der etwas unruhig auf seinem Stuhl wippte.

„Ich will bald wieder nach Hause. Viktor kann sich nicht die ganze Zeit für mich um Wotan kümmern.“

„Das macht er gerne, Josephine!“, mischte sich Fritz mit ernster Stimme ein. „Konzentriere dich lieber darauf wieder vollkommen gesund zu werden, bevor du dich erneut in die Arbeit stürzt.“

Benny nickte energisch mit dem Kopf, als er seinem Vater zustimmte. „Papa und ich haben heute nach Wotan gesehen. Du musst dir keine Sorgen machen. Es geht ihm sehr gut.“
 

Mich überraschte es. „Ihr habt nach Wotan gesehen?“

„Benny wollte sicher gehen, dass es Wotan gut geht und ich hatte sowieso noch was mit Viktor zu besprechen“, sagte Fritz. „Außerdem sollten wir dir noch die Wechselsachen für dein Training mitbringen.“

Ich sah zu meinem Bett auf dem die Tüte stand, die mir Fritz und Benny mitgebracht hatten. Ich hatte bis eben nicht gewusst was drin war oder das die Tüte von Viktor kam. Ich seufzte. „Wenn Viktor mir noch mehr Sachen mitbringt, dann brauche ich ein Umzugsunternehmen bei meiner Entlassung. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Klamotten habe.“ Fritz schmunzelte bei meinen Worten.
 

„Darfst du eigentlich raus gehen?“, fragte Ben plötzlich und blickte aus dem Fenster. Draußen war herrliches Wetter. Es hatte die letzten Tage viel geregnet, aber heute war ein perfekter Sommertag, wie es sich für einen Sonntagnachmittag im Juni gehörte. Der Himmel war wolkenlos und ich konnte Benny ansehen, dass er raus wollte.
 

„Natürlich darf ich das. Wollen wir ein wenig in den Park gehen?“

Fritz sah mich skeptisch an, aber Ben stimmte mir begeistert zu. Eine Weile brauchte ich um es nach draußen zu schaffen. Es kostete mich noch viel Kraft und Anstrengung, aber es wurde von Tag zu Tag besser.

Man konnte nicht unbedingt von einem Park reden, aber es war eine ansprechende Grünfläche direkt vor dem Krankenhaus mit Sitzmöglichkeiten und einem kleinen Spielplatz. Vielleicht war Ben für einiges davon bereits schon zu alt, aber die Rutsche und das Klettergerüst aus Seilen nahm er trotzdem dankbar an.

Es gab mir die Zeit mich ein wenig auf die Bank zu setzen und mich auszuruhen. Die Sonne auf meiner Haut tat gut. Ich streckte mein Gesicht mit geschlossenen Augen den wärmenden Strahlen entgegen. Wie sehr ich das vermisst hatte.
 

„Und wann kommt Benny zu dir?“, fragte ich ohne mein Gesicht von der Sonne abzuwenden. Benny hatte Freitag sein Zeugnis bekommen und für ihn fingen ab morgen die Sommerferien an.

„In zwei Wochen hab ich ihn für zehn Tage.“

„Ich nehme an, dass du dann auch Urlaub hast?“

„Ja, habe mich mit Alex abgesprochen. Er ist jetzt erst mal mit Caroline und den Mädchen für zwei Wochen im Urlaub. Danach nehme ich frei.“
 

Als ich meine Augen wieder öffnete und in seine Richtung sah, trafen sich unsere Blicke für einen Moment. Mich überraschte es noch immer, wie mich Fritz ansah, wenn er glaubte, ich würde es nicht bemerken. Sein Verhalten war verwirrend. Ich merkte, dass er Abstand suchte und trotzdem beobachtete er mich ständig und stellte immer sicher, dass es mir gut ging. Ich würde wirklich gerne wissen, was ins seinem Kopf vor sich ging.
 

„Wo sind sie hingefahren?“, fragte ich Fritz.

„Nach Österreich. Sind nach der Zeugnisausgabe am Freitag gleich losgefahren. Sie wollten wandern gehen, aber die Mädchen haben bis jetzt lieber auf der Sommerrodelbahn ihre Zeit verbracht. Gefällt ihnen wohl ausgesprochen gut dort. Caroline und Alex lassen dich grüßen.“
 

Ich senkte meinen Blick bei dem Gedanken an Österreich. Es gab dort viele schöne Orte um mit der Familie Urlaub zu machen. Eine tolle Landschaft und warmherzige Menschen. Ich konnte mich noch deutlich an den Urlaub mit meinen Eltern erinnern. Ich war gerade 15 geworden. Wir hatten uns eine Einliegerwohnung gemietet. Mit den Kindern der Hausbesitzer sammelte ich am Nachmittag Nacktschnecken. Vermutlich wäre ich nicht davon so begeistert gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass sie für den Grillabend auf der Speisekarte standen. Es war der Abend an dem ich feierlich verkündete Vegetarierin zu werden. Bis heute hatte ich es jedoch nicht geschafft.
 

Ich konnte mich auch erinnern, wie ich mit meinem Vater eine Sommerrodelbahn hinuntergefahren war. Wir hatten so viel gelacht auf dem Weg ins Tal. Meine Mutter wartete unten und machte Fotos. Es war das einzige Fotoalbum, das ich aus Bielefeld beim Umzug mitnahm. Ich glaubte, mich an jedes Detail dieser Tage erinnern zu können. Vielleicht lag es daran, dass es der letzte Urlaub zusammen mit meiner Mutter war. Wenige Wochen später wurde sie in Bielefeld beim Einkaufen in einem Geschäft tödlich von einer Kugel getroffen. Jemand hatte versucht schnelles Geld zu machen. Die Situation war bei diesem Kassenraub jedoch eskaliert. Es wäre meine Aufgabe gewesen einkaufen zu gehen, aber ich war lieber ausgeritten und hatte meine Mutter für mich gehen lassen.

Beinahe zwanzig Jahre war es her, aber ich konnte mir bis heute nicht verzeihen, was an diesem Tag passiert war...
 

„Josephine...“, hörte ich die besorgte Stimme von Fritz neben mir. „Du siehst so ernst aus... Ist alles in Ordnung?“

Ich blinzelte, als er mich zurück in die Gegenwart brachte. Warum suchten mich gerade jetzt die Erinnerungen heim? Lag es daran, dass der zwanzigste Todestag meiner Mutter in wenigen Monaten bevor stand? Oder lag es daran, dass mich der Einsatz von Fritz so sehr an die Situation von damals erinnerte...? Ich hatte zu lange in diesem Krankenhaus gelegen. Mir waren einfach zu viele Dinge durch den Kopf gegangen.
 

Ich schüttelte die Gedanken ab, als ich wieder an die Worte von Fritz dachte.

„Du machst dir unnötig Sorgen. Bei mir ist alles in Ordnung“, versicherte ich ihm und bemühte mich um ein Lächeln. Offensichtlich war er nicht überzeugt, denn er sah mich noch immer mit besorgtem Blick an.

Bevor ich erneut versichern konnte, dass alles in Ordnung war, kam Ben auf uns zugerannt. Er erzählte von seinen Plänen mit Fritz, wenn er in zwei Wochen bei ihm wäre.
 

Als Fritz über einige Pläne von seinem Sohn die Stirn runzelte, blickte Benny ihn ernst an. „Papa, du hast doch nicht vergessen, dass wir in den Filmpark Babelsberg wollen.“ Benny wandte sich an mich. „Da gibt es eine Show in einem Vulkan mit Stuntmännern und explodierenden Autos.“ Seine Stimme hob sich vor Begeisterung, als er weiter über die Show erzählte und anfing wild mit seinen Händen zu gestikulierte. Seine Schulfreunde hatten Benny schon so viel davon erzählt. Aus meiner Sicht hörte sich das weniger nach einer Show und viel mehr nach einem überzogenen Actionfilm an – aber die Kinder begeisterte es wohl. Mitten im Satz stoppte Benny seine Ausführungen und sah mich an. „Wir müssen dich unbedingt mitnehmen.“
 

Ich blickte etwas unsicher zu Fritz, als Benny mich so stürmisch zu diesem Ausflug einlud. Fritz sah seinen Sohn nachdenklich an. „Ich glaube nicht, dass Josephine dann schon wieder gesund genug sein wird. Sie braucht noch viel Ruhe. Darüber hatten wir doch gesprochen, Benny.“

Die Enttäuschung im Gesicht von Ben war deutlich zu erkennen. Es berührte mich tief, dass er mich dabei haben wollte.
 

„Wir müssen mal sehen“, begann ich. „Es ist ja noch ein wenig Zeit. Ich trainierte jeden Tag fleißig, damit ich schnell wieder gesund werde. Vielleicht geht es mir bis dahin schon so gut, dass ich mitkommen kann.“

Die Augen von Benny leuchteten. „Ich bin mir sicher, dass dir das auch gefallen wird. Alle meine Freunde waren schon da und erzählen davon. Da sind aber auch noch ganz andere Sachen. Ein 3D-Kino, wo man Aliens jagt. Ihr seid doch Polizisten, da seid ihr bestimmt gut bei diesem Spiel. Das ist auch mit Laserpistolen und Sitzen, die sich bewegen.“
 

Ich musste lachen, als seine Stimme vor Begeisterung wieder lauter wurde und er nachahmte, wie er die Alien bezwingen würde. Ich verstand zwar nicht, was das für ein 3D-Kino sein sollte, konnte mir aber vorstellen, dass es Jungs in seinem Alter begeisterte. Ich unterdrückte ein Lachen bei dem Gedanken, dass Fritz wohl auch seine Freude an diesem Spiel haben würde.
 

Während ich mich noch immer das Lachen verkniff, wanderte mein Blick zu Fritz. Er sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Es machte mich nervös und ich wandte mich an Ben, der jetzt wieder von der Stuntshow sprach, wo Männer und Frauen vom Vulkan aus nur mit einem Seil einfach ins Publikum sprangen.
 

Während ich Benny zuhörte schweiften meine Augen immer wieder zu Fritz. Ich musste aufhören ständig so nervös in seiner Gegenwart zu sein. Dazu war zwischen uns einfach zu viel passiert. Aber wann sollte ich es ihm sagen? Seine Besuche waren seltener geworden und immer brachte er jemanden mit. Ich hatte keine Gelegenheit mit ihm zu sprechen
 

Mein Handy klingelte und erinnerte mich an die anstehende Trainingseinheit. Es wurde langsam Zeit, dass wir wieder ins Zimmer gingen. Meine Physiotherapeutin hatte zugestimmt doppelte Übungseinheiten mit mir zu machen. Damit mein Körper die nötige Ruhe bekam, trainierten wir einmal am Vormittag und einmal am späten Nachmittag - kurz vor ihrem Feierabend. Ich war sehr dankbar, dass sie mich so unterstützte.
 

„Lasst uns reingehen, ihr habt bestimmt heute noch andere Dinge vor und ich muss zum Training.“ Ich stand langsam auf und wir machten uns auf den Weg zu meinem Zimmer. Kurz vor meiner Tür flüsterte Benny Fritz etwas ins Ohr und lief den Gang wieder zurück. Fritz rief ihm nach, dass er nicht rennen sollte, woraufhin Benny im Schritttempo weiter den Gang entlang ging.
 

„Wo will er denn hin?“, fragte ich verwundert, als ich langsam mein Krankenzimmer betrat.

„Er wollte noch mal auf die Toilette, bevor wir uns auf den Weg machen.“

Ich ging zu meinem Bett und setzte mich an den Rand der Matratze. Erst da fiel mir wieder der Karton neben meinem Nachttisch auf. Sophia hatte ihn mir vor einigen Tagen vorbei gebracht. War Fritz schon solange nicht mehr hier gewesen?
 

„Ich hab noch was für dich“, sagte ich zu Fritz und beugte mich vor um das Paket vom Boden aufzuheben. Ich zog das Klebeband ab und öffnete das Paket. Als ich den Inhalt rauszog und Fritz präsentierte, sah er mich völlig perplex an.

„Das ist ja meine Jacke...“

„Das ist eine NEUE Jacke. Aber ich hoffe, dass es das gleiche Modell ist?“

„Ja, absolut“, sagte er begeistert und starrte noch immer auf sein Geschenk in meinen Händen. Ich musste lächeln, als ich den Ausdruck in seinem Gesicht sah.

„Sophia hat mir geholfen. Deine war einfach nicht mehr zu retten. Das Blut ging nicht raus. Tut mir leid, ich weiß, dass es deine Lieblingsjacke war.“

Er verzog sein Gesicht, als er mich ungläubig ansah. „Das ist doch egal. In dem Moment gab es wirklich wichtigere Dinge.“
 

Hitze stieg in mein Gesicht, als ich ihn ansah und ich musste den Blick kurz senken.

„Danke, Fritz!“ Die Worte reichten nicht für das, was ich eigentlich sagen wollte. Ihm waren sie aber offensichtlich schon zu viel.

„Nicht dafür, Bielefeld“, winkte er ab.

Ich reichte ihm die Jacke. Als er mir das Geschenk abnahm, berührten sich unsere Hände für einen Augenblick. Meine Haut kribbelte und ich wollte seine Hand ergreifen, ihn festhalten, zögerte aber. Ich ärgerte mich über mich selbst, als er wieder Abstand nahm.

Fritz zog die Jacke über sein Shirt.
 

„Passt perfekt“, sagte ich und bemühte mich ihn anzulächeln. Die Jacke stand Fritz wirklich gut, auch wenn es im Moment wohl zu warm dafür war. Mir fiel das Preisschild am Kragen auf, das heraus hing. Vermutlich wusste er, wie viel die Jacke kostete. Trotzdem fand ich es unpassend ein Preisschild an einem Geschenk zu lassen. Ich hätte eher darauf achten müssen.
 

Er blickte mich fragend an, als ich auf ihn zuging.

„Halt bitte still. Ich muss da noch was entfernen“, sagte ich und griff nach dem Band. Ich hatte nicht die Kraft es auseinander zu reißen, aber mit etwas Geduld bekam ich den Knoten langsam gelöst.

„Ich kann das auch selber machen“, sagte Fritz, als er sich räusperte und meinen Blick mied. Ich konnte die Anspannung in seiner Stimme hören. Er wirkte nervös und sah unruhig aus dem Fenster.
 

Ich musste lächeln. Seine Reaktion auf meine Nähe gefiel mir. Es gab mir Hoffnung, dass ich meine Chance bei ihm nicht völlig vertan hatte. War ich dieses Mal an der Reihe den ersten Schritt auf ihn zuzumachen? Ich musste gestehen, dass ich Angst hatte zurückgewiesen zu werden.

Und trotzdem - ohne es zu müssen - beugte ich mich noch ein wenig dichter zu ihm. „Bin gleich fertig“, sagte ich mit einer samtigen Stimme, die mich selber überraschte. Während ich weiterhin mit dem Preisschild zu tun hatte berührten meine Finger seinen Hals und ich spürte wie hitzig er sich anfühlte.
 

Mein Herz hämmerte in meiner Brust und ich fühlte mich etwas atemlos. Woher nahm ich auf einmal den Mut seine Nähe so aktiv einzufordern? Hatte es mich so frustriert, dass Fritz die letzten Tage auf Abstand gegangen war?

Sein Brustkorb hob und senkte sich deutlich intensiver als zuvor. Und plötzlich sah er mich an...
 

Dieser Ausdruck in seinen Augen machte mich nervös. Ich hoffte, dass er etwas sagen, etwas tun würde. Ich war mir nicht sicher, was in diesem Moment richtig war. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vor sich ging und das machte mich verrückt.
 

„Deine Hände sind kalt“, sagte er leise und in einem sanften Ton ohne seinen Blick von mir zu wenden. Er nahm meine Hand in seine. Das Preisschild hatte sich gerade gelöst und fiel zu Boden, als er meinen Handrücken gegen seinen Brustkorb drückte.
 

Dieser Mann brachte mich wirklich um meinen Verstand. Er hielt nur meine Hand und meine Beine drohten bereits nachzugeben. Was machte er mit mir? Ich stand nur da und sah ihn unsicher an. Fritz machte keine Anstalten sich mir zu nähern, zog sich aber auch nicht zurück und hielt weiterhin meine Hand.
 

„Warum küsst ihr euch nicht?“

Ich zuckte bei der Stimme von Benny zusammen. Mein Kopf fuhr zu ihm rum. Er stand im Türrahmen und sah uns erwartungsvoll an. Meine Güte... Wie lange stand er schon hier? Wie viel hatte er mitbekommen?

Dann fielen mir wieder seine Worte ein. Küssen? Ich entzog Fritz augenblicklich meine Hand und wandte mich von ihm ab. Röte stieg mir ins Gesicht. Wie hatte ich nur vergessen können, dass Ben nur kurz auf Toilette gegangen war?
 

Ich lächelte ihm etwas unsicher zu, als ich wieder zurück zu meinem Bett ging.

„Was erzählst du da bloß, Benny. Ich hab deinem Papa nur eine Jacke geschenkt. Seine ist beim letzten Einsatz kaputt gegangen.“

Benny sah mich noch immer prüfenden an. Wenn er diesen Blick noch einige Jahre trainierte, würde er später bei Verhören wohl jeden zu einem Geständnis bringen.
 

Ich war dankbar, als mein Handy mich daran erinnerte, dass ich in 10 Minuten im Trainingszimmer meiner Physiotherapeutin sein musste.

„Ich hab jetzt Training“, sagte ich den beiden entschuldigend und blickte verstohlen in die Richtung von Fritz. Er stand noch am selben Platz. Als er nicht reagierte, zog ich aus der Tüte, die Viktor Fritz mitgegeben hatte, die neuen Trainingssachen.
 

„Ich würde mich jetzt gerne umziehen, Fritz.“

Die Worte holten ihn wohl wieder in die Gegenwart zurück. Er räusperte sich und rieb seine Handfläche über die Jacke. Schwitzte er etwa?

„Sicher, du musst dich fürs Training fertig machen“, antwortete er etwas hektisch und ging auf die Tür zu. „Wir sollten los.“
 

Er verabschiedete sich mit Benny von mir und die Tür fiel wenig später ins Schloss.

Als ich alleine war gab ich meinen weichen Knien nach und sank für einen Moment aufs Bett. Ich atmete einige Male tief durch. Mein Blick fiel auf meinen Schoß, wo ich die Trainingskleidung mit festem Griff umklammerte. Erst jetzt bemerkte ich wie sehr meine Hände zitterten und mein Puls raste.

Was war da nur gerade passiert?

Kapitel 36
 

„Du brauchst gar nicht so enttäuscht gucken“, begrüßte mich Viktor, als er in mein Zimmer kam.

Es fiel mir schwer ihn anzulächeln. Er hatte Recht. Ich war enttäuscht.
 

Heute war endlich der Tag meiner Entlassung und eigentlich wollte Fritz mich abholen. Aber da Viktor vor mit stand, musste ich davon ausgehen, dass er abgesagt hatte und das nicht einmal persönlich.

Sein Besuch mit Benny lag beinahe eine ganze Woche zurück. Die Situation zwischen uns war seltsam geendet, trotzdem verstand ich nicht, dass er mich jetzt komplett ignorierte.
 

Ich hatte ihn die Woche zwei Mal angerufen. Die Gesprächen waren von ihm auf das Nötigste beschränkt worden. Eigentlich sollte ich doch glücklich sein endlich das Krankenhaus verlassen zu dürfen, aber die ganze Situation mit Fritz ließ meine Laune in den Keller sinken. Ich war verwirrt und gleichzeitig verärgert.
 

Viktor hatte einen leeren Koffer mitgebracht, damit alle meine Sachen Platz fanden. Wir packten gemeinsam alles ein und nachdem ich mich beim Krankenhauspersonal bedankt und verabschiedet hatte machten wir uns auf den Weg nach Hause.
 

Viktor erzählte unterwegs, dass er heute Abend mit Freunden verabredet sei und ob es ok wäre, wenn er mich alleine ließ.

„Natürlich“, antwortete ich und blickte weiter aus dem Fenster. „Ich bin doch kein Kind mehr.“

„Aber wenn du mich brauchst, bleib ich auch Zuhause.“

„Mach dir keine Sorgen. Geh heute Abend aus. Ich werde sowieso früh ins Bett gehen.“
 

Ich kurbelte die Fensterscheibe herunter, lehnte mich an die Tür und hielt meine Hand ein Stück hinaus. Eine warme Sommerprise glitt durch meine Finger und wehte mir durchs Haar. Ich schloss meine Augen.

Es fühlte sich gut an. Natürlich verbesserte sich meine Laune nicht sonderlich, aber es beruhigte zumindest mein Gemüt ein wenig. Den Rest der Fahrt schwieg ich und blickte gedankenverloren aus dem Fenster.
 

Am Gestüt angekommen kommandierte mich Viktor in mein Zimmer und ließ mich nicht beim Tragen helfen.

Ich stockte im Türrahmen, als ich auf meinem Schreibtisch das Verbandszeug und davor den Gymnastikball sah, den mir meine Physiotherapeutin für Übungen Zuhause empfohlen hatte.
 

„Was ist das alles?“, fragte ich Viktor erstaunt.

Er lächelte mich an. „Das hat dir Fritz heute früh vorbeigebracht. Er war etwas in Eile, wollte aber, dass du für die ersten Tage ordentlich versorgt bist.“

Fritz war hier? Ich sah erstaunt wieder zu meinem Schreibtisch. Er hatte wirklich an alles gedacht. Mich wärmte der Gedanken auch wenn es mich noch immer frustrierte, dass er mir sonst aus dem Weg ging. Dieser Mann machte mich verrückt. Auf der einen Seite sorgte er dafür, dass ich alles hatte was ich brauchte und auf der anderen Seite mied er mich. Wer sollte da noch mitkommen?
 

***
 

„Und es ist wirklich ok für dich, wenn du den ganzen Abend alleine bist? Warum lädst du dir nicht jemanden ein?“, fragte mich mein Vater übers Telefon.

Ich wusste, dass er sich um mich sorgte. Ich hatte noch immer diesen Albtraum von Hannes. Entweder träumte ich davon, wie er Fritz erschoss oder ich erinnerte mich an diesen Moment zurück, in dem ich sein Leben durch eine Kugel beendete.
 

Ich hatte aus Notwehr gehandelt, aber deswegen fühlte ich mich trotzdem nicht besser. Ich konnte froh sein, dass ich selber so schwer verwundet gewesen war, um nichts weiteres mehr mitzubekommen.
 

Im Krankenhaus musste ich neben meinen täglichen Untersuchungen und der Physiotherapie ebenfalls Sitzungen beim Psychologen wahrnehmen. Ich konnte verstehen, warum Fritz darüber immer so gestöhnt hatte. Ärzte, die in meinem Kopf rumwühlten, konnte ich noch weniger leiden, als die, die mir verlängerte Bettruhe verschrieben. Die Albträume kamen seltener, waren aber noch immer nicht vollkommen verschwunden. Mein Vater wusste davon.
 

Es war früher Abend und Viktor war vor einer halben Stunde gefahren. Ich war in den Stall zu Wotan gegangen und sah ihm beim Fressen zu, während ich versuchte meinem Vater weiter zuzuhören. Meine Gedanken schweiften jedoch immer wieder ab zu Fritz. Ich verstand ihn einfach nicht. Er hatte mich nicht angerufen, nicht gefragt, ob ich gut angekommen war, obwohl er aus meinem Zimmer eine halbe Arztpraxis gemacht hatte.
 

Es fiel mir schwer es zuzugeben, aber ich fühlte mich alleine, fühlte mich unsicher. Es gab so viel, dass ich mit Fritz bereden wollte, aber nicht wusste wie. Was konnte ich tun, damit diese Achterbahnfahrt in meinem Kopf endlich endete? Mir war die Antwort klar und ich musste endlich den Mut dazu aufbringen.
 

„Josephine? Hallo?“ Die Stimme von meinem Vater drang wieder an mein Ohr. Er hatte mir wohl eine Frage gestellt. „Hast du mir überhaupt zugehört?“

Wenn ich jetzt wieder zögerte, bekäme ich nie meine Antworten von Fritz. „Tut mir leid, Papa. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch was Dringendes erledigen muss. Lass uns morgen telefonieren.“

„Josephine, ich ...“

„Später, ok? Hab dich lieb.“ Ich legte auf und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.
 

Mein Entschluss stand fest. Ich musste mit Fritz reden. Mein Wagen meinte es heute gut mit mir und sprang ohne weitere Probleme an. Während ich im Krankenhaus lag, hatte Viktor meinen Wagen in die Werkstatt gebracht und mir eine grüne Plakette besorgt. Obwohl er wusste, dass ich mir bald einen neuen Wagen kaufen wollte bestand er darauf. Mein neues Navigationssystem brauchte ich für diese Strecke nicht. Ich kannte den Weg zu Fritz auch so.
 

Die Ernüchterung folgte schnell, als ich vor seiner Tür stand, er jedoch nicht öffnete. Es war naiv von mir zu glauben, dass er hier sei. Samstagabend – er trank bestimmt mit irgendwelchen Kumpels etwas. Vielleicht traf er sich aber auch mit einer Frau. Diesen Gedanken verdrängte ich augenblicklich.
 

Ich hätte ihm einfach eine Nachricht schreiben oder ihn anrufen sollen. Aber ich befürchtete, dass er mich ignorieren würde. Zu seiner Wohnung zu fahren hatte mich leider auch nicht sonderlich weitergebracht. Deprimiert stieg ich wieder in mein Auto.
 

Gerade als ich mich anschnallte, klingelte mein Handy. Ich ließ den Gurt los und wühlte in meiner Jacke. Der Anrufer war nicht Fritz und ich ärgerte mich darüber schon wieder so enttäuscht zu sein.
 

„Hallo?“, beantwortete ich ein wenig schwermütig den Anruf.

„Freut mich auch von dir zu hören“, entgegnete Falk verwundert. „Ist alles klar bei dir?“

Ich sollte mich zusammenreißen. Er konnte nichts dafür. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich etwas freundlicher auf seine Frage einging.
 

„Tut mir leid, Falk. Ich bin nur ein bisschen müde. War ein lange Tag.“

„Kann ich verstehen. Ich wollte auch nur wissen, ob du gut angekommen bist.“

„Ja, bin ich. Viktor hat mich abgeholt. Danke der Nachfrage.“ Also hatte selbst Falk geschafft mich anzurufen, warum Fritz nicht?

„Sophia wollte morgen Nachmittag mal bei dir vorbeikommen. Wäre das ok?“

„Na klar“, antwortete ich knapp. Es war ja nicht so, dass ich Besuch erwarten konnte von jemand anderem.
 

„Ich ruf dich vorher noch mal an. Wollte auch noch mit dir wegen der Untersuchung sprechen. Aber du hörst dich erschöpft an. Ruhe dich erst einmal aus, wir telefonieren dann morgen, ok?“

„Ja, ich bin morgen Zuhause. Ruft einfach durch, bevor ihr losfahrt.“
 

Ich beendete das Gespräch und blickte eine Weile auf mein Handy bis mir ein Anruf in Abwesenheit auffiel und ich in die Anrufer-Chronik sah. Ich erwartete nicht länger, dass dieser Anruf von Fritz sein könnte. Es war Falk, der einige Minuten zuvor versucht hatte mich zu erreichen. Mein Benehmen war wirklich dumm. Ich sollte endlich erwachsen sein und nach Hause fahren.
 

Einige Einträge tiefer in der Chronik sah ich den Namen von Fritz. Vorgestern hatte ich mit ihm telefoniert. Ich tippte auf seinen Namen und sein Profil erschien im Kontaktbereich. Als ich sein Profilbild sah, musste ich lächeln. Ich erinnerte mich sehr genau an den Abend an dem ich das Foto von ihm gemacht hatte. Meine Finger strichen über sein Gesicht.
 

Mit zerwühlten Haaren saß er an der Theke, als seine Augen warm in meine Richtung blickten und seine Lippen ein Lächeln andeuteten. Es war der Abend an dem die Untersuchungen gegen ihn eingestellt worden waren, der Abend an dem er mich zum ersten Mal geküsst hatte.
 

Meine Finger zuckten zurück, als ich plötzlich seine Stimme hörte. „Josephine? Hallo? Ist alles in Ordnung?“

Scheiße. Ich musste auf den Anrufbutton gekommen sein. Ich überlegte einfach aufzulegen, aber er wusste, dass ich es war. Es würde nichts bringen. Also musste ich mir überlegen, was ich ihm sagen sollte.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Seine Stimme klang ernster, beinahe alarmiert.
 

Ich stöhnte innerlich, bevor ich mein Handy ans Ohr legte. „Hey Fritz.“

„Josephine...“ Er klang erleichtert meine Stimme zu hören. „Ist alles ok bei dir?“

„Ja. Ich wollte mich nur kurz bedanken für die ganzen Sachen, die du vorbei gebracht hast.“ Ich wusste nicht, was ich ihm sonst übers Telefon sagen konnte. Ich hörte im Hintergrund Musik und viele Stimmen. Er musste mit Freunden feiern sein. Ich fühlte mich so idiotisch. Warum brachte er mich dazu, dass ich mich wie ein pubertierendes Schulmädchen fühlte? „Ich gebe dir natürlich das Geld wieder, sobald wir uns mal wiedersehen.“
 

„Das ist nicht nötig...“ Sagte er das, weil er mich nicht sehen wollte? Ich hörte im Hintergrund eine Frauenstimme, die nach ihm rief. Meine Hand verkrampfte sich um das Telefon.

„Doch ist es, Fritz.“ Meine Stimme klang selbst für mich tonlos und gebrochen. Ich musste das Telefonat beenden. Meine Hand zitterte und in meinen Augen bildeten sich Tränen, die ich einfach nicht stoppen konnte. Wie lange würde es noch dauern bis meine Stimme versagte?
 

„Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“, fragte mich Fritz besorgt.

Ich konnte das nicht. Er sollte nicht in so einem sanften Ton mit mir sprechen, wenn er mich dann doch im nächsten Moment wieder auf Abstand hielt.

„Ich bin müde. Lass uns ein anderes Mal reden. Mach dir einen schönen Abend...“
 

Ich konnte hören, wie er noch meinen Namen sagte, als ich das Telefonat beendete. Ich umklammerte mein Handy fester, als meine Arme zusammen mit meinem Kopf aufs Lenkrad fielen. Ich atmete mit geschlossenen Augen tief durch und versuchte mich wieder zu beruhigen.
 

Als ich mich aufrichtete steckte ich mein Handy zurück in die Jackentasche und ließ den Motor an. Ich drehte das Radio lauter und versuchte durch die Musik meine Gedanken zu vertreiben. Ich brauchte endlich wieder einen freien Kopf.
 

Ich verdiente es wohl. Wie lange hatte ich ihn auf Abstand gehalten und warum war ich solange so blind gewesen? Ich konnte nur erahnen wie er sich dabei gefühlt haben musste.

Mir war noch immer nicht bewusst, wie er es geschafft hatte meine Mauer zu durchbrechen. Er hatte mir geholfen Stefan hinter mir zu lassen. Ich sollte dankbar dafür sein... Vielleicht steigerte ich mich nur in etwas rein, aber diese Frauenstimme brachte mich wieder in eine Lage, in der ich mich haltlos fühlte.
 

Ich war noch nicht bereit wieder nach Hause zu fahren. Also fuhr ich einen Umweg um ein wenig mehr Zeit zu gewinnen. Jedoch musste ich mich auf den Weg nach Hause machen, als mein Tank anzeigte, dass ich bald auf Reserve fuhr. In der Hektik hatte ich mein Geld vergessen und ich wollte nicht irgendwo stehen bleiben.
 

Ich fuhr auf den Hof und meine Scheinwerfer trafen auf einen Wagen, den ich nicht kannte. Aufmerksamer fuhr ich über den Hof, als ich nach dem Besitzer des Wagens suchte. Ich näherte mich dem Parkplatz vor dem Wohngebäude, als mir jemand von der Eingangstür entgegen kam.
 

Es war Fritz, der im Scheinwerferlicht auf mich zukam. Ich war total perplex ihn zu sehen. Was macht er hier? Beinahe hätte ich ihn nicht erkannt durch seinen komplett anderen Kleidungsstil. Zum ersten Mal seit wir uns kannten sah ich ihn in einem Anzug - sogar mit Krawatte. Ich zuckte zusammen, als er plötzlich die Autotür aufriss.
 

„Geht´s dir gut?“, fragte er atemlos.

Sein intensiver Blick verunsicherte mich. „Ja, alles in Ordnung“, sagte ich etwas stockend.

Er betrachtete mich noch einen Moment, bevor er den Rahmen der Autotür losließ und einige Schritte rückwärts ging. Fritz fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und machte einen tiefen Atemzug. Ich schnallte mich ab und stieg aus dem Auto.
 

„Was machst du hier?“

Seine Kieferknochen arbeiten und er sah angespannt aus. Ich konnte sehen, dass er sauer war.

„Lass so eine Scheiße, Bielefeld“, sagte er in einem drohenden Ton und zeigte mit dem Finger auf mich. Ich war verwirrt und verstand nicht, was ich jetzt schon wieder falsch gemacht hatte.
 

„Was ist denn los?“

„Ich dachte, dass du mich anrufst, weil du Hilfe brauchst. Und im nächsten Moment legst du einfach auf, ignorierst meine Anrufe und später geht nur noch deine Mailbox ran. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie besorgt ich war, als ich dich nicht mal hier angetroffen habe?“ Er drehte sich von mir weg und atmete erneut einige Male tief durch.
 

„Tut mir leid“, sagte ich noch immer völlig überrascht. Geistesabwesend holte ich mein Handy aus der Tasche. Es war wirklich aus.

„Es tut dir leid? Es hätte sonst was passiert sein können. Nicht mal Viktor wusste, wo du bist.“
 

Er hatte sogar Viktor angerufen...? Hatte er sich solche Sorgen gemacht? Mein Kopf fühlte sich plötzlich völlig leer an. „Mein Akku muss ausgegangen sein. Ich war unterwegs und hab nicht auf mein Handy geachtet...“ Als ich den Ausdruck in seinen Augen sah konnte ich nicht weitersprechen. Ich senkte meinen Blick. „Tut mir leid.“
 

Er hatte den ganzen Weg auf sich genommen, weil er sich Sorgen um mich machte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen wegen meinem Anruf. Er war nicht geplant gewesen und ich hatte instinktiv reagiert.
 

„Ich wollte dich nicht von deiner Feier wegholen.“

Ich konnte sehen, dass er langsam anfing sich wieder zur beruhigen. „Wenn ich dich anrufe, gehst du zukünftig an dein Handy, klar?“

Ich nickte ihm zögernd zu.
 

***
 

„Du musst dir keine Sorgen machen, Viktor. Ich bin nur kurz in die Stadt gefahren. Es gab wohl ein Missverständnis zwischen Fritz und mir.“

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Kleine. Ist er noch bei dir?“
 

Bei der Frage von Viktor sah ich verstohlen zu Fritz. Er hatte sich gerade einen türkischen Kaffee aufgebrüht und nahm einen Schluck aus der Tasse. Ich senkte meinen Blick, als sich unsere Augen trafen und drehte mich von ihm weg. „Ja, er ist hier“, sagte ich etwas leiser in den Hörer.
 

„Dann klärt das Missverständnis.“ Viktor sagte das so bedeutungsvoll, als wenn er wusste was vor sich ging.

„Mach dir noch einen schönen Abend“, entgegnete ich knapp und beendete das Gespräch.

Ich ging langsam auf Fritz zu, blieb aber einige Schritte vor ihm stehen und lehnte mich gegen einen der Schränke.

„Du bist dir sicher, dass du keinen Kaffee willst?“, fragte mich Fritz, bevor er einen weiteren Schluck nahm.

„Ja, absolut. Sonst komm ich heute gar nicht mehr zum Schlafen.“
 

Fritz erwiderte nichts, als er sich gegen die Theke lehnte. Er trank schweigend weiter seinen Kaffee. Ich konnte den Gedanken einfach nicht ausblenden, wie gut ihm dieser Anzug stand und sah ihn immer wieder an.

„Wo warst du überhaupt feiern, dass du so einen Anzug trägst?“ Ich versuchte die Frage beiläufig klingen zu lassen.

„Meine Cousine hat geheiratet. Wir haben gerade draußen frische Luft geschnappt, als du angerufen hast.“
 

Es war also seine Cousine gewesen? Er hatte sich nicht mit irgendeiner Frau getroffen? Und er war zu mir geeilt, als er glaubte, dass ich Hilfe benötigte. Mich erschütterte die Erleichterung, die mich durchlief, bis ins Mark. Ich war wirklich und wahrhaftig eine Idiotin. Es war Fritz. Was hatte ich erwartet? Ich schloss meine Augen, als ich versuchte meine Gedanken endlich zu ordnen.
 

„Brauchst du noch was?“, fragte er mich, als er zum Waschbecken ging und die Kaffeetasse ausspülte und säuberte. Als er mich ansah schüttelte ich nur den Kopf.

Er stellte die Tasse ab und nahm sich ein Handtuch um seine Hände zu trocknen.

„Dann werde ich jetzt wieder los“, sagte er, hängte das Handtuch wieder auf und wandte sich von mir ab. Ich wollte ihn aufhalten, wollte nicht, dass er ging.
 

„Warum gehst du mir aus dem Weg?“ Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. Ich spannte mich augenblicklich an auch wenn ich froh war, dass ich es endlich ausgesprochen hatte.

Langsam drehte er sich zu mir um. Seine Stirn war in Falten gelegt, als er mich irritiert ansah.
 

„Tue ich das?“, fragte er in einem erschreckend ruhigen Ton. „Ich bin doch hier oder?“

Offensichtlich wartete er auf eine Antwort von mir, denn er fügte nichts weiter hinzu. Ich nahm all meinen Mut zusammen.

„Du hast dich die ganze Woche nicht blicken lassen.“

„Ich hatte zu tun, Josephine.“

„So viel, dass du mich nicht mal anrufen konntest?“
 

Ich musste einen Nerv bei ihm getroffen haben, als er mich aufgebracht anblickte und einige Schritte auf mich zumachte. Seine Worte klangen schroff. „Ich versteh dich beim besten Willen nicht. Was willst du eigentlich von mir? Sag´s mir, Bielefeld!“
 

„Ich will, dass du aufhörst dich von mir zu distanzieren.“

Er sah mich prüfend an, als wenn er nach einer Bedeutung hinter meinen Worten suchte.

„Ich kann mich daran erinnern, dass du mich darum gebeten hast, dass wir Partner bleiben, dass wir wie früher normal zusammenarbeiten können... Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber ich versuche das, ok? Aber das geht nicht von jetzt auf gleich, ich brauch Zeit dafür.“
 

Ich sah ihn bei seinen Worten irritiert an. „Wie meinst du das?“ Wozu brauchte er mehr Zeit?

„Hast du vergessen, dass du wegen mir angeschossen wurdest? Ich war unkonzentriert, hab mich ablenken lassen und dadurch die Gefahr nicht erkannt. Mir hätte das nicht passieren dürfen. Ich respektiere deinen Wunsch und ich arbeite daran. Aber das klappt nicht von heute auf morgen.“
 

Mir war noch immer nicht klar, was er mir sagen wollte. Gab er sich etwa Schuld an dem Vorfall? Meinte er kein guter Partner zu sein? Es war alleine meine Entscheidung gewesen die Kugel abzufangen.

Ich konnte in seinem Gesicht erkennen, dass er selber nicht wusste, was er mir sagen wollte. Er kämpfte mit sich und mit seinen Worten.

Meine Brust durchzog eine tiefe Wärme, als sein Verhalten meine Gefühle der letzten Tage spiegelte. Er war genauso zerrissen gewesen wie ich. So viele Missverständnisse hatten sich zwischen uns aufgebaut.
 

Ich ging auf ihn zu, wollte ihn beruhigen, mich für mein zwiespältiges Verhalten in den letzten Wochen entschuldigen. Ich war noch nie gut mit Worten gewesen, besonders wenn es um meine Gefühle ging und egal wie sehr ich Fritz traute, ich hatte noch immer Angst davor.
 

„Fritz“, sagte ich sanft, als ich meine Hand auf seinen Oberarm legte. Er sah mich gequält an, bevor er meine Hand abstreifte und Abstand zu mir nahm. Als ich einen Schritt auf ihn zugehen wollte, machte er eine abwehrende Handbewegung und ich hielt inne. Sein ganzer Körper wirkte angespannt, als er seine Hände zu Fäusten ballte.
 

„Verstehst du es wirklich nicht, Josephine? Ich liebe dich... Ich kann das nicht einfach abstellen. Gib mir Raum um zu atmen... Bis du wieder arbeiten wirst, werde ich mich wohl irgendwie sortiert bekommen.“

Ich konnte nicht glauben, was ich von ihm hörte. Er sprach von Liebe – so offen und ohne Scheu. Ich war darauf nicht vorbereitet und es traf mich tief, vergrub sich fest in meinem Herzen. Ahnte er überhaupt welches Geschenk er mir gerade gemacht hatte?
 

Er sollte aufhören darüber so viel nachzudenken. Ich für meinen Teil hatte genug davon ständig verwirrt zu sein - ich wollte endlich loslassen.

Ich ging die letzten Schritte auf ihn zu, als meine Hände sanft sein Gesicht umfingen und meine Daumen behutsam über seine Kieferknochen glitten.
 

Sein Blick hob sich und fing meinen ein. Die Fragen standen in seinen Augen. Ich wollte endlich meine Angst überwinden und ihm antworten. Aber ich wusste nicht was ich ihm sagen sollte. Also glitten meine Finger durch sein Haar und ich zog seinen Kopf zu mir hinunter. Ich beugte mich vor und presse meine Lippen auf seine.

Ich schloss meine Augen und verlor mich in diesem wunderbaren Gefühl. Wie sehr ich diese Nähe, seinen Duft und den Geschmack seiner Haut vermisst hatte.
 

Er blieb einfach nur stehen, drückte mich nicht weg, aber umfing mich auch nicht mit seinen Armen, wie er es bei unseren letzten Küssen getan hatte. Ich ließ es nicht zu, dass es mich verunsicherte. Ich musste geduldig sein. Er war es auch mit mir gewesen.

Ich strich zärtlich mit meinen Fingern durch seine Haare, während ich weiter seine Lippen liebkoste. Langsam begannen er meinen Kuss zu erwidern. Ich sog vorsichtig an seiner Unterlippe, bevor ich seinen Mund wieder frei gab.
 

Ich fühlte mich atemlos, als ich genügend Distanz nahm um ihn anzusehen. Meine Arme schlang ich um seinen Hals, damit er gar nicht erst den Versuch unternahm noch mehr Abstand zwischen uns aufzubauen. Ich würde es nicht länger dulden.

Sein Brustkorb hob und senkte sich deutlich, als er ebenfalls tiefe Atemzüge nahm. Langsam öffnete er wieder seine Augen und unsere Blicken trafen sich. Es versetzt mir einen Stich, als ich die Verletzbarkeit in seinen Augen erkannte.
 

„Josephine...“

Ich beugte mich erneut vor um ihn zu küssen, legte meine Emotionen nicht in Worte, sondern in meine Berührungen. Konnte er es nicht fühlen? Er kannte mich, wusste wie schwer es für mich war über Liebe oder Ängste zu sprechen.
 

In aller Ruhe lockte ich ihn endlich meinen Liebkosungen zu antworten. Seine Lippen wurden weicher, als er sich etwas entspannte. Ich zog mit meinen Zähne behutsam und ohne Eile an seiner Unterlippe, fuhr mit meiner Zunge einladend über seinen Mund. Sein Atem ging stoßweise und traf hitzig auf meine Haut.
 

Seine Hände ergriffen meine Oberarme, als sie sich in meinem Stoff festkrallten. Dann schob er mich plötzlich soweit weg, wie meine Arme um seinen Hals es erlaubten.

Sein Atem war unruhig und ich konnte die Hitze in seinem Blick sehen. Seine Augen flackerten. Er kämpfte noch immer mit sich. Meine Daumen streichelten über seinen Hals während ich ihn betrachtete und anlächelte. „Wenn du morgen wieder darüber anders denkst... “
 

Ich schüttelte langsam meinen Kopf und unterbrach ihn. „Das werde ich nicht. Und bitte... Schlag du mich nicht aus deinem Kopf.“ Ich sah ihn weiterhin an, strich zärtlich über sein Gesicht und hoffte, dass er mich verstehen würde, dass er in meinem Blick sah, wie wertvoll er für mich war.

„Nach deinen Worten eben, kannst du nicht erwarten, dass wir einfach Partner bleiben. Nicht, wenn sie mich so glücklich machen...“
 

Meine Hände zitterten leicht, als ich versuchte meine Emotionen besser zu kontrollieren. Aber es war mir nicht länger möglich. Ich glaubte, dass sein Blick sich tief in meine Seele grub, als er versuchte irgendetwas zu finden. Er sollte ruhig suchen. Ich hatte nichts mehr, was ich vor ihm verstecken musste.
 

Irgendwas veränderte sich in seinem Blick, als sich sein Griff um meine Oberarme lockerte. In einer fließenden Bewegung umfingen seine Hände mein Gesicht. Er streichelte zart über die Haut meiner Wangenknochen, während er mich weiter betrachtete und sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete.
 

Meine Arme schlangen sich wieder um seinen Hals und ich ließ meine Finger durch sein Haar gleiten, als er sich dieses Mal ohne mein Zutuen vorbeugte. Sein Kuss war so sanft und voller Gefühl, dass meine Knie weich wurden und ich glaubte meinen Beinen nachgeben zu müssen. Er musste es spüren, denn schon in der nächsten Sekunde legte er einen Arm um meine Hüfte und zog mich noch enger an sich.

Meine Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper. Ich glaubte Fieber zu haben. Mein Atem stockte, als sein Kuss drängender wurde und seine Hand über meinen Rücken strich.
 

Sein Duft drang tief in mein Bewusstsein und berauschte meine Sinne. Mein Puls raste, als ich seinen Kuss mit gleicher Ungeduld erwiderte. Fritz hielt mich noch fester und drängte mich gegen die Küchentheke, während er mich weiter mit seinen Küssen und Berührungen um den Verstand brachte.

Ich konnte nicht mehr klar denken und hatte längst die Kontrolle über die Situation verloren. Alles ging so schnell und gleichzeitig doch viel zu langsam.
 

Mich ergriff eine innere Unruhe, die ich nicht zu beherrschen vermochte. Ich wollte mehr. Nein, brauchte mehr. Ich wollte seinen Körper fühlen, musste ihn berühren. Meine Hände zogen an seinem Hemd bis es sich aus seiner Hose löste. Mit meinen Fingern berührte ich seine hitzige Haut und erkundeten die Muskelpartien seines Rückens.

Seine Lippen fanden ihren Weg zu meinem Hals, um eine Reihe von Küssen zu hinterlassen, die auf meiner Haut prickelten. Mein Atem stockte, als er begann an meiner Haut zu saugen. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, wenn er damit weitermachte.
 

Meine Finger vergruben sich wieder in seinem Haar. Er löste seinen Mund von meinem Hals und ich merkte erst wie sehr ich mich nach seinem Kuss sehnte, als er erneut meine Lippen in Besitz nahm.

Ich stöhnte auf, als seine Hand über meine Brust fuhr und er sie zärtlich berührte. Dieser Mann machte mich wirklich verrückt.
 

Ich drängte meinen Körper dicht an seinen. Seine Hitze traf auf meine und ich genoss dieses Gefühl. Seine Hände wanderten über meine Taille zu meinem Po. Sein Stöhnen verlor sich in meinem Mund, als ich ihm meine Hüften instinktiv entgegen hob.

Ich fühlte mich noch ganz benebelt, als er seine Lippen von mir löste und seinen Kopf neben meinen bettete. Schwer atmend verweilte er dort einige Augenblicke. Ich sehnte mich noch immer nach seiner Berührung und seinen Küssen. Mein Mund fühlte sich geschwollen an und prickelte. Als mein Atem und mein Puls sich ein wenig beruhigten, wurde auch mein Verstand wieder klarer.
 

Seine Hände glitten langsam und sinnlich über meinen Körper hoch zu meinen Armen, die noch immer auf seinen Schultern lagen. Er nahm meine Hände in seine, hielt sie über seinem Brustkorb fest. Ich wollte schon protestieren, als er ein wenig Abstand zu mir nahm, aber mir fehlte die Kraft.

Er blickte hinab auf meine Hände. Seine Daumen strichen sanft über meine Haut. Er drehte meine Hand ein wenig und drückte einen Kuss in meine Handfläche. Alleine diese kleine Berührung brachte mich beinahe wieder um meinen Verstand und ich biss mir auf die Lippen.
 

Er hob seinen Blick und sah mich an noch bevor er seinen Mund von meiner Handfläche löste. Sein Blick war warm und ich konnte die Gefühle erkennen, die auch in mir brodelten.

„Nenn mich ruhig altmodisch“, begann er in sanftem Tonfall. „Aber ich würde mich gerne mit dir verabreden, bevor ich dir die Klamotten vom Leib reiße und dich auf dein Bett schmeiß.“
 

Ich brauchte einige Momente um seine Worte zu verstehen. Der Gedanke erregte mich, dass er mir die Klamotten vom Leib reißen wollte.

Als ich darüber nachdachte, dass er sich mit mir aber erst einmal verabreden wollte, bildete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht. Ich hätte erwarten sollen, dass Fritz solche Prinzipien hatte. Aber er schaffte es immer wieder mich zu überraschen und zu erstaunen. Es machte mir klar, wie besonders er wirklich ist.
 

„Ich hoffe ernsthaft, dass du bald Zeit für eine Verabredung hast“, sagte ich und war selber überrascht wie schüchtern ich mich durch diese Aussage auf einmal fühlte.

Fritz zerrte an seinem Kragen und der Krawatte, als wäre ihm zu warm - ich konnte mir ein Lachen einfach nicht verkneifen. Er hob seine Augenbraue und sah mich fragend aber gleichzeitig auch warnend an.

Sein Blick wurde weicher, als ich mit meinem Daumen die Konturen seines Kinns nachzeichnete. Sein Bart fühlte sich viel weicher an als er aussah. Er legte seine Hand auf meine.
 

„Wir gehen es langsam an, in Ordnung?“

Ich nickte und lächelte. „Langsam klingt gut.“

Wir standen einen Moment schweigend da. Ich konnte einfach nicht glauben, dass dieser Mann mich wirklich liebte. Meine freie Hand fuhr über seinen Anzug, als ich ihn weiterhin betrachtete.
 

„Der Anzug steht dir wirklich gut.“ Meine Finger fuhren einige Male über seine Krawatte, bevor ich etwas fester daran zog und seinen Kopf zwang sich langsam zu mir runter zu beugen. Bevor der Kuss jedoch ausarten konnte, beendete er ihn.

„Vielleicht hätte ich schon eher so einen Anzug tragen sollen“, sagte Fritz und verzog sein Mund zu einem schiefen Lächeln. Meine Mundwinkel zuckten, als ich ein `Vielleicht´ flüsterte und ihn erneut zu mir runter zog.
 

Der Kuss wurde wieder drängender und dieses Mal war ich an der Reihe ihn zu unterbrechen. Mir gefielen seine Prinzipien, auch wenn es mir im Moment schwer fiel sie nicht zu brechen.

„Du solltest zurück zu deiner Feier, die vermissen dich bestimmt schon.“

Er sah mich unzufrieden an, murmelte dann aber: „Das sollte ich wohl...“

Kapitel 37
 

Warme Sonnenstrahlen trafen auf meine Haut und machten es mir unmöglich noch länger zu schlafen.

Es war ein herrliches Gefühl und mein Kopf wollte noch etwas diese Wärme und Geborgenheit die mich umgab genießen, wollte noch etwas schwelgen in den Erinnerungen von letzter Nacht. Aber mein Körper sagte mir, dass ich mich genug ausgeruht hatte. Es war seit Wochen die erste Nacht in meinem eigenen Bett. Ich wollte mich strecken, wollte meine Muskeln dehnen, aber fühlte mich gleichzeitig zu träge. Also atmete ich nur entspannt aus und nestelte mich doch noch einmal etwas tiefer in die Decke.
 

„Guten Morgen...“, raunte eine Stimme in mein Ohr. Sofort durchzog mein Körper ein angenehmes Kribbeln, eine Spannung, die mein Puls hochschnellen ließ.

Da war er wieder - der warme, tiefe Klang, der meine Sinne umschmeicheln und sie mir gleichzeitig rauben konnte. Fritz war noch hier - noch immer an meiner Seite.

Langsam öffnete ich meine Augen und sah ihn an. Er lag entspannt auf der Seite und betrachtete mich.
 

„Morgen“, murmelte ich. Ich war noch immer etwas schlaftrunken, fühlte mich aber zugleich verlegen, als ich so dicht neben ihm lag und seinen Blick wahrnahm. Es war kaum zu glauben – er war wirklich hier. Glück durchströhmte mich, aber gleichzeitig fühlte ich mich noch immer so nervös in seiner Nähe. Diese Intensität des Gefühls hatte bisher noch kein anderer Mann in mir ausgelöst.
 

Um meine Nervosität zu überspielen lächelte ich ihn an. Meine Hand schlüpfte unter der Decke hervor und legte sich in seine, die locker über seiner Brust lag. Seine Finger umfingen behutsam meine, als er langsam mit seinem Daumen über meine Hand fuhr.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Fritz und lächelte sanft.

„Besser denn je“, entgegnete ich. Es stimmte - ich hatte seit langem keine so angenehme Nacht mehr gehabt. Kein Albtraum, der mich quälte oder Schmerzen, die mich wach hielten. Mein Körper fühlte sich angenehm erschöpft und doch ausgeruht an. Ich genoss das Gefühl seiner Näher, wie seine Finger mit meinen spielten und entspannte mich immer mehr. Ich hätte noch Stunden hier verbringen können, aber das Knurren meines Magens erinnerte mich, dass meine letzte Mahlzeit bereits viel zu lange zurück lag.
 

„Wir sollten wohl aufstehen und frühstücken“, schmunzelte Fritz.

Ich sah ihn strafend an, als ich den amüsierten Unterton in seiner Stimme hörte. Fritz hielt meine Hand fester und sah mich entschuldigen an, als ich versuchte ihm meine Hand zu entziehen. Der Ausdruck in seinen Augen erweckte den Drang in mir mich an ihn zu lehnen und beinahe hätte er mich wieder weich gestimmt, aber ich wandte meinen Blick trotzig von ihm ab.
 

Ich spürte die Hitze seiner Lippen auf der Innenseite meiner Hand und schloss meine Augen. Im nächsten Moment ließ er sie los und ich spürte wie neben mir sich die Matratze bewegte, als er die Decke beiseite schlug und aufstand.

Woher nahm er die Kraft? Ich zog mir die Decke für einen Augenblick über den Kopf, drehte mich auf den Rücken und stöhnte innerlich.
 

Mich kostete weiterhin das Meiste noch immer viel mehr Kraft als zuvor und ich schlief noch immer deutlich länger als sonst. Die Zeit im Krankenhaus hatte mich wirklich geschwächt und ich brauchte wohl noch eine ganze Weile um wieder fit zu werden.

Aber selbst wenn ich wollte, konnte ich nicht einfach liegen bleiben, wenn Fritz hier war. Also schob ich die Decke beiseite und richtete mich auf. Fritz zog sich gerade seine Hose über seine Boxer. Ich beobachtete wie er langsam sein Hemd zuknöpfte und sich dann zu mir umdrehte. Er sah unglaublich sinnlich aus.
 

Meine Güte, was war nur mit mir los? Ich brauchte endlich einen klaren Kopf und sollte aufhören mich wie ein liebestoller Teenager zu benehmen. Ich schlüpfte unter der Decke hervor, stand auf und ging zu meinem Kleiderschrank. Eine meiner Jogginghose zog ich mir über meine Schlafshorts. Ich behielt mein Schlafshirt an und wandte mich zu Fritz.

Wenn ich ihn so ansah fühlte ich mich mit meinem Shirt und der Jogginghose völlig underdressed.
 

„Wann hast du das letzte Mal deinen Verband gewechselt?“, fragte mich Fritz, als er gerade die Ärmel von seinem Hemd hochkrempelte.

Meine Hand ging automatisch an die Stelle, die mir die letzten Wochen so viel Schmerzen bereitet hatte. „Im Krankenhaus hat man sich am Abend vor der Entlassung das letzte Mal darum gekümmert.“
 

Ich konnte sehen, dass Fritz mit meiner Aussage nicht zufrieden war. „Du solltest das täglich wechseln, damit es bestmöglich verheilt“, mahnte er mich. Sein Ton erinnerte mich an seine väterlichen Anweisungen, die er so oft Benny gab. „Komm her“, forderte er mich auf und ging auf den Schreibtisch zu, auf dem alle nötigen Utensilien lagen. Ich folgte seinen Anweisungen und stellte mich neben ihn. „Halt bitte dein T-Shirt ein Stück hoch.“
 

Ich zögerte einen Moment, kam dann aber seinen Aufforderungen nach. Er begutachtete den Verband, bevor er ihn behutsam löste.

„Dein Arzt meinte, dass eines der großen Pflaster hier mittlerweile ausreichen sollte. Ist für dich bestimmt angenehmer.“

Als der Verband entfernt war griff er nach einem Spray. Ich zuckte etwas zurück, als die kalte Flüssigkeit auf meine Haut traf. Er verteilte sie auf der noch sehr empfindlichen Narbe und reinigte alles rund um die Verletzung. Anschließend folgte eine Salbe, die ich noch nicht kannte.

„Die musst du sorgfältig auftragen, damit alles gut verheilt und deine Narbe später nicht so stark zu sehen ist“, erklärte Fritz.
 

„Seit wann bist du im medizinischen Sektor unterwegs?“, fragte ich ihn skeptisch und reagierte erneut auf die kalte Creme.

„Ich habe deinen Arzt gefragt. Da du dir anscheinend keinen Kopf um die Nachsorge gemacht hast. Und jetzt halt verdammt nochmal still.“ Seine Stimme klang fest und entschlossen. Ich musste zugeben, dass mich diese ernste und bestimmte Art auf eine seltsame Art und Weise wirklich anmachte. Bei dem Gedanken zuckten meine Mundwinkel.

Fritz befestigte das Pflaster vorsichtig während er mir weitere Anweisungen gab.
 

„Du solltest nicht in die Badewanne gehen, die Wunde könnte aufweichen und sich entzünden. Duschen ist in Ordnung. Aber wenn du kein wasserfestes Pflaster trägst, solltest du auf Shampoo oder Duschlotion verzichten, verstanden?“

Wieder sprach er in diesem anziehenden Ton. Ich konnte dem Drang nicht länger wiederstehen, also beugte ich mich vor und küsste ihn. Es dauerte nicht lang bis er meine Berührungen erwiderte. Seine Hände schoben sich unter mein Shirt und er zog mich eng an sich.
 

Als er seine Lippen nach einer Weile von mir löste atmeten wir beide schwer. Seine Stirn lehnte gegen meine, während seine Hände an meiner Hüfte lagen und sich seine Finger in meinem Stoff festkrallten. Ganz offensichtlich kämpfte er mit seiner Beherrschung.

„Ich verspreche dir, dass wir dieses Zimmer heute nicht mehr verlassen, wenn wir damit jetzt nicht augenblicklich aufhören“, sagte er mit angespannter Stimme. Seine Ehrlichkeit faszinierte und amüsierte mich zugleich. Als ich mich erneut vorbeugen wollte ermahnte er mich.
 

„Josephine!“

Ich musste lachen, blickte ihn dann aber entschuldigen an. „Hab verstanden“, entgegnete ich. Dann drückte ich Fritz noch schnell einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich vollständig von ihm löste.

„Frühstücken?“, fragte ich ihn und er nickte mir wortlos zu.

Als wir in Richtung Küche gingen musste ich noch immer über Fritz grinsen. In seiner Nähe breitete sich eine unglaublich wohlige Wärme in meinem Inneren aus und dieses Gefühl faszinierte mich immer wieder aufs Neue.
 

Wir betraten beide die Küche und ich blieb überrascht am Eingang stehen, als ich Viktor und meinen Vater in der Küche antraf. Der strenge Blick meines Vaters konnte nichts Gutes bedeuten.
 

„Papa“, rief ich völlig perplex aus. „Was machst du denn hier?“

„Das wollte ich auch gerade deinen Kollegen fragen...“

„Papa“, sagte ich warnend. Ich sah kurz zu Fritz und erkannte, dass er sich neben mir anspannte. Mein Vater kam einige Schritte auf uns zu. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich dieses Wochenende besuchen kommen, aber du hast mir ja nicht zugehört am Telefon.“

Als ich mit ihm im Stall telefoniert hatte, musste er es mir erzählt haben. Ich hatte ihm wirklich kaum zuhören können. Er stellte sich vor Fritz und sah ihn prüfend an.
 

„Haben Sie mit meiner Tochter geschlafen?“

Ich stöhnte innerlich, als ich die Frage von meinem Vater hörte. War das wirklich sein Ernst? Das war doch lächerlich. „Papa, das geht dich nun wirklich nichts an.“

Er drehte sich zu mir und hielt meine Schultern mit seinen Armen fest.

„Kind, ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Das musst du doch verstehen.“ Er lehnte sich näher zu mir und fuhr etwas leiser fort. „Als du zu Stefan gesagt hast, dass du deinen Kollegen in dein Höschen lässt, dachte ich, dass du das nur sagst um Stefan zu ärgern.“
 

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Zumindest wollte ich nicht glauben, dass mein Vater gerade wirklich diese Formulierung verwendet hatte. Ihm musste der Spruch wohl ziemlich zugesetzt haben, dass er sich noch immer daran erinnern konnte. Auch wenn seine Stimme gesenkt war, musste Fritz wohl alles mitgehört haben. Der verwirrte Blick bestätigte mir, dass ihm wohl kein Wort entgangen war. Na super, dass würde ich später wohl erklären dürfen.
 

„Herr Gott, ich bin erwachsen!“, entgegnete ich meinem Vater nachdem ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte. „Außerdem war das doch nur so ein Spruch und der ist doch auch schon Wochen her. Was willst du eigentlich von mir? Hast du nicht noch beim letzten Mal behauptet, dass Fritz genau der Richtige für mich wäre?“

„Ja, das habe ich. Aber Mädchen, seit wann hörst du auf mich?“

„Das ist doch nicht wegen dir, Papa“

„Er hat sich mir noch nicht mal richtig vorgestellt.“

„Also wirklich, du kennst Fritz doch schon längst!“

Das war der erste Moment seit meinem Umzug nach Berlin indem mir klar wurde, dass ich dringend eine eigene Wohnung brauchte. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich weiter sprach. „Wenn es dich beruhigt, wir haben nicht miteinander geschlafen. Er war ein absoluter Gentleman und hat mein Höschen in Ruhe gelassen.“
 

Ich hörte Fritz leise neben mir stöhnen, bevor er sich zu mir vorbeugte. „Egal welchen Hintergrund diese Sache hat, mir wäre es wirklich lieb, wenn wir aufhören würden von deinem Höschen zu sprechen - vor allem vor deinem Vater.“
 

Da war er wieder, der Fritz. Innerlich musste ich schmunzeln und drehte mich zu ihm, aber er sah mich nicht an. Sein Blick war ernst, als er vortrat und sich vor meinen Vater stellte. “Herr Klick, es tut mir leid unter diesen Umständen mit Ihnen darüber zu sprechen, aber ich werde mich mit Ihrer Tochter in Zukunft verabreden und hoffe auf Ihr Einverständnis.“
 

Ich sah skeptisch zwischen den beiden hin und her. Ich fühlte mich gerade ein wenig wie im falschen Film. Auch wenn Fritz weder sein Sakko noch seine Krawatte trug, wirkte dieses Bild viel zu offiziell.
 

Auf der einen Seite war der Anblick von Fritz echt witzig, aber auf der anderen Seite nervte mich die Situation. Seit wann musste ich mich zu diesem Thema bei meinem Vater rechtfertigen? Und wann hatte Fritz angefangen sich so überkorrekt zu benehmen? Ich war doch kein Teenager mehr. Hatten die Männer vergessen, dass ich bald 36 wurde? Ich konnte für mich alleine sprechen und meine eigenen Entscheidungen treffen. Aber die Ernsthaftigkeit, die Fritz an den Tag legte und den Respekt, den er meinen Vater zollte, berührten mich und es beruhigte ein wenig mein Gemüt. Ich trat zwischen die beiden Männer.
 

„Papa, findest du nicht, dass es langsam mit dem strengen Blick reicht? Erlöse Fritz endlich und höre auf dich zu benehmen, als wenn ich deine kleine Tochter wäre.“

„Du bist meine kleine Tochter.“ Ein warnender Blick von mir reichte. „Ist ja gut“, sagte er und sah zu Fritz. „Brechen Sie meiner Tochter das Herz und ich werde die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland brechen müssen, verstanden?“

„Verstanden“, bestätigte Fritz.

Mein Vater nickte ihm zu, bevor er Fritz die Hand reichte. „Ich bin Manfred.“
 

***
 

Nach dem Frühstück saßen wir noch gemütlich am Tisch. Ich trank gerade den letzten Schluck meines Kaffees, als ich mir schon wieder diese alten Kamellen aus meiner Kindheit anhören musste.

„...schon als Kind war sie so stur. Einmal haben wir Josephine abends überall im Haus gesucht, aber sie war nicht da. Schließlich sind wir dann im Stall fündig geworden. Die Kleine war dagegen, dass wir eines der Ponys verkaufen und um sicher zu gehen, dass wir es nicht heimlich versuchen, hat Josephine einfach neben der Box geschlafen. Es war unmöglich sie an diesem Abend aus dem Stall zu bekommen.“
 

„Flocke war mein Lieblingspony“, protestierte ich. Anscheinend verstand er noch immer nicht warum ich so an diesem Pony gehangen hatte.

„Aber du warst doch schon zu groß dafür.“

„Das ist doch egal. Es ging ums Prinzip. Ich wollte nicht, dass ihr sie einfach so an einen Reiterhof gebt, wo sie ständig mit unfähigen Kindern Runden drehen und sich völlig verausgaben musste. Dazu hatte sie mich jahrelang viel zu treu begleitet. Verdiente sie da nicht etwas mehr, als einfach weiterverkauft zu werden?“

„Du warst schon immer so ein loyaler Idealist“, seufzte mein Vater.
 

„Warum reden wir überhaupt über das ganze alte Zeug? Da vergeht einem echt der Hunger und Fritz wirds mit Sicherheit auch nicht interessieren.“

„Natürlich tu es das!“, wandte Fritz ein.

Alle drei waren sich bei diesem Thema sehr einig und ich musste mich geschlagen geben. Ich kaute unzufrieden an meinem Brötchen, als ich mir weitere Geschichten aus meiner Kindheit anhören musste.
 

Wenig später beendeten ich das Frühstück mit der Ausrede, dass Falk mit Sophia bald hier sein würden und ich noch bis dahin einiges erledigen wollte. Es stimmt nicht ganz, da Falk sich erst für den späteren Nachmittag angemeldet hatte, aber Fritz musste sowieso los und das fremde Auto zurückbringen. Keine Ahnung wem es gehörte, aber die Person vermisste es bestimmt schon. Außerdem wollte ich vermeiden, dass mein Vater irgendwelche peinlichen Geschichten auskramte. Er hatte heute wirklich genug erzählt.
 

Fritz ging mit mir den Flur entlang. Er drehte sich zu mir, als er die Haustür erreichte.

„Warum hast du denn die letzte Geschichte von deinem Vater so abgewürgt?“

„Findest du nicht, dass er heute genug Storys erzählt hat?“

„Nein, finde ich nicht. Das Ein oder Andere hätte ich gerne noch erfahren.“

„Wirklich?“, fragte ich nachdenklich. „Was wolltest du denn noch von meinem Vater erzählt bekommen?“

„Zum Beispiel, was es mit deinem Ex, dir und deinem Höschen auf sich hat.“
 

Ich seufzte innerlich. War ja klar, dass ich um eine Erklärung nicht rumkommen würde. Aber ich wollte es ihm nicht einfach so zwischen Tür und Angel erzählen. Ich hatte selber noch einige Frage, die er mir bisher nicht beantwortet hatte.
 

„Vielleicht erzähl ich es dir. Aber schuldest du mir nicht auch noch einige Antworten? Ich habe noch immer das Video von dir und Alex auf meinem Handy und noch hast du mir nicht erzählt wie es weiterging nachdem der Akku schlapp machte. Und wo wir gerade bei Gesprächen sind. Ich wüsste auch gerne, was im Verhör zwischen dir und Falk passiert ist, dass du zum Anfang auf ihn so allergisch reagiert hast.“ Ich holte Luft und wollte noch einiges ergänzen, aber er unterbracht mich.
 

„Da hast du aber gerade richtig nachgelegt, Bielefeld“, entgegnete er trocken. Bei seinem Blick triumphierte ich innerlich und schmunzelte ihn an. Wir beide wusste, dass er diesen Themen schon länger aus dem Weg ging. Hatte ich das Thema mit dem Höschen jetzt verschoben bekommen?
 

„Okay“, sagte Fritz plötzlich und ich sah ihn verwundert an.

„O~kay?“, fragte ich ein wenig irritiert.

„Ich werde auf die meisten Themen wohl eine Antwort finden können.“

Ich hatte nicht geglaubt, dass er ohne zu zögern auf einmal einfach so zustimmen würde, also blickte ich ihn noch etwas zweifeln an. Gab es einen versteckten Trick?
 

„Wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen. Deine Ehrlichkeit im Austausch gegen meine - das ist der Deal.“

Als ich ihn noch immer unschlüssig ansah, kam er einen Schritt auf mich zu und drückte mich langsam gegen die Wand.

„Ich meine es ernst mit dir, Bielefeld und ich hoffe wirklich, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Mir reicht es, wenn wir langsam anfangen. Aber keine Ausreden mehr. Du musst ehrlich zu mir sein. Ich will dich zu keinen Äußerungen zwingen zu denen du noch nicht bereit bist, aber ich bin auch nicht bereit für irgendwelche Spiele, verstanden?“
 

Da war wieder diese fest Stimme und die Entschlossenheit, die ihn so unglaublich anziehend machte. Ich lächelte ihn an und strich mit meiner Hand über sein Gesicht bevor ich ihm zunickte.

„Natürlich“, erwiderte ich. „Wenn ich nur nach einer kurzen Affäre ausschau halten würde, glaubst du nicht, dass ich es mir deutlich leichter hätte machen können? Da wär auch der Förster eine Option gewesen.“

„Sehr unpassender Moment über einen anderen Mann zu sprechen“, schnaubte Fritz und sah mich etwas unzufrieden an.
 

Also wirklich, er verstand auch immer alles falsch, wenn es um sowas ging. „Eigentlich wollte ich dir nur verdeutlichen, dass kein andere Mann für mich in Frage kommt außer du.“

Langsam bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen und er beugte sich zu mir vor. „Schon besser“, murmelte er und drückte seine Lippen liebevoll auf meine. Ich musste mir wie ein Mantra sagen, dass mein Vater nur wenige Meter ein Raum weiter saß, damit ich die Kraft fand den Kuss zu beenden bevor es zu heftig wurde. Ich lehnte meine Stirn gegen seine und nahm dann wieder etwas mehr Abstand zu ihm.
 

„Du solltest jetzt wirklich los.“, flüsterte ich. „Das Auto wird bestimmt schmerzlich vermisst. Wem auch immer du es geklaut hast.“

„Hast ja recht. Bin schon weg.“

Er gab mir noch einen Kuss und verließ das Haus. Als Fritz zum Auto ging sah ich ihm hinterher, bis er aus meinem Sichtfeld verschwand. Ich lehnte noch eine Weile an der Tür bis ich schließlich wieder zurück zur Küche ging. Viktor und mein Vater sahen mich beide mit einem merkwürdigen Ausdruck an.
 

„Was guckt ihr so?“, fragte ich die beiden. Viktor sah sehr zufrieden aus.

„Du siehst glücklich aus“, stellte er fest. Ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken, als ich ihm langsam zunickte.

„Das bin ich...“

Kapitel 38
 

„Ihr werdet also noch ein wenig brauchen bis ihr wieder in Berlin seid?“

„Vermutlich ja. Wir stehen schon eine Weile im Stau. Das Weiterkommen ist wirklich schleppend“, antwortete Fritz, der mit Benny auf dem Rückweg nach Hause war. Die beiden waren eine Woche an die Ostsee gefahren. Fritz hatte mich gebeten mitzukommen, aber ich lehnte aufgrund der Trainingseinheiten und der Untersuchungen ab. Außerdem wollte ich den Abenteuerwahn der beiden durch meinen geschwächten Körper nicht unterdrücken. Glücklicher Weise hatte ich diese Woche viele Fortschritte gemacht.
 

„Wir sehen uns heute Abend?“, fragte Fritz.

„Wenn ihr nicht zu lange im Stau steht...“ Benny unterbrach meine Antwort.

„Papa hat dich ganz schrecklich vermisst. Du musst auf jeden Fall heute Abend vorbeikommen. Ich habe dir auch noch ganz viel zu erzählen.“ Ich musste lachen bei seinem fordernden Tonfall und erklärte mich einverstanden.

„Dann meldet euch, wenn ihr da seid. Ich komm später vorbei. Fahrt vorsichtig!“
 

Ich beendete das Gespräch und sah aus meinem Wagen zum Gebäude in dem Falk wohnte. Ich war wieder einmal ziellos durch Berlin gefahren und irgendwie hier gelandet. Seit Tagen wollte ich schon mit ihm reden und heute hatte mein Unterbewusstsein die Entscheidung für mich getroffen. Dieses Bedürfnis stieg mit jeder Minute und ich konnte nur hoffen, dass er da war. Ich atmete tief durch, schnallte mich ab und stieg aus dem Auto.
 

Noch bevor ich die Klingel betätigte sprang die Tür der Wohnung auf und ich zuckte vor Schreck zurück. Sophia stand mit Jacke und Tasche im Türrahmen und sah mich ebenso überrascht an.

„Josephine“, rief sie freudig aus und umarmte mich. Im nächsten Moment hörte ich schon die Stimme von Falk.

„Was ist hier los?“, fragte er und trat in den Flur. Falk sah mich verwundert an, aber ich blickte nur böse zurück. Er runzelte seine Stirn.

„Du siehst mich schon wieder so an, als wenn du mich gleich anschreien willst. Warum tust du das immer, wenn du unangemeldet vor meiner Tür stehst? Das ist wie ein Flashback. Ich kriege noch nen Trauma wegen dir.“ Er versuchte die Situation aufzulockern, aber mein Blick verfinsterte sich weiter.

„Ich bin jetzt nicht zum Scherzen aufgelegt.“
 

Sophia löste sich aus der Umarmung und sah erst mich und dann Falk fragend an. „Was hast du schon wieder angestellt?“

„Keine Ahnung“, entgegnete Falk und hob abwehrend die Arme.

„Ich bin immer noch stinksauer auf dich“, warf ich in den Raum. Stille breitete sich für einen Moment im Flur aus.

„Oka~y“, brach Sophia das Schweigen. „Ich würde ja gerne zusehen, wie du meinem Bruder die Ohren langziehst, aber ich habe noch ne Lernrunde für die Uni... Lass ihn in einem Stück. Solange ich hier noch wohne, genieße ich meine Mietfreiheit.“ Sophia zwinkerte mir zu und verabschiedete sich von uns.
 

Die Wohnungstür fiel ins Schloss und ich drehte mich wieder zu Falk. Er lächelte mich übertrieben an und öffnete einladend seine Arme. „Partner“, rief er aus und machte einige Schritte in meine Richtung. Ein warnender Blick von mir reichte und er hielt inne. Nach einigen Sekunden blickte er ernster und deutete schließlich zum Wohnzimmer. Ich folgte ihm wortlos und nahm auf der Couch Platz. Falk setzte sich mir gegenüber.
 

„Okay, was ist los?“, wollte er wissen. „Du bist doch nicht noch sauer wegen dem Job, oder?“

„Das ist nicht der Grund warum ich hier bin, aber natürlich bin ich noch sauer. Du kanntest meine Meinung dazu. Ich kapier einfach nicht, warum du von deiner Position zurücktrittst und ohne mein Einverständnis die Schuld alleine trägst. Schön, dass jetzt kein Verfahren gegen mich laufen wird, aber du hast so hart für diesen Job gearbeitet und jetzt gibst du ihn einfach auf?“
 

„Vielleicht fällt es dir schwer zu glauben, aber ich freue mich auf meinen neuen Job. Immerhin können wir Partner bleiben...“ Ich blickte ihn unschlüssig an und er atmete schwerfällig aus als er mich weiterhin betrachtete. „Worüber machst du dir schon wieder Sorgen?“, fragte er mich. „Es wäre quatsch ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich habe das nicht nur wegen euch gemacht. Es war kein fixer Gedanke von mir. Dieser Job... Du weißt, dass er einem Zweck diente.“
 

„Aber du willst doch nicht leugnen, dass dir der Job auch viel bedeutet. Warum hättest du dich sonst halb tot arbeiten sollen...?“

„Ich nehme jeden Job den ich annehme ernst. Er hat lange genug mein Leben bestimmt und ich freu mich auf einen neuen Abschnitt mit neuen Zielen. Mit euch zusammenzuarbeiten hat mir gezeigt, warum ich überhaupt Polizist geworden bin. Ich möchte wieder raus und an Fällen arbeiten wie früher... Was ist daran falsch?“

Sein zweifelnder Blick traf mich und dieses Mal bekam ich wirklich ein schlechtes Gewissen. Er sollte nicht glauben, dass ich ihn nicht willkommen hieß im Team. Aber es war ein großer Schritt und er sollte sich absolut sicher sein.
 

„Ist es für dich ein Problem, dass ich dein Partner werden soll? Ich will euer Team nicht zersplitten.“

„Natürlich nicht.“ Die Worte verließen meinen Mund ein wenig zu schnell, aber sie stimmten. Unser Team würde sich nur erweitern und nicht aufteilen. Vielleicht war es für die Beziehung von Fritz und mir ebenfalls förderlich, wenn wir ab und an unabhängig von einander arbeiten konnten. Ich hatte die vergangene Woche viel darüber nachgedacht und konnte nur positive Aspekte finden. Falk würde ein guter Partner werden. „Ich will nur, dass du dir sicher bist, Falk.“

„Glaub mir, dass bin ich. Solange keiner von euch was dagegen hat. Du weißt, dass ich mich sonst in ein anderes Revier versetzen lasse. Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass Fritz Einwände erhebt. Ich war erstaunt, dass er sich so schnell einverstanden erklärte.“
 

Da musste ich Falk zustimmt. Alex hatte wie ich mit seiner Antwort gezögert. Wir waren alle überrascht als Fritz nach nur zwei Tagen dem Vorschlag vom Chef als Erster zustimmte. Er war die Tage zuvor sehr nachdenklich gewesen, hatte kaum darüber geredet und es mit sich selbst ausgemacht. Einige Zeit nach der Entscheidung war er mit Benny in den Urlaub gefahren und mir blieb keine Möglichkeit mit ihm darüber zu reden. Ich begrüßte die Entscheidung, hatte aber noch so viele Fragen. Vor allem weil er seit dem Tag nicht mehr darauf einging, was eigentlich zwischen ihm und Falk im ersten Verhör vorgefallen war. Was war der Grund? Glaubte er die zukünftige Partnerschaft zwischen Falk und mir dadurch zu gefährden? Ich brauchte endlich Antworten und war mir sicher von Fritz keine zu bekommen. Wir hatten über viele andere Dinge geredet, wie zum Beispiel über das Video auf meinem Handy, aber bei dem Verhör mit Falk stellte er sich stur.
 

„Erzähl mir vom ersten Verhör zwischen dir und Fritz“, forderte ich Falk auf und konnte die Verwunderung in seinen Augen sehen.

„Er hat es dir noch nicht erzählt?“

„Sonst würde ich dich wohl kaum fragen...“ Ich sah Falk an, dass er Fritz lieber die Antwort überlassen wollte. „Ich muss es wissen, Falk. Ich kann nicht mit dir zusammenarbeiten, wenn ich nicht den anfänglichen Disput zwischen euch beiden verstehe. Wir sind zukünftig ein Team, da müssen solchen Sachen geklärt sein.“ Den letzten Satz sprach ich mit etwas mehr Nachdruck und er schien Wirkung zu zeigen.

„Ich gehe davon aus, dass du keine Ruhe gibst bis du eine Antwort hast?“

„Richtig!“

„Deine Sturheit ist unglaublich.“

„Danke. Eine meiner vielen guten Eigenschaften, die du als mein Partner in der Zukunft genießen darfst“

„Ich freue mich jetzt schon darauf“, schnaubte er und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Dann wurde ich aber wieder ernst.
 

„Also?“, lenkte ich das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema.

„In Ordnung. Aber verstehe bitte, dass ich nur meinen Job gemacht habe... Mein Auftrag war den Tathergang bestmöglich zu rekonstruieren und zu analysieren.“ Er sah mich prüfend an und fuhr nach einer zustimmenden Geste von mir fort. „Ich versuchte ihn zu provozieren, wollte so an mehr Infos kommen, aber er blieb bei seiner Aussage der Notwehr. Herr Brehmer habe die Rettung behindert und dein Leben gefährdet. Seiner Aussage nach hätte Hr. Brehmer dich genauso gut mit einer Waffe bedrohen können.“

„Womit er nicht Unrecht hatte.“

„Es stand außer Frage, dass er handeln musste. Aber ein Messer ist keine Dienstwaffe, wodurch der Gebrauch einer Straftat gleichkommt. Die rechtlichen Bestimmungen waren mir fürs Erste egal. Darüber sollten sich die Juristen den Kopf zerbrechen. Ich suchte nach dem Motiv. Mein Ziel in diesem Gespräch war eigentlich...“ Er zögerte weiterzusprechen, also beendete ich seinen Satz.

„...herauszufinden, ob wir ein Paar sind?“
 

Er sah mich einen Augenblick nachdenklich an, bevor er mir zustimmte.

„Das war der Plan. Ich wollte ihn irgendwie aus der Reserve locken, ihn zu unüberlegte Äußerungen verleiten. Sein Temperament schien dafür zu sprechen, dass es nicht so schwer werden sollte. Also ging ich auf seine Scheidung ein, spielte darauf an, dass er als Ehemann versagt hatte, vielleicht sogar als Vater. Ich unterstellte ihm Angst zu haben nun auch als Polizist und Partner zu versagen. Besonders bei einer Kollegin an der er offensichtlich interessiert schien.“

Ich hörte ihm weiter zu, als er noch von weiteren Provokationen berichtete. Mich überraschte es nicht. So etwas war zu erwarten. Falk war vorgegangen wie man es erwarten konnte. Aber Fritz kannte das Vorgehen der Kollegen. Hatte es wirklich nur diese Provokationen gebraucht, dass Fritz so eine Abneigung gegen Falk entwickelte?
 

„Wie hat er reagiert?“, wollte ich wissen.

„Unerwartet ruhig. Er ließ sich auf nichts ein, zeigte keine Reaktion. Ich glaubte schon auf Granit zu beißen. Aber auf eine Sache reagierte er dann doch...“ Er hielt kurz inne, sah mich unsicher an und ich fragte mich was es wohl war, dass Fritz aus der Ruhe gebracht hatte. „Ich habe ihm von dem Vorfall mit deiner Mutter erzählt.“

Mir stockte der Atem, als ich Falk fassungslos ansah. Meine Mutter? Was hatte sie damit zu tun und wie konnte er von ihr wissen? Redete er etwa über den Tag an dem sie bei einem Raub ums Leben gekommen war?
 

„Woher...?“

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich mich über dich informiert habe. Natürlich ging die Recherche etwas tiefer und ich fand ungewollt auch einige Details über den Tod deiner Mutter. Ich plante nicht es im Verhör zu benutzen, aber als er auf nichts reagierte, erzählte ich ihm von ihr. Die Fälle hatten keine Ähnlichkeit, aber das war nicht das Entscheidende für mich. Ich ließ ihn glauben, dass du ihn immer als Mörder sehen würdest und er nicht besser wäre als der Mann, der deine Mutter erschossen hat. Du würdest ihm nie wieder vertrauen, selbst wenn es auf Notwehr hinauslaufen sollte. Ich spielte eine weitere Karte aus und fragte, ob er wüsste, warum du so gut schießen kannst. Er fand darauf keine Antwort, wirkte durcheinander. Also erzählte ich ihm, dass du jahrelang wie eine verrückte trainiert hast, weil du Verbrechen bekämpfen wolltest ohne dabei jemanden wirklich tödlich zu verletzten. Selbst wenn du es nicht zugibst, aber dir fällt jeder Schuss auf eine Person schwer. Du hast viele Jahre gebraucht um den Verlust deiner Mutter zu verkraften. Ich musste feststellen, dass er nicht einmal wusste, dass deine Mutter nicht mehr lebt. Er hatte überhaupt keine Ahnung von deinem Leben, bevor du nach Berlin gekommen bist. Das sprach natürlich nicht dafür, dass ihr zwei zu diesem Zeitpunkt ein innigeres Verhältnis hattet.“
 

Er machte kurz eine Pause und ließ mir Zeit um die Informationen zu erfassen. Ich hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht das was ich gerade von Falk hörte. Seine Schachzüge waren clever und beantworteten so viele meiner Fragen. Die Unsicherheit von Fritz, sein Rückzug nach Konfrontationen mit mir. Er musste nach dem Verhör geglaubt haben, dass ich ihn verachtete, dass ich ihn gleichstellte mit dem Mörder meiner Mutter. Ich schloss meine Augen und dachte über die erste Tage nach seiner Festnahme nach. Erst war ich kühl zu ihm, dann hatte ich in auf dem Revier umarmt – ich musste ihn mächtig verwirrt haben. Was war ihm die ganze Zeit durch den Kopf gegangen? Ich atmete tief durch, bevor ich meine Augen wieder öffnete und Falk unschlüssig ansah.
 

„Wow... Wer hätte gedacht, dass du so ein Arschloch sein kannst!“ Ich war erstaunt wie ruhig ich dabei blieb. Sollte ich nicht wütend sein? Wenn es nicht um mich ginge, würde ich ihn vermutlich bewundern für sein Vorgehen. Er hatte nicht umsonst den Ruf gefährlich im Verhör zu sein. Bisher hatte er noch aus jedem die Wahrheit rausbekommen. Ich musste einfach verdrängen, dass er meine Vergangenheit für seine Zwecke missbraucht hatte.

Falk blickte mich gequält an. „Du reagierst nicht wie erwartet!?“

„Was soll ich deiner Meinung nach machen? Ausrasten und dir eine knallen?“

„Ich habe an diesem Tag meinen Job gemacht. Nur hatte ich zu dir als betroffene Person mehr Hintergrundwissen als bei anderen Fällen. Ich hab versucht das Wissen auszublenden, aber im Verhör mit Fritz ist mein Ehrgeiz einfach mit mir durchgegangen.“

„Falk, du brauchst mir das nicht erklären. Ist schon klar, dass es für dich ein Job wie jeder andere war.“

„Wirklich?“, fragte er

„Sachlich betrachtet, ja“, erwiderte ich knapp.

„Aber du kannst das nicht nur sachlich betrachten, oder?“

Ich musste ihm Recht geben, also schwieg ich und sortierte erst einmal meine Gedanken. Es verging gefühlt eine Ewigkeit bis Falk weitersprach.
 

„Ich glaube, sein größtes Problem war, dass ich soviel von dir und deinem Leben wusste. Die Vorbereitungszeit auf das Verhör mit ihm war nicht lang genug um an diese ganzen Informationen zu kommen. Also war ich mir sicher, dass er ein privates Interesse dahinter vermutete. Er sprach es nicht aus, aber ich konnte es in seinen Augen sehen. Ich war mir nicht sicher, ob es Eifersucht oder einfach nur Revierverhalten war. Das wollte ich im Nachgang rausfinden. So sind bestimmt einige Missverständnisse zwischen ihm und mir aufgetreten und ich muss zugeben, dass ich nicht gerade dazu beigetragen haben sie aus dem Weg zu räumen.“

„Vermutlich hast du sie noch geschürt.“

„Er ließ sich viel zu leicht provozieren.“
 

Ich blickte ihn warnend an. Gerade als ich was sagen wollte klingelte mein Handy. Fritz war dran. Der Stau hatte sich schneller aufgelöst als gedacht und er würde mit Benny wohl in einer Stunde in seiner Wohnung ankommen. Wenn ich jetzt losfuhr konnte ich mich zuhause noch frisch machen und dann pünktlich bei den beiden sein. Mich durchlief ein Kribbeln, als ich daran dachte endlich Fritz wieder zu sehen. Ich hatte ihn die Woche über schrecklich vermisst und durch die neuen Erkenntnisse war mein Bedürfnis nur noch gestiegen ihn endlich in meine Arme zu schließen. Ich wollte alle Unsicherheiten, die er vielleicht noch immer in sich trug, beseitigen.
 

„War das Fritz?“, fragte mich Falk als ich das Gespräch beendete.

„Ja, er kommt heute wieder zurück“.

„Also habt ihr es endlich geschafft?“ Ich sah Falk bei seiner Bemerkung verwirrt an. Er sah zufrieden aus.

„Geschafft? Wie meinst du das?“

Sein Mund verzog sich und er richtete eine Augenbraue auf um mich prüfend anzusehen. „Willst du es etwa geheim halten, dass ihr zusammen seid?“

„Natürlich nicht, was glaubst du denn? “

„Ich weiß nicht. Mich verwundert es nur, dass ihr beide zusammen seid, aber bisher niemand davon weiß.“

„Es gab einfach noch keine Gelegenheit“, erwiderte ich etwas missmutig und stand auf. Ich hatte jetzt wirklich keine Lust mit ihm darüber zu diskutieren und auch keine Zeit. Zumal es etwas Privates zwischen Fritz und mir war. „Außerdem geht dich das nichts an, verstanden?“

Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er mir in den Flur folgte.

„Charmant wie eh und je.“
 

***
 

Ich hörte das bekannte Klicken des Schlosses, als ich mit dem Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Fritz hatte mir einen Ersatzschlüssel gegeben und ich konnte mich so in die Wohnung schleichen. Es war später geworden als gedacht und Benny musste bereits eingeschlafen sein. Ich zog gerade meine Schuhe aus und legte meine Tasche ab, als Fritz in den Flur trat.
 

„Hey“, begrüßte er mich und schenkte mir dieses warme Lächeln, das meine Knie weich werden ließ. Als ich ihn ansah musste ich wieder an das Gespräch mit Falk denken. Es hatte so viele Missverständnisse gegeben. Ich konnte nur erahnen, was ihm die ganze Zeit durch den Kopf gegangen sein musste.

Der Drang ihm ganz nahe zu sein war überwältigend. Ohne was zu sagen ging ich auf ihn zu und schlang meine Arme um seinen Oberkörper. Ich bettete mein Gesicht auf seinem Brustkorb und atmete tief ein. Ich war die ganze Woche ohne ihn so rastlos gewesen. Nie hätte ich geglaubt, dass mir der Abstand zu ihm so viel ausmachen würde. Vielleicht lag es daran, dass wir noch ganz am Anfang unserer Beziehung standen. Aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Wunsch nach seiner Nähe für mich nur der Anfang war. Sein Duft und die Wärme seines Körpers umschmeichelten meine Sinne und beruhigten mich.

Meine Reaktion musste ihn überrascht haben, denn er war für einige Momente wie erstarrt. Als er langsam seine Arme um mich legte blickte ich ihn an.
 

„Womit hab ich diesen Empfang verdient?“, schmunzelte er mich an und streichelte mein Gesicht bevor er mir einen zarten Kuss auf den Mund hauchte.

„Ich hab dich vermisst“, entgegnete ich ohne Umschweife. Bei meinen Worten konnte ich ein leichtes Flackern in seinen Augen erkennen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Halsbeuge und schloss meine Augen. Seine Hand strich über mein Haar und ich genoss das Gefühl. Mir war es egal, dass wir mitten im Flur standen. Von mir aus könnten wir hier noch eine Ewigkeit stehen. Wann hatte ich mich das letzte Mal so geborgen gefühlt? Ich nestelte mich tiefer in sein Shirt während ich mich in meinen Gedanken verlor.
 

„Ich liebe dich.“

Die Worte hallten in meinem Kopf nach und ich war mir nicht sicher, ob sie nur ein weiteres Mal durch meinen Kopf gegeistert waren oder ich sie dieses Mal tatsächlich ausgesprochen hatte. Die Reaktion von Fritz ließ keine Zweifel. Sein Atem stocke und er hielt in seiner Bewegung inne. Ich war erstaunt, dass mein Puls nicht in die Höhe schnellte und mein Herz wie verrückt gegen meinen Brustkorb schlug. Was war eigentlich los mit mir? Wie von allein war die Angst vor meinen eigenen Gefühlen einfach verschwunden und ich war bereit sie auch in Worte zu fassen.
 

Ich blickte zu ihm auf. Er sah mich noch immer völlig überrascht an und ich musste mir auf die Lippen beißen um nicht zu lachen. Sein Gesichtsausdruck in diesem Moment war einfach unbezahlbar.

Langsam kam er wieder zu sich und seine Hände umfingen mein Gesicht, als er mich ernst anblickte.

„Was hast du gerade gesagt?“, fragte er heiser. Ich konnte die Ungeduld in seinen Augen erkennen.

„Ich liebe dich.“

Noch nie war ich mir damit so sicher gewesen wie in diesem Augenblick und noch nie waren mir die Worte so leicht über die Lippen gegangen. Er lächelte mich erleichtert an, bevor er seinen Kopf senkte und mich küsste bis mir schwindelig wurde. Wie viel mehr von diesen Glückhormonen würde ich noch vertragen? Konnte man an einer Überdosis sterben?
 

„Ich sollte wohl öfter ne Woche verreisen...“, flüsterte er spielerisch als seine Stirn gegen meine lehnte.

„Auf keinen Fall“, protestierte ich und schlug ihm warnend auf die Brust. Er lachte leise, bevor er seinen Arm um meine Schultern legte und mich ins Wohnzimmer manövrierte.

Wenig später lagen wir beide auf der Couch und ich hatte mich an ihn geschmiegt. Der Fernseher lief leise, aber ich achtete nicht auf den Film. Das Gespräch mit Falk drehte noch immer Runden in meinen Kopf.
 

„Ich war heute bei Falk.“

Fritz sah mich fragend an, aber er ahnte wohl schnell worum es bei meinem Besuch gegangen war. Es war leicht an seinem unzufriedenen Gesichtsausdruck zu erkennen.

Ich sah ihn besänftigend an. „Reg dich jetzt nicht wieder auf. Wenn ich mit ihm als Partner arbeiten soll, müssen solche Dinge geklärt sein, findest du nicht?“

Nach kurzem Zögern stimmte er mir zu. „Wie geht´s dir?“

„Gut soweit. Ich denke wirklich, dass wir von Falk in unserem Team nur profitieren können. Er ist beim Verhören ja wirklich skrupellos.“
 

„Er hat mir von deiner Mutter erzählt“, sagte Fritz nach einer Weile.

„Ich weiß.“

„Ich wusste nicht...“

„Fritz, dass weiß ich“, unterbrach ich ihn. „Wir haben alle unsere Vergangenheit und jeder kämpft mit irgendwas. Ich bin da keine Ausnahme. Aber Falk lag mit einigen seiner Schlussfolgerungen nicht ganz richtig. Ich habe dich nie gleichgesetzt mit dem Mann, der für den Tod meiner Mutter verantwortlich war. Außerdem habe ich nicht nur so gut schießen gelernt um zu vermeiden jemanden ungewollt tödlich zu verletzten. Er hat Recht, dass mir jeder Schuss auf eine Person schwer fällt, aber als Polizistin muss ich auch in der Lage sein gezielt jemanden auszuschalten, wenn die Situation es erfordert. Besonders wenn es darum geht jemand anderen zu schützen.“
 

Eine Weile schwiegen wir beide. Ich wusste nicht, was ich sonst zu diesem Thema noch sagen konnte. Wenn Fritz etwas wissen wollte, würde er mich fragen. Wir brauchten keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Früher oder später würde ich ihm sowieso mehr von mir und meiner Vergangenheit erzählen.

„Vielleicht war es doch richtig, dass du mit Falk gesprochen hast.“

„Natürlich war es das. Aber eines würde mich noch interessieren.“

„Und das wäre?“

„Warum du so schnell zugestimmt hast, dass Falk in unser Team kommt.“

„Die Kurzfassung?“

„Ja, die reicht mir.“

„Ich glaube, dass zwei Menschen, die zu sehr versuchen aufeinander aufzupassen schnell den Fokus für das Wesentliche verlieren. Das beeinträchtigt die Arbeit und kann in bestimmten Situationen gefährlich werden.“

Ich verstand was er meinte. Wir würden uns gegenseitig ablenken, wenn wir wie bisher ständig so eng zusammenarbeiten würden. Einen weiteren Teamkollegen zu habe brachte viele Vorteile.
 

„Der wird sich umsehen, wenn er nächste Woche bei uns anfängt. Der bekommt erst mal von mir und Alex ein Spezialtraining im Außeneinsatz. Dieser Anzugsträger wird wohl ziemlich eingerostet sein. So kann ich ihn nicht mit dir losziehen lassen. Er muss noch viel lernen. Ein Verhör ist keine Ermittlung draußen auf der Straße.“

Die Vorstellung schien Fritz zu gefallen Falk mit in den Außendienst zu schleifen. Ich ahnte, dass Falk keine leichte Schule bevorstand. Alex und Fritz würde es genießen wieder in die Rolle der Platzhirsche zu schlüpfen und dem Neuen erst mal deren Revier zu zeigen. Da musste Falk wohl durch. Aber ich war mir sicher, dass er sich gut machen würde.
 

„Er weiß von uns.“

„Ist das schlimm?“

„Nein, aber wir haben darüber noch nicht gesprochen, ob wir es den anderen sagen...“

Fritz richtete sich etwas von der Couch auf und griff nach der Fernbedienung. Er stoppte den Film bevor er mich unzufrieden ansah. „OB? Willst du etwa ein Geheimnis daraus machen?“
 

Ich legte beruhigend meine Hand in seine und zog ihn wieder zurück auf die Couch. „Fritz, natürlich nicht! Sie sollen es doch wissen, aber ich möchte auch zukünftig mein Privatleben und meine Arbeit voneinander trennen. Das verstehst du doch, oder?“ Er sah noch immer nicht ganz zufrieden aus, wirkte aber etwas ruhiger. “Erinnere dich, was du mir zu dem Video auf meinem Handy erzählt hast. Du hast Alex gesagt, dass du nicht mehr denken kannst, wenn ich alleine in einen Einsatz gehe. Mir geht es doch nicht anders. Genügend Zwischenfälle haben das ja nun mittlerweile bewiesen. Wir müssen auf der Arbeitsebene einfach ein wenig mehr Abstand voneinander haben. Wir können ein Team bleiben, aber keine direkten Partner. Daher ist der erste Schritt, dass du wieder hauptsächlich mit Alex arbeitest und Falk mit mir. Wenn wir wollen, dass es mit uns beiden funktioniert, müssen wir Privates und Dienstliches besser trennen.“
 

Fritz ließ sich ins Couchkissen zurücksinken und stöhnte entnervt auf. „Wirklich schwere Kost für so eine Uhrzeit. Ich dachte eigentlich, dass wir uns heute einen entspannten Abend machen und gemütlich einen Film gucken ohne mal wieder über solche Themen zu sprechen, die sowieso noch Zeit haben.“

Ich lächelte ihn an als ich seine Schulter küsste und meinen Kopf an seinen lehnte. „Tut mir leid.“

Er zog eine Augenbraue hoch, als er mich aus dem Augenwinkel heraus betrachtete. Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Schon ok. Ich weiß, dass du Recht hast.“

Ich blickte ihn skeptisch an. „Wow, wirklich interessant diese Worte aus deinem Mund zu hören. Könnte ich das vielleicht schriftlich bekommen?“

„Auf keinen Fall“, grinste er, legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich enger an sich. Er ließ den Film weiterlaufen, bevor er die Fernbedienung neben sich platzierte und seinen Kopf zu mir drehte. „Und jetzt haben wir erst mal genug darüber gesprochen, klar?“
 

„Glasklar“, stimmte ich zu und drückte Fritz einen Kuss auf seine Lippen. Als seine Berührungen andauerten und intensiver wurden war schnell vergessen, dass wir eigentlich den Film zusammen sehen wollten. Nur gedämpft drangen die Klänge vom Fernseher an mein Ohr, denn ich genoss viel zu sehr die Liebkosungen von Fritz. Hitze stieg in mir auf, als er uns in einer fließenden Bewegung drehte und mich mit seinem Gewicht in die Kissen der Couch drückte. Die Fernbedienung fiel zu Boden und ich atmete schwer, als sich seine Lippen von meinen lösten. Sein Gesicht verweilte nur wenige Zentimeter über meinem und ich spürte die Hitze seines Atems auf meiner Haut.
 

Mein Körper brannte und mich erfasste wieder diese Unruhe, wie immer, wenn er mich so sinnlich berührte. Ich blickte ihn mit halbgeschlossenen Augen an und konnte sehen, dass es ihm genauso ging. Seine Stimme klang rau und heiser als er mir leise ins Ohr flüsterte.

„Eigentlich wollte ich wirklich erst diesen Film mit dir gucken, bevor ich über dich herfalle, aber um ehrlich zu sein reicht meine Geduld bis zum Abspann einfach nicht mehr aus.“
 

Kaum waren die Worte ausgesprochen, löste er sich von der Couch und zog mich mit einem Ruck in seine Arme. Meine Arme schnellten reflexartig um seinen Hals, als ich nach Halt suchte. Er war wirklich ein Mann der Tat, dachte ich amüsiert und erregt zugleich. Ich lehnte meinen Kopf an seinen als er mit mir in Richtung Schlafzimmer ging.

„Kommen wir jetzt zu dem Part, wo du mir die Klamotten vom Leib reißt und mich aufs Bett wirfst?“, flüsterte ich in sein Ohr.

„Das war der Plan“, entgegnete er knapp und trat durch die geöffnete Tür ins Schlafzimmer. Ich konnte die Frage in seinen Augen sehen. Als Antwort ließ ich die Tür langsam ins Schloss fallen.

„Ein wirklich guter Plan“, lächelte ich ihn an und beugte mich vor um ihn zu küssen.

Kapitel 39
 

„Boa, Papa. Die gucken uns schon alle an“, beschwerte sich Benny. Wir verließen gerade den `Dome of Babelsberg´ und Fritz lebte noch immer viel zu laut seinen Triumph gegen mich aus. Drei Mal in Folge waren wir in diesem Ereigniskino gewesen. Mit Laserpistolen bewaffnet wurden wir durch eine dreidimensionale Welt geführt und bekämpften böse Eindringlinge. Widererwartend machte es unglaublich Spaß und zwischen Fritz und mir war ein richtiger Wettstreit entfacht. Dass die erste Runde an mich ging, gefiel ihm nicht sonderlich gut und er bestand auf eine Revanche, die er bekommen sollte. Aber erst in der dritten Runde schaffte er es endlich mich punktemäßig zu schlagen und nun fühlte er sich wie der Tagessieger und benahm sich entsprechend.
 

Seit der Rückkehr von Benny und Fritz war bereits eine ganze Woche vergangen. Für Benny war es heute der letzte Tag bei seinem Vater. Morgen früh musste Fritz ihn nach dem Frühstück wieder zu Stefanie bringen. Man merkte Benny an, dass es ihm zu schaffen machte. Er benahm sich emotionaler als sonst und wirkte unausgeglichen. Wie schwer musste es für ein Kind sein ständig von dem einen oder anderen Elternteil getrennt zu sein?
 

Ich ignorierte Fritz, der gerade irgendwas neben mir brabbelte und wandte mich an Benny. Er schien gerade mehr Aufmerksamkeit zu brauchen.

„Wollen wir zum Eisstand und da eine kleine Pause machen?“ Er sah mich mit strahlenden Augen an und augenblicklich zeichnete sich ein Lächeln in seinem Gesicht ab. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und wir machten uns auf den Weg.
 

Fritz protestierte hinter uns, als wir ihn in seinem Siegesrausch stehen ließen und an ihm vorbei gingen. Mit wenigen Laufschritten hatte er uns aber bereits eingeholt. Er passte sich unserem Tempo an und ging einige Schritte wortlos neben mir. Ich konnte sehen, wie er mich von der Seite anblickte, beachtete ihn aber nicht weiter und konzentrierte mich auf Benny, der gerade vorneweg lief. Benny war für den Moment zumindest wieder guter Dinge und steuerte zielorientiert den Eisstand an.
 

Die Wärme von Fritz spürte ich bereits auf meiner Haut noch bevor er meine Hand ergriff. Ich sah ihn fragend an. Er erwiderte meinen Blick ungewöhnlich zurückhaltend.

„Ist alles klar? Du bist doch nicht sauer, oder?“, fragte er vorsichtig.

„Nein, bin ich nicht“, sagte ich beruhigend und verschränkte meine Finger mit seinen. Dann beugte ich mich dichter zu ihm und fuhr leiser fort. „Aber du merkst doch auch, dass Benny ein wenig angespannt ist, oder? Wir sollten uns mehr auf ihn konzentrieren. Immerhin ist heute sein letzter Tag bei dir.“
 

Fritz blickte an mir vorbei und beobachtete für einen Moment seinen Sohn. „Das wird wohl das Problem sein“, hörte ich ihn leise murmeln.

„Ist das immer so?“

Fritz sah etwas gequält aus. „Immer wenn er längere Zeit bei mir ist.“
 

Ich lächelte ihn aufmunternd an und drückte kurz seine Hand etwas fester. „Dann müssen wir uns eben jetzt besonders gut um ihn kümmern und du solltest vielleicht mit Stefanie irgendwann darüber reden. Ihr findet mit Sicherheit eine Lösung dafür.“

Wir sahen beide zu Benny, der weiter vornewegrannte. Erst an der Schlange vom Eisstand hielt er inne und blickte uns ungeduldig an.
 

„Wollen wir nach dem Eis noch zur Stuntman Show“, fragte Fritz als er neben Benny trat und sich zu ihm vorbeugte. Benny nickte ihm entschlossen zu. Ich sah auf die Uhr. Wir hatten noch zwanzig Minuten bis zur Show.

„Schaffen wir das überhaupt noch?“, fragte ich Fritz skeptisch.

„Müssen wir. Das ist die letzte Show für heute.“
 

Ich blickte die Schlange vor uns an. Etliche Leute standen dort und es ging nur schleppend voran. An diesem heißen Tag gönnten sich wohl alle eine kleine Abkühlung.

„Fritz? Josephine?“

Ich drehte mich um. Vor uns stand Caroline, die mindestens genauso erstaunt war wie ich. Sie blickte auf die Hand von Fritz, die meine hielt. Vielleicht lag es daran, dass bisher nur Falk von uns wusste, aber mich überfiel Unsicherheit und ganz automatisch versuchte sich meine Hand aus der von Fritz zu lösen. Aber Fritz dachte gar nicht daran mich loszulassen. Sein Griff wurde fester und als ich ihn ansah, traf mich sein warnender Blick. Die Unzufriedenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Caroline bekam davon wohl nichts mit, da Benny sie gerade umarmte.
 

"Was macht ihr denn hier?“, fragte Caroline als sich Benny von ihr löste und die beiden sich neben uns stellten.

„Wir wollten uns mit Benny mal Babelsberg ansehen“, entgegnete Fritz und lächelte sie an.

„Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen…“

„Kann man wohl sagen“, murmelte ich halb geistesabwesend. Ich hatte Mühe mich zu konzentrieren. Es war nicht so, dass ich nicht wollte, dass sie davon erfuhren, aber ausgerechnet so? Ich hatte mich mental noch gar nicht darauf eingestellt. Wer konnte denn damit rechnen hier Bekannte anzutreffen? Schon immer hielt ich mein Privatleben lieber unter Verschluss.
 

Vielleicht war ich aber auch einfach nur egoistisch und ich genoss den Gedanken, dass Fritz und ich etwas teilten, von dem die anderen noch keine Ahnung hatten. Solange niemand etwas wusste, konnten sie auch nicht ihre Meinung darüber äußern. Aber jetzt war es sowieso egal. Es konnte wohl nicht all zu lange dauern bis Caroline es Alex erzählte. Wo war Alex überhaupt?
 

Fritz kam mir mit der Frage zuvor. „Wo sind denn Alex und deine Mädchen?"

Caroline sah sich etwas suchend um, bevor sie mit den Achseln zuckten. „Keine Ahnung, die wollten sich irgendwie noch was in einem Shop holen… Ich sollte mich schon mal anstellen, weil hier die Schlange vorhin schon so schrecklich lang war, aber eigentlich müssten sie gleich da sein."
 

Zu wissen, dass Alex ebenfalls jeden Moment hier sein würde, machte mich noch unruhiger, als ich eh schon war. Er und Fritz hatten schon immer eine enge und besondere Beziehung gehabt. Sie waren beinahe wie eine Familie füreinander und mich machte es nervös ihm gleich gegenüber zu stehen. Aber eigentlich war es totaler quatsch. Ich kannte Alex doch schon längst. Ob mir gerade deswegen soviel an seiner Meinung lag? Ich wollte keinen Keil zwischen die beiden treiben. Auf Dauer würde es weder Fritz noch Alex gut tun.
 

Alex kam mit seinen beiden Töchtern wenig später um die Ecke. Er war bepackt mit etlichen Tüten und hätte diese beinahe fallen lassen als er uns sah. Er blieb nicht stehen, aber sein Schritt wurde langsamer und ich sah wie es in seinem Kopf ratterte. Es dauerte einige Augenblicke bis er die Situation erfasste und mich durchströmte Erleichterung als er uns beide mit hochgezogener Augenbraue schmunzelnd ansah.

„Na ihr beiden, dass ist ja eine Überraschung.“
 

Bei uns angekommen setzte er die Tüten ab und kam einen Schritt auf mich zu.

„Josephine, schön dich zu sehen“, sagte er sanft und lächelte mich an. „Du scheinst dich ja wirklich gut erholt zu haben.“ Ich war überrascht als er mich zur Begrüßung umarmte. Dieses Mal ließ Fritz meine Hand los, damit ich die Umarmung erwidern konnte.
 

Das Verhältnis zwischen Alex und mir war seit dem Vorfall in der Lagerhalle anders. Es sagte nie was dazu, aber ich konnte den Respekt in seinen Augen sehen. Seine Dankbarkeit Fritz gerettet zu haben und seine Anerkennung, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nur einmal nach der Nacht auf dem Strich kurz erlebt hatte.
 

Die beiden Männer begrüßten sich herzlich und ich sah wie Alex Fritz vielsagend anblickte. Hatte er schon etwas gewusst oder zumindest geahnt? Es war nichts von seiner anfänglichen Überraschung geblieben. Mich sollte das nicht stören, da er offensichtlich keine Einwände erhob.
 

Fritz und Alex waren so im Gespräch vertieft, dass sie abseits der Schlange stehen blieben. Ich konnte hören, wie sie tuschelten, verstand aber leider kein Wort.

„Die beiden benehmen sich wie zwei Jungs, die nach den langen Sommerferien erstmal ihre Abenteuer austauschen müssen“, sagte Caroline neben mir. Ich musste lächeln und stimmte ihr zu. Das war es, was das Verhältnis zwischen den beiden so besonders machte. Man glaubte, dass sie sich schon seit Ewigkeiten kannten.

„Seit wann seid ihr beide eigentlich zusammen? Alex hatte mir noch gar nichts davon erzählt.“
 

„Alex wusste davon auch noch nichts. Es hat sich mit euerm Österreich Urlaub überschnitten. Es sind etwas mehr als zwei Wochen.“

„Ich freu mich für euch. Fritz verdient eine gute Frau.“

Ihre Worte wärmten mich. Ich folgte Carolines Blick und beobachtete wie Alex und Fritz gerade beide lachten. Fritz haute Alex auf die Schulter und erwidert etwas. Erst wirkte er ernst, dann wurde sein Blick aber schelmisch. Ich hätte zu gerne gewusst, was die beiden sich erzählten, aber der Eisverkäufer fragte im nächsten Moment nach meiner Bestellung. Benny bekam sein heiß ersehntes Softeis und für Fritz und mich kaufte ich jeweils zwei Kugeln in der Waffel. Anschließend warteten wir noch auf Caroline und die Mädchen, bevor wir zurück zu den Männern gingen.
 

Angekommen überreichte ich Fritz sein Eis. Er lächelte mich warm an und legte seinen Arm um meine Hüfte. Unsicher blickte ich kurz zu Alex und Caroline bevor ich meinen Blick dann aber lieber auf die Kinder richtete. Benny hatte mit den beiden Mädchen die Sitzbank eingenommen und sie genossen sichtlich die kleine Leckerei.
 

***
 

Wir waren nur kurz zusammen geblieben. Nach der Eis-Pause gingen wir wieder getrennte Wege. Alex wollte mit seiner Familie noch das GZSZ-Set besuchen. Caroline und die beiden Mädchen hatten wohl darauf bestanden.
 

Wir waren nach der Stuntman Show noch ein wenig in der nachgebauten Westernstadt umhergelaufen. Aber jetzt waren wir alle erschöpft und gingen zum Ausgang.

„Was hast du eigentlich vorhin mit Alex besprochen?“, fragte ich Fritz.

„Montag haben wir eine Teamsitzung bezüglich der neuen Aufteilung der Kollegen. Der Chef weiß zwar, dass du noch zwei Wochen krank bist, aber er lässt fragen, ob du trotzdem teilnehmen kannst.“
 

Ich sah ihn ungläubig an. „Deswegen hast du so gegrinst und mit Alex gefeixt?“, fragte ich skeptisch.

Sein Mundwinkel zuckte bei meiner Frage. „Nein“, sagte er gedehnt und zog mich enger an sich. „Da ging es um ein anderes Thema.“

„Und das wäre?“
 

Er sah kurz zu Benny und ich folgte seinem Blick. Benny schien aber im Moment überhaupt nicht zuzuhören. Er blickte zum nachgebauten Vulkan, in dem die Stuntman Show heute Nachmittag gelaufen war.

Fritz beugte sich zu mir vor und flüsterte in mein Ohr: „Er hat mir gratuliert, dich endlich von meinen Vorzügen überzeugt zu haben.“
 

Die Zweideutigkeit seiner Worte war nicht zu überhören, aber vielleicht war ich auch der einzige Mensch, der die Doppeldeutigkeit seine Worte wahrnahm. Nur allzu gut erinnerte ich mich an seine Vorzüge, die er mir gerade erst gestern Nacht demonstriert hatte. Ein wohliger Schauer durchlief meinen Körper bei der Erinnerung. Ich stellte fest, dass er nicht so prüde war, wie er schien und ich genoss jeden Moment davon.

„Du solltest lieber mit diesen Zweideutigkeiten aufhören, wenn wir Begleitung haben“, sagte ich und boxte ihm auf seinen Brustkorb.
 

Fritz sah mich gespielt entrüstet an.

„Ich weiß nicht wovon du sprichst.“

Ich schlug ihm erneut auf den Brustkorb und versuchte mich von ihm zu lösen, jedoch war sein Griff zu fest. Fritz lachte auf und drückte mir einen Kuss aufs Haar.

Benny sah uns zwar fragend an, sagte aber nichts weiter. Der Kleine sah völlig erledigt aus. Er konnte sich wohl kaum noch auf den Beinen halten vor Müdigkeit. Wir waren den ganzen Tag in dem Park unterwegs gewesen und auch ich merkte wie erschöpft ich war.
 

Am Auto angekommen setzte ich mich mit letzter Kraft auf den Beifahrersitz. Durch den Rückspiegel sah ich Benny mit geschlossenen Augen gleichmäßig atmen, bevor wir das Parkgelände verließen.
 

Wir fuhren eine Weile und ich war auch kurz davor einzuschlafen, als mein Handy vibrierte. Die Nachricht war von meinem Vater. Seine Frage ging mir durch Mark und Bein.

»Der Todestag deiner Mutter nähert sich. Kommst du wenigstens für den Tag nach Hause, damit wir gemeinsam zum Grab gehen?«

Durch die ganzen Ereignisse hatte ich beinahe vergessen, dass der Tag bereits in wenigen Wochen war. Unweigerlich tauchten wieder Bilder von meiner Mutter in meinem Kopf auf. Bisher waren wir jedes Jahr gemeinsam zum Grab gegangen.
 

„Alles in Ordnung?“

In sah in das besorgte Gesicht von Fritz. Er hatte gleich gemerkt, dass etwas nicht mit mir stimmte. Also erzählte ich ihm was mich gerade beschäftigte.

„Wirst du hinfahren?“

„Ich habe noch nie den Jahrestag verpasst.“

„Dann solltest du ihn auch in diesem Jahr nicht verpassen... Ich begleite dich, wenn dir das hilft. Natürlich nur, wenn du willst.“

„Wirklich?“

„Ich will mich nicht aufdrängen und würde es verstehen, wenn du es mit deinem Vater alleine sein willst. Aber du sollst wissen, dass ich da bin, wenn du mich brauchst.“

Ohne zu zögern kannte ich bereits die Antwort. „Ich wäre wirklich froh, wenn du mitkommst.“
 

Das Wissen, Fritz an meiner Seite zu haben, beruhigte mich. Für mich war es ein großer Schritt zurück in mein Heimatdorf zu fahren - auch wenn es nur für ein paar Tage war. Ich war Fritz dankbar, dass er es verstand und mich unterstütze.

Ich griff nach seiner Hand, die auf der Gangschaltung lag und drückte sie leicht. Er konnte nicht wissen, wie viel mir sein Angebot bedeutete.
 

Zuhause angekommen schafften wir Benny gleich ins Badezimmer um ihn für die Nacht fertig zu machen. Eigentlich wollten wir ihn danach gleich ins Bett schicken, aber er weigerte sich und versuchte so lange wie möglich wachzubleiben. Ich machte mich als nächste fertig und gesellte mich dann wieder zu den beiden. Als Fritz wenig später ins Bad ging, legte ich mich mit Benny auf die Couch und es dauerte nicht lange bis er einschlief.
 

Ich musste wohl selber kurz danach weggedämmert sein, da ich erst wach wurde, als mich Fritz gerade in sein Zimmer trug.

„Bin ich eingeschlafen?“, murmelte ich noch ganz schlaftrunken.

„Ihr beide. Benny liegt schon in seinem Bett.“

„Tut mir leid.“

„Ist okay. Heute war bestimmt anstrengend für dich“, sagte er und legte mich ins Bett. Er deckte mich zu und schlüpfte anschließend selber unter die Decke. Seine Arme umfingen meinen Oberkörper, als er meinen Rücken an seine Brust zog.

„Lass uns schlafen“, sagte er leise und drückte einen Kuss auf meine Schulter. Seine Wärme umhüllte mich und ich ergab mich meiner Müdigkeit.

Epilog
 

„Willst du etwa schon los?“, fragte Fritz, der gemütlich mit seinem Kaffee am Frühstückstisch saß und gerade einen Bissen seines Käsebrotes verspeiste. Er klopfte auf den Platz neben sich. „Setzt dich doch wieder hin. Du hast nicht mal richtig gefrühstückt.“
 

Ich ging kopfschüttelnd mit meinen geschmierten Broten an ihm vorbei, als ich den letzten Schluck Kaffee aus meiner Tasse trank und sie anschließend in die Spüle stellte. „Damit du eher auf der Arbeit bist und ohne mich den Fall klären kannst...? Auf keinen Fall! Die Ergebnisse sind bestimmt schon da.“

„Ich verstehe sowieso nicht, warum wir nicht zusammen zur Arbeit fahren.“

„Fritz, du weißt doch, dass ich noch nach Wotan sehen muss. Viktor hat heute Züchter da und hat keine Zeit. Außerdem kann ich nicht von ihm verlangen, dass er ständig diese Aufgabe für mich übernimmt. Du willst ja nie dort schlafen, dann hätten wir alles in einem Abwasch erledigen können.“

„Aber wir haben hier mehr Ruhe und Privatsphäre“, verteidigte er seine Entscheidung.

Ich sah ihn nicht ganz überzeugt an. „Die Ruhe ist jetzt sowieso vorbei, Fritz. Ich muss los.“
 

Als ich fast schon zur Tür raus war, dachte ich wieder an den Blumenladen, den er noch aufsuchen wollte. „Denkst du an die Bestellung für den Grabkranz? Wenn wir ihn Samstag früh mit nach Bielefeld nehmen wollen, sollte er Freitag fertig sein.“

„Ja, werde dran denken. Auf den Weg zur Arbeit halte ich nochmal am Laden an.“

„Danke“, lächelte ich und ging auf ihn zu. Eigentlich wollte ich mich nur kurz zu ihm beugen und ihn auf die Wange küssen, aber seine Arme umfingen meine Hüften und er zog mich auf seinen Schoss.
 

„Kannst du wirklich nicht noch etwas bleiben und mit mir frühstücken?“, fragte er nach einem sanften Kuss. Er wusste welche Wirkung seine Nähe auf mich hat.

Meine Lippen legten sich erneut auf seine, dann stand ich auf und blickte ihn entschuldigend an. „Ein anderes Mal gerne. Wir sehen uns später, okay?“

„Bis nachher“, murmelt er unzufrieden, vermutlich enttäuscht schon wieder am Frühstückstisch alleine gelassen zu werden. Aber er wusste schließlich, dass ich mir nur am Wochenende die Zeit für ein ausgiebiges Frühstück nehmen könnte. Ich schnappte mir meine Tasche und machte mich auf den Weg.
 

Auf der Fahrt quer durch Berlin dachte ich über die letzten Wochen nach. Das Zimmer bei Viktor bewohnte ich noch immer, auch wenn ich beinahe jede Nacht bei Fritz verbrachte. Aber Zusammenziehen stand für mich noch überhaupt nicht zur Debatte. Ich genoss es mich zurückziehen zu können, wenn Fritz mich auf die Palme brachte. Aber ich war mir sicher, dass auch er seine Ruhe brauchte, wenn ich seine Nerven einmal mehr übermäßig strapazierte. Mit ihm wurde es nie langweilig und ich mochte das Verspielte und Temperamentvolle in unserer Beziehung.
 

Unsere Kollegen fiel es nicht immer leicht uns zu verstehen, wobei wir uns größte Mühe gaben Privates nicht mit auf die Arbeit zu nehmen. Fritz kannte meine Meinung dazu und wusste, dass ich Privates immer erst nach Dienstende klärten wollte.

Ich erinnerte mich an die Reaktion des Teams, als Fritz und ich am Montag nach dem Wochenende in Babelsberg gemeinsam zur Teambesprechung zu spät kamen. Für Falk war es nichts Neues und auch Alex hatte zumindest ein Wochenende gehabt um sich an den Gedanken zu gewöhnen.
 

Waldi und Karin konnten von den Entwicklungen der letzten Tage nichts wissen und blickten uns entsprechend überrascht an. Zumindest warteten sie mit dem Überfall, bis der Chef seine Teamsitzung beendete und das Zimmer wieder verlassen hatte. Ich war überrascht, wie positiv alle die Nachricht aufnahmen. Zwei Wochen später konnte ich dann endlich wieder arbeiten, wenn auch erst einmal nur im Innendienst. Mein körperlicher Zustand verbesserte sich stetig und ich erwartete jeden Tag endlich das `Okay´ von meinem Arzt zu bekommen um wieder im Außendienst arbeiten zu dürfen.
 

Aufgrund der Teamerweiterung, wechselte Waldi in das Büro von Karin, während ich mir das Büro von Waldi nun mit Falk teilte. Für Fritz und Alex änderte sich nichts. Seit vier Wochen arbeiteten wir in dieser Konstellation zusammen.

Ich setzte den Blinker, als ich den Hof von Viktor erreichte. Im meinem Zimmer wechselte ich schnell meine Klamotten und ging zu Wotan in den Stall. Er sah zufrieden aus, auch wenn er wegen seinem Futter ungeduldig wurde. Die Zufriedenheit verdankte ich mit Sicherheit auch der neuen Pferdewirtin, die Viktor für den jungen Apollo und das restliche Gestüt seit einigen Wochen auf dem Hof beschäftigte. Sie erledigte ihren Job mit Herzblut und auch Wotan profitierte davon.
 

„Josephine?“, hörte ich Viktor im vorderen Bereich des Stalls rufen. Er musste mein Auto auf dem Hof gesehen haben.

„In Wotans Box“, rief ich zurück und platzierte das restliche Heu in der Raufe. Wotan genoss bereits sichtlich sein Hafer. Ich schnappte mir den Futtereimer und verließ die Box.

„Was für ein seltener Gast“, begrüßte mich Viktor mit einem warmen Lächeln. Ich verzog mein Gesicht, während ich die Boxentür verschloss und für eine Umarmung auf ihn zuging.

„Wir haben uns die letzten Tage wirklich oft verpasst“, entschuldigte ich mich.

Er winkte nur ab. „Wir haben beide gerade viel um die Ohren. Wie geht es dir, Kleine?“

„Hervorragend fühl’ ich mich. Noch hat mein Arzt nicht zugestimmt, aber ich bin mir sicher bald wieder in den Außeneinsatz zu dürfen.“
 

„Macht der aktuelle Fall denn Fortschritte?“

„Wir werden wohl bis zum Wochenende die Akte schließen können. Die Spurensicherung scheint einiges gefunden zu haben. Wir warten nur noch auf den Bericht.“

„Das hört sich doch vielversprechend an. Wisst ihr schon, wann ihr nach Bielefeld fahrt?“

„Voraussichtlich Samstag, wenn der Fall mehr Zeit in Anspruch nehmen sollte reicht uns auch Sonntag. Fritz und ich haben bis Mittwoch frei. Wir wollte Montag alle zusammen auf den Friedhof.“

„Werden deine Brüder auch da sein?“

„Du wirst überrascht sein, aber beide haben zugesagt und sich für Sonntag angemeldet.“

„Sicherlich auch, weil sie Fritz in die Mangel nehmen wollen“, sagte Viktor und zog seine Augenbraun fragend hoch.

„Das befürchte ich auch“, stöhnte ich.
 

Dennoch war ich froh die beiden endlich wiederzusehen. Unser letztes Treffen war viel zu lange her. Ohne Frage war es ein trauriger Anlass, aber das Wissen, dass meiner Mutter so viele Jahre nach ihrem Tod noch immer die Familie auf diese Weise zusammenhielt, wärmte mich innerlich.

„Wie macht sich Fritz?“, fragte mich Viktor während wir den Stall verließen und Richtung Haus gingen. Mein Gesichtsausdruck bei seiner Frage musste wohl Bände sprechen. „Ich freu mich für dich. Du hast dir ein wenig Harmonie in deinem Leben verdient.“
 

***
 

„Das ist doch totaler Quatsch“, fuhr mich Fritz an und brachte mich damit etwas aus dem Konzept. „Bleib doch mal realistisch.“

Ich glaubte nicht richtig zu hören. Seit Monaten hatte ich diesen schroffen Ton von ihm schon nicht mehr gehört. Was sollte denn bitte an meiner Vermutung so unrealistisch sein? So viel zum Thema Harmonie, dachte ich genervt an die Worte von Viktor. Warum immer nur auf der Arbeit die Bombe zwischen Fritz und mir so sehr platzte verstand ich einfach nicht. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und baute mich vor ihm auf.
 

„Ich bin immer realistisch“, herrschte ich ihn an. „Fritz jetzt mal im Ernst... Wie oft hatte ich damit schon Recht?“

„Und jetzt glaubst du für jede deiner wilden Theorien einen Freifahrtschein zu bekommen oder was?“

„Erzähl doch nicht so einen Schwachsinn. Wenn du mir endlich mal zuhören und mich ausreden lassen würdest, könnte ich euch auch endlich alles erklären.“ Er knirschte zwar mit den Zähnen, schwieg aber und gab mir damit die Chance endlich auszusprechen. „Ich verstehe nur nicht, warum ihr den Ehemann als Täter ausschließen wollt.“

„Weil die SpuSi eindeutig dem Tatort Spuren vom Geschäftspartner nachweisen konnte.“
 

„Ich glaube wirklich nicht, dass der Geschäftsführer es war“, wiederholte ich mich und blickte das Team ernst an. Außer Waldi standen alle versammelt um den Tisch von Fritz und Alex und begutachteten die Beweise und Berichte eines Mordes an der 45-jährigen Geschäftsfrau Petra Schulz. Hoffentlich war Waldi bald zurück und brachte Beweise für meine Vermutung mit.
 

„Findet ihr es nicht merkwürdig, dass der Ehemann sich mit ihr so offensichtlich vor einer unscheinbaren Überwachungskamera zeigt? Eine halbe Stunde vor dem Mord? Dann trennen sich ihre Wege und er bleibt bis 10 Minuten vor dem Mord in Reichweite der Kamera und verschwindet dann für eine halbe Stunde von der Bildfläche?“

„Das mit den 10 Minuten hast du gut erkannt, Bielefeld. Das reicht nämlich nicht aus um zum Tatort zu gelangen,“ versuchte mich Fritz auf die für ihn so offensichtlichen Fakten hinzuweisen.

„Über den offiziellen Weg vielleicht...“
 

„Jetzt komm nicht schon wieder mit der Theorie der geheimen Gänge“, stöhnte Alex. Falk und Karin hielten sich wenigstens zurück und ließen mich meine Theorie erklären ohne ständig Einwände zu bringen. Warum stellten sich Fritz und Alex so quer?

Oder war ich es vielleicht, die nur überreagierte, weil Fritz nicht meiner Meinung war? Ich konnte es nicht sagen und im Moment fehlte mir sowieso der Nerv um darüber nachzudenken. „Aber wieso nicht?“, gab ich zurück. „Das ist doch gar nicht so abwegig! Mein Onkel ist Handwerker und hat bei uns in einem Haus in Bielefeld bei einer Renovierung schon einmal einen versteckten Gang gefunden...“
 

„Josephine, jetzt lass doch mal die alten Kamellen aus deiner Heimat“, sagte Alex sichtlich bemüht um einen ruhigen Ton nachdem ich bei diesem Thema einfach nicht locker ließ.

„Okay, lassen wir die Story mit meinem Onkel mal beiseite“, lenkte ich ein, gab aber nicht die eigentliche Thematik auf. „Aber Berlin hat noch so viele unterirdische Gänge. So konnte er die hektische Kreuzung schnell umgehen und problemlos in die Tiefgarage gelangen, ohne von irgendeiner Kamera erfasst zu werden. Warum hätte er sonst das Auto in dieser völlig überteuerten Garage an einer Stelle platziert, wo keine Kamera greift?“
 

„Die SpuSi hat aber Fingerabdrücke vom Geschäftspartner der Ehefrau gefunden und der Tatverdächtige hat kein Alibi für den Tatzeitpunkt. Warum willst du diese Fakten nicht sehen?“

„Ich sehe die Fakten, Fritz!“, sagte ich verbissen. „Aber noch offensichtlicher geht es doch kaum. Zufällig sind ominöse Hinterlassenschaften so einfach für die SpuSi zu finden. Das ist ja beinahe so, als wenn er seine Visitenkarte hinlässt mit dem Spruch `Ich war es´. Glaubt ihr nicht, dass an der Sache gewaltig was stinkt? Wir sollten auch nicht außer Acht lassen, dass auf ihren Namen eine hohe Lebensversicherung lief und der Ehemann als alleiniger Begünstigter aufgeführt wird. Das sind nämlich auch Fakten, die IHR anscheinend nicht sehen wollt.“ Ich lehnte mich mit verschränkten Armen an den Schreibtisch und sah Alex und Fritz stur an.
 

„Ich muss da Josephine wirklich Recht geben“, warf Falk ein und erntete sofort einen bitterbösen Blick von Fritz. Die beiden kabbelten sich auf der Arbeit mindestens so regelmäßig wie Fritz und ich, auch wenn die Zusammenarbeit sich stetig verbesserte. Aber dieses Mal hatte Falk sich in die Schusslinie gewagt. Die anderen wussten, dass es nie eine gute Idee war zwischen die Fronten von Fritz und mir zu geraten.
 

Zum Glück ging in diesem Moment die Tür auf und verhinderte eine Diskussion zwischen den beiden Männern. Ewald betrat den Raum und blieb im Türrahmen stehen. Er musste die angespannte Situation im Zimmer erfasst haben.

„Wo warst du denn die ganze Zeit?“, fuhr Fritz ihn an.

Ich war erleichtert ihn zu sehen. Die anderen hatte ich nicht informiert, aber da ich selber im Außendienst nicht aktiv werden durfte, war Waldi so hilfsbereit für eine Recherche sich auf den Weg zu machen. Er war für mich zum Eigentümer der Gebäude gefahren um nach möglichen Grundrissen der unteren Etage zu fragen. Vielleicht würden wir daraus endlich schlauer werden.
 

„Hab für Josephine was besorgt“, entgegnete Waldi in einem ruhigen Ton und hielt einen Umschlag in die Höhe. Glücklicher Weise nahm er Fritz seinen schroffen Ton nicht übel – anders als ich. Im Moment beeinflusste es mich mehr als es mir gut tat und obwohl ich mich bemühte das Ganze dienstlich zu betrachten konnte ich es einfach nicht abstellen. Ich schüttelte die Gedanken für den Augenblick ab und versuchte mich bestmöglich auf den Fall zu konzentrieren.
 

„Und?“, fragte ich Waldi und hoffte, dass er die nötigen Informationen gesammelt hatte.

„Deine Intuition erstaunt mich immer wieder aufs Neue, Josephine. Der Eigentümer hat mir bestätigt, dass eine unterirdische Verbindung der beiden Gebäude besteht und der Weg keine 5 Minuten Zeit beanspruchen sollte. Damit ist der Ehemann wieder im Rennen.“

Erleichterung durchströmte mich. Bei der Befragung war mir der Ehemann von Anfang an immer wieder durch abwegige Bemerkungen und Äußerungen aufgefallen und ich hatte sofort an seiner Glaubhaftigkeit gezweifelt. Nicht einmal war in seinen Augen echtes Bedauern, Verzweiflung oder Trauer zu sehen.

Alex und Fritz starrten Waldi für einen Moment an, bevor sie beinahe synchron entnervt ausatmeten.
 

„Ich hab´s euch doch gesagt.“

„Josephine“, sagte Fritz warnend, aber ich ließ mich dadurch nicht einschüchtern. Er war ja selber Schuld, meinem Urteil so absolut keine Beachtung zu schenken.

„Ihr wolltet dem frühen Verdacht von mir nicht nachgehen. Wir hätten schon längst den Fall abschließen und uns gemütlich aufs Wochenende freuen können. Das habt ihr nun davon...“

„Du bist im Innendienst wirklich noch deutlich anstrengender als im Außeneinsatz“, entgegnete Fritz genervt.
 

„Nun streitet euch nicht“, ging Falk dazwischen. „Man könnte ja denken, dass ihr private Unstimmigkeiten hier auf der Arbeit auslasst!“

„Halt dich da raus“, riefen Fritz und ich tongleich.

„Wir trennen Privat und Dienst, klar Falk?“, sagte Fritz weiter deutlich angespannt.

Karin, die neben Falk stand beugte sich zu ihm rüber. „Das ist während Ermittlungen normal bei den beiden. Du musst dir erst Sorgen machen, wenn die beiden sich nicht streiten.“
 

Fritz fuhr sich frustriert durch seinen Bart. Er nahm sich einen Moment, offensichtlich um sich zu beruhigen. „Alles klar. Wir werden dem Ehemann noch einmal einen Besuch abstatten.“ Seine Stimme klang ruhiger, aber er mied meinen Blick. Er stieß sich von der Wand ab und marschierte an mir vorbei, schnappte sich den Autoschlüssel, der neben mir auf dem Tisch lag und folgte Alex, der schon an der Tür stand.
 

Ich erwartete, dass er etwas Beschwichtigendes sagen würde, immerhin hatten wir uns versprochen nie im Streit zu einem Einsatz zu fahren und aus meiner Sicht war der Streit nur durch seine Sturheit entstanden. Aber offensichtlich sah er keinen Anlass noch etwas zu mir zu sagen. Er wandte sich direkt an Falk und ignorierte mich völlig.

„Willst du nicht mit, Falk? Du lernst am Schreibtisch nichts. Glaub mir, wenn du wirklich Bielefelds Partner werden willst, müssen wir dich noch auf einiges vorbereiten.“
 

Ich wollte noch protestiere, aber er war bereits aus dem Zimmer verschwunden und ließ mich sprachlos zurück. Ich sah zu Falk, der mich entschuldigend anblickte.

„Dann werde ich mich mal an seine Fersen heften und ein guter Schüler sein“, murmelte er und verlies ebenfalls den Raum.
 

Mein Blick blieb an der geschlossenen Tür haften. Ich war mir nicht sicher, ob ich sauer sein sollte oder beeindruckt, dass Fritz sich wie immer benahm. Er hielt sich nur an die Regel, die wir für eine Trennung von Privat- und Berufsleben besprochen hatten. Also warum schlug mir das so auf den Magen? Leises Gebrabbel von Karin und Waldi ließ mich aufhorchen.
 

„Das gibt heute Abend bestimmt Ärger“, hörte ich Waldi wispern.

„Ob er wohl auf der Couch schlafen muss?“

„Ne Hundehütte haben sie ja noch nicht...“

Ich räusperte mich bevor ich beide warnend ansah. Augenblicklich verklangen ihre Stimmen und sie sahen mich schuldbewusst an. Ich brauchte den beiden nicht sagen, dass sie vor ihrer eigenen Tür kehren sollten, sie verstanden es auch so. Plötzlich wirkten beide beim zusammenpacken der Unterlagen schwer beschäftigt.

„Ich werde dann die eine Akte nochmal überprüfen“, sagte Waldi, schnappte sich ein paar Unterlagen und machte sich auf den Weg.

„Ich helfe dir“, rief ihm Karin hinterher, schnappte sich ihren eigenen Stapel an Akten und folgte Waldi aus dem Raum.
 

Ich lehnte mich an den Schreibtisch von Fritz und blickte auf die Fakten und Fotos vor mir. Aber anstatt mir über den Fall weiter den Kopf zu zerbrechen, kreisten meine Gedanken noch immer um den Disput mit Fritz. War ich empfindlicher geworden oder störte es mich, dass trotz der Beziehung zwischen Fritz und mir sich ganz offensichtlich nichts veränderte?
 

Ich zuckte zusammen, als die Tür mit einem Ruck aufging. Im Türrahmen stand Fritz und sah mich an. „Ich dachte schon Karin und Waldi verschwinden nie“, murmelte er und kam auf mich zu. Ich sah ihn fragend an.

Er blieb wenige Millimeter vor mir stehen und beugte sich zu mir. Als unsere Nasen sich beinahe berührten schlug mein Herz augenblicklich schneller – der Streit war für diesen Moment vergessen.
 

„Was machst du denn noch hier?“

„Ich hab noch was vergessen“, sagte er mit rauer Stimme und einem verschmitzten Lächeln. Ich wollte ihn schon fragen, was es war, aber er ließ mir keine Zeit. Im nächsten Moment lagen bereits seine warmen und herrlichen weichen Lippen auf meinen.

Eigentlich wollte ich sauer auf ihn sein, aber sein Kuss beruhigte mein Gemüt zunehmend. Als er sich etwas zurückzog streifte ich mit meiner Hand zart seine Wange und lächelte ihn an.

„Du hälst dich an die Regeln...“, erwähnte ich mit lobender Stimme. Er schnaubte bei meinen Worten.

„In der Tat, das tue ich. Keine Knutscherei vor den Kollegen. Du hast dich deutlich ausgedrückt bei deinen Wünschen.“
 

Mein Grinsen wurde breiter, als ich seinen unzufriedenen Gesichtsausdruck sah. „Du solltest jetzt los. Die beiden warten auf dich.“ Ich küsste Fritz kurz auf den Mund bevor ich ihn langsam von mir drückte. „Pass auf dich auf.“

Er nickte mir zu und lächelte mich an. „Und du mach keine Dummheiten hier.“

Ich verzog mein Gesicht. „Ich bin hier im Innendienst, Fritz.“

„Ich bin mir sicher, dass dir auch hier was einfällt, wenn dir langweilig wird.“

„Eh“, rief ich protestierend und schlug ihm mit meiner Faust auf den Brustkorb. „Hau lieber ab, bevor du heute Abend wirklich auf der Couch schläfst.“
 

Fritz lachte, aber wurde schnell wieder ernst als mein Blick finster blieb.

„Stand das denn zur Option?“

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und wandte mich von ihm ab. „Ich ziehe es in Erwägung.“

Ich spürte, wie er seine Arme um mich schlang und mich langsam zu sich drehte. „Dann muss ich dich wohl davon überzeugen, dass es eine schlechte Idee ist...“

Als seine Lippen meine liebkosten, musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass wir noch immer im Büro waren. Also stemmte ich meine Hände gegen seinen Brustkorb und schob ihn von mir.
 

„Mit deinen Bemühungen der Couch zu entgehen kannst du heute Abend weitermachen. Aber jetzt lass die Jungs nicht länger auf dich warten.“

Fritz stöhnte etwas widerwillig neben mir, aber stimmte zu.

Die Tür fiel wenig später ins Schloss und ich drehte mich wieder um. Mit zwei Fingern fuhr ich die Konturen meiner Lippen nach. Der Kuss von Fritz prickelte noch immer auf ihnen. Ich musste lächeln. Vielleicht hatte sich doch deutlich mehr zwischen uns geändert, als ich dachte – selbst im Dienst.
 

Es lag noch viel Arbeit vor uns, damit die Beziehung funktionieren konnte. Aber wir waren auf dem richtigen Weg. Ich freute mich auf alle zukünftigen Aufgaben mit ihm - als Kollegen und Paar.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  selina_
2015-09-06T18:06:09+00:00 06.09.2015 20:06
Deine ff ist echt mega und ich will ummmmmmbbbbeeeding wissen wie es weiter geht bitte bitte schrein schnell weiter
Von:  Keks99
2014-11-23T14:04:43+00:00 23.11.2014 15:04
hey das ist richtig cool geschrieben :) bitte schreib weiter bin schon gespannt


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