Zum Inhalt der Seite

Fehlende Erinnerung

Wenn das Leben falsch ist
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Überbleibsel

Seufzend rutschte Lucy von dem Bett, welches sie so lange gehütet hatte. Sie fühlte sich immer noch etwa schlapp, aber Wendy und Polyushka waren sich einig, dass sie wieder aufstehen und einen normalen Tagesrhythmus aufnehmen durfte. Nur von Missionen war sie fürs Erste immer noch freigestellt.

Endlich wieder in ihren eigenen vier Wänden wohnen, darauf freute Lucy sich bereits. Hier in der Krankenstation fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller. Ständig kamen Gildenmitglieder hierher und entschuldigten sich bei ihr. Dabei wollte Lucy das gar nicht hören. Das Einzige, was für sie zählte, war, dass sie alle letztendlich nach ihr gesucht hatten. Natsu mochte den Zauber als einziger tatsächlich gebrochen haben, aber die Anderen hatten ihrem Hilferuf genauso Gehör geschenkt wie er. Ohne die Hilfe der Anderen hätte Natsu sie nicht retten können. Aber es war egal, wie oft Lucy das sagte, die meisten Gildenmitglieder hatten immer noch Schuldgefühle und packten sie deshalb in Watte. Dem endlich für eine Weile zu entfliehen, erschien Lucy wie ein Paradies.

Langsam zog Lucy sich das Kleid an, das Mirajane ihr ausgeliehen hatte, hängte sich ihre Tasche mit den Schlüsseln an den Gürtel des Kleides und ergriff ihr Manuskript. Letzteres hatte Levy ihr gestern zusammen mit einer langen Liste an Kritikpunkten und Verbesserungsvorschlägen übergeben. Im Grunde würde Lucy das gesamte Buch noch mal überarbeiten müssen, aber sie freute sich auf diese Arbeit. Sie würde diese Ruhe gut gebrauchen können. Die Schlüssel hatten vom ersten Tag ihres Erwachsens an auf ihrem Nachttisch gelegen. Natsu hatte ihr erzählt, dass Gray und Erza das gesamte Labor auf den Kopf gestellt hatten, um diese Schlüssel zu finden. Auch Plues Schlüssel hing wieder an der Tasche.

Die Straßen waren ruhig, als Lucy sich auf den Heimweg machte. Es war noch früher Morgen, die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt. Eigentlich hätte Lucy sich noch mal untersuchen lassen sollen, aber sie hatte es einfach nicht mehr im Bett ausgehalten. Keiner in der Gilde hatte mitbekommen, dass sie gegangen war. Wahrscheinlich würden sie ihr das übel nehmen, aber das nahm Lucy in Kauf. Die Anderen mussten wieder lernen, sie nicht rund um die Uhr in Watte zu packen.

Wieder auf vertrauten Pfaden zu wandeln, war ein gutes Gefühl. Vorsichtiger als sonst balancierte Lucy an der Kante des Kanals und sog die frische Luft mit tiefen Atemzügen ein. Sie war jetzt wieder frei! Keine Folter mehr, keine höhnischen Bemerkungen, keine Kälte und kein Hunger. Die Schmerzen und Erniedrigungen hatten ein Ende. Ihr Leben würde endlich wieder ganz normal weiter gehen…

Es fühlte sich an, als würde Lucy plötzlich ins Leere treten. Stocksteif blieb sie stehen und starrte die ausgebrannten Gemäuer hinauf. Ihr Zuhause. Fort. Verbrannt. Fort!

Die Beine gaben unter ihrem Körper nach. Tränen, die sie bislang immer zurückgehalten hatte, brannten in ihren Augen.

Im Grunde war es gar nicht weiter verwunderlich. Dieses Monster von einem Wissenschaftler hatte sie Wochen lang ihrer Freiheit beraubt und sie mit allen bekannten Mitteln gefoltert, um seine wahnwitzigen Ziele zu verfolgen. Er hatte die Erinnerungen ihrer Freunde an sie gelöscht, um nicht gestört zu werden. Ihr Haus abzubrennen, um auch ihre gegenständlichen Spuren zu verwischen, war da noch das harmloseste Verbrechen.

Und doch… Es war ihr Zuhause! Hier hatte sie sich alles aufgebaut. Ihr Ruhehort. Ihre Schreibstube… Die Briefe an ihre Mutter, die Geschenke ihres Vaters, die Fotos aus ihrer Kindheit, die Notizen für ihre Geschichten, ihre Missionsaufzeichnungen, die Geschenke ihrer Freunde. Alles fort. Vernichtet. Für immer…

Zitternd schlang Lucy die Arme um den Körper. So viel hatte sie schon entbehren müssen. So viel hatte man ihr weg genommen. Ihre Freiheit. Ihre Würde. Selbst die Geborgenheit ihrer Gilde. Und nun auch noch ihr Zuhause!

„Lucy…“

Natsus Atem ging stoßweise. Er musste hierher gerannt sein, als er entdeckt hatte, dass sie ihr Krankenlager verlassen hatte. In seinen Augen erkannte Lucy eine tiefe Sorge, die früher nie da gewesen war.

Genau diese Sorge war es, die ihren Tränen freien Lauf ließ. Alles hatte sich verändert. Alle behandelten sie anders. Sie hatte im Grunde beinahe ihr gesamtes Leben verloren!

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, krächzte Lucy kläglich. „Das ist mein Zuhause! Du hättest es mir sagen müssen!“

Schuldbewusst nickte Natsu, während er sich ihr weiter näherte. „Ich weiß… Aber ich konnte nicht. Du warst krank…“

„Hör’ auf damit!“ Ihr gequälter Schrei ließ ihn zusammen zucken und innehalten, aber das war Lucy egal. Alles, was sich bisher in ihr aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn. „Ich bin entführt und gefoltert worden, aber ich habe es überlebt und bin wieder bei euch! Ich will nicht, dass ihr mich anders behandelt! Ich will nicht, dass ihr mich in Watte packt und mir so etwas Wichtiges verschweigt!“

Es war schockierend, wie Natsu langsam in sich zusammen schrumpfte. Er unternahm nicht den geringsten Versuch, sich zu rechtfertigen, sondern ließ alles über sich ergehen. Es machte Lucy regelrecht krank, ihn so zu sehen.

„Verschwinde!“, klagte sie heiser und wischte sich erfolglos über die Augen. „Lass’ mich alleine!“

„Nein“, widersprach Natsu langsam und setzte sich auf einmal wieder in Bewegung. Ehe Lucy sich dagegen wehren konnte, war er vor ihr in die Hocke gegangen und hatte sie in seine Arme gezogen. „Ich lasse dich nicht alleine, Lucy. Niemals. Nicht weil du schwach bist und in Watte gepackt werden musst. Du hast durchgehalten. Du hast an uns geglaubt und deine Stellargeister beschützt. Das ist stark. Stärker als alles, was ich jemals geschafft habe… Ich lasse dich nicht alleine, weil du meine Kameradin bist. Ich lasse dich nicht alleine, weil ich das noch niemals getan habe!“

Es war, als würden diese Worte einen Knoten in Lucys Brust lösen – als würde ihr eine Binde von den Augen genommen werden. Ihr anfänglicher Widerstand erlahmte. Stattdessen drückte sie sich an Natsus Brust und weinte sich das Elend von der Seele.

Die ganze Zeit hatte sie versucht, das Erlebte einfach zu verdrängen. Sie hatte den Anderen übel genommen, wie sehr sie unter ihrem Zustand gelitten hatten. Sie hatte nicht daran erinnert werden wollen, was ihr angetan worden war. Dabei war es das Schlimmste, was ihr jemals widerfahren war. So etwas konnte gar nicht spurlos an einem vorbei gehen. Und sie durfte innerhalb ihrer Gilde schwach sein. In der Gilde war sie doch sicher. Dort kümmerten sich alle um sie. Auf ihre eigene unbeholfene Art und Weise hatte jedes einzelne Gildenmitglied ihr das zu erklären versucht, aber erst jetzt begriff Lucy es.

Behutsam schloss Natsu die Arme fester um ihren unter Schluchzern bebenden Körper, umfing sie mit seiner Wärme. Es war die reinste Wohltat für Lucy, so von ihm gehalten zu werden.

„Wir sind alle für dich da, Lucy. Du bist unsere Kameradin und wir sind dir alle dankbar, dass du so lange durchgehalten hast. Deshalb werden wir dich auch niemals alleine lassen, egal wie schwer das alles auch für uns ist“, erklärte er leise.

„Es war mein Zuhause!“, würgte Lucy erneut hervor und schlug schwach gegen Natsus Brust. „Das habe ich mir aufgebaut!“

„Wir werden es wieder aufbauen.“ Natsus warmer Atem blies sanft in ihre Haare. Von allen Seiten drang seine Wärme langsam in sie ein und vertrieb die Verzweiflung wieder, hinterließ stattdessen eine wohltuende Ruhe. „Und bis dahin bin ich dein Zuhause…“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fahnm
2015-02-11T21:00:42+00:00 11.02.2015 22:00
Ein Tolles Kapitel
Von: abgemeldet
2015-02-10T18:28:39+00:00 10.02.2015 19:28
Das Kapitel war großartig :3


Zurück