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Fehlende Erinnerung

Wenn das Leben falsch ist
von

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Todesschwelle

Sie trug ein wunderschönes Kleid, geschmückt mit Perlen und Kunstblumen. Es brachte ihre grazile Figur ausgezeichnet zur Geltung. Die blonden Haare waren kunstvoll hoch gesteckt und der Schmuck passte perfekt zum Kleid. Doch die wahre Schönheit ging von dem warmen Lächeln in ihren Augen aus…

Erschöpft hob Lucy den Blick. Vor ihr verschwamm immer wieder alles. Die Luft schien zu flimmern und die Farben wechselten andauernd. Manchmal konnte sie gar nichts mehr sehen, selbst wenn sie die Augen geöffnet hatte – oder es zumindest glaubte.

Ihr Körper war am Ende, das wusste Lucy schon seit einer Weile. Vielleicht seit Stunden, vielleicht seit Tagen. Ihr Zeitgefühl hatte sie lange vor allem anderen verloren.

Stramm saß er an seinem Schreibtisch und studierte seine Unterlagen. Die Stirn gefurcht. Der Schnurrbart wackelte manchmal entrüstet. Der Anzug saß wie immer tadellos, die Haare waren streng zurückgekämmt worden. Das Papier knisterte, ansonsten war es gespenstig still in dem großen Raum…

Schmerzen spürte sie nicht mehr. Irgendwann war sie einfach an einen Punkt gelangt, an dem ihr ganzer Körper von Taubheit erfüllt worden war. Seitdem gab es keine Schmerzen und auch kein Kälte- oder Wärmeempfinden mehr. Hunger und Müdigkeit waren verschwunden. Ja, ihr gesamter Körper schien sich aufgelöst zu haben.

Dennoch wusste sie, dass es schlimm um sie stand. Sie konnte kaum noch richtig atmen und selbst das Bewegen ihres Kopfes erforderte äußerste Konzentration. Ihre Sinne versagten, allen voran ihr Tastsinn, doch auch ihre Augen und Ohren gaben nach und nach ihren Dienst auf.

Kalt und grau wirkten die Grabsteine. Sie waren klein und schmucklos. Schlicht und bescheiden sollten sie eigentlich sein, aber hier und jetzt hinterließen sie ein hohles Gefühl. Das Gefühl, eine Waise zu sein. Das Gefühl, keine Eltern, keine Familie zu haben…

Lautlos bewegten sich Lucys Lippen, formten immer wieder einen einzigen Namen. Den Namen desjenigen, auf dessen Erscheinen hier sie immer noch wartete. Immer hatte sie ihm vertrauen können, immer war er gekommen, um sie zu retten. Es war unmöglich, dass er es dieses Mal nicht tat. Sie wusste, dass er kommen würde – also musste sie bis dahin durchhalten, denn er vertraute auch ihr!

Sie fiel vom Turm, entfloh ihrem Entführer. Der Erdboden rückte mit jedem Herzschlag näher, hart und todbringend. Aber sie hatte keine Angst. Nur Vertrauen…

Ihre Gilde hatte sie nicht vergessen. Nicht ganz und gar. Lucy hatte ihnen ein Zeichen geschickt und sicher würden sie bald allesamt hier sein und sie retten. Jeden Moment konnte es soweit sein. Dann würden sie und ihre geliebten Stellargeister endlich hier raus kommen. Sie würde zurück nach Hause kommen und ihr altes Leben wieder aufnehmen!

Die Landschaft zog atemberaubend an ihrem Fenster vorbei, aber alles, wofür sie Augen hatte, waren ihre Teamkollegen. Wie sie miteinander lachten, wie sie stritten, wie sie einander immer nahe waren, selbst wenn sie so taten, als könnten sie einander nicht leiden. Aufträge mit langen Zugfahrten waren ihr aus diesem Grunde zu den liebsten geworden…

Die eisigen Finger des Todes schlossen sich immer fester um ihren Körper. Sie setzten nach und nach alle Körperfunktionen außer Gefecht. Immer wieder verschluckte sie sich an ihrem eigenen Speichel. Ihre Lunge stand kurz vorm Kollaps und ihr Herz schien nicht mehr in der Lage zu sein, ihren Körper ausreichend mit sauberem Blut zu versorgen. Selbst ihr Gehirn schien zu versagen. Jeder Gedanke fühlte sich zäh, beinahe schmerzhaft an.

Es half nur, sich immer weiter an den einen Gedanken zu klammern: Bald waren sie hier! Bald war sie frei!

Sie lag leblos am Boden, blass und immer noch mit Zeichen der Übermüdung. Der Anblick stach ihr ins Herz und sogar noch tiefer. Das hätte sie selbst treffen können. Sie hätte auch all ihre Freunde sterben sehen können, wenn dieses Mädchen nicht gewesen wäre. Alles zu verlieren, was einen ausmachte – wie lebte man nach so einem Verlust weiter? Wie hatte sie es geschafft? Wieso hatte sie sich für etwas geopfert, das ihrer eigenen Zeit nicht helfen konnte? Im Grunde war die Antwort einfach, aber es wollte dennoch nicht in ihren Kopf, dass sie selbst so weit getrieben werden könnte. Sich selbst sterben zu sehen, war zu surreal.

Und doch lag zu ihren Füßen ihr eigener Leichnam und auf den Lippen dieses Leichnams lag ein erleichtertes Lächeln. Weil dieses Mädchen nun endlich wieder Frieden hatte. Es war mit seinen Freunden wieder vereint. Was war das für eine Welt, in der ein Mädchen sich sogar über den Tod freuen konnte, weil er es mit seinen Freunden wieder vereinte…?

Was würde mit ihren Stellargeistern geschehen, wenn sie nicht mehr durchhalten konnte? Keiner hier war ein Stellargeistmagier und jemand, der diese Magie nicht beherrschte, konnte einen Stellargeist nicht einfach in diese Welt zwingen. Wenn Loki und die Anderen in der Welt der Stellargeister blieben, waren sie fürs Erste weiterhin sicher. Doch was geschah, wenn sie irgendwann einen anderen Stellargeistmagier fanden? Wenn dieser die Schlüssel bekam, würde er die Geister – Lucys Kameraden – womöglich in Verträge zwängen, die es ihnen unmöglich machten, den Experimenten dieses Irren zu entgehen.

Der Gedanke war grauenhaft, setzte ihrem erschöpften Herzen derartig zu, dass sie nach Luft schnappen musste. Sie durfte nicht aufgeben! Für Loki und die Anderen musste sie weiter durchhalten.

Der Blick in die Halle der Gilde war das Schönste, was sie kannte. All die Gesichter. Das Gelächter, die Stimmen, die Gerüche, die Farben. Hier in dieser Halle wirkte alles richtig. Hier hatte ihr Leben im Grunde erst richtig angefangen. Hier wollte sie ihr ganzes Leben verbringen…

Röchelnd hing sie in ihren Ketten. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich und ihr blieb immer wieder die Luft weg. Vor ihren Augen wurde es schwarz, dann flackerte es, dann herrschte wieder völlige Schwärze.

War es das? Sollte sie wirklich so schwach sein? Was würden Natsu und die Anderen denken, wenn sie hier nur noch ihren Leichnam fanden? Würden sie ihr das jemals verzeihen können? War sie dann überhaupt des Zeichens auf ihrer Hand würdig?

Sie fiel und fiel und fiel. Und sie schrie. Schrie aus Leibeskräften. Schrie einen einzigen Namen. Schrie den Namen des Mannes, der ihrem Leben die entscheidende Wende ermöglicht hatte. Er hatte ihr ein Zuhause gegeben, eine Familie, Freunde.

Sie könnte sich alles nur eingebildet haben. Sie könnte sich soeben in den Tod gestürzt haben und womöglich würde es nicht ein einziger aus ihrer neuen Familie erfahren. Doch das war unmöglich. Irgendwie spürte sie das einfach…

Der Boden unter ihren Füßen bebte. Mühsam blinzelte sie mehrmals. Selbst ihre Augenlider gehorchten ihr kaum noch, aber schließlich konnte sie wieder den Raum um sich herum erkennen, doch er wirkte irgendwie anders als bisher. Die Wände schienen zu wackeln.

Er würde da sein und sie auffangen. Er würde sie retten und zurück nach Magnolia bringen. Nach Hause. Zu ihrer wahren Familie. Wenn es überhaupt irgendeine Sicherheit auf der Welt gab, dann diese eine. Niemals würde er sie ihm Stich lassen. Allein der Gedanke war schon ein Verrat an ihm…

Zuerst glaubte sie, ihre Ohren würden gleich endgültig den Dienst versagen und wie bei einem letzten Aufbäumen alles noch mal besonders laut an ihr Gehirn weiter leiten. Doch bildete sie sich all die Schreie und Rufe um sich herum wirklich ein? Waren da nicht Stimmen, die ihren Namen riefen? Lucy versuchte angestrengt, zu lauschen, aber allmählich versank alles in einem Rauschen und ihre Augen fielen ihr auch wieder zu.

Nur noch wenige Meter. Wenn er jetzt nicht zu ihrer Rettung kam, würde sie aufprallen und in Sekundenbruchteilen sterben. Ein schneller, schmerzloser Tod. Zuerst fand sie diesen Gedanken tröstlich, aber dann musste sie daran denken, wie viel ihr dann entgehen würde. Wie viele Missionen sie verpassen würde. Wie viele Abende in der Gilde. Wie viele Morgen, wenn sie sich mal wieder über Eindringlinge in ihrer Wohnung aufregte. Nein! Er würde kommen und sie vor diesem viel zu frühen und viel zu trostlosen Tod bewahren!

In ihrer unmittelbaren Nähe war eine starke Erschütterung. Dann hörte Lucy wie durch eine dämpfende Schicht Schritte und hektische Atemzüge. Irgendwo ganz in der Nähe erklang eine vertraute Stimme, die Lucys Körper erneut aufbäumen ließ. Sie mobilisierte ihre allerletzten Reserven und öffnete wieder die Augen.

Vor ihr stand Natsu. Das Gesicht von Grauen erfüllt, aber das spielte keine Rolle für Lucy. Er war es wirklich. Er hatte sie gefunden. Er hatte sie nicht vergessen.

Sie wollte seinen Namen sagen, aber sie hatte keinerlei Energie mehr dafür. Die Füße rutschten unter ihrem Körper weg, sodass ihr gesamtes Gewicht an den Handgelenksfesseln hing. Schon Sekundenbruchteile später wurde sie hoch gehoben und dann ließ auch der Zug an ihren Handgelenken nach.

Sie lag in Natsus Armen. So wie damals…

Starke Arme umschlangen ihren Körper. Es brauchte vielleicht nur noch eine Herzschlagdauer, bis sie am Boden aufschlagen würde, aber in dem Moment, da sie diese Arme spürte, hatte sie endgültige Gewissheit. Federleicht fühlte sie sich. Sie würde leben! Er hatte sie gerettet! Ihr Vertrauen in ihm war kein Wunschdenken. Niemand würde ihr das jemals einreden können!


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 8 - "Urvertrauen" am 1. Februar 2015

Sie alle konnten sich jetzt wieder an Lucy erinnern. Mirajane hatte geweint, als sie es Makarov über dem Kommunikationslacrima erzählt hatte. Selbst Laxus, der den Drahtzieher hinter all dem zum Rat befördert hatte, hatte aufgewühlt gewirkt. Obwohl in seinem Fall wohl eher die Wut ob dieses unverhohlenen Angriffs auf die Gilde vorgeherrscht hatte. So verhielt es sich in der gesamten Gilde, soweit Makarov das bisher überblicken konnte: Entweder waren die Mitglieder wütend oder schuldbewusst. Makarov konnte Beides nur zu gut nachvollziehen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Silencer
2015-02-08T20:02:08+00:00 08.02.2015 21:02
Ein wehmütiges Kapitel, aber passend zu Lucys Situation. Ich finde es toll, dass die ganze Gilde (oder auch nur unsere berüchtigt, beliebte Truppe) zu Lucys Rettung beigetragen hat und nicht nur Natsu allein, aber dass dennoch er allein Lucy vorfindet und rettet. Ich hätte gerne erfahren, wie die Rettungsaktion erfolgte. Aber ich denke, das wäre schwer zu beschreiben gewesen, vor allem weil diese Geschichte ja nicht auf Kampf und Aktion ausgelegt ist, nicht wahr? ^^
Ich frage mich nur, wie sie schlussendlich Lucy gefunden haben? Lag es allein an Natsus Instinkten?
Von:  fahnm
2015-01-24T21:00:50+00:00 24.01.2015 22:00
Endlich
Er hat sie gefunden
Mach weiter so^^


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