Gedankenwechsel
Vierzehnter Teil
Law ging nicht zu seinem Onkel. Zunächst verweilte er einige Zeit im Innenhof des alten Wohnkomplexes und stellte fest, dass dieser im Mondlicht einen viel geheimnisvolleren Eindruck erweckt hatte. Bei Tageslicht betrachtet war er nicht mehr als der Rest des Viertels: alt und heruntergekommen. Nicht einmal die vereinzelten Schneeflocken, die schüchtern im Wind tanzten, konnten die Müllcontainer, die bewucherten Wege und eingeschlagenen Fenster schönreden. So verließ er mit einem Seufzen diese fremde Welt, schritt hinaus und fragte sich, ob Kid ihn wohl beobachtete – umdrehen würde er sich allerdings nicht; viel zu groß war die Angst, er könne doch noch einmal umkehren und diese Erkenntnis bereitete ihm zunehmend Sorgen.
Einige Minuten später zog er an der Straßenbahn ein Ticket, setzte sich neben eine ältere Dame und rieb sich gähnend über die Oberarme. Sein Blick schweifte hinaus auf den tristen Beton der Stadt und die vielen Menschen in schwarzen Mänteln, die in Eile umherirrten; ihre Blicke nach unten gerichtet; sie vermieden mit aller Macht jeglichen Kontakt. „Der Schnee ist früh dieses Jahr“, erklärte eine muntere Stimme neben ihm. Law hob sogleich den Blick und sah auf die lächelnde Frau neben sich. „75 Jahre und jedes Mal freue ich mich wieder wie ein kleines Kind!“, fuhr sie fort und wippte auf ihrem Stuhl auf und ab, während der Student neben ihr zweifelnd eine Augenbraue hob. „Ist ziemlich kalt“, murmelte er aus reiner Höflichkeit, verschränkte die Arme und drehte seinen Kopf zur Seite, um das unfreiwillige Gespräch zu beenden. Seine Sitznachbarin schwieg wie erhofft. Zwei Stationen später erhob sich die Dame dann, drückte sich an Law vorbei und nutzte die Gelegenheit, um ihre Hand sanft auf seine Mütze zu legen. Mit tiefen Lachfalten um den Augen und einem weisen Glanz im Gesicht sah sie ihn an. „Gleichgültigkeit und Apathie sind Laster des Alters, mein Junge“, flüsterte sie ihm entschlossen zu, „und nicht einmal dem stehen sie besonders gut.“ Sie schenkte dem jungen Mann ein letztes, zutiefst freundliches Lächeln, dann verließ sie die Bahn. Law blickte ihr verwundert schweigend hinterher.
Die ganze Welt musste in der letzten Nacht durchgedreht sein, dachte sich Law kopfschüttelnd. Kurze Zeit später stand er selbst auf, verließ die Bahn und schob sein Kinn tief in den Kragen seines Mantels. Er vermisste seinen Schal, doch der Gedanke an seinen fluchtartigen Abgang aus Kids Wohnung zauberte ein verschämtes Lachen auf seinen Mund – Auch wenn es gefährlich war, so schien die letzte Nacht wie das Abenteuer, das er seit langer Zeit gebraucht hatte. So öffnete er mit belebtem Schwung die Tür zur Bibliothek der medizinischen Fakultät, sprang mit großen Schritten Treppenstufen hinauf und lief einen Gang entlang, bis er seinen Stammplatz erreichte. Die Luft roch wie immer alt und stickig, das Licht war kühl und steril, die Menschen müde und genervt – so wie er es kannte. Er war wieder angekommen in der Realität – Aufgewacht aus dem Wunderland. War die kleine Alice damals traurig gewesen? Ein seltsamer Gedanke… Doch musste er ihn nicht zu Ende denken: „Na sieh mal, wer da angeschlichen kommt“, rief eine altbekannte Stimme in Laws Richtung. „Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt“, ergänzte eine zweite, kaum hatte der Neuankömmling ihren Tisch erreicht.
„Um zurückzukehren müsste ich euch erstmal loswerden“, erwiderte Law, während er mit einer gewissen Erleichterung im Magen in die Gesichter seiner Studienkollegen Shachi und Peng schaute. Beide hatten ihre Mützen abgelegt und versteckten sich nun hinter einem beträchtlichen Stapel an Fachliteratur. Die beiden Jungs kicherten kurz, als sich Law zu ihnen setzte. „Was ist aus deinen gruseligen Kameraden geworden?“, erkundigte sich Peng, während er sich durch die Haare wuselte und seine ohnehin zerzauste schwarze Mähne noch weiter zerstörte. Shachi ergänzte ihn: „Und was sind das für Kratzer da?“ Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete auf Laws Hals und Wange. Zwar waren ihre Fragen berechtigt und wahrscheinlich das mindeste, was gute Freunde tun würden, doch war die Erinnerung noch zu frisch und Law verspürte keinerlei Verlangen, die vergangene Nacht alsbald Revue passieren zu lassen – da hätte er auch gleich zu seinem Onkel gehen können. „Ein andermal…“, vertröstete er die beiden in dem Wissen, dass sie verstehen würden, dass er zunächst schweigen wollte. Sie verstanden immer.
Als Law an diesem Abend die Bibliothek verließ, hatte er acht Anrufe in Abwesenheit. Allesamt von seinem Onkel. Doch so sehr er die Sorgen des Alten auch verstand, so wenig wollte er weiterhin mit ihm über Kid reden. Eigentlich wollte er mit niemandem jemals wieder über den vergangenen Tag reden – zu viele Worte könnten nur zerstören, was schweigend genossen wurde. Er würde das Praktikum abbrechen und Kid nie wiedersehen. Das war das Beste. Für beide. Zumindest hatte ihm das sein Gehirn in den letzten Stunden nahegelegt. Um diesen unausgesprochenen Pakt zu besiegeln und damit jeder Versuchung zuvorzukommen, holte er sein Handy hervor, kaum dass er kühle Abendluft auf seinen Wangen spürte. Hastig schrieb er seinem Onkel eine SMS, die ihm seine Entscheidung mitteilte. Es folgten weitere Anrufe, die Law allesamt wegdrückte. Zwei Tage später hatte er endlich seine Ruhe.
Die erste Textnachricht erhielt er am folgenden Samstag. Er befand sich in einer Bar im Universitätsviertel und bestellte gerade sein nächstes Bier, als das Smartphone in seiner Hosentasche zu vibrieren begann. Halb auf dem Tresen lehnend schnappte er gelangweilt nach dem kleinen Gerät, in der Hoffnung es würde seine Wartezeit ein wenig versüßen. Darüber hinaus war er doch interessiert zu erfahren, wer ihm um diese Uhrzeit etwas schreiben würde – Shachi und Peng standen schließlich keine zwei Meter hinter ihm. Als er auf den Display schaute, stellte er fest, dass es sich in der Tat um eine unbekannte Nummer handelte. Neugierig drückte er mit der Spitze seines Daumes auf das Symbol mit dem Briefumschlag.
23:47 <Ich hab ne Geisel.>
Law schob verwundert seine Augenbrauen zusammen. „The Fuck…?!“, wisperte daraufhin eine Stimme in sein eines Ohr und kurz darauf eine zweite in das andere: „Was für kranke Spielchen treibst du eigentlich?“ Law sah abwechselnd in die Gesichter seiner Freunde und seufzte laut. „Was lest ihr Penner meine Nachrichten?“, pflaumte er Peng und Shachi an, bevor er sie mit den Ellenbogen von sich drückte. Genervt ließ er das Handy wieder in seiner Hosentasche verschwinden und nahm sein Bier entgegen.
Eine Stunde später waren seine zwei Begleiter auf der Tanzfläche verschwunden und gaben Law dadurch erneuten Anlass, seine Aufmerksamkeit dem beruhigenden Zentrum seines Displays zu widmen. Zu seiner Überraschung hatte er dieses Mal zwei Nachrichten erhalten. Wieder von der gleichen Nummer. Neugierig begann er zu lesen, indem er das Gerät im tanzenden bunten Licht der Bar nah an sein Gesicht zog.
00:24 <Willste die nicht zurück ???>
00:36 <Reicher Scheißer>
Irritiert legte Law die Stirn in Falten und fuhr sich übers Kinn. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, als ihn die Art des Geschriebenen an Kid erinnerte. Doch das konnte nicht sein, schließlich hatte er ihm nie seine Nummer gegeben. Aber welcher Idiot sollte ihm solche Nachrichten schicken? Er gönnte sich einen tiefen Schluck von seinem Bier, stellte es wieder ab und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als ihm etwas in den Sinn kam. Alles, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass Kid mit seinem Onkel telefoniert hatte, als er vor wenigen Tagen in der Wohnung des Rotschopfs aufgewacht war. Er hatte allerdings keine Ahnung, was davor passiert war und aus welchem Grund Kid überhaupt sein Handy in den Händen hatte. „Dreckiger Mistkerl“, fluchte er gegen die Lauten Klänge der Lautsprecher in der Bar und schloss ein amüsiertes Lachen an.
Kannst die Tasche behalten. Brauch ich nicht mehr.
Die Erkenntnis überkam Law mit jedem Buchstaben, den er tippte. Der kleine Irre hatte es also geschafft, auch außerhalb der vier Wände seines Psychotherapeuten mit ihm in Kontakt zu bleiben. Chapeau, Kid. Die obszöne Geste, mit der er sich zuletzt bei ihm verabschiedet hatte, verbuchte Law als bloßen Affekt der abstrusen Situation, in der sie sich befunden hatten. Sein Onkel hatte ihm Angst gemacht und er hatte sich mitreißen lassen – Kid hatte ihm jedoch nie Anlass zur Sorge gegeben. Ganz im Gegenteil. Nicht wahr? Dieses Mal war es zudem die Hartnäckigkeit des Rotschopfs, die ihn faszinierte. Mit der ‚Geisel‘ konnte Kid eigentlich nichts anderes meinen außer den Dingen, die Law bei ihm zurückgelassen hatte. Es war das beste Beispiel für den sonderlichen Humor des jungen Mannes. Law schmunzelte. Und kaum hatte er seine Antwort beschwingt vom Alkohol abgeschickt, fühlte er auch schon die Aufregung in angenehmen Wogen durch seinen Körper wallen – wie er dieses Gefühl vermisst hatte! Nach einem weiteren Schluck von seinem Bier erhielt er eine Antwort. Dieses Mal breitete sich die Vibration des Handys auf den gesamten Körper des Studenten aus.
00:58 <Warum biste abgehaun?>
Gerade hatte er die wenigen Wörter gelesen, da musste Law schwer schlucken. Er würde Kid nicht die Wahrheit sagen, auch wenn dieser sie mit Sicherheit bereits kannte; andererseits wollte er auch nicht lügen. Während er zu tippen begann, stellte er sich vor, wie Kid gerade irgendwo saß – zu Hause, nein, in einer Bar… auch das nicht. Im Park! Er stellte sich vor, wie Kid im Park auf einer Bank saß, die Wangen rot dank der winterlichen Kälte, der Atem in weißen Wolken vor seinem Mund, sich eine Zigarette anzündete und gebannt auf Laws Antwort wartete. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.
Warum schreibst du mir? Nummerndieb ;)
Es dauerte eine Viertelstunde, bis Laws Handy abermals vibrierte. Entweder hatte Kid gerade etwas zu tun oder er hatte lange über seine Reaktion nachgedacht. Law gefiel die zweite Variante besser. Er selbst hatte in den letzten Tagen immer wieder an ihren gemeinsamen Tag denken müssen; hatte verschiedene Szenarien durchgespielt und auch, was passiert wäre, hätte er die Wohnung nicht verlassen. Er hatte gegrübelt und versucht die verschiedenen Puzzleteile, die ihm Kid gegeben hatte, zu einem Bild zusammenzusetzen - doch alle Mühe blieb vergebens. Ob in Kids surrealer Gedankenwelt wohl auch Platz für ihn geblieben war?
01:17 <Wollte sehn ob du antwortest. Ist interessant. Schisser ;)>
Der letzte Smiley strotzte nur so vor Zynismus, aber nach seiner Flucht vor Kid konnte Law wohl mit keiner anderen Reaktion rechnen. Darüber hinaus hatte es Kid wiedermal geschafft, Law etwas beweisen zu lassen, das er sich selbst nicht einmal eingestand. So sehr Law es auch drehte und wendete – er war noch nicht bereit, Kid zu einer bloßen Erinnerung werden zu lassen. Er ergab sich einem lauten Lachen, ignorierte die Blicke seiner fremden Sitznachbarn und begann zu schreiben, als er plötzlich eine neue Nachricht erhielt. Verwundert öffnete er sie.
01:19 <Hast du Angst?>
Die Frage ließ seine Heiterkeit versiegen und hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Angst wovor? Kid, Killer, Psychosen, Feuer, dem Leben? Zwar verstand er die Frage, allerdings vermochte er nicht zu sagen, was genau Kid damit ausdrücken wollte und warum er sie gerade an ihn stellte. War es eine Drohung? Ein Hilferuf? Er spürte die Wirkung des Biers in seinem Körper. Die Buchstaben der Nachricht begannen vor seinen Augen ineinander zu verschwimmen. Dennoch wollte er etwas antworten und Kids Intention auf den Grund gehen, als ihm plötzlich das Smartphone aus den Händen gerissen wurde. „Genug gesextet“, witzelte Peng mit einem angetrunkenen Säuseln. „Wir sind hier schließlich nicht zum Spaß da!“, warf Shachi ein und zog Law mit sich, während Peng dessen Handy in einer seiner weiten Hosentaschen verschwinden ließ…
Als Law am nächsten Morgen erwachte, spürte er bereits die Nachwirkungen des Alkohols. Schweiß stand auf seiner Stirn, ihm war kalt und gleichzeitig warm; Übelkeit lag ihm auf der Zunge. Müde fuhr er sich durchs Gesicht, blinzelte verschlafen in das Licht der Morgensonne und gähnte, während er widerspenstige schwarze Haarsträhnen aus seinem Gesicht entfernte. Erst als er sich zur Seite drehte, um sein Handy vom Nachtschrank zu greifen, fiel ihm auf, dass eben dieses fehlte. Mit einem genervten Seufzer sprang er auf, zog sich ein Oberteil über und lief in Boxershorts zum Wohnzimmer.
Er lebte nun schon seit zwei Jahren in der Wohnung im East End. Es gab ein großes Schlafzimmer, ein Gästezimmer, ein großes und ein kleines Bad und eine moderne Küche, die sich mit einer Insel und einer Ecke für den Esstisch zum Wohnzimmer öffnete. Wäre es nicht die Wohnung eines Arbeitskollegen seines Vaters gewesen, hätte er sie sich wohl kaum leisten können. „Wo ist es?“, raunte Law an diesem Morgen mit viel zu tiefer Stimme und räusperte sich, bevor er dem Körper auf seiner Couch einen festen Tritt gab. Sein Freund mit der pechschwarzen Frisur setzte ich schlagartig auf und sah sich erschrocken um, bevor er erleichtert ausatmete, als er verstand, was gerade passierte. „Was hast du denn für’n Problem?“, nuschelte er verärgert, während er zu Law hochsah und die dünne Sofadecke enger um seinen Körper legte. Doch der junge Mann neben ihm ließ nicht locker: „Jetzt sag schon. Wo ist mein scheiß Handy?“ Peng seufzte laut auf, bevor er sich von Law wegdrehte. „Keine Ahnung? In meiner Hose oder so… Muss ja nen heißes Mädel sein, wenn du so verdammt früh aufstehst, um ihr zu schreiben.“ Während sein Kumpel amüsiert kicherte, traf Law die Erinnerung wie ein Schlag. Es war nicht neu, dass Peng ihm sein Handy beim Feiern wegnahm, allerdings hatte er gestern nicht nur einem der Mädchen in seiner Telefonliste geschrieben. Nein… Es war nicht solch ein Gespräch gewesen.
Mit aufgeregt pochendem Herzen begann Law das Wohnzimmer zu durchsuchen, bis er Pengs Hose fand. Hastig durchwühlte er die Taschen, bis er sein Telefon in den Händen hielt und mit zitterndem Körper den Display aktivierte. Er seufzte. Keine neuen Nachrichten. Nach der letzten SMS um kurz nach eins hatte Kid ihm nicht mehr geschrieben. Verworrene Gedanken schwirrten durch den Kopf des Studenten. Er versuchte nachzuvollziehen, was Kid aus dem Ausbleiben einer Antwort geschlossen hatte. Ein lauter Seufzer entfloh seiner Kehle, als er sich erschöpft auf einen der Stühle der offenen Küche fallen ließ. Er hätte niemals auf die Nachrichten reagieren sollen. Wieder einmal hatte er voll und ganz in Kids Hände gespielt, und nun konnte er nicht wissen, was sein Tun für Auswirkungen haben würde. Plötzlich überkam ihm darüber hinaus das Bewusstsein, dass Kid neben seinem Handy genauso gut auch sein Portmonee genommen und auf seinen Ausweis geschaut haben könnte: Es wäre also kein Wunder, wenn es jeden Moment an der Tür klingeln würde. „Dreck“, zischte er leise und verfluchte sich selbst für seinen Leichtsinn. Voller Wut auf sich selbst krallte er eine Hand in die eigenen Haare und schlug mit der Faust auf den kleinen Tisch neben sich, sodass Peng einige Meter von ihm entfernt zusammenzuckte.
Den Rest des Tages versuchte Law nicht mehr an sein Handy und an die Möglichkeit einer Antwort für Kid zu denken. Unruhig lief er in seiner Wohnung auf und ab und war geradezu froh über die Ablenkung, die ihm seine beiden Kumpel boten, die nach der Übernachtung in seiner Wohnung keine Eile darin hatten, wieder zu verschwinden. Das ein oder andere Mal überlegte er sogar, ob er sich bei seinem Onkel melden sollte, um ihm schlussendlich zu berichten, was passiert war. Doch damit müsste er sich offiziell eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben und soweit war er noch nicht. Der Stolz und der Wille zu gewinnen, der Fluch seiner Familie, waren einfach zu stark.
Gegen Abend hatte er die Wohnung wieder für sich und begann sein Abendessen. Rucola, Gurken, Tomaten, eine halbe Avocado… Es war Zeit, sich bei seinem Körper für das Gift des gestrigen Abends zu entschuldigen. So schnappte er sich seine Schale Salat, stapfte ins Wohnzimmer, ließ sich auf seine braune Ledercouch fallen und schaltete den Fernseher ein, bevor er seine nackten Füße auf die Kante des Beistelltisches legte. Auf diese Weise endete fast jeder seiner Tage und so dachte er nicht weiter nach, als er nach dem Handy in seiner Hosentasche griff und dieses anschaltete. Erst als er das Symbol eines Briefumschlages sah, welches ihn unbarmherzig an seine morgendlichen Sorgen erinnerte, machte sein Herz einen Sprung, während Hitze seinen Hals hochstieg. Angespannt berührte er den Bildschirm.
19:17 <Schon mal der Prozess gelesen?>
Law musste die Nachricht ein zweites Mal lesen, bis er sie verstand. Zunächst schien der Satz jeder Grammatik zu trotzen, doch mit gedachten Apostrophen wurde es einfacher. Er erinnerte sich an einen Autor namens Kafka. Ein abgedrehter Autor. Eines seiner berühmtesten jedoch unvollendeten Werke hieß „der Prozeß“ und erzählte von einem Mann der eines Morgens von fremden Menschen eines Verbrechens beschuldigt und angeklagt wird, obwohl er sich keiner Schuld bewusst ist. Da Law es jedoch nicht gelesen hatte, konnte er nicht sagen, wie es ausging. Dennoch wusste er, wie die Sache mit Kid enden musste, damit sie beide unversehrt aus dieser abstrusen Geschichte rauskamen. Der Alkohol hatte ihn gestern verführt, doch heute tippte er seine Antwort mit nüchterner Vernunft.
Habe ich nicht. Schreib mir bitte nicht mehr.
Für einen Augenblick hielt er zweifelnd inne, drückte am Ende allerdings auf den Knopf zum Senden. Er konnte einen traurigen Seufzer nicht unterdrücken, als er das Smartphone im Anschluss lieblos auf seine Couch warf. Frustriert griff er nach der Fernbedienung und schaltete durch die immer gleichen Abendprogramme, bis er vor Langeweile begann zu essen. Wie jeden Abend. Die Geschichte seiner Abenteuer im Wunderland hatte ihr Ende gefunden und dem Aufwachen aus dem Märchen folgte der Alltag. Er erhielt keine weiteren Nachrichten.
Als Law einige Tage später aus der Uni zurückkam, fand er vor seiner Haustür fünf Briefumschläge und ein kleines Paket. Das kalte Winterwetter hatte ihn durchgefroren und so schnappte er nur schnell nach der Post, trug sie in die Wohnung und warf sie auf den Küchentisch, wo sie die restlichen Stunden sehnlichst auf ihren Empfänger wartete. Als sich dieser endlich mit einem Kaffee zu ihr setzte, öffnete er zunächst die Briefe – Rechnungen und Einladungen von der Uni - dann griff er neugierig zu dem kleinen Paket. Als er es drehte, stellte Law schnell fest, dass es weder einen Absender gab, noch eine Stelle, an der seine Adresse aufgeschrieben war. Jemand musste es also persönlich vor seine Wohnung gelegt haben.
Verwundert schob Law die Unterlippe nach vorn und begann das kleine Paket zu entfalten. Kaum hatte er es geöffnet, fiel ihm ein Buch in die Hände und als er den Titel sah, musste er auch nicht länger darüber grübeln, wer ihm das Paket vorbeigebrachte hatte. Vorsichtig ließ er seine Finger über den Rand der Seiten gleiten, öffnete die Titelseite und fand einige Wörter, die hastig mit einem Kugelschreiber in das Buch gekritzelt wurden.
“Aber ich will nicht unter VERRÜCKTE !!!“
Aber das kannst du kaum verhindern, Hübscher
Wir sind hier nämlich alle verrückt
ICH bin verrückt. DU bist verrückt
Sonst wärste nich hier !!!
- Eustass
Die Widmung zauberte ein Schmunzeln auf Laws Gesicht. Da hatte sich der Idiot doch tatsächlich ein Zitat aus dem Wunderland geklaut. Der ‚Hübsche‘ war neu und auch die Rechtschreibung hatte er anders in Erinnerung, aber die Unterhaltung führte die kleine Alice mit der Grinsekatze; das wusste er mit Sicherheit. Lachend legte Law das Buch zur Seite und fuhr sich übers Gesicht, während er feststellte, dass Kid also tatsächlich wusste, wo er wohnte. Aber vielleicht hatte der kleine Irre ja Recht: Wäre er nicht verrückt genug gewesen mit einem Patienten seines Onkels mitzukommen, dann wäre er jetzt nicht hier. Die Ironie war unfassbar: Wahnsinn schien ansteckender zu sein, als es die medizinischen Fachbücher verrieten… Das letzte Wort der Nachricht fasste Law als wohl größtes Geschenk auf, denn Kid schien ihm nun doch verraten zu wollen, welcher sein richtiger Name war. Eine schöne Art es zu verpacken.
Er las das geschenkte Buch über den unfairen Prozess in drei Tagen durch. Immer wieder versuchte er zu ergründen, was genau Kid ihm mit der Geschichte sagen wollte, in der ein Angeklagter sich selbst so lange bequatschen lässt, bis er am Ende an seiner eigenen Unschuld zweifelt. Sein einziger Hinweis war eine Zeile, die im letzten Teil der Geschichte unterstrichen war: »Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.« Allerdings schlossen die Zustände sehr wohl einander aus, außer man betrachtete sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Bald stellte Law fest, dass es lediglich ein Versuch seinerseits war, die Nachrichten eines geistig Kranken mit rationalem Menschenverstand nachvollziehen zu wollen. Seine Grübeleien blieben ergebnislos und so schloss er das Buch und stellte es ins Regal.
Die letzte Nachricht erhielt er an einem Sonntagabend. Seit Beginn des Wochenendes fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Law hatte sich seither nicht aus seiner Wohnung gewagt und diese letzten trüben Oktobertage mit Lernen verbracht. Gerade gönnte er sich einen wohlverdienten Salat vor dem Fernseher, als mit einem Mal sein Handy auf dem Tisch vibrierte. Peng und Shachi versuchten ihn seit Tagen zum Ausgehen zu motivieren, doch blieb die Unlust ihres Kommilitonen standhaft. Er wollte sich weder betrinken noch Frauen aufreißen, wieso also überhaupt die Mühe machen und eine Hose anziehen? Da das Fernsehprogramm ihn allerdings wenig unterhielt, griff er dennoch zum kleinen Gerät und schaltete es ein, um die Nachricht zu lesen.
20:28 <Sagen wir es wär nen Notfall. Würdest du kommen?>
Law blickte verwundert auf seinen Display. Die Nummer hatte er nicht eingespeichert; durch die angezeigten letzten Nachrichten wusste er dennoch, dass es sich um Kid handelte. Er hatte sich seit über einer Woche nicht gemeldet, warum also plötzlich diese SMS? Ein Notfall? Besorgt legte Law die Stirn in Falten. Ein Teil vom ihm erwog seinen Onkel anzurufen, ein anderer Teil las jedoch heraus, dass sich Kid speziell an ihn gewendet hatte – wenn es denn keiner seiner Tricks war. Aufregung floss durch seine Adern, während er nervös auf seiner Unterlippe kaute und eine Antwort tippte.
Natürlich würde ich helfen.
Er war Arzt, was hätte er anderes sagen sollen? Außerdem machte es ihn mehr als neugierig zu erfahren, wie genau solch ein Notfall aussehen würde – auch wenn er hoffte, dass es kein zweites, verbranntes Gesicht war. Als sein Herz bereits schmerzhaft gegen seine Brust schlug, stellte er die Schale mit dem angefangenen Salat auf den Couchtisch, bevor er angespannt auf den Handybildschirm starrte.
Er dachte an ihr erstes Treffen, Kids grüne Augen und die Ruhe, mit der er die Aufgaben an der Tafel seines Onkels löste. Er erinnerte sich an das Gefühl von Kids rauen Fingerspitzen auf seiner Stirn, aber auch an ihre sanften Berührungen auf seinem Bauch. Er dachte an die Bar, das Blitzen von Killers Klinge und den Geschmack des Kusses im benebelnden bunten Licht. Kurz sah er den Einkaufswagen vor sich, hörte das Knarren der Dielen in der Wohnung am Rande des Südviertels, Kids freches Lachen. Er dachte an Schokoladenpudding und Kids nackten Oberkörper über ihm; blasse Haut, auf der die blauen Schattierungen der Nacht tanzten. Sein Handy vibrierte. Neugierig öffnete er die neue Nachricht; starrte manisch auf ihren Inhalt. Seine freie Hand krallte sich alsbald in die feste Oberfläche der Couch, während sich seine Kiefer schmerzhaft aufeinanderpressten. Alles, was er lesen konnte, war ein Wort, das seine Entscheidung wollte. Ein einziges kleines Wort, das er nicht ignorieren konnte. Ein einziges Wort. Gleichgültigkeit und Apathie waren Laster des Alters; und nicht einmal dem standen sie gut. Ein Wort.
20:41 <Hilfe>
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