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Engelstränen

Ich gehöre euch
von

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Ein Entschluss.

Ich bin überrascht, als Marcel am Freitag wieder da ist. Ich wusste zwar, dass er nicht lang im Krankenhaus bleiben würde, dennoch ist die Begegnung irgendwie komisch. Er sieht mich genau so an wie immer, ich schaue nicht zurück. Ich ignoriere ihn größtenteils, wie immer. Er bewegt sich, er lacht, er nervt, als sei nichts gewesen. Als sei er die gesamte letzte Woche nur verschnupft gewesen, nicht fast tot. Als sei die gesamte letzte Woche … nie passiert. Nie.

Er sieht genau so aus wie ich ihn kenne, und doch irgendwie anders. Ich sehe ihn mit anderen Augen, wenn er gerade nicht guckt, betrachte ich ihn eingehender als sonst. Und mit jedem Blick, den ich ihm zuwerfe, schießen neue Fragen durch meinen Kopf.

Ist er wütend auf mich, weil ich ihn von seinem Vorhaben abgehalten habe?

Will er noch immer sterben?

Was meinte er mit ‚auf eine andere Schule‘?

In mir lodert die Wut auf, diese Wut, die imstande ist, alles zu zerstören. Und gleichzeitig eine Fürsorglichkeit, die allein ihm gilt. Hass. Freude. Ein wahrer Orkan an Gefühlen.
 

Die gesamte Schulzeit zieht an mir vorbei, ich bin eine wandelnde Leiche, ein Geist, der durch die Flure schwebt. Ich kriege nichts mit. Bis auf Layla. Obwohl es recht warm ist und die meisten bereits in ärmellosen T-Shirts rumlaufen, trägt sie heute eine Jacke. Ich weiß, was los ist, und sie weiß, dass ich es weiß. Im Mathematikunterricht schreibe ich schließlich auf meinen Block:

«Was war es diesmal?»

In Mathe müsste ich eigentlich aufpassen, weil ich den Stoff nie direkt verstehe. Aber heute kann ich mich ohnehin nicht konzentrieren.

Layla sieht die Nachricht und zuckt mit den Schultern.

«Ich habe keinen Trigger glaub ich»

Trigger? Ich kenne dieses Wort, weiß jedoch nicht genau, was es bedeutet. Also lasse ich es mir schnell von Layla erklären.

«Scheiße…»

«Ja genau»

«Hast du richtig danach gesucht? Vielleicht ist er ja etwas versteckt… Ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen gibt.»

Layla liest, schnaubt belustigt und sieht wieder nach vorne. Damit ist das Gespräch für sie beendet.

Habe ich irgendetwas Falsches geschrieben? Ich versuche doch nur zu helfen, ich versuche doch nur, sie zu heilen, ich will doch nur …

Ich kämpfe mit den Tränen. Marcels Handgelenk ist rot, eine rote Stelle von sauberen Schnitten…

Irgendwie schaffe ich es im Laufe des Tages, ihm das Heft zu geben, welches ich für ihn angefertigt habe. Es ist eher beiläufig, ich komme an ihm vorbei und werfe es ihm zu. Kein großes Theater drum.
 

Zu Hause werde ich wieder wach. Marcel antwortet endlich auf meine SMS. Auf all die Nachrichten, von denen ich dachte, sie seien im Nichts verschwunden.
 

»Ich hab jetzt mein Handy wieder also kann ich wieder schreiben. Bist du da?»
 

Ich bin da. Und unglaublich froh, dass er es ist. Also schreibe ich zurück.
 

»Ja. Möchtest du noch immer sterben?«
 

Sorge flammt in mir auf, Sorge, dass sich dieses Erlebnis widerholen könnte.
 

»Um ehrlich zu sein ja«
 

Dachte ich es mir doch. Aber wie soll ich ihn am Leben halten? Ich überlege einige Momente, bevor ich zurückschreibe:
 

»Wenn du sterben willst, weil alle dich hassen, dann stimmt das so gar nicht. Ich mag dich zum Beispiel. Und wenn ansonsten keiner da ist, dann reicht es doch, wenn du für mich lebst.«
 

Senden.

Ich starre noch einige Momente auf das Display, bevor ich wieder aufsehe. Ich frage mich, ob das eine gute Idee war. Es war eine gute Idee, wenn er dafür am Leben bleiben würde.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich die nächste Mitteilung lesen darf.
 

»Du bist echt ein Engel für mich. Ohne dich wäre ich jetzt tot dabei ist das Leben mit dir doch so schön.«
 

Mist. Jetzt fängt er wieder damit an.

Ich schreibe dennoch zurück:
 

»Ach was. Ich tue das, was jeder Mensch tuen würde.«
 

Zumindest hoffe ich das. Ich denke an meine Freunde, an Eva, an Christy, und bin mir in dieser Aussage plötzlich überhaupt nicht mehr sicher.

Und meine Gedanken schweifen ab, schweifen zu jener Nacht, zu der Nacht, in der Marcel sich umbringen wollte.

»Ich will sterben.«

Er wollte sterben und will es nicht mehr. Ich hoffe, er will es nie mehr. Dafür quälen mich nun Nacht für Nacht die Phantasien, was wohl geschehen sein mag. Wie seine Welt wohl aussieht, wie er von mir denkt. Was er von mir will. Mich quälen Tag für Tag die Fragen, was nun bei ihm zu Hause los ist. War sein Vater sauer? Oder eher besorgt? Erschrocken? Er war erschrocken. Er rief gefühlte tausend Mal zu Hause an, um sich zu bedanken. Und jetzt ist alles wieder in Ordnung. Jetzt haben sie eine Lösung. Jetzt setzt er alles daran, dass Marcel glücklich wird.

Ich schreibe mit Marcel, wir wechseln hunderte von SMS, und mit jeder einzelnen SMS werden meine Gedanken klarer. Ich denke über alles nach und ich fasse einen Entschluss. Ich wälze ihn hin und her, von der einen Seite zur anderen, und erst, als ich tausend Mal darüber nachgedacht habe, steht er fest und unveränderbar.

Ich will sterben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  _DrachenBlut_
2014-06-08T10:04:24+00:00 08.06.2014 12:04
Oh mann! Von Kapitel zu Kapitel wird es schlimmer. Ich kriege immer mehr Angst! Ich glaube, Louise hat ein gutes Herz, sie hat nur die falschen Freunde! Ich hoffe, dass sie durchhält-
Von:  MangaMaria
2014-06-08T06:36:24+00:00 08.06.2014 08:36
Erst eine Frage: warum ist Marcels Handgelenk rot?

Das Ende: es macht mir Angst. Das kommt so plötzlich und ich verstehe nicht, warum...
Antwort von:  _DrachenBlut_
08.06.2014 12:02
Ich verstehe das auch nicht! :(


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