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[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit

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Bauernopfer

Bauernopfer
 

Demegawa Hitoshi war kein Glückspilz. Nein, er war Schmied seines eigenen Glücks.

Es war kein Zufall gewesen, dass ihm damals diese Videokassetten geliefert wurden, auf denen Kira, oder wer auch immer sich dafür ausgab, seine erste Ankündigung gemacht hatte. Praktischerweise hatte der vermeintliche Absender dieser dilettantischen Aufnahmen zum Beweis sogar noch ein paar Leute über den Jordan geschickt. Bessere Publicity konnte man sich nicht wünschen. Doch die günstige Gelegenheit hätte sich garantiert nicht geboten, wenn Demegawa nicht vorher wochenlang Kira zum Volkshelden hochstilisiert hätte. Beharrlichkeit zahlte sich eben aus. Alternative Fakten ebenso.

Nicht umsonst hatte er sich, obwohl er Druckbuchstaben verabscheute, am Anfang seiner Karriere durch einen Ratgeber gequält, der ihm zeigte, wie man mit Zahlen am besten log. Er glaubte nur der Statistik, die er selbst gefälscht hatte. Die Leute kauften ihm alles ab, solange sie bekamen, was sie ohnehin hören wollten. Konnte er die Berichte mit sogenannten Fakten belegen, umso besser. Auf die Art hatte sich Demegawa schon damals seine Position als Intendant von Sakura TV erarbeitet. Er hatte etwas aus sich gemacht. Im Gegensatz zu jenen Kollegen, die glaubten, es ginge bei öffentlichen Medien um Aufrichtigkeit. Die vierte Gewalt lebte von Einschaltquoten und Absatzzahlen.

Eines stand jedenfalls fest: Kira war eine Gelddruckmaschine. Einmal angeworfen, lief alles wie geschmiert. Oder besser, es war gelaufen. Bis dieser großspurige Meisterdetektiv mit der Bekanntgabe von Kiras Niederlage einen Stock ins Getriebe warf. L hatte Demegawas Goldesel geschlachtet. Was blieb ihm jetzt anderes übrig, als eine spirituelle Richtung einzuschlagen, die gegen jeden Zweifel erhaben war?

„Wir brauchen mehr, viel mehr!“ Ein letztes Mal inhalierte Demegawa den Rauch seiner Zigarette und drückte sie anschließend auf einer geleerten Getränkedose aus. Die Luft im Besprechungsraum war stickig und schwer vom nikotingeschwängerten Qualm. Seine Mitarbeiter saßen betreten auf ihren Klappstühlen und glotzten ihn an wie verschreckte Schleimfische. „Na los, bringt mir Ideen! Wofür habe ich euch überhaupt angestellt? Gibt es irgendetwas, das wir berichten können?“

„Nun ja“, begann sein Texter zögerlich, „seit wir verbreitet haben, die wahren Anhänger Kiras müssten Opferbereitschaft zeigen, sind die Selbstmordzahlen angestiegen.“

„Hervorragend!“ Demegawa klatschte in die Hände, dann beugte er sich vor und zeigte mit wippendem Zeigefinger reihum auf seine Mitarbeiter. „Daraus lässt sich was machen. Also, hört zu: Heute bin ich wieder zu einer Diskussionsrunde eingeladen, aber das allein bringt uns nicht weiter. Wir müssen selbst etwas auf die Beine stellen.“

„Ich kapiere nicht, warum wir sogar vom Öffentlich-Rechtlichen eingeladen werden“, warf sein Bildredakteur ein, während er wie immer gelangweilt einen Kugelschreiber zwischen den Fingern drehte und Kringel auf seinen Notizblock malte. „Bislang wiederholen wir nur die immer gleichen Heilsversprechen.“

„Trottel! Weil die Einschaltquote stimmt! Wenn du gute Einschaltquoten bringst, berichten sie über dich, selbst wenn du nichts zu sagen hast. Wir müssen bloß das zeigen, was die Leute ohnehin schon zu wissen glauben. Wenn wir ihre Ansichten bestätigen, werden sie uns aus der Hand fressen.“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Demegawa zurück.

Seine Mitarbeiter wichen seinem Blick aus, taten so, als überlegten sie, oder nippten an ihren Gerstentees, um beschäftigt zu wirken. Allesamt nutzlos.

„Spätestens für Montag brauchen wir ein neues Sendeformat“, verkündete Demegawa entschieden und breitete die Arme zu einem imaginären Schriftzug aus. „Kiras Königreich! Irgendetwas in der Richtung.“

„So ein Schwachsinn.“

„Die Leute lieben Schwachsinn! Wir tragen ein bisschen dick auf, das wird ihnen gefallen. Wenn man schon denken muss, kann man auch gleich groß denken.“

„Aber wir wissen doch gar nicht, wohin das führen könnte.“

„Wohin das führen könnte“, äffte Demegawa seinen Untergebenen nach. „Habe ich einen Haufen Luschen herangezogen? Niemand weiß, wohin das führt! Alles, was ich weiß, ist, was im Internet steht. Und das Internet vergöttert Kira. Die Menschen verlangen nach ihrem Gott! Darum werden wir ihnen genau diesen Gott geben.“
 

In den Plan war er erst später eingeweiht worden, nachdem schon alles vorbei war. Jedenfalls konnte sich Light nicht entsinnen, dass er während seiner vermeintlichen Überführung am vorigen Abend von allein darauf gestoßen wäre und mitgespielt hatte. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass L eine Art Reboot durchführen wollte? Ein Neustart, der das System zurücksetzte, um den Arbeitsspeicher zu leeren. Oder eher ein harter Reset?

Irritiert schüttelte Light den Kopf. Was war das für ein Gedankengang? Er versuchte ihn zurückzuverfolgen, doch verschwand dessen Anfang, das lose Ende des Fadens, im Riss zwischen seinen Erinnerungen. Vielleicht war er einfach nur überlastet. In der letzten Nacht hatte er trotz Müdigkeit kaum Schlaf gefunden, allein in seinem Zimmer, eingesperrt mit der Stille, die wie Watte seine Ohren verstopfte, ähnlich der Taubheit nach einem Knalltrauma, wenn die Trümmer nurmehr flüsterten und der Staub sich legte. Der Krieg war vorbei, doch die Asche glühte noch.

Der abgeschottete Hauptüberwachungsraum gab keinerlei Aufschluss über die Tageszeit, lediglich die Uhren hielten seine Insassen im Rhythmus. Es war Vormittag. Auf einigen Bildschirmen liefen Nachrichtensendungen, andere zeigten Koordinaten auf Stadtausschnitten von Tokyo und wieder andere führten Personenlisten sowie Diagramme über Bewegungsprofile der vergangenen Woche. Noch einmal streckte Light im Stehen sein Rückgrat durch und ließ anschließend das Knöchelgelenk mit der elektronischen Fußfessel kreisen, um sich an das Gewicht zu gewöhnen.

Stunden zuvor hatte er den Raum vollkommen ohne Begleitung verlassen. Er hatte seinen Partner, auf dessen eigene Aufforderung hin, sich selbst überantwortet. Seitdem schien sich nichts verändert zu haben. Nur die Süßigkeiten, die neben L auf dem Tisch lagen, waren mittlerweile ausgetauscht. Eine Hand glitt über die Tischplatte, schlanke Finger erreichten die Öffnung einer Tüte voller Fruchtgummis von Haribo. Schräg hinter ihm stehend beobachtete Light, wie sich sein Partner eine rosa Himbeere zwischen die Lippen schob.

„Higuchi hatte das Heft bei sich, als wir ihn festnahmen“, antwortete L endlich auf die Frage, deren Wortlaut Light zwischenzeitlich entfallen war. „Wie es funktioniert, wissen wir durch die Regeln, die auf der Innenseite stehen. Allerdings wissen wir nicht, woher er es hatte. Fest steht nur, dass es echt ist und dass es zwei Hefte geben muss.“

Light meinte sich zu erinnern; an die grellen Scheinwerfer der Polizeiwagen, schemenhafte Silhouetten, die sich davor bewegten, Frontstrahler, die blendeten und eine freie Sicht behinderten, lange Schatten auf dem nächtlichen Asphalt. Der Schrei seines Vaters und dann – das Heft in seiner Hand. Light hatte die unzähligen Namen zwischen den Zeilen mit den Todesopfern verglichen. Es war am Abend vor neun Tagen gewesen, zwei Minuten nach halb elf Uhr.

„Die jüngsten Ereignisse bestätigen meine Schlussfolgerung“, hörte er L weiterreden. „Wir wussten bereits, dass Amane Misa der zweite Kira war. Jedoch ist unklar, wie der erste Kira sie kontrollierte. Es könnte die lenkende Kraft sein, von der wir ausgehen, oder Erpressung. Es muss mit dem Heft in Zusammenhang stehen, darum weiß Misa-san nichts, solange sie es nicht besitzt, und verrät uns nichts, sobald sie es zurückerhält.“

Was sie wussten, was sie wissen mussten, was er wissen sollte. Nur Worte und eine ungewisse, unbewusste Wahrheit. Light kam es vor, als hätte er all diese Erklärungen schon einmal gehört, doch sicher war er sich nicht. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu.

Mit Daumen und Zeigefinger drückte L auf einer Fruchtgummibeere herum, während seine andere Hand weitere elastische Bonbons unterschiedlicher Form und Farbe aneinander schichtete; wie Puzzleteile setzte er eines neben das nächste, Früchte, Frösche, Fledermäuse, bis nach und nach ein unzusammenhängendes Konstrukt entstand.

„Was wäre“, begann Light langsam, wobei sein Blick weiterhin auf Ls geschäftigen Händen weilte, „wenn ich versuchen würde, auf Misa einzureden, nachdem sie das Papier von dem Heft berührt hat? Um sie zur Kooperation zu bewegen.“

L durchbohrte ihn mit seinen dunklen Augen. Light wich nicht aus, hielt ihm stand.

„Sie würde ... es sofort wieder aufgeben“, murmelte L undeutlich. Er wandte sich erneut seinem Gebilde aus Gummibonbons zu und stapelte davor eine Mauer aus Lakritzkonfekt, angeordnet im Läuferverband, wie Light mit spöttischer Belustigung über sein unnützes Wissen dachte. Sämtliche Lakritze war für die Mauer von L aussortiert worden. Wahrscheinlich mochte er sie nicht. „Kira würde sich ihrer vielleicht entledigen, wenn wir das versuchen“, setzte L seine Spekulation über Misa fort, „aber seine Kontrolle müsste es ohnehin verhindern. Sie würde sich nicht gegen ihn stellen.“

Kurzentschlossen griff Light nach dem Stuhl neben seinem Partner und setze sich rasch an dessen Seite. Er stützte einen Ellbogen auf die Tischplatte und wandte sich ihm halb zu, um L besser ins Gesicht schauen zu können. „Ryuzaki, diese Ankündigung gestern war ein erster taktischer Schritt, nicht wahr? Dass ich als vermeintlicher Kira festgenommen wurde, weiß nur das Ermittlerteam. Mein Vater wird seinen Vorgesetzten die Situation so schildern, wie du es ihm aufgetragen hast. Die japanische Polizei hat keinerlei Befugnis, um zu überprüfen, was nach der fingierten Überführung geschah. Auch Interpol bist du Rechenschaft schuldig. Ausliefern kannst du mich nicht, darum hast du ihnen wahrscheinlich erzählt, Kira sei gestorben.“

„Das stimmt“, gestand L und ignorierte Lights eindringlichen Blick, indem er seine Aufmerksamkeit weiterhin auf das chaotische Konstrukt richtete, von dem er sich ab und zu ein Gummibonbon einverleibte. Die Mauer blieb unangetastet.

Light ließ sich davon nicht beirren. Er wandte sich dem Computer zu und rief mit raschen Tastenanschlägen die Daten der ICPO auf, während er fortfuhr: „Aus diesem Grund ist die Red Notice zu Kira verschwunden; sie wurde nicht bloß aus der offiziellen Liste gestrichen, sondern gilt tatsächlich als geklärt. Wahrscheinlich mussten sie das tun, um deiner Meldung zu entsprechen. Weder Interpol noch die japanische Polizei erhielten einen Beweis, dass Kira überführt wurde. Mit der öffentlichen Ankündigung zwingst du sie, diese bittere Pille einfach zu schlucken. Interpol war sowieso kaum involviert und die NPA hat nur noch fürs Protokoll mitgemischt. Somit hast du auf Kosten der öffentlichen Sicherheit einen Kompetenzkonflikt geschaffen. Beide Instanzen sind jetzt zum Schweigen verurteilt, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren wollen. Du hast sie gegeneinander ausgespielt. Man könnte auch sagen, du hast jede Menge Staub aufgewirbelt, um mich dahinter zu verstecken.“

L verschluckte sich und unterdrückte ein Husten.

„Was ist los?“, fragte Light besorgt.

„Ich habe einen Frosch im Hals“, erklärte L mit erstickter Stimme und hielt ihm, wie zum Beweis, ein grünes Gummitier in Froschform entgegen.

Light schloss für einen Moment die Augen. Er presste die Lippen aufeinander und atmete geräuschvoll aus. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er seinen Blick auf dem Monitor ruhen, auf der nun fehlenden internationalen Ausschreibung jener einzigen gesuchten Person, von der niemals ein Name, Foto oder sonstige Informationen existierten. All das sagte ihm, er sollte die Waffen besser fallen lassen.

Nach einer Weile eröffnete L versöhnlich: „Wir gehen gleich in Konferenzschaltung mit Aiber und Wedy.“

„Wissen sie Bescheid?“

„Nein. Vorerst soll das auch so bleiben, obwohl ich es nicht ausschließe, sie irgendwann einzuweihen. Ihre Mithilfe ist für uns sehr wichtig, dafür brauchen sie Informationen, die ich ihnen in ausreichender Menge zukommen ließ. Mehr haben sie nicht verlangt. Beide kennen mein Gesicht, ich vertraue ihnen und sie stellen keine Fragen. Außerdem ist Wedy ein Profi im Einbruchsgewerbe, sie könnte hier problemlos unangemeldet aufkreuzen und von allein darauf stoßen, dass du noch am Leben bist und wir zusammenarbeiten. Aber nein, noch wissen sie nicht Bescheid.“

„Und das ist keine Blindheit?“ Light benutzte absichtlich jenes Wort, das der Meisterdetektiv gern mit Vertrauen gleichsetzte.

„Mit beiden bin ich durch ehemalige Fälle verbunden, die mir ihre Loyalität zusichern“, erklärte L. „Sie sind mir, sozusagen, zu Dank verpflichtet. Außerdem besitze ich gewisse Informationen über ihre außerrechtlichen Tätigkeiten.“

„Das heißt, du erpresst sie.“

„Watari, ist die Verbindung hergestellt?“ Ls Finger, der bis eben noch gegen die Mauer aus Lakritzkonfekt getippt hatte, verharrte nun auf dem Schalter der Sprechanlage. Offenbar verzichtete er darauf, seiner Konstruktion den untersten Baustein zu rauben.

Light seufzte. „Du scheust dich nicht, das Geschirr zu zerschlagen, um eine Ratte zu fangen, Ryuzaki“, formulierte er einen Seitenhieb, von dem er wusste, dass er seine Wirkung verfehlen würde. Wenn es überhaupt eine Wirkung hätte haben sollen. Dieses chinesische Sprichwort, das ursprünglich bedeutete, man solle Vorsicht walten lassen, um nicht einen späteren Schaden zu bereuen, konnte umgekehrt genauso heißen, dass man bloß zum Schutz des Geschirrs die Ratten verschonte, die eine Plage und Überträger von Krankheiten waren. Die von ihnen ausgehende Gefahr war schlimmer als der Verlust des edlen Porzellans. Nicht zuletzt war der Wert des Geschirrs ohnehin von der Anwesenheit der Ratten gemindert worden; sie hatten es beschmutzt, verunreinigt, verdorben. Darum konnte jenes geflügelte Wort eine Kritik an Menschen sein, die vor jeglichen Aktionen zurückschreckten. Es konnte heißen, dass man, um Unschuldige nicht zu verletzen, das Böse gewähren ließ. Aber wer war, wie im Fall von Ls kriminellen Gehilfen, schon unschuldig?

Wenige Minuten später hatten sie Kontakt zu den beiden Verbrechern aufgenommen. Light hielt sich schweigend im Hintergrund. Zuerst fasste Aiber, im Glauben, er spräche allein zu L, die Aktivitäten der letzten Stunden zusammen. Er hatte gemeinsam mit einem zugewiesenen Team an Arbeitern sofort bei Tagesanbruch das Waldstück untersucht, in dem Misa während ihrer Überwachung gesichtet worden war. Sie mussten davon ausgehen, dass das tödliche Notizbuch zumindest zeitweilig dort versteckt gewesen war, und nur Aiber wusste vor Ort, wonach sie suchten.

„Wir haben alles in diesem Areal abgegrast“, schloss er mit erschöpfter Stimme. „An einer Stelle ist die Erde aufgelockert, dort war es wahrscheinlich vergraben. Wenn das stimmt, dann ist es jetzt jedenfalls nicht mehr hier.“

„Verstanden“, sagte L, „etwas anderes habe ich sowieso nicht erwartet. Wie ich Ihnen bereits mitteilte, lag die Wahrscheinlichkeit, etwas zu finden, bloß bei 0,73 Prozent.“

„Die Angabe war ernst gemeint? Ich dachte, das wäre nur Ihrem bizarren Humor zuzuschreiben.“

„Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Wahrscheinlichkeiten nur ein Scherz sind, beträgt gerade mal 3 Prozent.“

Aiber murmelte etwas, das klang, als würde er eine baldige Kündigung in Erwägung ziehen. Ohne einen weiteren seiner lockeren Sprüche verabschiedete er sich.

Auch Wedy wirkte müde, als sie kurz darauf von Misas Beschattung erzählte. „Ich konnte ihr nicht rund um die Uhr folgen; in die Umkleidekabine oder auf die Toilette. Irgendwann wollte ich auch mal schlafen. Abgesehen davon, dass ich Diebin und Einbrecherin bin, kein professioneller Stalker.“

„Was ist mit der Post?“, überging L den sarkastischen Einwurf. „Misa soll einiges versendet haben.“

„Ja, sie hat ein paar Briefe verschickt, was für sie nichts Ungewöhnliches ist. Nach meiner Einschätzung dürfte das alles Fanpost gewesen sein. Sie könnte das Heft praktisch überall versteckt oder weitergegeben haben, bei den Dreharbeiten in ihrer Kabine zum Beispiel. Sie ging mehrmals mit Freundinnen shoppen, einmal war sie im Kino, einmal beim Karaoke.“

„Ist jemandem davon bisher etwas zugestoßen?“

„Was denn, ein Hörsturz beim Karaoke?“

„Todesfälle.“

„Unter den Leuten, mit denen sie Kontakt hatte? Bislang gibt es zumindest keine Nachrichten dieser Art.“

Ruckartig betätigte Light den Schalter für die Übertragung, sodass für einen Moment lediglich die Stimme der Diebin zu hören war, ohne dass diese etwas aus der Zentrale vernehmen konnte. „Du glaubst doch wohl nicht“, ging Light auf die versteckte Mutmaßung ein, „Misa würde eine Freundin umbringen, nur um sie kontrollieren zu können?“

„Was denkst du denn?“, stellte L ungerührt eine Gegenfrage.

Light hielt inne, überlegte einen Augenblick. Dann meinte er: „Kira würde es tun. Er könnte Misa gezwungen haben, das Heft einer Freundin zu geben, und dieser per Death Note den Befehl erteilen, es auf irgendeinem Weg an ihn weiterzureichen.“

„... besitze ja keine Schar an Doppelgängern, um jeden zu beschatten, der mit Amane mal ein Wort gewechselt hat“, redete Wedy indessen weiter. „Es ist ohnehin kaum zu glauben, wie viele Fans sie hat. Unmöglich, die alle ausfindig zu machen. Selbst wenn einem von denen etwas passiert, vermutlich würden wir es nicht mal mitbekommen. Ich habe mich auf Amane konzentriert und kenne daher nicht von all ihren Kontakten die Identität. Aber ich habe Fotos geschossen.“

„Gute Arbeit“, klinkte sich L endlich in ihren Monolog ein, nachdem er den Übertragungsschalter erneut betätigt hatte.

„Ein Tropfen auf dem heißen Stein“, entgegnete sie zynisch.

„Wir konnten nicht wissen, dass Amane Misa das Heft weitergeben würde“, räumte L ein, „aber ich hätte es einkalkulieren müssen. Da ich nicht damit rechnete, ist es mein Fehler. Einen Moment bitte.“ Diesmal unterbrach L die Übertragung, um sich an seinen Partner zu wenden. „Was meinst du dazu?“

„Ungewöhnlich für Kira“, stimmte Light zu. „Es muss in seinem Interesse sein, die Personenzahl der Involvierten so gering wie möglich zu halten. Das Heft an irgendjemanden weiterzureichen, wäre extrem riskant. Umso wahrscheinlicher ist es, dass er alle Mitwisser aus dem Weg räumt. Aber vielleicht hat er sich das Heft auch direkt über Misa zukommen lassen und es befindet sich längst in seinem Besitz.“

„Vielleicht.“

Light studierte Ls Miene. „Du hältst es für unwahrscheinlich, dass Kira um mehrere Ecken bereits an das Heft gelangt ist, oder? Jetzt, da ich tot bin, muss er aufpassen, nicht zu schnell in die Schusslinie zu geraten. Dennoch dürfte eine Verfolgung der Spur direkt zu ihm führen.“

„Außer“, wandte L ein und hob einen Zeigefinger, „er schiebt einen Stellvertreter ins Feld.“

In einem Schachspiel ging es nicht darum, den einzelnen Bauern zu schützen, sondern die Figuren gezielt einzusetzen. Die Kunst bestand darin, mit so wenig Zügen und Opfern wie möglich zu gewinnen. Der König konnte nicht geschützt werden, indem man alle bedrohten Figuren in Sicherheit zu bringen versuchte, nur bedacht auf den nächsten Schritt. Wenn man jeden zu retten versuchte, nichts und niemanden aufgeben wollte, konnte am Ende kein einziger gerettet werden.

„Falls Misa das Heft an jemanden weitergegeben hat“, sagte Light nachdenklich, „handelt es sich bei dem Mittelsmann mit Sicherheit um ein Bauernopfer.“

„Hoffst du um Misas willen, es wäre anders?“

Light schaute auf. Diesmal wich L seinem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn ernst, fast sorgenvoll. Seine Frage verlangte nicht nach einer Antwort.

„Wedy“, sagte L schließlich, den Finger wieder auf dem Übertragungsschalter, „lassen Sie mir bitte die Fotografien und alle vorhandenen Daten über sämtliche Kontakte zukommen, die Amane Misa in der letzten Woche hatte.“

„Roger.“

„Watari, ich brauche ein paar Leute, die sich darum kümmern. Möglichst welche, die sich auch zufällig mit ihnen unterhalten können.“

„Sie meinen“, hörte man Wataris Stimme zögernd aus dem Lautsprecher, „wie Mogi-san im Fall von Kitamuras Tochter? Leider muss ich Sie daran erinnern, dass wir nur noch bedingt auf die Unterstützung der Polizei zurückgreifen können. Unsere alternativen Ressourcen sind nicht ausreichend oder bergen die Gefahr gewisser Informationslecks.“

„Ich werde mir etwas überlegen“, entgegnete L bestimmt. „Sollte sich ein Verdacht auftun, kann es nötig sein, die Wohnungen der betreffenden Personen zu untersuchen. Wedy?“

„In dem Fall stehe ich natürlich wieder zur Verfügung“, bestätigte sie umgehend, ohne sich den sarkastischen Zusatz zu verkneifen: „Schön, wenn ich mich zur Abwechslung mal wieder mit meinem Spezialgebiet beschäftigen darf.“

„Ich zähle auf sie“, entgegnete L und unterbrach die Übertragung. „Light-kun, wir brauchen hierbei Misa-sans Mithilfe. Erstens benötigen wir ihre Fanpost. Zweitens muss sie sich mit den Leuten in Verbindung setzen, die sie in der letzten Woche traf, und diese danach fragen, ob sie ihnen etwas gegeben oder ihnen irgendwelche Anweisungen erteilt hat.“

„Und was ist, wenn Kira das mitbekommt?!“ Der plötzliche Vorstoß machte Light fassungslos. „Er kennt ihren Namen und könnte sie aufhalten, sollte sie das tun. Genauso könnte er andere Kontaktpersonen umbringen, die sich einem Mittelsmann auffällig nähern. Wenn er dieses Bauernopfer per Death Note dazu zwingt, kein Wort zu verlieren, ist die ganze Aktion völlig sinnlos und würde Misa bloß unnötig in Gefahr bringen!“

„Wir müssen es trotzdem versuchen.“ L war aufgestanden und packte Light unvermittelt an den Armen, um ihn zu beruhigen, oder vielleicht auch nur, um ihn daran zu hindern, zurückzuweichen. Eindringlich redete L auf ihn ein. „Das Augenlicht besitzt er nicht. Unüberlegte Handlungen seinerseits würden unseren Verdacht nur bestärken, erst recht, wenn sie sich auf eine bestimmte Person beschränken. Das würde er nicht riskieren. Glaub mir, die Gefahr ist geringer, als du denkst.“

„Ich soll dir vertrauen?“

„Ja.“

Sie blickten einander starr in die Augen, L mit dem unmissverständlichen Willen, seinen Partner zu überzeugen, Light lediglich beherrscht von Ungläubigkeit und Zweifel.

Ein langer Moment verging, bevor Light endlich nachgab. Er atmete schwer aus und nickte.

So plötzlich, wie L nach ihm gegriffen hatte, ließ er ihn wieder los.

„Es gibt eine Möglichkeit“, fügte Light düster an, „wie Kira verhindern kann, dass wir ihm bei seiner Aktion auf die Schliche kommen.“

„Hm?“

„Indem er einfach wahllos alle umbringt.“ Wie er es damals mit den FBI-Agenten getan hatte, ergänzte Light in Gedanken und wusste, dass L den Wink verstand, auch ohne es auszusprechen.

Doch L kramte unbeteiligt in seiner Süßigkeitenpackung, schob sich ein paar Gummibonbons in den Mund und nuschelte: „Wenn er das wollte, hätte er es schon längst getan und wir könnten daran nichts ändern.“

Light betrachtete den wirren Haufen an Zuckerwerk, der sich vor seinem unfokussierten Blick in ein konturloses Gemisch verwandelte. „Meinst du“, begann er tonlos, „Misa wird … noch sterben? Dass Kira sie durch eine Anweisung im Heft kontrolliert?“

„Spätestens in dreiundzwanzig Tagen wissen wir mehr.“
 

Einen halben Meter Abstand zum nächsten Grundstück, so wurde es von der Verordnung vorgeschrieben, daran meinte sich Nori aus den zahlreichen Vorträgen zu erinnern, die ihr Onkel gern bei Familienfeiern über seine Tätigkeit als Verwaltungswirt in der Bauaufsichtsbehörde hielt. Ein halber Meter für Sonnenlicht, ein halber Meter Erdbebenschutz, ein halber Meter Privatsphäre. Fünfzig Zentimeter Raum bis zum nächsten Leben.

Irgendwo in diesen engen Lücken zwischen den Gebäuden sollten Stimmen aus früherer Zeit hausen, so erzählten es urbane Legenden. Nori sah aus dem Fenster ihres Zimmers und ließ ihren Blick durch ein Gewirr von Stromkabeln über all diese Lücken gleiten. Aneinandergereihte Blumenkübel mit verkümmerten Pflanzen darin. Klimaanlagen, die fast die gegenüberliegende Mauer berührten. Regenrinnen, die sich daran vorbeiquetschten. Fenster, die direkt auf das nächste Haus starrten und niemals geöffnet wurden. Dicht voreinander standen die Gebäude und doch schien eine unsichtbare Barriere sie voneinander zu trennen.

Noris Mobiltelefon vibrierte.

Sie kramte es unter ein paar Zeitschriften hervor und warf einen Blick auf das Display. Sofort setzte sie sich auf den Boden neben ihren Tisch und nahm den Anruf entgegen. „Hallo, Misa-senpai, wie geht‘s?“

„Ganz gut, Nori-chan, und dir? Wie lief das letzte Vorsprechen?“ Für diese Zahnpastawerbung, das meinte Misa wohl, oder für die Lolita-Castingshow, von denen es derzeit etliche gab.

„Ach, na ja.“ Nori lachte.

„Weißt du, ich rufe aus einem bestimmten Grund an, Nori-chan. Wir haben uns doch letztens in der Stadt getroffen und etwas unternommen. Kannst du dich erinnern, dass ich dir da etwas gegeben habe?“

„Natürlich“, antwortete Nori und griff mechanisch nach ihrer Handtasche. Sie klemmte sich das Mobiltelefon zwischen Wange und Schulter, um die Hände frei zu haben. „Ich trage es seitdem immer bei mir“, erklärte sie, während sie in der Tasche suchte.

„Hast du nicht Angst“, fragte Misa, „es zu verlieren?“

„Da könnte ich es eher im Chaos meines Zimmers verlieren.“ Wieder lachte Nori. „Ah, da ist es.“ Sie holte ein Lederetui in der Größe eines Notizblocks heraus, öffnete es und hielt eine längliche, mit Schriftzeichen bedruckte Karte in der Hand. „Das Ticket zum Konzert von Ryuga Hideki! Ich hätte nie gedacht, dass du mir so kurzfristig noch eine Karte besorgen kannst, Misa-senpai, vielen Dank!“

„… Das freut mich für dich, Nori-chan. Mehr habe ich dir nicht gegeben?“

„Was meinst du?“, fragte Nori und starrte auf die Lücke zwischen Bett und Schreibtisch.

„Schon gut. Ich wollte nur sicher gehen, dass du das Ticket nicht verbummelt hast.“

„Was soll das heißen?!“ Nori hörte Belustigung und Empörung in ihrer eigenen Stimme. Misa klang reizend und zuckersüß. Wie immer. Die beiden Freundinnen plauderten noch über dies und das, sie alberten, lachten. Dann legte Nori auf und schaltete den Fernseher ein.

„…bstmorden haben wir von Sakura TV schließlich nichts zu tun. Ich finde es großartig, wenn man sich entschuldigt, aber dafür muss man einen Fehler gemacht haben. Ich werde mich natürlich sofort entschuldigen, sollte ich irgendwann in ferner Zukunft jemals einen Fehler machen.“

„Sie sehen sich also in keiner Weise in der Verantwortung, Demegawa-san?“

Nori schaltete um. Eine Soap. Ein Anime. Eine Gewinnshow. Nachrichten.

Sie legte die Fernbedienung beiseite. Ihre andere Hand hielt noch immer die Konzertkarte fest. In den Tagesnachrichten wurde der gleiche Bericht über Kira abgespult, der schon eine Weile im Kreis lief. Danach ging es um Unwetter in Kyushu, ein Erdbeben in der Kansai-Region, irgendwelche außenpolitischen Treffen, ein abgestürztes kleines Flugzeug, zerstörte Scheiben in einer Einkaufsstraße, Demonstrationen gegen Militärstützpunkte, eine neue Blumenausstellung. Es war, als ginge die Welt einfach weiter.

Schließlich kamen die Gesichter. Frontal fotografiert, versehen mit Namen und Alter. Nori kannte einen von ihnen von einem Gesucht-Plakat in der Bahn. Ihre Hand hielt noch immer die Konzertkarte fest. Jetzt schob sie dahinter ein liniertes Stück Papier hervor, das wie ein Vogel gefaltet war. Sie setzte sich an ihren Tisch, nahm einen Stift und schrieb. Zuerst vorn, dann hinten an eine freie Stelle der groben Faltung.

Als sie fertig war, schüttete sie die Glasschale mit den Büroklammern aus, griff nach der Streichholzschachtel neben ihren Dekokerzen und zündete das gefaltete Stück Papier an. Sie hielt den Origami-Vogel ein paar Sekunden fest und schaute zu, wie ihn das Feuer zerfraß, bevor sie ihn in die Glasschale fallen ließ. Dort krümmte er sich zusammen und starb langsam.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ich habe Demegawa einige Zitate von Donald Trump in den Mund gelegt.
2. Mit einer Red Notice (oder Roten Ausschreibung) ersucht Interpol weltweit, teils öffentlich, um die Festsetzung bestimmter Personen, die normalerweise mit Namen oder zumindest Bild in der Liste geführt werden.
3. Man zögert, eine Ratte zu erschlagen, um nicht das Geschirr zu zerstören. Light verwendet hier ein chinesisches Sprichwort, das auf eine Erzählung im „Han Shu“ zurückgeht.
4. Beim Schreiben habe ich mich von „Der Krieg ist vorbei“ von Judith Holofernes inspirieren lassen. Komplett anzeigen

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