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Das Erbe des Jesse Wyatt

von

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Gefangen im Schlachthaus

Als Charity langsam wieder das Bewusstsein erlangte, glaubte sie noch zu träumen, denn sie fand sich in einer wirklich seltsamen Umgebung wieder. Es erinnerte zunächst an einen Keller, oder zumindest etwas Ähnlichem. Die Wände waren gefliest und nicht weit von ihnen entfernt hingen an Haken so seltsame Dinge herunter. Da ihre Sehkraft noch nicht ganz funktionierte, musste sie mehrmals blinzeln und hätte vor Entsetzen beinahe geschrieen, als sie mit einem Schlage erkannte, dass da menschliche Körperteile an Fleischerhaken herunterbaumelten wie in einem Schlachthaus. Arme… Beine… leblose und verstümmelte Körper… wirklich alles war dabei. Ihr Magen verkrampfte sich und ihr wurde bei dem Anblick speiübel. Der ganze Raum war erfüllt vom Geruch von Blut und Desinfektionsmitteln. Panik ergriff sie und sie dachte zunächst an Flucht, stellte aber fest, dass sie mit mehreren Gurten und Fesseln an einer Art Tisch oder Plattform fixiert war, die senkrecht aufgestellt worden war. Jesse und Ain waren ebenfalls auf diese Weise gefesselt worden, nur Seth lag bewusstlos auf dem Boden, an seinem rechten Fuß trug er eine Fußkette. In Panik begann sie an ihren Fesseln zu zerren und durch den Lärm und durch die hektischen Bewegungen wachten schließlich auch Jesse und Ain auf. Auch sie waren entsetzt, als sie das sahen und verstanden zunächst nicht genau, was das zu bedeuten hatte. Doch dann hörten sie plötzlich eine Stimme und aus einer Ecke, die außerhalb ihres Blickfeldes lag, trat schließlich Andy hervor. Wie sonst immer hatte er dieses gutmütige Sonnenscheinlächeln, aber jetzt, da Charity die Wahrheit kannte, wirkte es einfach nur falsch und gelogen. Und dass er in dieser bizarren Umgebung sein freundliches und warmherziges Lächeln nicht verlor, machte ihn nur noch unheimlicher. Auch wirkten seine goldgelben Augen, die sie immer so fasziniert hatten, dämonisch und schienen zu leuchten. „Guten Morgen ihr Schlafmützen. Ich freu mich sehr, euch endlich im H.S.H, unserem Human Slaughter House Willkommen heißen zu dürfen.“ Ein… menschliches Schlachthaus? Charity drehte sich der Magen um und ihre Brust schnürte sich zusammen, als sie das hörte. So etwas Abartiges und Perverses konnte es doch nicht geben, nicht einmal in den kranken Vorstellungen eines Psychopathen! Was um Gottes Willen war nur mit Andy los und was hatte das alles zu bedeuten? Warum nur tat er so etwas, wo sie sich doch immer so gut verstanden hatten? Wieso war er auf einmal so anders und arbeitete stattdessen mit Sigma zusammen? Steckte er etwa hinter diesem ominösen „Edgar“ aus Seths Aufzeichnungen? „Andy, was hat das zu bedeuten? Warum tust du das?“ Seine Augen fixierten sie und plötzlich hatten sie ein dämonisches Funkeln angenommen. Und auch sein Lächeln war nicht mehr so warmherzig und fröhlich wie sonst, sondern erschien ihr hinterhältig, sadistisch und absolut berechnend. „Na weil ich nicht Andy Gilbert, sondern Andrew Cohan bin. Und ich bin Sigma, besser gesagt bin ich Sigma-2.“

„Wie bitte? Das… das glaube ich einfach nicht!“

„Es wäre besser, wenn du es glauben würdest. Denn das hier ist mein wahres Ich. Was ihr hier seht, sind die Früchte meiner harten Arbeit und mein größtes Kunstwerk. Wisst ihr, Tiere zu zerlegen ist zwar unterhaltsam, aber leider befriedigt es mich nicht mehr. Irgendwann war es mir einfach nicht mehr genug und ich wollte mehr. Und ohne konnte ich auch nicht leben… Jesse, du als Alkoholiker musst es ja am Besten verstehen. Du brauchst es unbedingt. Es ist wie eine Droge und ohne sie fühlst du dich unerfüllt und innerlich leer und du willst diese Leere mit aller Macht füllen. Und da wird dir auch kein alkoholfreies Bier helfen, dieses Verlangen zu stillen. Und so war es mir irgendwann nicht mehr genug, Tiere zu töten und sie zu zerschneiden. Also fing ich an, mich auf Menschen zu fixieren. Ihre Schmerzen, ihr Elend und ihre Schreie sind meine Droge, von der ich nicht loskomme. Genauso wie du meine Droge bist, Jesse.“ Andy kam nun auf ihn zu und hielt ihm ein Skalpell an den Hals. Die Angst war bei Jesse nicht zu übersehen und auch Charity fürchtete zunächst, dass ihr Freund gleich umgebracht wurde. Der 23-jährige sah seinen Freund aus Kindertagen fassungslos an und konnte nicht glauben, dass dieser ein solches Monster war, das ihn hier und gleich auf der Stelle töten würde. Doch Andy tat nichts dergleichen. Er sah Jesse einfach nur in die Augen und sein freundliches Lächeln war gänzlich verschwunden. Nun war es das Gesicht eines mordlustigen und sadistischen Psychopathen, der sein blutiges Spiel nun eröffnet hatte und sich erst mal noch an ihrer Angst weiden wollte, bevor er zur Tat schritt. Mit Mühe und voller Erschütterung in der Stimme fragte Jesse schließlich „Du… du hast uns all die Jahre belogen, ist das wahr? War wirklich alles von dir nur gespielt?“ „Du hast es erraten. Und du glaubst nicht, wie anstrengend das war, vor dir den netten Kumpel zu spielen, wenn ich gleichzeitig diesen unstillbaren Drang verspüre, deinen hübschen Körper zu zerschneiden und dich schreien zu hören. Aber du hast mich all die Jahre auch so ziemlich gut unterhalten. Wisst ihr, ich liebe es zwar, Menschen zu zerschneiden und sie zum Teil meines Kunstwerkes im Human Slaughter Houses zu machen, aber eines bereitet mir genauso viel Freude: Zu sehen, wie sie abstürzen und seelisch leiden. Und das mit deiner Familie war die beste Unterhaltung, die ich seit Jahren hatte.“ Jesse verlor jegliche Farbe im Gesicht und fassungslos sah er Andy an. Er konnte nicht glauben, dass sein bester Freund dermaßen grausam, verlogen und hinterhältig war und diesen netten Jungen all die Jahre nur gespielt hatte. Charity sah zu Ain, dessen Blick sich verdüsterte und der Hass loderte in ihm. Seine dunkle Seite trat zum Vorschein und sein Blick konnte wirklich tödlich sein. „Du… du hast es getan, nicht wahr? Du hast Jesses kleinen Bruder umgebracht, weil du sehen wolltest, wie er und seine Mutter leiden!“

„Ich sehe schon: Du mit deinem durchschauenden Sinn hast mich schon längst durchleuchtet und kennst mich besser als jeder andere Mensch. Vor dir musste ich mich ja schon immer besonders in Acht nehmen. Sonst wäre nämlich noch alles aufgeflogen, weil du und Marco die einzigen Menschen in Annatown seid, die hinter meine Fassade blicken konnten. Marco selbst hatte keinerlei Beweise oder Indizien, aber er hat gleich bei unserer ersten Begegnung gespürt, dass ich gefährlich bin. Er verfügt wirklich über eine gute Menschenkenntnis. Genauso wie du, Ain. Aber bis du aufgetaucht bist, hat Jesse mich wirklich gut unterhalten.“

„Du… du verdammter Bastard hast meinen kleinen Bruder umgebracht?“ schrie Jesse und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn und Hass. Wenn er nicht so gut gefesselt wäre, dann hätte er Andy in seiner Wut wahrscheinlich halbtot geprügelt, doch so blieb ihm nichts anderes übrig, als tatenlos an Ort und Stelle zu bleiben und sich gegen die Fesseln zu stemmen. Dieser Wutausbruch über den schrecklichen Verrat seines vermeintlich besten Freundes schien diesen nur noch mehr zu unterhalten. Andy kicherte amüsiert. „Natürlich. Und all die Jahre bin ich nur deshalb in deiner Nähe geblieben um zu beobachten, wie du weiter im Elend versinkst. Natürlich habe ich zwischendurch ein wenig nachhelfen müssen, damit es nicht allzu langweilig wird. Denn ohne mein Engagement hätte deine Mutter wahrscheinlich gar nicht erst versucht gehabt, dich zu töten und ohne meine Hilfe hätte Walter gar nicht erfahren, dass du abhauen wolltest.“ Jesses Hände ballten sich zu Fäusten und mit purer Verachtung und Hass funkelte er Andy an. Er war es also die ganze Zeit gewesen. Ihm hatte er zu verdanken, dass seine Mutter ihn umbringen wollte und wegen ihm hatte Walter versucht, ihn mit Handschellen ans Heizungsrohr zu fesseln. Charity wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Andy all diese Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nur gespielt hatte. Sie waren so schändlich betrogen und verraten worden. Andy hatte ihnen alles nur vorgeheuchelt und sie waren auf sein falsches Spiel hereingefallen. Sie konnte nicht glauben, dass sie sich so sehr in Andy getäuscht hatte. „Und du… du hast auch meinen Vater…“

„Nein, in diesem Punkt muss ich dir leider widersprechen. Weißt du, Sigma ist keine Einzelperson, sondern ein Duo. Ich bin lediglich Sigma-2 und tobe mich nach Herzenslust an den Körpern aus, wenn der wahre Sigma das hat, was er eigentlich wollte. Nämlich ihre Augen. Aber soll ich dir mal den kleinen Insider verraten, Cherry?“ Damit tippte er auf seine Mütze, auf der nun „Σ-2!“ stand. „Die ganze Zeit hab ich euch quasi die Antwort unter die Nase gerieben, was mir selbst noch ein zusätzliches Vergnügen bereitet hat. „X!“ bedeutet schlicht und ergreifend, dass derjenige, nach dem ihr eigentlich sucht, ich bin. Und da das griechische Zeichen für Sigma oft fälschlicherweise mit einem E verwechselt wird, habe ich mich dann auch für den Buchstaben E entschieden. „A=E2“ bedeutet schlicht und ergreifend, dass Andrew bzw. Andy Sigma-2 ist. Sigma und Delta selbst waren ja nicht gerade begeistert von meiner Idee, aber wie ich mir schon gedacht habe, habt ihr rein gar nichts geschnallt. Und das fand ich umso witziger. So, aber nun ist es endlich mal an der Zeit, Dornröschen Nr. 4 aufzuwecken. Wäre doch zu schade, wenn er den ganzen Spaß verpasst, findet ihr nicht?“ Damit wandte er sich Seth zu, der immer noch ohne Bewusstsein auf dem Boden lag. Unsanft drehte er ihn mit dem Fuß auf den Rücken und betrachtete ihn einen Moment, dann versetzte er ihm einen Tritt in die Magengrube. Aber auch das half nichts. „Meine Fresse, den weckt ja gar nichts auf. Mal sehen, ob er wach wird, wenn ich ihm die Daumen abschneide.“ Andy holte ein Messer hervor und ergriff schon Seths Hand, da brannten bei Ain endgültig die Sicherungen durch. Bis jetzt hatte er sich ja noch im Zaum halten können, aber nun, da das Leben seines Halbbruders in Gefahr war, brach all seine angeborene Aggression hervor und er rastete komplett aus. „Wag es auch nur, Seth ein Haar zu krümmen und ich bring dich um, du verdammter Bastard. Lass deine dreckigen Finger von meinem Bruder!“ Andy schaute ihn mit einem interessierten Blick an und lächelte. „Soso, da zeigt sich doch endlich deine wahre Natur. Sigma hatte mir schon einiges über dich erzählt, aber dass du so drauf sein kannst, hätte selbst ich nicht gedacht. Mal sehen, wie wir dich noch mehr in Rage bringen können. Vielleicht, indem ich Seth schon mal so weit vorbereite? Wisst ihr, ich mag es nicht, wenn meine Kunden versuchen, wegzulaufen. Deshalb trenne ich ihnen zuerst immer die Füße ab. Sonst wäre es ja nur der halbe Spaß.“

„Hör sofort auf damit!“ rief Jesse und kämpfte erneut mit aller Kraft gegen seine Fesseln. „Lass Seth in Frieden! Er braucht seine Beine.“ „Wirklich?“ fragte Andy und grinste, während er mit dem Messer an Seths Oberschenkel ansetzte. „Soweit ich weiß, ist er doch eh zu blöd zum Laufen. Dann braucht er seine Beine ja sowieso nicht mehr. Und vielleicht wacht er ja auf die Weise endlich auf.“

„Das wird nichts bringen“, warf nun Charity ein, die erkannt hatte, dass Andy es bloß darauf anlegte, Ain und Jesse zu provozieren und einen Ausraster hervorzurufen, nur weil er seinen Spaß daran hatte. Eigentlich wollte er lediglich Seth aufwecken und er machte sich auch gleichzeitig ein Spiel daraus. Denn Ain und Jesse konnten sich nicht bewegen, sondern nur tatenlos zusehen und daraus zog er sein sadistisches Vergnügen. Charity war zwar naiv, aber sie durchschaute dieses Spiel und sie hielt es für das Vernünftigste, wenn sie sich nicht darauf einließ. Sie musste versuchen, als Einzige halbwegs die Ruhe zu bewahren und Andy zu geben, was er wirklich wollte. Nämlich eine Methode, um Seth endlich aufzuwecken. Und bevor er tatsächlich anfing, ihm die Füße abzutrennen, würde sie ihm die gewünschte Antwort geben. „Er kann wegen seiner Schlafstörung nicht so einfach aufwachen. Man muss ihm Mund und Nase zuhalten!“ Ob Andy sich mit dieser Antwort zufrieden gab und von seinen Absichten abließ? Zufrieden lächelte er und sagte „Genau das, was ich von dir erwartet habe, Cherry. Du mit deinem Helfersyndrom versuchst selbst dann noch einen klaren Kopf zu bewahren, wo du doch wissen solltest, dass keiner von euch hier lebend rauskommen wird. Ehrlich gesagt freue ich mich schon, dich nachher in deine Einzelteile zu zerlegen. Ich frage mich sowieso schon die ganze Zeit, zu was ich dich eigentlich verarbeiten soll. Den Kopf behalte ich auf jeden Fall, vielleicht auch deine zarten Hände und Füße. Sigma will solch wertlose Augen wie deine sowieso nicht und dein hübsches Gesichtchen hat mir schon immer gefallen. Vielleicht stell ich ihn mir zur Dekoration ins Regal.“ Wenn Charity ehrlich war, hatte sie nackte Todesangst und von dem Blutgeruch und dem Anblick der an Haken herunterbaumelnden Leichenteile wurde ihr furchtbar schlecht. Noch immer fiel es ihr sehr schwer zu glauben, dass Andy ein geisteskranker und sadistischer Psychopath war und er damals tatsächlich Jesses kleinen Bruder ermordet hatte. Aber es würde nichts bringen, wenn sie jetzt genauso durchdrehte wie Ain und Jesse. Wenn sie nicht nach außen hin ruhig blieb, dann würden sie alle mit großer Sicherheit sterben. Zwar hatte sie noch keinen Plan, wie sie das hier überleben sollten, aber vielleicht konnte sie genügend Zeit schinden, damit die Polizei oder irgendjemand anderes nach ihnen suchte. So ganz wollte sie die Hoffnung noch nicht aufgeben. Andy kniete sich schließlich hin und hielt, wie Charity geraten hatte, Seth Mund und Nase zu. Ein paar Sekunden tat sich nichts, dann aber kehrte Leben in den 15-jährigen zurück und er versuchte krampfhaft, Luft zu holen. Er schlug um sich und riss die Augen auf. In dem Moment ließ Andy ihn los und der Erwachte begann zu husten und schnappte nach Luft. Triumphierend kommentierte der Entführer „Na so was, das wirkt ja tatsächlich.“ Während der Jugendliche hektisch Luft holte, sah er sich orientierungslos um und war einer Panik nahe. Er fand sich zusammen mit seinen Freunden in einem bizarren Schlachthaus wieder und seine erste Reaktion war, schnellstmöglich einen Fluchtversuch zu starten. Sofort versuchte er wieder auf die Beine zu kommen und wegzulaufen, doch seine Beine waren zu schwach und er fiel wieder hin. Er versuchte es ein paar Male, was einen ziemlich bemitleidenswerten Anblick gab und Andy kugelte sich vor Lachen, während er diese Szene sah. Nun versuchte der 15-jährige wegzukriechen, doch da hielt ihn schließlich etwas zurück und ein Blick auf sein Bein verriet ihm, dass man ihm eine Fußkette angelegt hatte. Dieser schreckliche und vertraute Anblick von Ketten und Fesseln begann schlimme Erinnerungen wieder wachzurufen und er schrie entsetzt auf. Andy beobachtete amüsiert die Angst des 15-jährigen, dann trat er ihm mit einem sadistischen Grinsen ins Gesicht und auf seine Hand. Seth verzog das Gesicht vor Schmerzen und stöhnte gequält, als er noch einen Tritt in die Magengrube einstecken musste. Leise wimmernd krümmte er sich zusammen und lag da wie ein kleines Häufchen Elend. „Super, jetzt ist unser Quartett vollständig wieder bei Bewusstsein. Und ich hatte schon befürchtet, ich müsste dir deine Füße amputieren, während du pennst. Das wäre doch zu langweilig geworden.“

„Lass deine Finger von meinem Bruder, oder ich bring dich um!“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden!“ rief Andy und erhob sich wieder. „Bevor wir zur eigentlichen Tat schreiten, ist es an der Zeit, dass einige kleine Geheimnisse gelüftet werden. Nicht wahr, Seth?“ Alle Blicke ruhten auf den 15-jährigen, der immer noch vor Schmerzen stöhnend auf dem Boden kauerte und kaum ein Wort hervorbringen konnte. Ain und Jesse beruhigten sich sofort wieder und fragten „Was… was willst du damit sagen?“ „Dass ich nicht der Einzige bin, der hier so einige Geheimnisse hat. Der gute Seth hat euch nämlich so einiges verschwiegen und das hat rein zufällig mit euch beiden und Stephen Wyatt und Luca zu tun.“

„Was verschweigt er uns?“

„Ich denke eher, dass Seth es euch persönlich erzählen sollte. Sonst wäre es doch nur halb so lustig.“ Doch Seth wich den Blicken der anderen aus und schwieg. Er wollte es ihnen nicht sagen, das sah man ihm deutlich an. Jesse und die anderen begannen Böses zu ahnen, wenn er schon so aussah. „Sag schon, was hast du herausgefunden über meinen Vater?“ Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte traurig den Kopf. „Tut mir Leid Jesse, aber… ich kann es dir nicht sagen.“ „Wieso nicht?“ Charity sah, wie unglücklich er war, dass er es verschweigen musste. Es musste sich um etwas wirklich Schlimmes handeln, wenn er es selbst in einer Situation wie dieser nicht sagen wollte. Aber was konnte es denn sein? Andy wurde langsam ungeduldig und packte Seth grob im Nacken. „Jetzt hör mal zu, du kleine Made. Entweder du sagst es selbst, oder ich schneide dir nacheinander die Füße ab und knöpfe mir danach deine Hände vor. Mal sehen, ob du dann gesprächiger wirst.“ Doch Seth machte immer noch nicht den Mund auf, sondern brach in Tränen aus. Ain begann sich nun ernsthaft Sorgen um seinen Halbbruder zu machen. Andy hatte gerade damit gedroht, ihm die Füße und Hände zu amputieren und er wollte trotzdem schweigen. Was konnte es denn nur für ein Wissen sein, das er unter allen Umständen vor Jesse geheim halten wollte? Er musste etwas tun, so viel stand fest. Zwar konnte er sich nicht befreien, aber wenn er Seth nicht überredete, endlich mit der Sprache rauszurücken, würde er es für immer bereuen. „Seth, jetzt hör endlich mit diesem Blödsinn auf und sag es endlich. Willst du dir etwa wirklich die Hände und Füße abhacken lassen? Der Typ wird es doch so oder so sagen, selbst wenn du schweigst. Ich bitte dich, sag es endlich! So schlimm kann es doch nicht sein, dass du dafür deinen Körper opferst.“

„Ihr habt ja keine Ahnung“, rief Seth verzweifelt und kämpfte mit den Tränen. „Ich… ich will dir nicht noch mehr wehtun, Jesse. Nicht nachdem du erfahren hast, was Andrew und die anderen deinem Vater angetan haben.“ Da Andy langsam ungeduldig wurde, verpasste er Seth noch einen Schlag ins Gesicht. „So langsam verliere ich echt die Geduld mit dir. Letzte Chance: Entweder du rückst mit der Sprache raus, oder du kannst dich hier und gleich von deinen Füßen verabschieden.“ Da Andy schon ein Messer bereithielt, entschloss sich Seth anders und seufzte. Niedergeschlagen senkte er den Kopf und nahm schließlich seinen Mut zusammen. „Jesse… Luca war gar nicht dein Bruder, sondern ich. Ich bin dein leiblicher Bruder und Ain ist auch dein Halbbruder. Dein Vater hat Luca und mich kurz nach unserer Geburt vertauscht.“ Ungläubig und wie betäubt starrte Jesse das kleine Häufchen Elend auf dem Boden an und konnte nicht fassen, was er da hörte. Das konnte doch nicht wahr sein. Es musste sich um einen Irrtum handeln! Luca war sein kleiner Bruder, das wusste er! Er hatte ihn als Baby auf dem Arm gehabt und ihn quasi großgezogen, nachdem seine Mutter vollkommen abgestürzt war. Seth musste sich irren. Es war völlig unmöglich, dass sie tatsächlich Brüder waren. „Das… das kann nicht sein…“

„Hast du es denn nicht gemerkt?“ fragte Seth laut und mit verzweifelter Stimme. „Unser siebter Sinn liegt in unserer DNA und wird an unsere Nachkommen weitervererbt. Du hattest diese Gabe von deinem Vater und dieser von seinem Vater. Genauso wird unsere Augenfarbe weitervererbt, weil es sich um ein dominantes Gen handelt, ebenso wie der siebte Sinn. Ist es denn nicht auffällig, dass wir drei grüne Augen und einen besonderen siebten Sinn haben und dass ich im selben Alter bin wie Luca und sogar am gleichen Tag geboren worden bin? Ich bin dein kleiner Bruder, Jesse. Und genau das wollte ich dir verschweigen, weil ich es einfach nicht fertig bringen konnte, es dir zu sagen.“ Seth brach in Tränen aus und vergrub schluchzend sein geschundenes Gesicht in den Händen. Auch Ain war fassungslos über diese Nachricht. All die Jahre hatte er sich gefragt gehabt, wer wohl seine Eltern waren und jetzt erfuhr er, dass sein Vater auch der von Jesse und Seth war. Er hatte zwei Halbbrüder… „Aber… warum das alles? Wieso bin ich im Waisenhaus aufgewachsen und du bei einer anderen Familie? Wieso hat Stephen das getan?“ „Um uns zu beschützen“, erklärte Seth mit zitternder Stimme. „Er hat mich mit Luca vertauscht und dich zur Adoption freigegeben, um uns vor Sigma zu beschützen. Unser siebter Sinn war nicht stark genug, um es alleine mit ihm aufzunehmen. Lediglich Jesse wäre dazu in der Lage gewesen, weil er über den vorausschauenden Sinn verfügt. Vater ist diese Entscheidung wirklich nicht leicht gefallen. Bevor er uns weggegeben hat, hat er uns im Arm gehalten und geweint. Er… er hat uns alle geliebt, auch Luca liebte er wie einen Sohn. Es hat ihm das Herz gebrochen, uns wegzugeben. Aber hätte er es nicht getan, dann wäre viel früher ans Licht gekommen, dass diese Gabe in der Familie weitervererbt wird. Deshalb haben Sigma und die anderen ihn monatelang gefoltert: Weil er herausgefunden hat, dass Stephen uns versteckt hat und er deshalb herausfinden wollte, wo wir sind. Und aus diesem Grunde hat unser Vater sich auch die Zunge durchgebissen: Damit er uns nicht verraten kann, wenn Sigma es schaffen sollte, seinen Willen zu brechen.“ Apathisch starrten Ain und Jesse ins Leere und konnten nicht fassen, geschweige denn glauben, was sie da hörten. Insbesondere Jesse kam sich so verraten und belogen vor. Luca war gar nicht sein leiblicher Bruder gewesen. Er war der echte Seth Weaver und Seth war in Wahrheit Luca. Sein Vater hatte die beiden einfach im Krankenhaus vertauscht gehabt und die ganze Zeit mit dieser Lüge gelebt. Und er hatte geheim gehalten, dass er noch einen dritten Sohn hatte, nämlich Ain. Niemand hatte vom anderen gewusst, sie waren an vollkommen verschiedenen Orten aufgewachsen und hatten auf ihre Weise versteckt vor Sigma gelebt. Jesse schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein. Wie konnte er all die Jahre nur so getäuscht worden sein, was seine Familie betraf? Er versuchte sich an den Traum damals zu erinnern, als ihm Mr. Deadman erschienen war, der ihm den Tod von Luca angekündigt hatte. Was hatte der Kutscher gesagt? Jesse konnte sich nie daran erinnern, dass Mr. Deadman jemals von Luca als seinen Bruder gesprochen hatte. Stattdessen nannte er ihn immer beim Namen. Etwa, weil der Kutscher von Anfang an gewusst hatte, dass Luca nicht mit Jesse verwandt war? Alles erschien ihm plötzlich so falsch und gelogen. Andy genoss sichtlich das Leid seiner Opfer und ein schiefes Grinsen zierte dieses manische Gesicht. „Ganz Recht, ihr drei seid Brüder und euer lieber Papi hat euch ganz schön viel verschwiegen und verheimlicht. Bis zum bitteren Ende hat dieser Bastard geschwiegen, selbst als ich ihm die Füße und Hände abgeschnitten habe. Ich hab sie sogar noch als Andenken…“ Er brach in ein wahnsinniges Gelächter aus und legte dabei den Kopf in den Nacken. Charity beobachtete ihn mit innerlichem Schrecken und sein Lachen jagte ihr eine Gänsehaut ein. Andy war vollkommen wahnsinnig und extrem gefährlich. Wahrscheinlich würde dieses Mal niemand kommen, um sie zu retten. Sie saßen hier fest und würden sterben. Ihre Brust schnürte sich zusammen, als Andys goldgelbe Augen zu ihr wanderten und er mit dem Messer in der Hand zu ihr kam. Er kniete vor ihr nieder und betastete ihre Füße. Dann zog er ihr die Schuhe aus und strich beinahe zärtlich über ihren Fußrücken. „Weißt du Cherry, schon damals hatte ich diese Veranlagung gehabt. Als mal eine Mitschülerin mir ihre Puppe gegeben hat, da dachte ich mir: Was nützt mir ein Mensch, wenn er sich eigenständig bewegen kann? Warum kann er nicht mehr wie eine Puppe sein und einfach keine Möglichkeit besitzen, wegzulaufen? Deshalb schnitt ich der Puppe die Hände und Füße ab. Ohne diese so selbstverständlichen Gliedmaßen sind sie nicht imstande, sich zu wehren, oder überhaupt etwas zu tun. Sie werden zu lebenden Puppen, deshalb schneide ich meinen Opfern ihre Hände und Füße einfach ab. Deine haben es mir übrigens besonders angetan. Schon seit ich dich das allererste Mal in Walters Getränkemarkt gesehen habe, habe ich davon geträumt, dir deine Hände und Füße abzuschlagen.“ Charity stand kurz davor in Panik zu geraten, als sie das hörte. Sie wusste, was gleich kommen würde und sie bekam furchtbare Angst. Andy würde sie als Erste verstümmeln und das vor den Augen der anderen. Er würde sie zuerst töten! „Nein, bitte Andy! Bitte tu das nicht!“ „Ich heiße nicht Andy, sondern Andrew. Merk dir das gefälligst!“ rief er wütend und gab ihr eine Ohrfeige. In dem Moment reagierte Seth, der als Einziger genug Bewegungsfreiheit besaß, um etwas unternehmen zu können. Er kroch an Andy heran, packte ihn an einem Bein und riss ihn von den Füßen. Andy fiel vornüber hin und sofort warf sich Seth auf ihn und versuchte ihn zu überwältigen und ihm das Messer zu entreißen. Er wusste, dass dieser Wahnsinnige sie alle umbringen würde, wenn er nichts unternahm. Und wenn er ihre Überlebenschancen auf die Weise erhöhen konnte, würde er nicht zögern und alles tun, um Charity und seine Brüder zu retten. „Du elende kleine Ratte!“ schrie Andy und versuchte ihn von sich zu stoßen, doch Seth hatte sich auf ihn gesetzt und nagelte seine Hände am Boden fest. „Ich lasse nicht zu, dass du Charity und meinen Brüdern auch nur ein Haar krümmst, du Mistkerl.“ Doch Andy lachte nur höhnisch, als er das hörte. „Du willst mich aufhalten, du Krüppel? Du kannst ja nicht mal laufen, wie willst du mich aufhalten?“

„Hör auf, meinen kleinen Bruder einen Krüppel zu nennen“, rief Ain und funkelte Andy hasserfüllt an. Seine dunkle Seite war dabei, wieder Besitz von seinem Verstand zu ergreifen und in dem Zustand war er zu allem fähig. Jesse war der Einzige, der überhaupt nicht reagierte. Er war vollkommen apathisch geworden, was man ihm aber auch schlecht verdenken konnte nach dem Schock, den er erlitten hatte. Immerhin hatte er gerade erfahren, dass sein Leben nur auf Lügen aufgebaut war. Sein Vater hatte ihn mit seinem Bruder Luca belogen und ihm seinen älteren Halbbruder verschwiegen und Andy hatte ihn all die Jahre hintergangen und seine Mutter gegen ihn aufgehetzt.

Andrew Cohan funkelte Seth heimtückisch an, dann verpasste er ihm eine Kopfnuss und nutzte die Benommenheit seines Kontrahenten, um seine Hände zu befreien und ihn zu Boden zu drücken. Mit einer Hand hielt er Seths Kehle zugedrückt und erhob mit der anderen das Messer. Erst jetzt erwachte Jesse aus seiner Apathie als er erkannte, was gleich passieren würde: Es würde sich vor seinen Augen wiederholen, dass er seinen kleinen Bruder verlor. „Nein, hör auf damit, lass ihn los!“ rief er und zerrte mit aller Kraft an seinen Fesseln, dass seine Handgelenke wund wurden. Doch er ignorierte den Schmerz und wollte einfach nur diesen Wahnsinn endlich beenden. Er wollte nicht zulassen, dass sich die gleiche Tragödie wiederholte und er schon wieder einen Bruder verlor, nur weil er machtlos war. Selbst wenn Seth nicht sein Bruder wäre, er könnte es einfach nicht ertragen, ihn sterben zu sehen, genauso wie Ain und Charity. Er wollte niemanden mehr verlieren und so leiden wie damals. „Bitte lass ihn in Ruhe!“ Sofort hielt Andy inne und sah ihn mit reger Neugier an, wobei er immer noch dieses verzerrte Grinsen und dieses wahnsinnige Funkeln in den Augen hatte. „So? Du bittest mich tatsächlich? Na das sind ja ganz neue Töne. Würdest du dich tatsächlich für deinen kleinen Bruder opfern und seinen Platz einnehmen?“ Jesse erstarrte, als er das hörte. Sein Traum… Sein Traum begann sich tatsächlich zu manifestieren. Und es würde auf die grausame Entscheidung hinauslaufen, wer von ihnen sterben würde. Er biss sich auf die Unterlippe und spürte, wie sein Körper bebte. Genau der Fall war eingetreten, vor welchem er solche Angst gehabt hatte. Dass es auf die Entscheidung hinauslaufen würde, ob entweder er oder Seth sterben würde. Und er wusste, wie er sich entscheiden würde, er kannte sich ja gut genug und seine verdammte Ehrlichkeit, die ihn oft genug nichts als Scherereien gemacht hatte. Er senkte den Blick und hätte in diesem Moment am liebsten geweint. „Bitte lass ihn in Ruhe. Mach mit mir was du willst, aber bitte tu Seth nichts an.“

„So gefällst du mir, Jesse.“ Andy begann mit seinem Messer zu spielen und ging nun von Seth herunter, der seinen älteren Bruder fassungslos ansah und mit den Tränen kämpfte. „Nein Jesse, das musst du nicht tun. Es… es ist okay so.“ „Ist es nicht“, rief Jesse und konnte seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten. Seine Sicht verschwamm durch die vielen Tränen. „Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn ich meinen kleinen Bruder noch mal verliere. Ich will einfach niemanden mehr sterben sehen, der mir wichtig ist. Das könnte ich einfach nicht ertragen.“

„Ach wie süß ihr beiden doch seid“, unterbrach Andy sie schließlich und begann wieder mit seinem Messer zu spielen. Es war allzu offensichtlich, dass er sein Vergnügen daran hatte, sie beide leiden zu sehen und dass sie nun vor die grausame Wahl gestellt wurden, wer jetzt von ihnen sterben musste. Mitleid konnten sie von ihm nicht erwarten, denn Andy besaß so etwas nicht. „Warum tust du nur so etwas Grausames?“ fragte Charity schließlich. „Was ist nur passiert, dass du so geworden bist?“

„Ich war schon immer so, seit ich mich erinnern kann. Weißt du, damals habe ich Angst vor mir selbst gehabt und nie verstanden, wieso ich diesen Drang verspüre, anderen Menschen wehzutun. Die Wahrheit ist, dass ich leer bin, deshalb hat Sigma mich unter seine Fittiche genommen. Wir sind alle auf unsere Weise „leer“. Ich fühle rein gar nichts, weder Liebe noch Hass. Alles an mir ist nichts anderes, als eine Lüge. Mein Lachen, ebenso wie meine Wut und mein Lächeln und meine Tränen sind alles nur gelogen. Ich konnte nie lachen oder Glück verspüren so wie andere und bin nichts anderes als ein Gefäß ohne Inhalt und nichts kann dieses Gefäß füllen. Zumindest nicht von Dauer. Da ich rein gar nichts fühle, war ich gezwungen, immer zu lügen und den anderen Menschen etwas vorzumachen. Andy Gilbert war ebenso eine Lüge und was ihr hier seht, ist meine Wahrheit, meine Realität. Ob sie euch nun gefällt oder nicht. Menschen zu töten, sie zu foltern und zu quälen ist das Einzige, was mir ein gewisses Gefühl von Erfüllung bereitet. Indem ich anderen Menschen Schmerzen zufüge, fühle ich mich selbst lebendig und habe dann auch das Gefühl, wirklich zu existieren und nicht bloß eine Illusion zu sein. Dann habe ich auch Gewissheit, dass ich selbst nicht bloß eine Lüge bin. Bevor ich Sigma traf, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mir selbst mit dem Messer den Hals aufzuschlitzen. Einfach nur weil ich mich gefragt habe, ob mir mein eigener Tod das geben konnte, was mir fehlte und damit ich Gewissheit hatte. Gewissheit darüber, dass ich mit meinem Tod wirklich ich selbst bin und nicht bloß eine von mir erschaffene Lüge. Aber Sigma hat mir die Augen geöffnet. Erst durch ihn ist mir klar geworden, dass ich nichts dafür kann, dass ich dieses Verlangen habe. Es steckt in unseren Genen. Denkt ihr etwa, ihr wärt die Einzigen, die mit etwas zur Welt kommen, was für andere Menschen ein rätselhaftes Phänomen ist? Euer bescheuerter Sinn und eure grünen Augen sind gar nicht so ungewöhnlich, wie ihr immer denkt. Auch in unserer Familie wird von Generation zu Generation etwas weitervererbt: Unsere Augen und unser Verlangen danach, Menschen zu schaden und sie zu unterdrücken. Die gesamte Familie Cohan besteht aus Psychisch Gestörten, Psychopathen und Mördern! Was glaubst du wohl, warum du diese aggressive Seite hast, Ain? Deine Mutter war eine entfernte Verwandte von uns und der angeborene Drang zu Gewalt liegt in deinen Genen.“ All der Hass war mit einem Schlage gewichen, ebenso wie sämtliche Farbe in Ains Gesicht. Geschockt starrte er Andy an und fragte mit zitternder Stimme „Was weißt du über meine Mutter?“

„Melissa war, wie gesagt, eine entfernte Verwandte. Sie war genauso gestört wie jede geborene Cohan und hat dich bis zu ihrem letzten Atemzug abgrundtief gehasst. Sie hat dich niemals gewollt. Und du bist genauso wie wir ein geborenes Monster, oder hast du noch nie den Drang verspürt, einen Menschen umzubringen? Soweit ich weiß, hattest du einem Mitschüler drei Zähne ausgeschlagen und in deinem Wutanfall sogar versucht gehabt, deinen über alles geliebten Sportlehrer Mr. Harper umzubringen.“ Charity sah besorgt zu ihrem Idol und konnte an seinem Gesicht ablesen, dass Andy Recht hatte. Tatsächlich schien Ain in der Vergangenheit schon mal solche Gedanken gehabt zu haben. Und so wie sie von ihm erfahren hatte, gab es auch eine Zeit, in der er seine Aggressionen nicht kontrollieren konnte und einem Mitschüler sogar drei Zähne ausgeschlagen hatte. Erst durch Mr. Harper hatte er gelernt, seine ganze Wut auf andere Weise loszuwerden, ohne zwangsläufig einen Menschen zu verletzen. Aber es war nun mal Fakt, dass Ain diese Seite besaß, die er so sehr an sich selbst hasste. Er besaß dieses gefährliche Gewaltpotential, mit dem er imstande war, einen Menschen umzubringen, wenn er die Kontrolle verlor. Und er nahm deshalb die Medikamente, damit das nicht passieren konnte. Seine schlimmste Angst war, dass seine dunkle Seite ihn vollständig beherrschen könnte. „Du irrst dich“, rief die Studentin mit fester Entschlossenheit. „Ain ist kein Monster. Er hat einen Weg gefunden, diese Aggressionen zu kontrollieren, weil er niemandem wehtun will. Niemals würde er so etwas Furchtbares tun und einen Menschen umbringen. Er ist nicht so wie du!“ Doch Ain zweifelte. Er zweifelte an sich selbst und daran, ob Andy nicht vielleicht doch Recht hatte. Denn er trug es in sich. Dieses Gen, das ihn zu einem Monster machen und zu einer Gefahr für andere machen konnte, wenn er nicht stark blieb. Was wenn es stimmte und diese dunkle Seite eigentlich seine wahre Persönlichkeit war und er sie die ganzen Jahre nur verleugnet hat? „Ain“, rief Charity ihm zu. „Du allein entscheidest, wer du bist. Lass dir nicht von ihm einreden, du wärst wie er, das stimmt nämlich nicht. Du bist ein liebevoller Mensch und du würdest diese Seite nur zum Vorschein bringen, wenn du jemanden beschützen willst. Und selbst wenn du sie freilässt, würdest du niemals einen Menschen töten oder ihn quälen. Das weiß ich.“

„Langsam habe ich genug von dir, Missy!“ unterbrach Andy genervt, gab Charity eine kräftige Ohrfeige und beendete damit das Gespräch. „Wir sind hier nicht in der Therapiestunde, kapiert? Eure Probleme könnt ihr gerne in aller Ruhe bereden, wenn ihr euch im Jenseits wieder seht! Und du Charity, du wirst von nun an die Klappe halten. Ich schneide dir jetzt erst mal die Zunge raus, damit ich deine nervige Stimme nicht mehr ertragen muss.“

„Fass sie nicht an, du Bastard, oder ich bring dich um!“ schrie Jesse und kämpfte immer noch mit den Fesseln. Seine Handgelenke waren schon komplett aufgescheuert und blutig, aber das interessierte ihn auch nicht. Er würde immer noch weiterkämpfen, wenn er dadurch seine Freunde retten konnte. Doch Andy ignorierte ihn, drückte Charitys Kiefer auseinander und führte das Messer näher an ihren Mund heran. Todesangst überkam sie und sie versuchte, sich irgendwie aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark für sie. Sie schrie und befürchtete schon, dass er ihr gleich tatsächlich mit dem Messer die Zunge herausschneiden würde, da wurde die Tür geöffnet und eine Stimme, die Jesse irgendwie vertraut klang, rief „Andrew, hör endlich auf mit dem Unsinn und lass sie los.“ Sofort normalisierten sich Andys Gesichtszüge und er ließ das Messer gehorsam sinken. Plötzlich hatte er äußerlich rein gar nichts mehr mit einem hochaggressiven, sadistischen und geisteskranken Killer gemeinsam, sondern wirkte wieder vollkommen normal. Er wandte sich zur Tür und seine Augen weiteten sich. „Sigma, Delta…“ Als Jesse diesen Namen hörte, hob er den Kopf und sah zum ersten Mal den Mörder seines Vaters mit eigenen Augen. Und gleichzeitig packte ihn das nackte Entsetzen, als er sah, dass Sigma haargenau wie diese Gestalt in seinen Träumen aussah. Dasselbe schwarze Haar mit den rot gefärbten Spitzen, die gleichen Tätowierungen und Piercings im Gesicht. Aber das Schlimmste vor allem waren seine Augen: Sie waren weiß… vollkommen leer. Auch Charity erkannte den Mann mit den leeren Augen als den gleichen wieder, der sie überwältigt und betäubt hatte. Es war Sigma, der „Eyeball Killer“. Aber die wohl heftigste Reaktion zeigte Ain, der aussah, als hätte er einen Geist gesehen. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich und glänzten vor Tränen. „Das… das kann doch nicht sein. Simon, bist das wirklich du?“



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