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Yoyogi

Tsuzuku & Meto
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da ich dieses Kapitel und ein paar folgende schon fertig habe, lade ich jetzt eins nach dem anderen hoch. Komplett anzeigen

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Meto

Bisher hatte Tsuzuku die Gegend um Harajuku und den Yoyogi-Park immer nur am Samstag besucht, genau im Abstand von sieben Tagen. Doch am nächsten Tag machte er sich wieder auf den Weg. Dieses Mal ließ er den Café-Besuch sein, stattdessen spazierte er durch die Takeshitadori, wo sich selbst am Sonntag die Menschen drängten: Harajuku-Girls, gewöhnliche Menschen und auch einige Leute aus dem Westen. Als er den Ausgang der Straße zum Park hin erreichte und weiter in Richtung der Brücke ging, achtete er genau auf jede auffällig gekleidete Person, suchte nach dem Jungen im Kleid. Auch, wenn es gut sein konnte, dass dieser heute ganz anders aussah, sich vielleicht in einem vollkommen anderen Stil gekleidet hatte als gestern noch.

Auf der Brücke war viel los. Sweet Lolitas, Gothics und Visual Kei-Cosplayerinnen lieferten sich ein Wett-Schaulaufen um die Fotografen, die entweder von Szene-Modezeitschriften oder aus dem Westen kamen. Tsuzuku suchte sich einen Weg durch die Menge, möglichst ohne den Fotografen ins Bild zu laufen, und hielt dabei weiter Ausschau nach den blonden Korkenzieherlocken.

Er erreichte den Park und ging zu der Bank, auf der er am Tag zuvor gesessen hatte. Doch heute war die Wiese davor leer. Weiter entfernt saßen einige Gruppen und Tsuzuku näherte sich ihnen, jedoch nur, um festzustellen, dass niemand dabei war, der dem Jungen ähnelte. Optisch, sicher, da gab es viele, doch keiner von ihnen hatte diese Ausstrahlung, die ihn so fasziniert hatte.

Tsuzuku setzte sich wahllos auf irgendeine Bank und wartete. Worauf? Darauf, dass der Junge vorbeikam und wieder vor ihm stehen blieb? Dass er ihn ansprach und sich etwas ergab, ein Gespräch, ein sozialer Kontakt? Wollte er das denn? Kam er nicht deshalb jeden Samstag hierher, um unter Menschen, und doch anonym und allein zu sein? Was wollte er, der sozialen Kontakt als harte Arbeit empfand, denn auf einmal mit jemandem anfangen, worüber wollte er reden?

Doch der Junge hatte ganz und gar nicht wie jemand gewirkt, mit dem man einfach so sprechen konnte. Er hatte genau den Eindruck gemacht, den Tsuzuku erblickte, wenn er sich selbst im Vorbeigehen in einem Schaufenster spiegelte: willentlich allein und unnahbar.

Er starrte auf den Boden, wartete auf alles und nichts. Bis ein Schatten vor ihm auf den sonnenbeschienenen Weg fiel. Ein menschlicher Schatten. Er blickte auf. Dasselbe schwarze Kleid. Dieselben blonden Locken. Derselbe Teddybär und dieselben riesigen, schwarzen Augen. Die ihn unverwandt ansahen. Der blassrosa geschminkte Mund öffnete und schloss sich ohne einen einzigen Ton. Die Piercings schimmerten in der Sonne. Zwei unter den Augen, vier um den Mund herum. Sicher hatte er auch in den Ohren welche, doch die wurden von den blonden Locken verdeckt.

„Tut mir leid… dass ich dich gestern so angestarrt habe…“, brachte Tsuzuku verlegen heraus.

Der Junge blinzelte. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es sah aus wie „Schon okay.“ Dann zog er einen Notizblock mit Stift aus seiner Tasche und kritzelte etwas darauf, um es Tsuzuku hinzuhalten: „Hat dir mein Kleid gefallen?“

Tsuzuku versuchte ein Lächeln und nickte. Offensichtlich wollte der Junge aus irgendeinem Grund nicht sprechen und sein Schweigen war in diesem Moment ansteckend. Sie sahen sich an, der Junge blieb stehen und Tsuzuku saß auf der Bank. So vergingen einige Minuten.

Schließlich raffte Tsuzuku sich auf. Die Stimmung lockern, sozial kompetent wirken, darum ging es und er hatte im Laufe seines Lebens trotz seiner Schwierigkeiten Übung darin bekommen, zumindest so zu tun. Ein paar Meter weiter gab es einen Crêpes-Stand und er bekam langsam Hunger. Also zeigte er in die Richtung und fragte: „Magst du auch?“

Der Junge blinzelte zögernd, sah ihn an und nickte dann.

Wenig später standen sie vor der Auslage mit den Plastik-Imitaten. Der Lolita-Junge deutete auf den aus Plastik nachgebildeten Erdbeer-Schokoladen-Crêpe und Tsuzuku fiel auf, wie praktisch diese Auslagen für jemanden waren, der nicht sprach.

„Sie wünschen?“, fragte die Bedienung hinter dem Tresen. Sie trug ein hübsches Kostüm, das zwar recht dezent war, jedoch auch gut zu den Outfits der Jugendlichen im Park passte.

„Einmal das Crêpe mit Sirup und einmal das mit Erdbeeren und Schokolade.“

Als sie dann zu zweit an einem der Tische vor dem Stand saßen und aßen, fragte Tsuzuku: „Hast du auch einen Namen?“

Der Junge nickte. Er nahm wieder Block und Stift in die Hand und schrieb, diesmal sorgfältig und mit einer kleinen Katze verziert „me+0“ und daneben die Katakana für „Meto“. Dann schob er Tsuzuku das Blatt hin.

„Soll ich dir meinen Namen hinschreiben?“

Meto nickte und reichte ihm den Stift. Tsuzuku (der Name war übrigens ein Pseudonym) schrieb das Kanji-Zeichen mit den passenden Furigana unter Metos Namen. Da dessen Name sicherlich auch nur ein Nickname war, war es sicher kein Problem, den wahren Namen weiter zu verschweigen. Hauptsache, sie hatten etwas, womit sie sich ansprechen und benennen konnten. Wobei „ansprechen“ für Meto wohl eher ein „anschreiben“ war.

Sie verbrachten den ganzen Sonntagnachmittag zusammen. Tsuzuku fragte Meto etwas, dieser antwortete mithilfe seines Notizblockes.

„Trägst du oft Lolita-Kleider?“

„Fast immer. Sonst Visual Kei.“

„Hat dein Teddy einen Namen?“

„Ruana.“

„Wie alt bist du?“

„Achtzehn.“

„Kommst du oft hierher?“

„Hin und wieder.“

„Immer allein?“

„Ja.“

Dann begann Meto, Fragen zu stellen. Er schrieb sie auf den Zettel und Tsuzuku antwortete.

„Und du? Wie oft bist du hier?“

„Jeden Samstag. Und heute.“

„Warum kommst du her?“

„Nun ja… ich beobachte die Menschen…“

„Wegen der Kleider?“

Tsuzuku wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Der Grund, warum er seine Samstage im Yoyogi-Park verbrachte, kam ihm doch recht privat und seltsam vor, deshalb fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen. Er konnte ja nicht einfach sagen: „Ich beobachte die Menschen, weil ich sie nicht zu nah an mich heranlassen kann. Ich will aber auch nicht alleine sein, deshalb halte ich diese Distanz und sehe ihnen aus der Ferne zu.“ Nein, das konnte er nicht sagen.

Meto nickte, als würde er verstehen. Vielleicht ging es ihm ähnlich, Tsuzuku hatte das ja schon vermutet.

„Warum kommst du denn her?“, fragte er den Jungen schließlich.

„Hier kann ich anziehen, was ich möchte. Keiner schaut dumm, weil hier ja alle so aussehen. Und ich mag die Musik, die dort hinten gespielt wird.“ Er deutete in Richtung Norden, wo sich an einem der Parkwege ein Platz befand, auf dem samstags und sonntags kleine Rock- und Metalbands spielten. Auch heute schallte von dort Musik herüber, die die Atmosphäre der Bangya-Gruppen auf der Wiese unterstrich.

„Wollen wir hingehen?“, fragte Tsuzuku. Ein paar Mal schon war er dort gewesen, hatte zugehört und auch schon einmal eine Demo-CD von einer der Bands bekommen.

Meto nickte, packte Block und Stift ein und nahm seinen Teddy. Zusammen gingen sie an den auf den Wiesen lagernden Gruppen vorbei, immer der Musik entgegen.

Musik, vor allem Rock und Metal, spielte in Tsuzukus Leben eine große Rolle. Zwar gehörte er keiner Band an, doch er konnte singen und es war wohl keine Angabe, wenn er von sich behauptete, recht gut zu sein. Wenn er zu Hause war, schaltete er als erstes die Musikanlage an, denn bei Musik ließen sich seine Gedanken besser ordnen, seine Ängste noch am ehesten kontrollieren und er konnte das Leben ein wenig genießen.

Als sie die Stelle erreicht hatten, bemerkte er etwas, das ihn ein wenig verwirrte: Meto hatte nicht dieselbe Wirkung auf ihn wie andere Menschen. Normalerweise hätte er längst eine sorgfältig zu verbergende Panikattacke gehabt, welche ihn für gewöhnlich bei mehr als zwanzig Minuten des Kontaktes mit Fremden heimsuchte. Doch mit Meto hing er nun schon seit über einer Stunde zusammen und bisher war von seiner sonstigen Sozial-Angst so gut wie nichts zu spüren. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Meto nichts sagte und dass Schreiben nicht so spontan und damit leichter zu handhaben war.

Er spürte einen leichten Zug am Ärmel und sah den Jungen an. Dieser zeigte auf das Schlagzeug der Band vor ihnen und lächelte.

„Magst du Schlagzeuge?“, fragte Tsuzuku.

Meto nickte strahlend. Dann zog er seinen Block aus der Tasche, schrieb etwas auf, und als der Song zuende war, ging er zum Drummer hinüber und zeigte ihm den Zettel. Der musterte ihn zuerst ein wenig, lächelte dann aber und stand auf. Meto stellte seine Tasche ab (er hatte heute weder Schirm, noch Handschuhe dabei), setzte Ruana daneben und sich selbst hinter das Schlagzeug. Schon daran, wie er die Drumsticks in die Hände nahm, erkannte Tsuzuku, dass Meto wusste, was er tat. Und als er zu spielen begann, stand dem Älteren vor Überraschung der Mund ein Stückchen weit offen.

„Wow…“, entfuhr es ihm leise, während er auf die puppenhafte Gestalt starrte, die das Schlagzeug mit einem Tempo und Können spielte, wie er es bisher nur selten gesehen hatte. Einige Minuten lang dauerte Metos improvisiertes Schlagzeugsolo, dann stoppte er plötzlich, legte die Sticks beiseite, schenkte dem Drummer der Straßenband ein strahlendes Lächeln und hob seine Sachen wieder auf. Vorbei an den Leuten, die ihn begeistert anstarrten, ging er zu Tsuzuku zurück und grinste stolz.

„Du bist ja wahnsinnig gut!“

Wieder wurden Block und Stift gezückt: „Danke! ^^ Ich wollte dir das gern zeigen.“

„Warum denn?“

Meto brauchte eine Weile für die Antwort, doch dann schrieb er: „Wenn ich nicht gerade hier bin und diese Kleider trage, spiele ich Schlagzeug. Ich hab zu Hause den Keller ganz für mich.“

Tsuzuku staunte. Über sich selbst, über Meto, über die ganze Welt. Da war er gestern genau wie immer hier her gekommen, hatte seine aus Einsamkeit und Angst entstandenen Rituale gepflegt, und auf einmal war dieser schweigende Junge in seinen Alltag geplatzt, taute ihn innerhalb kürzester Zeit auf und gab ihm ein Gefühl des „ein-wenig-Sozial-seins“, das er bisher kaum gekannt hatte. Doch so sehr er dieses neue Gefühl auch genoss: Er konnte sich nicht so einfach von seinen Ängsten lösen, konnte die gewohnten, eher negativen Gedanken über Menschen nicht einfach abwerfen. Und so zog er innerlich die vertraute Fassade wieder ein Stück hoch, schützte sich und beschloss, alles, was sich nun ergeben würde, weiterhin langsam anzugehen.

Als es irgendwann langsam dunkel wurde, gingen sie zusammen zur Bahnstation.

„Ich muss nach Adachi.“ schrieb Meto auf seinen Block.

„Meine Wohnung ist in Ichigaya“, antwortete Tsuzuku. Das lag in der anderen Richtung.

Die Bahn nach Adachi kam zuerst und Tsuzuku sah Meto nach, bis dieser in der Menge der Menschen im Abendverkehr verschwand. Er wusste, wenn er am nächsten Samstag wieder in den Yoyogi-Park gehen würde, dann würde er Meto wiedersehen.
 

Und Meto wusste es umgekehrt genauso.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Sas-_-
2015-01-11T15:46:21+00:00 11.01.2015 16:46

Nach dem ersten Kap war ich einfach neugierig, wie du dich im zweiten halten würdest :] Im Großen und Ganzen kann ich hier wiederholen, was ich auch im ersten schon gesagt habe. Schreibstil und Charakterausführung haben sich gut gehalten, auch die Beschreibungen von Umgebung, Atmosphäre etc. sind hier, wie im ersten Kap, gut ausgeführt worden.
Natürlich hat die FF etwas von einem "Traum" ein Wunsch, der sich sozusagen für Tsuzuku erfüllt und bis jetzt "zu schön, um wahr zu sein" erscheint. Und ich sage, warum denn auch nicht. Ich denke, man liest so eine Geschichte vor allem, weil man weiß, dass so etwas in der Realität mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschieht.
Was mich überrascht ist der kleine Sprung, den Tsuzuku macht, und mit dem du vermutlich ausdrücken wolltest, wie gut er sich in Metos Gesellschaft fühlt; nämlich so gut, dass Panik-Attacken und andere soziale Ängste wegfallen. Ich selbst kann nicht einschätzen, ob das wirklich realistisch ist, weil ein Mensch schlecht aus seinen Gewohnheiten und Ängsten findet, ob eine so schnelle Besserung tatsächlich stattfinden kann. Das hängt aber auch stark von der Person an sich ab, ich kann nicht sagen, ob Tsuzuku wirklich diese Schwierigkeiten so schnell in den Griff bekommt, wenn die richtige Person in seiner Nähe ist, weshalb ich das nicht als Kritikpunkt ansehe. Es kam mir nur etwas "flott" vor.
Was Zeichensetzung betrifft, hab ich nur einen alten Hasen an den Ohren gepackt, den ich dir zeigen möchte:

„Tut mir leid… dass ich dich gestern so angestarrt habe…“,
„Tut mir leid … dass ich dich gestern so angestarrt habe …“,
Drei Punkte werden bei einem Satz nur dann direkt ans Wort gehängt, wenn es ein unvolständiges bildet, zb: "Tut mir lei… "

Wollte ich nur erwähnen, ansonsten kann ich sagen, dass mir das Kapitel, genau wie das davor, sehr gut gefallen und ich hab es sehr gern gelesen. Im Grunde bin ich neugierig, wie es weitergeht. Wann ich zum Lesen komme, steht auf einem anderen Papier geschrieben. Auf jeden Fall: Well done for now :DD

LG
Sas-_-
Antwort von: Harulein
11.01.2015 18:02
Ich wollte damit, dass Tsuzuku bei Meto nicht diese Ängste hat, sozusagen zeigen, dass das zwischen den beiden schnell was Besonderes geworden ist. So, wie wenn man einen Seelenverwandten gefunden hat. Bei den anderen, Koichi und MiA, die später dazukommen, hat er zu Anfang noch Angst.

Ach ja, das mit den Punkten ... Manchmal denk ich dran, manchmal halt auch nicht.
Danke fürs Revi ^^
Von:  sim123355
2014-10-24T06:55:14+00:00 24.10.2014 08:55
Meto ist wirklich total niedlich~♥~
Und die Story wird immer spannender:-)
Antwort von: Harulein
24.10.2014 13:14
Findest du? *-* Danke ^^
Von: Futuhiro
2014-08-01T18:02:45+00:00 01.08.2014 20:02
Hui, Wahnsinn. Also wenn ich mir den echten Meto von Mejibray so vorstelle, hätte ich vor dem wohl mehr Angst gehabt als vor allen anderen Menschen in diesem Park. Aber in dieser Geschichte scheint er ja ein echter Sympathieträger zu sein. Aber genial, einen wildfremden Drummer von seinem Drumkit wegzuscheuchen und erstmal eine Show abzuziehen. Hat mir gefallen. :D
Ich hoffe, es wird noch geklärt, warum er nicht redet. Hören kann er ja offensichtlich. Aber ob er nicht reden kann oder nicht reden will, zeigt sich bestimmt noch.
Antwort von: Harulein
01.08.2014 20:11
Wow, so schnell der nächste Kommentar ^^

Meto ist hier... Held möchte ich nicht sagen, aber halt die zweite Hauptperson und... ich mag ihn halt, also schreib ich ihn hier ziemlich süß und so. ^^ Auf jeden Fall weniger beängstigend als er sonst so rüber kommt.

Warum er nicht redet, wirst du bald erfahren ^^
Von:  Tesla
2014-05-10T09:08:06+00:00 10.05.2014 11:08
Wahhhh Gott das ist so süß. Ich ahne da zwar noch immer Gefahr das ich mir die Augen ausheule. Aber das ist es mir wert. Du schreibst so schön *_*
Antwort von: Harulein
10.05.2014 14:06
Dankeee *-*


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