Zum Inhalt der Seite

Maras unspektakuläre Reise

Eine kleine Geschichte der Mittelmäßigkeit
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein ziemlich kurzes Kapitel, in dem etwas unerwartetes passiert

Ihr Name war Mara und sie war ein Mädchen von geradezu bestürzender Normalität. An ihr war absolut nichts besonderes - ihr Haar war mittellang, mittelblond und mittelsträhnig, ihr Gesicht von der Art, die man auf der Straße hunderte Male sah, nur um sie anschließend sofort wieder zu vergessen (oder die man direkt übersah). Sie war weder dünn noch dick (es sei denn, man fragte sie - dann war sie fett, natürlich), weder groß noch klein und sie hatte die Ausstrahlung einer länger nicht mehr neu beklebten Litfaßsäule: An ihr war einfach nichts interessantes und das seit langem schon.
 

Sie war wie alle Mädchen ihres Alters - und wie alle Mädchen ihres Alters fest davon überzeugt, nicht wie die anderen Mädchen zu sein.
 

Es war beinahe eine Art Selbstschutz gegen die grausame Realität:

Mara hatte an ihrem elften Geburtstag keine Einladung zur Zauberschule erhalten, ihre Freunde glitzerten nicht in der Sonne (nur im Sommer beim Fußball - dann stanken sie aber auch wie die Untoten), sie lebte nicht in einer dystopischen Gesellschaft mit lebensbedrohlichen Gladiatorenspielen für Minderjährige und irgendetwas sagte ihr, dass sie in ihrem späteren Leben keinen gutaussehenden Millionär mit zweifelhaften Neigungen kennenlernen würde, der mit ihr krude Verträge über den Zustand ihrer Intimbehaarung aufsetzen würde. Sie lebte nicht in einer abenteuerlichen Welt voller Zwerge und Hobbits - einen depressiven, aber sprechenden Raben hatte sie nie gesehen, genausowenig wie blasphmische, zyklopische Kreaturen aus der namenlosen Leere außerhalb des Raums - geschweige denn irgendetwas, das man als "nicht-euklidisch" beschreiben konnte (mit Ausnahme der Fliesen, die ihr handwerklich unbegabter Vater letzten Sommer verlegt hatte - die kamen nah dran).
 

Nun war es sicherlich nicht so, als hätte sie sich nicht redlich bemüht - bemüht, in ihrem Schrank die Tür in fremde, wundervolle Welten zu finden (sie fand bloß ein Paar alter Socken). Bemüht, in ihrer Grundschulzeit einen Detektivclub zu gründen und den perfiden Schurken zu stellen, der ständig die Tafelkreide verschwinden wird. Bemüht, im Wald eine Leiche oder wenigstens die Behausung eines wahnsinnigen Massenmörders zu finden und bemüht darum, von daheim fort zu laufen und auf einem Floß den Fluss hinab aufs offene Meer zu fahren. Sie scheiterte damals am Auffinden des geeigneten Baumaterials.
 

Egal was sie auch versuchte, das große Abenteuer blieb ihr stets verwehrt.

Nicht einmal für einen Jugendroman rund um Liebe, Selbstekel, Kitsch und humoristisch aufgearbeitete Körperveränderungen der Pubertät hätten ihre Erlebnisse gereicht. Sie hatte eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, lesbisch zu werden - aber das war dann doch nicht so ihr Ding. Ihre Freunde waren nie etwas wirklich besonderes (nicht einmal für sie) und sie bildtete sich auch nicht ein, eines Tages mit einem populären Musiker oder dem Präsident der Vereinigten Staaten liiert zu sein.

Allgemein stand sie der Idee, allein durch einen Partner Bedeutung zu erlangen, kritisch gegenüber.

Und wenn auch sonst nicht viel liebens- geschweige denn bewundernswertes an ihr war, kam man nicht umhin, ihr wenigstens dies hoch anzurechnen.

Sie war normal aber nicht ätzend.
 

Und so lebte sie von Tag zu Tag ihr einfaches und weitestgehend ereignisloses Leben.
 


 

Bis ihr über Nacht ein zweiter Kopf wuchs.
 


 

"Weshalb?!", werden Sie sich nun fragen.

Einige Leser werden sicherlich bestürzt aufhören zu lesen, ob der Skurrilität dieses Geschehens - insbesondere Ärzte und Medizinstudenten habe ich im Verdacht, an dieser Stelle die Lektüre frustriert und voll wissenschaftlichen Unmöglichkeitsekels* beiseite zu legen und sich ihre vergeudete Lebenszeit zurück zu wüschen - denn für den bizarren Umstand, dass Mara von Zweiköpfigkeit geschlagen erwachte, gab es absolut keine Erklärung.

Es war einfach so.
 

Und wenn es eine Person auf der Welt gab, die das Geschehene nicht im Geringsten in Frage stellte, dann war das Mara selbst.

Denn für sie beendete das Erscheinen der menschenkopfähnlichen Wucherung auf ihrer Schulter endlich ihr sterbenslangweiliges Dasein als nichterwähnenswerte Randperson.

Und durch die medizinische Unmöglichkeit des plötzlichen Auftretens eines sekundären Hauptes erfuhr Mara endlich die notendige Legitimation, der Hauptcharakter dieses Buches zu sein.


Nachwort zu diesem Kapitel:
*wissenschaftlicher Unmöglichkeitsekel, der

Ein emotionaler Zustand, welcher Akademiker aller Art befällt, wenn sie etwas gewahr werden, das so nicht funktioniert. Dieses starke Ekelgefühl wird beispielsweise durch schlechtgeformte Spezialeffekte (abgeschlagene Gliedmaßen ohne sichtbare folgende Blutung), übernatürliche Phänomene (Wunderheilungen, spontane Selbstentzündungen, pünktliche Bahnen) oder schlecht recherchierte Literatur ausgelöst. Das akademische Fachwissen wirkt hierbei als Risikofaktor, welcher zur Genese des ausgeprägten Ekelgefühls in Unmöglichkeitssituationen beiträgt. Zum Teil tritt Unmöglichkeitsekel aber auch vollkommen losgelöst von jeglicher Form der Wissenschaft auf - konfrontieren Sie mal einen überzeugten Kreationisten mit der Evolutionstheorie, dann wissen Sie, was ich meine! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück