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Die Verfluchte

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Die Verfluchte

Die Dämmerung umhüllte das schlanke Mädchen mit ihrer reinen, samtenen Wärme. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den dichten Wald, vereinzelt zerbrachen kleine Äste bei einer flüchtigen Berührung mit deren Körper. Einsam erhoben sich die toten Stämme der Bäume. Ihr Klagelied durchbrach die unnatürliche Stille an diesem unheimlichen Ort.

Keuchend stolperte sie über eine Wurzel und fiel. Ihre Hände drangen dabei tief in den bemoosten Boden ein. Schwer atmend richtete sie sich wieder auf und rannte weiter – floh vor sich selbst, versuchte so, ihrem Schicksal zu entgehen.

Einst umspielte ein zartes Lächeln die vollen, purpurnen Lippen des Mädchens. Das Haar erstrahlte wie eine Blüte des weißen Oleanders. Die Augen besaßen die Farbe des weinenden Himmels. Doch all dies zählte zu ihrer Vergangenheit.

Tränen rannen aus den Steinaugen hervor. Das Lächeln war versiegt und der Glanz des Haares verschwand mit der untergehenden Sonne, die hinter den schwarzen Gestalten der Bäume versank.

Auf ihr lastete ein Fluch, der alle Generationen ihres Geschlechts überdauerte, denn sie besaß die Gabe der Hellseherei. Diese Fähigkeit war ein Geschenk des Sonnengottes Apollo an seine Geliebte Cassandra gewesen. Er machte ihr auf diese Weise den Hof. Doch seine Liebste empfand dieses Geschenk als Fluch und verweigerte sich ihm. Apollo erzürnte über ihre Reaktion und wandelte seine Schenkung in einen Fluch, der jedes Mädchen der nächsten Generationen aus dem Geschlecht der Cassandra treffen sollte. Da sie nur noch das Schlechte hervorsagen konnten, selbst wenn es dem Schutz ihrer Liebsten diente, wurde ihnen das gleiche Schicksal wie ihrer Ahnin aufgezwungen – ein Leben in Verachtung, als Ausgestoßene.

Der Wald, der sich um die zarte Gestalt in seiner Mitte wand, verschlang die letzte Kraft der Sonne. Die Finsternis eroberte sich ihr Reich und verbarg die Gefahr.

Ihre Tränen flossen in kleinen Bächen von ihrem blassen Gesicht als sie erneut zu Boden sank. Die Flüsschen sammelten sich an ihrem Kinn und tropften auf den Dornenbusch, auf dem sie ruhte. Blut quoll aus den feinen Rissen ihrer Haut an den Beinen. Es sickerte auf die Erde und wurde von dieser aufgesogen.

Nachdem dir Tränen versiegt waren, richtete sich das Kind erneut auf. Ihre schmalen Schultern waren gestrafft, als sie ihren Weg vorsetzte. Jedoch waren ihre Schritte nun bedachter. Mit der Eleganz einer Nymphe bewegte sie sich auf den Waldrand zu, dessen Äste wie ein Vorhang herunterhingen.

In ihrem Innersten regte sich die Hoffung, dass sich hinter diesem Schleier aus Holz etwas befand, das ihr half sich selbst wieder zu finden – das ihre Lebensgeister weckte.

Die Arme schützend vor sich erhoben trat sie aus dem Wald.

Ein kalter Wind umfing die Weißgekleidete. Mit einer kräftigen Böe wurde ihr blutbesudeltes Gewand in die Lüfte gezerrt. Der Atem des Windes schmeckte nach dem Rauch aus dem Dorf am anderen Ende des Waldes. Es brannte wie vor Jahrhunderten Troja. Die Siedlung wurde zum Scheiterhaufen, aber deren Bewohner verspotteten und jagten sie, hielten die Geschichte des jungen Mädchens für ein Hirngespinst, dem man keinen Glauben schenken sollte. Doch nun ertönten Schreckensschreie in der Ferne.

Wieder waren ihre Augen tränengefüllt. Sie hatte gewusst, was geschehen würde, wie einst Cassandra in Troja. Trotz ihrer Warnung blieben die Menschen ihren Lehmhäusern und warteten auf ihr Verderben. Keiner hatte sich ihrer angenommen und ihren Worten Glauben geschenkt. Sie wurde aus dem Dorf verjagt, als Dank für ihre Warnung. Eine höhere Macht zwang die junge Seherin die Katastrophe hilflos mit anzusehen.

Das Feuer verschlang alles, was sich ihm in den Weg stellte, auch der Wald fing Feuer und erstrahlte in einem rubinroten Schein. Nun stand das Mädchen in weiß an den Klippen, die sich hinter dem Wald verbargen. Mit dem in die Ferne gerichtetem Blick, schaute die Seherin auf den Horizont in der Farbe ihrer Augen.

„Varies...“, ertönte eine kräftige Stimme aus den Wald. Erschocken wandte sich das Mädchen der Stelle zu, von der sie die Laute vernahm. Ein junger Mann erschien hinter den Bäumen, hinter seinem Rücken brannte der Wald. Seine schlanke Gestalt war in eine beige Hose und in ein blaues Hemd gehüllt. Seine braunen Haare waren versenkt. „Eve...“, flüsterte sie ihm entgegen. Lächelnd kam er auf sie zu, doch dieses erreichte seine Augen nicht. „Verzeih mir liebste Schwester, dass ich deinen Worten keinen Glauben schenkte. Doch als in der Schmiede das Feuer ausbrach, warst du schon vertrieben. Es brennt lichterloh. Jeder versucht sein Hab und Gut vor den Flammen zu retten und geben sich diesem stattdessen hin.“, sprach der Junge mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Nach seinen Worten herrschte Stille. In Gedanken versunken war jeder der beiden Geschwister in seiner eigenen Welt. Er in einer, wo er seine Schwester nicht leiden sah und innerlich um Erlösung betete. Sie in ihrer, in der sie weiterhin die Schmach ihrer Vorfahrin ertragen musste und von Anderen deshalb gerichtet wurden.

Varies hasste dieses Leben und verfluchte Apollo, ebenso wie er Cassandra verflucht hatte. Ihre Seele war durch diese schwere Bürde ihrer Ahnin zerrissen worden. Ihr einziger Wunsch war „Rettung“.

Wie in Trance bewegte sich ihr Körper weiter auf die Klippen zu. Kleine Felsen brachen ab und stürzten hinab in die Tiefe. Erst als ihr Bruder sie am Arm ergriff erwachte sie aus ihrer Starre. In seinen Augen las sie Ungläubigkeit und Verzweiflung. „Bruder, bitte versteh doch, dass dieses Leben nicht das ist, was ich mir wünschte, weder für mich noch für irgendjemand anderen. In diesem Leben hält mich nichts mehr. Meine Seele ist schon lange aus diesem Körper entwichen. Warum für Schande und Verachtung ohne Hoffnung leben? Verlang nicht von mir, dass ich ein unwürdiges Leben führe!“, schluchzte Varies. Eve, der letzte Erbe der Cassandra, umarmte seine Schwester ein letztes Mal, bevor er sich mit ihr in die Tiefe stürzte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  seagrave
2014-03-20T22:36:07+00:00 20.03.2014 23:36
Ein schöner, sehr Bild- und Lebhafter Stil. Lädt ein zum Innehalten und auskosten der Beschreibungen, die trotzdem prägnant sind und doch, stagniert das Geschehen nicht und sein Rythmus wird nicht störend unterbrochen oder schleppend.
Melancholische und mitreißende Stimmung, die hier vermittelt wurde, besonders durch und mit dem Ende.

Für die Länge des Textes wirklich sehr fesselnd, ohne am Ende noch wünsche offen zu lassen.Es wurde alles gesagt, an der richtigen Stelle und auf die richtige Art.
Gefällt mir sehr gut ^^


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