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Widerschein

Yukon Kurzgeschichte
von

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Widerschein

Es war ein Spukhaus wie aus dem Bilderbuch. Klischeehafter konnte man ein Gebäude, in dem Geister und anderes metaphysisches oder astrales Untier sein Unwesen treiben sollte, kaum gestalten.

Früher muss es wohl ein sehr schönes Herrenhaus gewesen sein. Mit seiner Jahrhundertealten Fassade, den zwei Etagen und einem riesigen, nunmehr verwilderten Garten machte es einen imposanten Eindruck oben auf seinem Hügel.

Das umzäunte Gebiet würde sonst nicht weiter auffallen, würden sich nicht die immer wieder hartnäckig hervor gekramten, teilweise sehr bunt ausgeschmückten Geschichten der hiesigen Bevölkerung darum ranken.

Elsa gab normalerweise nicht viel auf so etwas. Sie hatte sowieso nicht verstanden, warum ihre Eltern unbedingt in diese kleine Gemeinschaft ziehen wollten. Hier war alles so eng. Jeder kannte jeden und jeder erzählte alles über jeden. ‚Die Neue’ in der Schule zu sein war gleichbedeutend mit ‚anders’ zu sein. Und anders wurde immer ausgegrenzt. Deswegen hatte sie sich zu dieser dummen Mutprobe hinreißen lassen. ‚Geh um Mitternacht in das Haus.’, hatten sie gesagt. ‚Einmal hindurch und stell oben im Dachgeschoss eine Kerze ins Fenster.’ Es klang einfach genug. Über das mit schweren Eisenketten verschlossene Tor konnte sie ohne Probleme hinüberklettern und eine Taschenlampe hatte sie sich nebst Kerze und Streichhölzern auch eingesteckt. In dem verwilderten Garten benötigte sie sie nicht. Der Mond war hell genug, sodass Elsa auch zwischen Farnen, verwilderten Rosen und dem zu dichten Gestrüpp noch immer eine Art Weg zu dem Herrenhaus hinauf entdecken konnte. In das Gebäude hinein zu kommen gestaltete sich da schon schwieriger. Zwar hatte Elsa keine Angst davor, wegen Hausfriedensbruch verhaftet zu werden – schließlich wohnte schon seit Jahrzehnten niemand mehr in dem alten Gemäuer und niemand außer der Klatschgemeinde hegte Interesse daran – aber die Türen und Fenster waren fest verschlossen. Sie hätte sich vielleicht eine Brechstange mitnehmen sollen. Sie rüttelte einige Male am Türknauf in der Hoffnung, dass das morsche Holz nachgeben würde, aber es war noch erstaunlich widerstandsfähig. Die Treppe führte zu beiden Seiten der Tür in einen Rundweg um das Haus, der mittlerweile total überwuchert war. Doch Elsa schaffte es wie schon zuvor im Garten, sich durch das Gestrüpp hindurch zu kämpfen und gelangte auf der Rückseite des Hauses an einen schräg in das Gemäuer eingelassenen Eingang, der vermutlich in den Keller führte. Die junge Frau seufzte. Wieder ein Klischee mehr – dunkle Untergründe, Mondschein, Mitternacht, Geisterhaus. Es war alles so verdammt vorhersehbar und genau deswegen begegnete Elsa dem Ganzen eher mit Apathie als mit einer echten Furcht.

Die Taschenlampe erleuchtete das muffige Dunkel. Elsa war froh, dass die Treppe hinunter und auch der darunter hervorspähende Boden aus Stein waren. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie es sein musste in diesem alten Haus auf morschen Dielen laufen zu müssen. Sie stieg die Stufen hinunter. Schon nach einigen Metern verblasste der Mondschein, der noch immer durch die halbseitig geöffnete Kellertür lugte. Merkwürdig war, dass selbst das Licht der Taschenlampe nicht so stark war, dass es mehr als ein paar Meter vor ihr die Umgebung erhellen konnte. Die Dunkelheit schluckte das Licht.

Elsa schalt sich für diesen Gedanken. Natürlich war die Dunkelheit hier drin nicht anders als die draußen. Sie nahm sie nur anders war, da hier nur eine kleine Lichtquelle wirkte. Und vor irgendwelchen Kreaturen musste sie sich genauso wenig fürchten wie vor den Schatten. Hier wohnten sicher keine Heimatlosen, verrammelt wie das Gemäuer war, und größere Tiere waren hier genauso wenig anzutreffen. Schatten konnten nur den ängstigen, der darin Gefahr vermutete. Elsa nickte und entschloss sich, mehr auf ihren Verstand zu hören.

Sie sah sich in dem Halbdunkel im Schein ihrer Taschenlampe um. In dem Keller standen alte Regale, das Holz fiel beinahe auseinander und was sich auch immer vorher in den Fächern, Kartons und Gläsern befunden haben mochte, nun war es bis zur Unkenntlichkeit verrottet. An Werkbänken mit seltsamen Werkzeugen vorbei ging sie eine Treppe hinauf, an deren oberen Ende eine halboffene Tür schräg in teils ausgehängten Scharnieren hing. Ein leichter Stoß genügte, um diese aufschwingen zu lassen, windschief wie sie da hing. Sie trat auf einen Gang hinaus; vermutlich war es ein Verbindungsgang zwischen den zwei großen Räumen, die sie undeutlich zu beiden Seiten erahnen konnte. Hohe Fenster, vom Schmutz über die Zeit gekennzeichnet, filterten schwaches Mondlicht in den Korridor. Elsa erkannte viele Bilder an den Wänden, nicht wirklich ungewöhnlich in einem solch alten Haus, jedoch auch Spiegel, verhangen von schweren Stoffen. Sie zog eines der Tücher zur Seite und starrte in ein lebensgroßes Antlitz ihrer Selbst, umrahmt von einem alten, vermutlich handgefertigten, verzierten Holzrahmen. Das schwere Tuch entglitt ihren Fingern, fiel zu Boden und wirbelte jahrzehntealten Staub auf. Schatten verschoben sich im Schein der Taschenlampe und der herumwirbelten Staubschwaden. Elsa musste husten, starrte dann wieder einige Sekunden in den Spiegel… schüttelte kichernd den Kopf. Allerdings lag in ihrem Lachen keine Freude, sondern Ungläubigkeit. Es war schließlich unmöglich, dass sich der Schatten den Gang entlang, den Elsa durch den Spiegel während des kurzen Hustenanfalls sah, tatsächlich ausgedehnt hatte. Es war alles nur ein Spiel von Mondlicht und Staubwolken. Die junge Frau wandte sich vom Spiegel ab, ignorierte die anderen verhangenen Objekte an den Wänden und entschied sich willkürlich für eine Route. Sie hoffte, dass sie das Haus an beiden Seiten nach oben bringen würde. Und tatsächlich führte vor dem Zugang in das, was ein Herrenzimmer gewesen sein mochte, eine breite Steintreppe in den ersten Stock. Überall lag eine dicke Staubschicht, deren Ruhe schon seit vielen Jahren niemand mehr gestört hatte. Der Schein der Taschenlampe offenbarte zögerlich Treppengeländer, Wände, Zugänge zu angrenzenden Räumen – teilweise stümperhaft und hastig anmutend mit Brettern verschlagen – und Steinboden, auf dem Teppiche schon vor langer Zeit vermodert waren. Und überall hingen verhüllte Spiegel. Elsa wusste dies, weil sie hier und da Tücher anhob und darunter sah. Warum hatten die letzten Bewohner des Hauses so viele Spiegel aufgehängt? Hatte hier vielleicht eine besonders eitle Frau gewohnt?

Ein Windzug frischte die Luft für einige Sekunden auf als Elsa in einen der Spiegel sah. Sie ließ das Tuch gerade sinken, als sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Schlagartig fuhr sie herum, ließ das Licht der Taschenlampe wie einen Suchstrahl durch den Gang gleiten. Doch da war nichts. Es war der Weg, den sie hinauf genommen hatte.

Sie schob es auf die Umgebung. Man konnte sich mit Logik den ganzen Unsinn noch so klar hinlegen, irgendwann bildete man sich doch Dinge ein, die nicht da waren. Es konnte gar nicht anders sein.

Elsa starrte noch immer in die Dunkelheit und ging in Gedanken den Aufbau des Hauses durch. Neben dem Erdgeschoss hatte sie zwei Etagen darüber gezählt, bevor das Dachgeschoss kam. Also musste sie noch zwei Treppen hoch, bevor sie im Dachstuhl die Kerze aufstellen konnte. Gedankenverloren ging sie nun wesentlich langsamer durch einen Zwischenraum hindurch. Kanapees, nur noch der Form halber erkennbar, standen halbkreisrund im Raum. Dies mochte ein Gesellschaftszimmer gewesen sein. Elsa konnte sich bildlich vorstellen, wie hier die feinen Herrschaften nach dem einen oder anderen Sherry, Kognak oder Wein auf den langgestreckten Sofas lümmelten, dem Klang einer Stimme oder eines Instrumentes lauschend. An der Decke thronte ein großer altmodischer Kronleuchter. Als Elsa nach oben sah, um ihn genauer zu betrachten, durchfuhr sie ein plötzlicher Schreck. Die ganze Decke war in diesem Raum verspiegelt.

Es war ein unheimliches Bild. Sie allein im Raum, umgeben von den undeutlichen Gebilden alter, halbverfallener Möbel, umringt von einem kleinen Lichtschein und einem wesentlich größeren Kreis von Schatten. Elsa konnte einen gewissen Gruselschauer nicht unterdrücken. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und ärgerte sich über ihre Klassenkameraden, über das Dorf, über all die dummen Gerüchte und Legenden, über ihre Eltern, die hierher ziehen wollten und über den Umstand, dass sie allein um Mitternacht in einem alten Haus herumstolperte, wo sie doch genauso gut in ihrem warmen Bett liegen konnte. Die Augen resolut von der Decke abgewandt schritt Elsa entschlossen durch den Rest des Raumes und entdeckte zu ihrer Freude hinter dem nächsten Durchgang eine weitere Steintreppe nach oben. Die Umgebung hier unterschied sich nicht besonders von der ersten Etage. Korridore, Räume – diese hier waren allem Anschein nach Schlafzimmer – und wieder viele Spiegel. Es muss eine wirklich eitle Frau gewesen sein…

Das Mondlicht schien noch immer zaghaft durch altes Glas, gab neben der Taschenlampe einen Blick auf einen Korridor frei, der hinter dem letzten abgehenden Raum um die Ecke führte. Elsa entdeckte an seinem Ende eine Holztür, die nicht so ehemals edel und nunmehr verrottet aussah wie die andern. Sie war nicht verschlossen, jedoch knarrte es beträchtlich, als sie von der jungen Frau geöffnet wurde. Eine schmale Holztreppe kam zum Vorschein, die in die Höhe führte. Elsa atmete erleichtert auf. Sie hatte endlich den Zugang zum Dachboden gefunden. Die Stufen knarrten vom Alter gezeichnet protestierend auf, als sie das Gewicht Elsas bei ihrem Aufstieg tragen mussten. Diese klammerte sich an den wackligen Handlauf, als sie die steile Treppe erklomm. Die Augen auf die Stufen fixiert blickte sie erst auf, als sie das obere Ende erreicht hatte… und hätte beinahe geschrien. Auch hier waren Spiegel, mannshoch; sie waren in verschiedene Rahmen gefasst, standen in unterschiedlichen Winkeln zueinander unter den abgeschrägten Dachflächen. Und nicht einer von ihnen war verhüllt wie die kleinen Exemplare in den Etagen unter ihr.

Es sah aus wie ein obskures Spiegelkabinett.

Elsa verharrte einige Sekunden in ihrer Position. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe zitterte über die glatten Oberflächen und wurde mehrmals zurückgeworfen. Dann schloss die junge Frau kurz die Augen, atmete tief ein und aus, versuchte dabei ihr wild schlagendes Herz unter Kontrolle zu bekommen und schüttelte beinahe ungläubig den Kopf. Dieses Haus wurde ihr einfach zu viel. Bewegte Schatten, plötzliche Luftzüge – alles normale Dinge betrachtete man sie im hellen Schein des Tages und an einem anderen Tag als diesen. Es hätte Elsa auch nicht gewundert, wenn ihre Klassenkameraden hier irgendwo rumlungerten und nur auf die passende Gelegenheit warteten, um ihr den Schreck ihres Lebens zu verpassen. Eine gewisse Wut machte sich in Elsa breit. Dieser war es zu verdanken, dass sie die nötige Kraft fand, sich von dem Geländer zu lösen, die letzte Stufe zu erklimmen und mit schnellem Schritt auf das große Fenster in der Front des Dachstuhls zuzueilen. Sie hatte Glück, es war nicht verschlossen. Die Flügel schwangen nach innen auf und Mondlicht ergoss sich wohltuend um sie herum. Schon wurde Elsa ruhiger. Ihre Hände zitterten auch kaum noch, als sie die Kerze aus ihrer Tasche holte, sie auf die Fensterbank stellte - dicht genug an den Rand, damit die kleine Kerzenflamme auch möglichst gut von der entfernten Straße aus gesehen werden konnte - und sie anzündete. Die Flamme hatte etwas beruhigendes, auch wenn sie unstet im Nachtwind flatterte. Elsa sah auf ihre Uhr. Es waren nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht, sie lag gut im Zeitplan. Sie wollte bis Zwölf warten, damit war ihre Pflicht erfüllt. Vielleicht sollte sie auch noch ein paar Minuten länger bleiben. Wo sie schon hier oben war, konnte das auch nicht mehr viel ausmachen und keiner ihrer Klassenkameraden sollte ihr später vorwerfen, sie wäre zu leichtfertig an die Sache heran gegangen. An die Fensteröffnung gelehnt spähte sie nach draußen. Sie versuchte den Weg zu erkennen, des sie durch das hohe Gras und das dichte Gestrüpp zum Haus genommen hatte, konnte ihn aber nicht erkennen. Sie sah aber das Tor, das dunkel und verschlossen den Garten abgrenzte. Dahinter war niemand. Hatte sie den Weg etwa umsonst gemacht? War sie nun hier und hatte ihren Teil der Mutprobe erfüllt, ohne dass jemand gekommen war, um sich von der Durchführung zu überzeugen? Erneut durchfuhr sie dieses Gefühl von Ärger und Trotz. Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Mitternacht vorbei war. Sie atmete erleichtert auf. Ein Knarren hinter ihr ließ sie herumfahren und mit einem Mal war das Herzklopfen wieder da. Die Taschenlampe, Sekunden zuvor hatte sie noch unschuldig auf der Fensterbank gelegen, wurde nun wieder von Fingern umklammert in dem Versuch, den Lichtschein möglichst überall hinreichen zu lassen. Überall diese Spiegel…

Elsa erschauderte. Sie blickte auf einen, der nur einige Meter von ihr entfernt stand und sie mit der breiten Fläche seiner reflektierenden Oberfläche einzuladen schien, sich zu betrachten. Noch ehe sie sich darüber wundern konnte, was sie tat, starrte sie aus einem halben Meter Entfernung auf sich selbst. Ohne es bewusst zu wollen, hatte sie sich direkt vor das Gebilde begeben. Und trotz der vielen Jahre der Vernachlässigung konnte sie ihre eigene Reflektion gut sehen. Ebenso sah sie den Schein der Kerze hinter sich. Doch von einer Sekunde auf die nächste war er weg.

Elsa fuhr herum und starrte auf die verloschene Kerze. Die aufkommende Panik versuchte sie mit dem Gedanken niederzudrücken, dass eine plötzliche Windböe sie ausgeblasen haben mochte.

Ein Windhauch strich fast zärtlich über ihre Wange – ein Windhauch, der vom Spiegel kam. Langsam drehte Elsa sich ihm zu... und erstarrte.

Es musste ein Traum sein, oder Einbildung, vielleicht eine Halluzination, verursacht durch diese verfluchte und vermaledeite Umgebung. Denn noch immer sah sie ihr eigenes Spiegelbild, zumindest der Körper war ihrer. Doch das Gesicht…

Es war eine Fratze. Eine grinsende Fratze, umrahmt von ihren eigenen Gesichtszügen. Die Augen schauten gemein und versprachen Unheil, die Lippen waren zu einem beinahe grotesk anmutenden Grinsen höhnisch verzogen. Elsa schüttelte den Kopf. So konnte sie nicht aussehen. Sie fühlte doch, wie ihr vor Schock und Schreck der Mund offen stand, wie sie nach Luft schnappte, wie ihr ganzer Körper anfing zu zittern. Doch davon war bei diesem Ding nichts zu sehen. Es stand stumm und ruhig da, grinste sie nur fies an – und hob den einen Arm hoch um die Handfläche gegen den Spiegel zu drücken.

Elsa schrie auf, zumindest dachte sie es getan zu haben. Die Taschenlampe fiel zu Boden und erlosch, die Fensterflügel schlugen zu; die umliegenden Schatten stürzten auf Elsa ein. Benommen von Angst kauerte sie sich vor den Spiegel und schloss die Augen. Sie glaubte noch ein fernes Lachen zu hören, als ihr plötzlich schwindlig wurde und im zwielichtigen Dunkel des Dachbodens alles zu verschwimmen begann.

Der Herzschlag dröhnte Elsa in den Ohren. Sie hörte sich selbst um Luft ringen. Es waren die einzigen Geräusche überhaupt. Zitternd tastete sie nach der Taschenlampe und fand sie nicht wieder, kroch dann zu der schmalen Treppe und stemmte sich an dem wackligen Geländer nach oben. Sie stolperte die Stufen hinunter, ihre Beine kraftlos und unstet, sodass sie sich am Handlauf festkrallen musste um nicht vornüber hinunter zu stürzen. Sie fiel aus der Tür hinaus auf den steinernen Gang. Noch immer war alles verschwommen und ohne die Hilfe der Taschenlampe sah sie kaum etwas. Aber das war ihr egal. Sie wollte nur noch raus aus diesem Haus, zurück in ihr eigenes Zimmer und dort in Einsamkeit ihre Angst wegheulen. Sie ging zitternd den Weg zurück, den sie nicht einmal eine halbe Stunde zuvor gekommen war. Alles war dunkel und verschwommen, doch die nackte Panik beschleunigte Elsas Schritte, wenngleich sie auch das ein oder andere Mal ins Straucheln kam. Sie durchquerte gerade in der ersten Etage den Saal mit der Spiegeldecke, als sie vor sich Licht sah. Und wieder stockte ihr der Atem, der ohnehin die ganze Zeit von Schluchzern unterbrochen wurde. Sie sah nach vorn… und sah sich selbst! Verschwommen und von einer schattenhaften Aura umgeben stand sie da im kläglichen Schein ihrer Taschenlampe und starrte auf einen Spiegel an der Wand, von dem sie gerade das ihn verdeckende Tuch angehoben hatte.

Logik verflüchtigte sich bei diesem Anblick und nur die nackte Furcht blieb über, als Elsa an sich selbst vorbei stürmte und die nächste Treppe hinunterwetzte. Unmerklich nahm sie noch wahr, wie das Licht der Taschenlampe kurz auf ihr geweilt hatte. Doch das war alles egal – sie musste raus hier.

Halb blind vor Panik, Tränen und Schwindelgefühl stolperte sie den ihr bekannten Weg in den Keller hinunter. Sie hatte keine wirkliche Kontrolle mehr über ihren Körper. Er zitterte unaufhörlich, ihr Atmen war ein einziges Japsen und die Tränen wollten einfach nicht aufhören. Sie erspähte die offene Kellertür und hätte beinahe erleichtert geschrien. Den Schritt beschleunigend rannte sie auf diese zu. Und als ob eine unsichtbare Hand die Türen bewegen würde, schlugen sie zu, kurz bevor Elsa sie erreichen konnte. Sie warf sich dagegen, versuchte sie wieder aufzustemmen, hämmerte mit ihren Fäusten dagegen, brüllte, schluchzte, tobte in ihrer Angst. Und dann schrie sie.

Sie schlug die Augen auf und lag auf dem Dachboden. Die Taschenlampe rollte vor ihr über die Holzdielen. Ohne eine Sekunde zu überlegen griff Elsa danach, stemmte sich nach oben, rannte zur Treppe, stolperte wie vorher den Weg hinunter und dann durch die Steingänge. Ein obskures Déjà-vu nahm ihr ganzes Selbst ein. Kurz bevor sie in den Saal kam, überkam sie dieses Bild von sich Selbst weiter vorn. Doch sie wollte nicht anhalten, konnte es nicht. Sie musste hier raus! Sie durchlief den Saal, sah nichts von diesem Traumbild und rannte weiter. Mit jedem weiteren Meter, mit dem sie sich dem Ausgang näherte, wurde ihr Körper beherrschter. Sie hatte noch immer Angst, sie zitterte weiterhin unkontrollierbar, doch sie fühlte, wie sie langsam die Beherrschung wiedererlangte.

Der Keller lag dunkel vor ihr und mit neuerlichem Schrecken stellte Elsa fest, dass die Tür nach draußen zu war. Doch sie gab ihr nach, als Elsa sich gegen sie stemmte. Den Weg durch das Gestrüpp des Gartens registrierte sie kaum. Überhaupt nahm Elsa außer ihrer brennenden Lunge und ihren rasenden Gedanken nichts wahr, als sie den ganzen Weg nach Hause rannte. Sie tadelte sich für ihre Dummheit. Wer geht schon an Halloween in ein Geisterhaus?

Elsa empfand es als Glück, dass ihre Eltern diese Woche zu einem Kurzurlaub weggefahren waren, sonst hätte sie sich jetzt eine Standpauke anhören dürfen. So jedoch, allein in dem neuen Haus, konnte sie frustriert die Türen knallen. Sie war wieder wütend. Vor allem auf sich selbst und dieses Gemäuer, dass sie so sehr in Panik versetzt hatte, dass ihre viel geliebte Logik sie einfach im Stich ließ.

Elsa riss die Tür zum Bad auf. Sie wollte sich erst einmal die Tränen vom Gesicht waschen, dann eine schöne heiße Dusche nehmen und danach in ihr Bett versinken und bis zum nächsten Mittag durchschlafen.

Das kühle Wasser war eine Wohltat für ihre gereizten Augen. Elsa stellte mit Erleichterung fest, dass sie auch fast nicht mehr zitterte. Sie griff nach einem Handtuch und trocknete ihr Gesicht. Dann sah sie in den Spiegel.

Und eine grinsende Fratze sah zurück.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Veranstalter der Yukon Anime- und Mangaconvention hatten einen Wettbewerb veranstaltet, in dem es um einen Platz in der Halloween-Ausgabe von 2013 ging. Ich habe einen der 13 Plätze für mich ergattern können und "Widerschein" war mein Beitrag für das Buch.

Kriterien: 5 Seiten A4
Thema: Horror/Halloween, Eigene Geschichte

Da es mein erster Ausflug in das Genre Horror war, war mein Anspruch an mich recht hoch. Und ich muss sagen, dass ich mit dem Ergebnis doch ziemlich zufrieden war. Komplett anzeigen

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