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Momentaufnahmen

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Fangschuss.


 

Fangschuss.
 


 

Ich sitze in einem Schwimmbad – es ist ausrangiert und das Wasser ist schon seit einigen Wochen grünlich. Vor ein paar Monaten haben hier noch Schulklassen ihren Schwimmunterricht absolviert, doch dann kam ein Gutachter aus Berlin und hat erhebliche Mängel in der Dachstatik festgestellt. Seitdem ist es außer Betrieb bis die Fehler behoben sind, was noch einige Monate dauern kann. Mir kommt es gelegen, denn ich habe eine Schwäche für verlassene, verwahrloste Orte. Mitten im Becken treibt eine rote Badehaube und in der Ecke zum Ausruhen liegt ein paar vergessener Badeschuhe.

Eigentlich habe ich hier nichts verloren, es hat mir auch keiner Einlass verschafft außer das unachtsam offen stehende Fenster im Heizungskeller. Vermutlich stammen Badekappe und Schuhe von nächtlichen Besuchern – Jugendlichen, die das noch nicht ganz gekippte Wasser ausnutzen um sich für ein paar Stunden von dem strengen Regiment ihres Elternhauses zu befreien. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn obwohl ich keine Eltern habe, vor denen ich flüchten muss, bin ich aus genau demselben Grund hier – Befreiung.

Nur, dass meine Befreiung keine symbolische Natur besitzt, sondern eher eine Entfesselung betrifft. Seit Monaten hatte ich mich im Griff und war nicht wütend geworden. Doch heute war einer dieser Tage, an denen ich den absoluten Tiefpunkt erreichte. Man hat mir gekündigt – nicht aufgrund mangelhafter Arbeit, sondern weil ihnen meine Nase nicht passte. Dieser Trend hatte sich schon seit Wochen abgezeichnet, weswegen ich mich bei meinem Entlassungsgespräch auch vorbereitet gefühlt habe. Trotzdem weiß ich nun nicht weiter. Für eine Frau ist es in diesen Zeiten schwierig, eine Arbeit zu kriegen. Männer werden eher noch eingestellt, eher noch besser bezahlt und ich bin auf mich allein gestellt. Ich habe keinen Ehemann, der mich aushalten kann als Gegenleistung für einen perfekten Haushalt.

Ich sitze am Beckenrand, habe meine Nylons ausgezogen und halte den Zeh ins Wasser – es ist eiskalt. Mein gutes braunes Kostüm ist eigentlich zu fein, um auf dem schmutzigen Boden zu sitzen, doch heute muss es mich nicht mehr kümmern. Mein Bruder ist vor zwei Wochen gefallen – in diesen Zeiten Söldner zu sein, in denen die Forschung nur darauf ausgerichtet ist, noch bessere Tötungsmethoden für die Rüstungsindustrie zu finden, ist gefährlich und ich habe ihm gesagt, was ich davon halte. Das muss ihn seinerseits nun nicht mehr kümmern. Er hat mir immer Geld gesendet, wenn er welches übrig hatte, weil er fand, es schickte sich nicht für mich, einer normalen Arbeit nachzugehen. In seiner Weltanschauung ist das etwas für Kommunisten, nichts für alten Adel. Doch die Titel kümmern heutzutage keinen mehr, keiner erstarrt vor Ehrfurcht. Ich bin in den Jahren dieses Jahrhunderts geboren, als Adel noch etwas bedeutete, in dem Jahr, in dem ich neunzehn Jahre alt wurde, das erste Mal auf eigenen Beinen stehen wollte, hat man es einfach abgeschafft.

Namen sind Schall und Rauch. Ich ziehe meine feinen Lederhandschuhe aus und nehme meinen braunen Sonntagshut ab. Wenn ich vor hätte, mich hier und jetzt zu ertränken, würde mich keiner hindern. Doch auch wenn ich es in meiner gesprungenen Badewanne tun wollte, gäbe es keinen in dieser Welt, der sich um meinen Leichnam kümmerte. Nichts davon möchte ich in diesem Moment tun. Viel lieber will ich brennen – in der Nähe von Wasser war es noch am sichersten, keinen irreparablen Schaden anzurichten. Ich ziehe mein Kostüm aus bis ich nackt wie Gott mich schuf, in der Schwimmhalle stehe. Weil ich meine guten Kleider noch brauche, bringe ich sie so weit weg wie möglich.

Das habe ich schon tausendmal gemacht, es ist das einzige Ventil, durch das der Druck gemindert wird und ich keine Gefahr für andere darstelle sowie unerkannt bleibe. Ich konzentriere mich auf den ganzen Schmerz, die ganze Enttäuschung und die ganze Wut, die ich in mir finden kann, dann merke ich ein heißes Kribbeln in den Fingerspitzen, als hielte ich sie nach einer Schneeballschlacht unter heißes Wasser.

Eine hellblaue Aura macht sich an meinen Händen zu schaffen, dann gewinnt es an Luft und geht in goldenes bis dunkelrotes Licht über. Es breitet sich aus auf die Arme, auf meinen Oberkörper, meine Haare, zuletzt die Beine, dann stehe ich in Flammen. Lichterloh brenne ich wie trockenes Holz im Jahrhundertsommer 1913. Es ist ein kalter Februartag, dieser Sommer liegt siebzehn Jahre zurück, ich habe nichts mehr zu verlieren außer mir selbst.



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