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Maybe

Geschichte einer Ersten Liebe
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel möchte ich euch Yuns Umfeld etwas näher bringen. Seinen Alltag und seine Freunde. Komplett anzeigen

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Navigation

Kapitel 2 Navigation
 

Um sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, sollte man gut navigieren, um nicht vom Weg abzukommen. Leider hatte mir niemand beigebracht, wie das funktioniert und so steuerte ich in jeden vermeintlichen Irrweg, den es gab. Angefangen im Alter von fünf Jahren, als ich auf einem Jahrmarkt in einem Spiegelkabinett den falschen Abzweig nahm und mir eine üble Beule an der Stirn zuzog, über die Mutprobe in der dritten Klasse, als es hieß, alle coolen Kids würden sich an dem Tau über den Graben schwingen, ich aber der erste und einzige war und mir dabei den Knöchel brach, was mich einen Buchstabierwettbewerb verpassen ließ, bis hin zur Klassenfahrt in der Achten, als alle Jungs die wollten, Madelaine Steiner für fünf Euro küssen durften, ich aber der einzige war, der zwar bezahlt hatte, sich aber nicht traute und somit der prüde Depp der Klasse war.

So zog sich der Rote Faden der Irrwege durch mein ganzes Leben. Und auch wenn ich denke, dass mein Leben sicher in vielerlei Hinsicht eine andere Wendung genommen hätte, bin ich doch, wenn es um meine Persönlichkeit geht, zufrieden, wie es jetzt ist.

Denn durch so eine Navigation in die Irre, habe ich meinen besten Freund gefunden. Raik Berger.

Es war Anfang der achten Klasse, als Raik von einer anderen Schule zu uns wechselte und den Platz neben mir in der Klasse bekam.

Ich war nicht der Einzige gewesen, den sein Auftreten irritiert hatte, denn er hatte einen Irokesenschnitt, blau-rot-schwarz gefärbtes Haar und sein Kleidungsstil war eine Mischung aus Gothic und Punk. Außerdem trug er Eyeliner, zupfte sich die Augenbrauen und trug einen neonblauen Federohrring.

Gütiger Gott, war mein erster Gedanke gewesen, als er sich neben mich gesetzt und mir offen ins Gesicht gestrahlt hatte.

Um uns herum hatte das Getuschel die Flüsterlautstärke deutlich überschritten und ich hörte Sätze wie: Guckt euch mal die Schwuchtel an; Aus welchem Comic ist der denn entsprungen. Oder: Neue Affen braucht das Land.

Zugegeben, auch ich hatte anfangs solche Gedanken gehabt. Doch obwohl die Beleidigungen über ihn nicht abreißen wollten, blieb er ganz locker, schien sich beinahe über die Aufmerksamkeit zu freuen und zwinkerte sogar einigen Leuten zu, die ihn eben noch als Schwuchtel betitelt hatten.

Vielleicht war er das ja sogar. Also… keine Schwuchtel, aber schwul? Ich hatte es damals nicht gewusst, aber ich lag mit meiner Vermutung so falsch, wie jeder andere in diesem Klassenzimmer.

Als sich die Situation wegen des beginnenden Unterrichts beruhigt hatte, kam ich nicht umhin, den Neuen neben mir zu beobachten. Er saß da, kippelte ab und an mit seinem Stuhl und kritzelte kleine komische Männchen in seinen Block.

Ab und zu fing er einen Blick von mir auf, was mich schnell wegsehen ließ, nur um ihn einige Minuten später wieder anzusehen.

Er übte eine Faszination auf mich aus, welche ich noch nie vorher erlebt hatte. Klar, ich hatte schon einige abgedrehte Menschen gesehen, wilde Punks oder Rocker, aber so einem Phantasievogel persönlich zu begegnen war Neuland für mich gewesen.

Irgendwann im Laufe der Stunde hatte er mir dann einen Zettel zugeschoben, den ich unter dem Tisch auseinanderfaltete und der mir den Atem verschlug.

>Mach ich dir Angst?< stand darauf geschrieben und tatsächlich bereitete mir die Direktheit dieser Frage Unbehagen.

>Wieso?< stellte ich die Gegenfrage.

>Weil du mich anstarrst, als wäre ich ein Psychopath<, kam die direkte Anspielung auf meine Blicke.

>Bist du einer?< Ehrlich währt am längsten.

Als er den Zettel las, lachte er lauthals auf, worauf hin er noch in der ersten Stunde eine Ermahnung von der Lehrerin erhielt. Dennoch landete der Zettel einige Sekunden später wieder bei mir.

>Eher nicht. Versuch´s nochmal.<

>Bist du schwul?< Ich war nicht sicher, ob es angemessen war, jemanden, mit dem man noch nicht einmal ein Wort gewechselt hatte, so etwas zu fragen, aber er hatte es ja herausgefordert.

>Hättest du das gern?< Stellte er nun seinerseits die Gegenfrage und als ich ihm einen irritieren Blick zuwarf konnte ich sehen, wie ein kleines Grinsen seine Lippen umspielte.

>Bloß nicht!< War meine spontane Antwort, wobei ich damals noch nicht wusste, dass auch diese einen Irrweg in mein Leben zeichnen sollte.

>Nun mal nicht gleich so abweisend.< stand auf dem Zettel, der nun wieder bei mir gelandet war. >Aber zu deiner Beruhigung… Ich bin nicht schwul.<

Ich atmete durch. Dann war das also geklärt. Trotzdem war nicht noch immer nicht schlauer. >Was bist du dann?<

Raik hatte den Zettel zu meiner Verwunderung zusammengeknüllt, nachdem er ihn gelesen hatte, hatte sich ganz nahe zu mir gebeugt und geflüstert: „Na einfach ich.“

Ab diesem Tag an hatte Raik meine ganze Bewunderung. Er ließ sich nicht einschüchtern von dem Gerede anderer Mensch und war einfach so, wie er sein wollte.

Jedenfalls dachte ich das, denn im Laufe der Zeit merkte ich, dass nicht alles so echt hinter der Fassade war, die er so krampfhaft aufrecht zu erhalten versuchte. Es hatten nämlich nicht alle diese Bewunderung für seine Selbstdarstellung übrig für ihn, wie ich. Eigentlich hatte das außer mir niemand. Überall wo er auftauchte, tuschelten die Schüler über ihn. Meistens hinter vorgehaltener Hand, manchmal auch ganz offen und je länger er die Schule besuchte, desto mehr wurde er zum Freak von ihr. Er galt als Sonderling, Tunte und Angeber.

Tatsächlich war Raik nichts von diesen Dingen.

Er tat stets so, als würden ihn dieses Gerade nicht interessieren, stachelte die Schüler mit extra schwulem Gehabe manchmal sogar noch an, aber wenn ich ihn nach einer überstandenen Konfrontation ansah, ihm in die leuchtenden grünen Augen schaute, konnte ich ihm sehr wohl die Enttäuschung und den Schmerz ansehen, die ihm gerade zugefügt worden waren. Und wenn er meinen Blick dann auffing, mit diesem gespieltem starken Lächeln, konnte ich die Frage in seinem Gesicht ablesen: Warum gibst du dich eigentlich noch mit mir ab?

Und da sind wir bei einer Fehlnavigation, die mein Leben veränderte. Warum gab ich mich mit ihm ab? Jeder andere hielt sich fern von ihm, nur ich nicht. Es wäre einfach gewesen auf den Zettel zu schreiben Was bist du denn für einer, lass mich in Ruhe. Vielleicht wäre mein Weg dann anders verlaufen. Raik hätte mich nicht in eine Sonderling-Stellung gebracht, weil die Tatsache, dass ich mit ihm rumhing, seine Unbeliebtheit auch auf mich übertrug. Ich hätte ein Normalo in den anderen Augen der Schüler bleiben können, hätte vielleicht sogar mal ein Mädchen abgekriegt und mehr Freunde bekommen. Also warum ließ ich mich von ihm mitziehen?

Die ehrliche Antwort ist: Ich mochte ihn ganz einfach.

Raik war auf seine eigene Weise unkompliziert, war lustig, konnte ausschweifende Geschichten erzählen und er war irgendwie auch wie ich. Durchschnittlich. Ohne hohe Erwartungen. Einfach er selbst. Deswegen war ich gern bei ihm.

Und immer wenn in ihm diese kleinen Zweifel an meiner Freundschaft aufzukeimen schienen, lächelte ich ihn an, legte meinen Arm um seine Schulter und sagte: „Muninoshinnyuu.“

Da schmunzelte er, knuffte mir in die Schulter und sagte: „Sayou.“

Dies war zu einem kleinen Ritual zwischen uns geworden, was übersetzt so viel heißt wie >bester Freund< und >allerdings<. Für Raik und mich war das etwas Besonderes, denn ich redete nie mit jemandem auf Japanisch, außer mit meinen Verwandten. Warum? Einfacher Grund. Als ich noch jünger war wollte ständig irgendjemand aus meinem Umfeld etwas Japanisches von mir hören, doch immer wenn ich was in meiner zweiten Muttersprache sagte, bekam ich nur Spott ab. Es würde sich so bescheuert anhören und das wäre doch keine normale Sprache. Seitdem habe ich tunlichst vermieden, jemandem meine japanischen Wurzeln zu offerieren.

Bei Raik jedoch war das anders. Er selbst hatte mich eines Tages in einem, zugegeben, etwas holprigem Japanisch begrüßt und mir eröffnet, er würde jetzt meine Sprache lernen, um ungestört über die Idioten in unserer Schule lästern zu können.

Gut, es war vielleicht kein besonders guter Beweggrund, aber ich freute mich darüber und ab diesem Tage an erzählte er mir jeden Morgen auf dem Weg zu Schule, was er am vergangen Tag gelernt hatte und inzwischen konnten wir sogar kleine Gespräche führen.

All diese kleinen Gesten und Vorkommnisse machten Raik und mich zu besten Freunden und sollte diese Freundschaft ein Irrweg sein, dann hatte ich ziemlich gut navigiert.
 

An jenem Morgen, nach dem Streit mit meinem Vater, machte ich mich früher als geplant auf den Weg zu Schule. Unsere Eigentumswohnung lag direkt in der Altstadt von Stralsund, der Hansestadt hoch im Nordosten, deren einzige Brückenverbindung zur Insel Rügen jedes Jahr tausende von Tauristen durch sie hindurch trieb. Trotz des kühlen Sommers, war es in diesem Jahr nicht anders und deshalb liebte ich die wenigen Stunden am Morgen, in den die kleinen gepflasterten Gassen noch ruhig waren und nur die Bäckereien schon ihre Ladenpforten geöffnet hatten. Direkt gegenüber unserer Wohnung am Alten Markt lag das Rathaus, was mit seinen vielen gotischen Rundbögen und Spitzen noch ganz verträumt aussah in dem leichten Morgennebel, der es umgab und welcher die Stadt durchzog, als wolle er sie unter seiner schützende Decke noch nicht ganz preisgeben, für den Tag, der mit lärmenden Menschen und brummenden Autos stätig näher rückte.

Nach meinem Schlüssel kramend ging ich zu meinem Fahrrad, entriegelte das Schloss und schwang mich auf den Sattel. Einen Moment noch atmete ich die kühle Morgenluft ein, um mich für den Trubel in der Schule zu wappnen, und radelte los.

Zwei Querstraßen weiter traf ich auf Raik, der mich mit einem irritierten Blick musterte, auf seine Uhr schaute und dann wieder zu mir. „Bin ich zu spät?“, war seine erste Frage und kontrollierte nochmals die Uhrzeit.

„Morgen erst mal“, entgegnete ich ihm. „Nein, du bist nicht zu spät. Ich bin nur zu früh.“

Raik musste wohl den gedrungenen Unterton in meiner Stimme bemerkt haben, denn er fragte sofort: „Is was passiert?“

Ich zuckte mit den Schultern und erzählte ihm von dem Streit.

„Ach Scheiße“, konnte er dazu nur sagen, schob sein Rad etwas dichter und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Geht´s?“

„Ja klar“, antwortete ich und versuchte ein Lächeln. „Ist ja nicht das erste Mal. War aber schon heftig und wenn ich bedenke, was jetzt in der Schule abgeht…“

„Null Bock. Is klar. Ich uch nich“, sagte er, verschränkte die Arme über dem Lenker seines Rades und stützte den Kopf darauf.

„Auch, heißt das“, korrigierte ich ihn automatisch, denn ich muss erwähnen, dass ich, aufgewachsen mit zwei Sprachen, ein perfektes Hochdeutsch sprach, Raik dagegen diesen typischen Dialekt an sich hatte, der alle Wörter in die Länge zog und hier und da gerne mal einen Buchstaben wegließ.

„Mecker nich“, konterte er. „Eigentlich sollte ich dich mit dei´m adäquaten Gequatsche verbessern.“

Wir mussten beide lachen. „Adäquat? Wo hast du denn das her?“, fragte ich grinsend, woraufhin Raik nur abwinkte.

Er richtete sich auf und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in welcher der Stralsunder Bodden lag. „Also was is jetz?“, fragte er. „Mach´n wir blau, oder was? Wir fahr´n zum Hafen, kaufen uns was zu Futtern und spielen >ich sehe ein Haus, das du nicht siehst<. “

Nur zur Erklärung. >Ich sehe ein Haus, das du nicht siehst< ist ein Spiel, das Raik und mir mal in einer unnützen Minute eingefallen war, als wir am Hafen vor dem Ozeaneum saßen und uns langweilig war. Raik war auf die Idee gekommen, das Spiel >ich sehe was, was du nicht siehst< auf die Häuser der Stadt Alte Fähr´ zu übertragen, welche direkt auf der anderen Seite des Boddens, auf der Insel Rügen, ein wunderschönes Panorama bildete.

Bei dem Spiel beschrieb einer ein Haus von Alte Fähr´ und der andere musste erraten, welches es ist, indem er ein weiteres Merkmal des Hauses nannte. So ließ sich wunderbar die Zeit vertrödeln.

Resigniert atmete ich durch. So gern ich würde, es ging nicht. Nicht am ersten Tag und außerdem war mir mein Abschluss tatsächlich sehr wichtig.

Ohne auf seine Frage einzugehen trat ich aufs Pedal. „Na los. Sonst kommen wir zu spät.“
 

Angekommen in der Schule bot sich mir das erwartete Bild. Massen von Schülern, die in das Gebäude strömten und von denen man den Eindruck hatte, jeder von ihnen hätte Angst, zu spät zu kommen. Dabei waren es bis zu Stundenbeginn noch etwas mehr als zehn Minuten.

„Auf in die Höhle des Löwen“, meinte ich zu Raik, als wir unsere Räder anschlossen und uns mit dem Strom von Schülern treiben ließen.

Im Schulgebäude war es nicht anders als draußen. Umherirrende Fünftklässler, die von der Grund- auf die Realschule gekommen waren, hatten sich in kleinen Gruppen zusammengerottet, um den Anhang nicht zu verlieren. Immer in der Hoffnung, irgendeiner von ihnen wüsste schon, wo es langging.

Dazu kamen die Neuntklässler. Zu hochnäsig um den Jüngeren zu helfen und zu eingeschüchtert, um sich noch auf dem Schulhof bei den meisten Zehntklässlern aufzuhalten. Wobei wir auch schon bei meiner Zielgruppe angekommen waren.

Die Mehrheit fand sich jetzt natürlich ganz besonders wichtig, denn sie waren ja schließlich Abschlussschüler. Über ihnen stand niemand mehr und jeder, der meinte sich mit ihnen abgeben zu dürfen, konnte sich glücklich schätzen.

Dies war natürlich nur meine Sicht der Dinge. In den Augen der jeweils Betreffenden stellte sich die Situation sicherlich anders dar. Da waren Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, neue Bekanntschaften, die sich schlossen und das vorsichtige Abtasten neuer Schüler, die von anderen Schulen gewechselt hatten. Von diesen Szenarien allerdings waren Raik und ich weit entfernt.

Mit Mühe kämpften wir uns zum Schwarzen Brett, welches die Klassenaufteilung und die jeweiligen Klassenräume beherbergte und erkannten mit Erleichterung, dass man uns auch im letzten Jahr nicht getrennt hatte.

Gerade als wir uns einen Überblick verschafft hatten, drängten auch schon andere Schüler von hinten nach, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen.

Es gab für mich wohl kaum eine unangenehmere Situation. Ich hasste solche Menschenansammlungen und versuchte tunlichst, ihnen aus dem Weg zu gehen. Zu oft hatte ich in der letzten Zeit Bilder von kollabierenden Menschen gesehen, die in solcher Enge in Panik geraten waren. Natürlich war dieser Auflauf von Schülern kaum damit zu vergleichen, aber wohl fühlte ich mich dennoch nicht.

Raik packte mich am Arm und zog mich an eine etwas weniger beengte Stelle.

„Woll´n wir noch kurz raus, oder willste gleich zu Raum 3?“, fragte er, in seinem Rucksack kramend und vermied es, mich anzusehen. Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte.

„Wenn du noch eine Rauchen willst, sag das doch einfach“, entgegnete ich ihm ungehalten.

Seit etwa drei Wochen hatte Raik nämlich das Rauchen für sich entdeckt. Ich fragte mich, warum er so plötzlich zur Zigarette gegriffen hatte, konnte mir den Grund aber durchaus selber zusammenreimen. Ab der Zehnten durften die Schüler vor dem Schulgelände rauchen. Das Ganze war ein Sehen und gesehen werden und selbstverständlich war es wesentlich angesagter, vor dem Schulhof zu stehen, als darauf, mit all den anderen. Ich hielt das einfach nur für dumm, doch Raik wollte offensichtlich dazugehören, so wie er auch bei vielen anderen Dingen Aufmerksamkeit zu bekommen versuchte, die ihm zu Hause verwehrt blieb.

Wiederwillig folgte ich ihm vor den Schulhof und begegnete dort einigen bekannten Gesichtern, die mich zwar grüßten, Raik jedoch wie Luft behandelten. Mein Ruf war eben nicht so angekratzt wie seiner.

Höflich lächelnd schlängelte ich mich durch die einzelnen Grüppchen von Schülern, bis wir an einer etwas abgelegenen Stelle Platz gefunden hatten.

Ich merkte genau, wie Raik sich umsah, als er sich eine Zigarette anzündete in der Hoffnung, jemand würde ihn registrieren.

„Seit wann rauchst du denn bitte?!“, kam tatsächlich die Frage, aber von jemandem, den wir beide erwartet hatten.

Nicky, die eigentlich Nikoletta hieß, ihren Namen aber verabscheute, hatte sich unbemerkt zu uns gesellt und tadelte Raik nun vorwurfsvoll.

Raik zuckte nichtssagend mit den Schultern, wovon sich Nicky jedoch wenig beeindruckt zeigte und ihm die Kippe kurzerhand aus dem Mund nahm und sie austrat. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„EY“, protestierte Raik augenblicklich, doch unter Nickys strengem Blick wurde er sofort wieder still.

„Du spinnst doch wohl“, schimpfte sie. „Du musst nun wirklich nicht auch noch zu den Idioten gehören, die sich ihre Gesundheit versauen.“

Wie von Nicky nicht anders zu erwarten, hielt sie sofort einen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens und was Raik alternativ machen könnte um sich von Langerweile ablenken zu lassen. Das es dabei nicht um pure Langeweile ging, war ihr nicht klar. Denn sie kannte Raik und mich noch nicht lang genug um zu wissen, dass mehr dahinter steckte.

Wir hatten Nicky erst vor kurzem richtig kennengelernt. Bekannt war sie uns schon seit Jahren, aber zu einer näheren Begegnung war es erst vor etwa fünf Wochen gekommen.

Es war einer der seltenen sonnigen Tage des Sommers gewesen. Den ganzen Tag hatten Raik und ich am Bodden verbracht, uns in einem Café an der Promenade die Zeit vertrieben, bis wir uns am Abend schließlich auf den Heimweg gemacht hatten. Auf einer kleinen Brücke, die vom Hafen in die Stadt führte, war uns Nicky dann quasi in die Arme gelaufen. Sie schob ihr Fahrrad neben sich und fingerte dabei immer wieder an der Kette herum, die ihr offenbar abgesprungen war.

Wir hatten sie sofort erkannt, denn Nicky war niemand, den man so einfach übersah. Sie war das hübscheste Mädchen an der Schule, hatte dutzende Verehrer und war bei jedem Sportfest ganz vorn mit dabei. Zudem schnitt sie auch bei den Prüfungen immer als eine der Besten ab. Sie schien durch und durch perfekt und gerade deshalb passte es nicht zu ihr, dass sie in diesem Moment vor sich hin fluchte.

„Kann man helfen?“, hatte ich spontan gefragt, wobei mich Raik entsetzt ansah. Offensichtlich war er der Meinung, dass man ein Mädchen wie Nicky nicht so einfach ansprechen durfte. Diese hingegen hatte mich zwar leicht verunsichert, aber auch erleichtert angesehen und genickt.

„Meine Kette ist ab“, hatte sie gesagt „Und ich muss noch ein ganzes Stück fahren. Ich wollte bei dem Bootsanleger da um Hilfe bitten.“

„Ich sehe es mir mal an“, bot ich an und erhielt ihre Zustimmung.

Ihr herzliches Dankeschön war echt, als die Kette repariert war, doch dann standen wir uns etwas verhalten gegenüber. Offenbar hatten wir uns nichts mehr zu sagen und ihr Blick auf die Uhr signalisierte mir, dass sie weiter wollte.

„Vielleicht sieht man sich“, sagte sie schließlich, wohl mit dem Gedanken, dass es nicht so sein würde.

„Ganz sicher sieht man sich. Wir gehen auf die gleiche Schule, Prinzeschen“, hatte Raik sich seinen Kommentar nicht verkneifen können.

Nicky hatte ihn wütend angesehen und plötzlich war die Luft wie aufgeladen.

„Wie hast du mich genannt?“, fuhr sie ihn an.

„Wow…“, Raik hob entwaffnend die Hände. „Bleib ma ganz ruhig. Ich hab dich nur genannt, wie alle es tun. Wo is dein Problem?“

„Mein Problem ist“, giftete Nicky, „dass du gar nichts von mir weist, und mich trotzdem als Prinzeschen beschimpfst. Ich nenne dich ja auch nicht einfach Schwuchtel, nur weil alle anderen es sagen.“

Das hatte gesessen. Raik blieb der Mund offen stehen und ich kam nicht umhin Nicky innerlich zu applaudieren.

„Da sagst du nichts mehr, was?“ Mit diesem Satz schien dann jedoch alle Anspannung von ihr abgefallen zu sein. Sie wusste, sie hatte gewonnen.

„Sorry“, mehr hatte Raik nicht zu sagen. Beschämende Stillte trat ein.

„Kommst du dann klar?“, war ich es, der der Situation einen Abschluss bereiten wollte. Keiner von uns wusste noch, etwas mit dem Anderen anzufangen. Werder wir mit dem „Prinzeschen“, noch sie mit den beiden „Freaks“.

„Also dann…“, verabschiedete ich mich und wollte mit Raik schon unseren Weg fortsetzen, als Nicky uns aufhielt. „Ich bin Nikoletta, aber wenn ihr mich auch nur einmal so nennt, muss ich euch umbringen“, hatte sie plötzlich gesagt und grinste uns schräg an. „Nicky reicht völlig.“

Raik sah mich an und ich wusste, wir beide dachten das gleiche. Nicky war offenbar doch nicht so oberflächlich, wie wir angenommen hatten und in den folgenden fünf Wochen sollten wir feststellen, dass sie alles andere, als ein Prinzeschen war.

Irgendwann im Laufe der Zeit hatte ich Nicky bei einem Ausflug nach Binz mal gefragt, warum sie uns nicht einfach hatte gehen lassen. Woraufhin sie antwortete: Du warst der erste, der mich nicht gleich angemacht hat.

So wurde aus dem Duo ein Trio. Das Kuriose war, dass es Nickys Beliebtheit an der Schule, trotz des Kontaktes zu uns, keinen Abbruch tat. Warum auch immer. Sie war gefragt wie eh und je und ich kam zu dem Schluss, dass man einem Prinzeschen einfach jeden vermeintlichen Fehler verzieh. Ob sie es nun darauf anlegte, oder nicht.

Auch Nicky navigierte den Weg ihres Lebens meisterlich. Oberflächlich in die eine, tief im Herzen aber in die andere, in unsere Richtung.
 

Kurz vor halb drei läutete die Schulglocke, die wie Big Ben klang, zum Unterrichtsende. Wie am Morgen, nur in umgekehrter Weise, drängten die Schüler aus den Klassenräumen, über erste Hausaufgaben schimpfend und sich für den Nachmittag verabredend.

Raik und ich waren da nicht anders. Schon in der ersten Stunde hatte man uns mit Mathematik gequält, worauf Chemie folgte und zu allem Überfluss auch noch Geographie. Alle meine Lieblingsfächer an einem Tag, na dann hurra.

Am Anfang jeder ersten Stunde hatte man uns einen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig das letzte Jahr war und dass es jetzt keine Entschuldigungen für unangemeldetes Fehlen oder vergessene Hausaufgaben gab. Bla bla bla.

Einziger Lichtblick war die fünfte Stunde Musik gewesen. Frau Dehler war mit Abstand meine Lieblingslehrerin, weil man mit ihr auch auf menschlicher Ebene gut zurechtkam. Außerdem war sie es gewesen, die mich im Alter von elf Jahren zum Spielen eines Instruments ermutigt hatte. Akustikgitarre. Die bisher beste Entscheidung meines Lebens.

Frau Dehler hatte mir geduldig Unterricht gegeben, mich sogar mal an eine Band vermittelt, aber da ich nicht gerade ein kontaktfreudiger Mensch bin, hatte sich diese Sache schneller erledigt, als mir lieb gewesen war.

Meiner Liebe zur Musik hatte es dennoch keinen Abbruch getan und so war es auch Frau Dehler die mich ermutigt hatte, indem sie mir sagte: „Mädchen mögen sowieso viel lieber Sologitarristen, die ihnen etwas vorspielen.“

Ich weiß noch genau wie ich damals rot angelaufen war und mir insgeheim wünschte, sie wäre dieses Mädchen.

Von meiner Schwärmerei für sie hatte ich Frau Dehler nie erzählt. Ich war ja auch noch zu jung gewesen und inzwischen war ich reifer und klüger. Außerdem hatte sie wenig später geheiratet.
 

Etwas abseits von Schulgelände hatten wir uns mit Nicky verabredet. Sie ging in unsere Parallelklasse und da wir wussten, dass sie sich sicher noch mit einigen Freunden über den ersten Schultag austauschen würde, hatten wir uns auf eine längere Wartezeit eingestellt.

Ablenkung kam für Raik und mich jedoch schneller als gedacht. In Form eines jungen Mädchens, das nun geradewegs auf uns zusteuerte. Ihr zusammengebundenes, braunes Haar wippte im Takt ihrer Schritte.

Raik und ich kannten sie nicht. Umso merkwürdiger kam sie uns vor. Offensichtlich hatte sie noch nicht mitbekommen, dass man es vermied, sich mit uns abzugeben.

„Hey Jungs“, sprach sie uns an und wirkte verschüchtert. „Könnt ihr mir sagen, wann der Bus nach Grünhufe fährt?“

Raik sah mich fragend an. Busfahrpläne gab es hier überall. Ein Blick hätte genügt.

Die dunkelbraunen Augen des Mädchens fixierten mich, als würde nur ich ihr die Antwort geben können. Leider wusste ich sie nicht, denn als Fahrradfahrer, hatte ich mit den Bussen wenig am Hut.

„Sorry, aber…“, setzte ich an, als Raik mich unterbrach.

„Kleine“, sagte er, „Wenn de inner Lage bist, deine Füße und Aug´n zu benutz´n, gehste fluks zum nächst´n Fahrplan und guckst nach.“

„Wie bitte?“ Das Mädchen sah uns an, als hätte sie nicht richtig gehört und auch ich hatte den Eindruck im falschen Film zu sein. Was sollte denn das? Ohne dass ich etwas auf Raiks unpassende Abfuhr sagen konnte, stammelte das Mädchen eine Entschuldigung, dass sie uns gestört hatte und machte auf dem Absatz kehrt. Ich meinte jedoch, ein Lächeln von ihr für mich aufgefangen zu haben.

Nachdem sie verschwunden war, stieß ich Raik mit dem Ellenbogen in die Rippen, woraufhin er einen jammernden Laut ausstieß. „Bist du nicht ganz ordentlich?“, fragte ich ihn vorwurfsvoll. „Wieso verjagst du sie denn?“

Raik sah mich an, als müsse er mir etwas erklären. „Glaub mir“, antwortete er. „Diese jung´ Hühner such´n nur jemand´n ausser Oberstufe, mit dem se sich präsentier´n könn´. Das is jedes Jahr am Schulanfang das Gleiche.“

Ich sah ihn fragend an.

„Ich bitte dich“, fuhr er fort und rieb sich die Rippen. „Sie hätte ganz einfach den Fahrplan les´n könn´, oder jemand´n aus ihrer Klasse frag´n. Aber was macht se? Sie läuft zu den erst besten beid´n Typ´n die ausseh´n, als wär´n se ausser Zehnt´n.“

Mir war das etwas zu weit hergeholt. Vielleicht kannte sie sich wirklich nicht aus. Und das ich damit richtig, als auch falsch lag, erklärte mir Nicky, die einige Minuten später zu uns stieß und der Raik natürlich gleich von der Kleinen erzählen musste.

Zu meiner Irritation hatte Nicky die ganze Zeit unentwegt in meine Richtung gegrinst, was mich annehmen ließ, dass sie mehr wusste, als wir.

Und so war es. Nicky erzählte uns, dass das Mädchen Mia hieß, fünfzehn Jahre alt war und vom Gymnasium auf unsere Schule gewechselt war. Mias Schwester ging mit Nicky in eine Klasse und während der Pause war die kleine sofort zur großen Schwester geeilt und hatte ihr von dem süßen Asiaten erzählt, den sie entdeckt hatte.

Nicky meinte, dass sie zweifelsohne von mir gesprochen hatte, weil ich der einzige Asiat in der Oberstufe war.

Eigentlich hätte ich geschmeichelt sein müssen, dass sich ein Mädchen für mich interessierte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, wie Nicky mit offenbarte, dass Mia einen Fable für alles asiatisch, oder vielmehr, japanisch angehauchte hatte. Die Kleine war nämlich ein Manga-Fan und somit zog sie alles, was auch nur im entferntesten japanisch aussah, magisch an.

Das ich tatsächlich Halbjapaner war, hatte Mia von Nicky erfahren und schon war es um sie geschehen.

Mit anderen Worten, ich wäre so etwas wie ein hübsches Schmuckstück für sie gewesen.

Als Nicky ihre Erzählung beendet hatte, war ich enttäuscht und Raik konnte sich vor Lachen kaum halten.

„Ich schwör ´s dir“, feixte er. „Die Kleine wirste nich mehr los.“

„Acht halt die Klappe“, fuhr ich meinen besten Freund an.

„Na na“, entgegnete er und versuchte sich zu beruhigen. „Ganz ehrlich? Eigentlich war se ganz süß. Is zwar ungewöhnlich, aber wenn de nich ihr Freund sein willst, dann vielleicht ihr Assessoir.“

Nun konnte auch Nicky ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. Ich kam mir ja auch so nicht genug wie ein Vollidiot vor.

„Baka Idiot“, zischte ich Raik an und ärgerte mich am meisten darüber, dass ich mich so ärgern ließ. „Ich hab keine Zeit für so einen Mist.“

„Die hast du tatsächlich nicht“, kam es daraufhin von Nicky trocken und auch Raik schien plötzlich ganz ernst.

Überrascht von ihrer Einsicht, wollte ich mich schon bedanken, doch Nicky sah mich eindringlich an.

„Im erst, Yun. Wie spät ist es jetzt? Kurz vor Drei? Wolltest du nicht um halb vier mit deinen Eltern Satoshi vom Bahnhof abholen?“

Mir wurde plötzlich ganz anders. Sie hatte Recht. Hecktisch sah ich auf meine Armbanduhr und die zeigte mir, dass ich noch dreiunddreißig Minuten hatte, um von der Schule zum Bahnhof zu kommen.

Über den Ärger mit meinem Vater heute Morgen und den Trubel in der Schule, hatte völlig vergessen, dass mein älterer Bruder heute von seinem Auslandssemerster aus Amerika zurückkehrte und um halb vier sollte sein ICE den Bahnhof von Stralsund erreichen.

Bei dem Gedanken daran, Satoshi nach sechs Monaten wieder gegenüberzustehen, wünschte ich mir, Nicky hätte mich nicht daran erinnert.

Sowohl Nicky selbst, als auch Raik schienen meine Gedanken erraten zu haben, denn beide fragten fast gleichzeitig: „Du fährst doch hin?“

Ich schaute von einem zum anderen und wusste keine Antwort. Auf der einen Seite hielt ich es für meine Pflicht, Satoshi abzuholen, auf der anderen dachte ich mir, dass er die paar Minuten vom Bahnhof zu unserer Wohnung schon noch ohne mich aushalten würde. Allerdings wusste ich auch, dass sich der Graben zwischen mir und meinen Eltern noch weiter auftun würde, sollte ich nicht in nun mehr einunddreißig Minuten am Bahnsteig stehen.

„Ach verdammt“, fluchte ich und drückte Raik meinen Rucksack in die Arme.

Nicky schenkte mir eine Umarmung. „Ich weiß“, seufzte sie und gab mich mit einem aufmunternden Lächeln wieder frei.

„Du schaffst das schon, Alter“, versuchte auch Raik mir Mut zuzusprechen. Und den brauchte ich auch. Die baldige Begegnung mit Satoshi ließ meinen Magen Achterbahn fahren.



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