Zum Inhalt der Seite

Die zwei Models

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Nach außen hin anders und doch gleich

Yakino

„Ya-Ki-No!“, rief mich mein Zwillingsbruder nun zum gefühltem hundertstem Mal. Wieder lag ich einfach nur auf meinem Bett, starrte die blankweiße Decke an und fühlte mich leer. Nach einem ganzem Jahr ohne eine Nachricht von ihm, verwelkte ich wie eine Blume ohne Licht. Wieso hatte er sich nicht gemeldet? Ich malte mir die grausamsten Dinge aus, und mich stürzte jede weitere Wiederholung noch tiefer in den Graben von Zweifeln, aus dem ich allein nicht rauskommen konnte.

Ein lautes Knallen riss mich kurzweilig aus meinen düsteren Gedanken. Ich hob meinen Kopf in die Richtung, aus der der Knall gekommen war, und sah Yamino im Türrahmen. Er schien aus der Puste zu sein, jedenfalls wirkte er nicht besonders fit. Sofort überfiel mich Reue, doch gleichzeitig zerrte es in meiner Herzgegend schmerzhaft. Dieses Zerren war kurz nachdem er mich verlassen hatte zu einem Dauerzustand geworden.

Mit einem schwerfälligem Plumpsen landete mein Kopf wieder auf dem Kissen.

„Manno, Yakino!“ Yamino zog die Decke, unter die ich mich schon sehr lange verkrochen hatte, weg und warf sie achtlos gegen die Wand. Nun ohne eine Decke, die mich vor dem fröhlichem Sonnenschein schützen konnte, verkroch ich mich von meinem Bett in die lichtloseste Ecke meines Zimmers.

„Das geht doch so nicht weiter! Komm jetzt doch endlich mal raus! Bitte!“ Er klang bittend, flehend und verzweifelt. Er war mit seinem Wissen am Ende.

Doch ich wusste es auch nicht. Mein Herz war ein dunkles, dunkles Loch, welches nur durch eine Person geflickt werden konnte.

Aber diese Person hatte sich seit nun mehr als einem Jahr nicht mehr gemeldet.

„Ich hörte, da will jemand nicht zu Potte kommen?“, fragte eine dritte Stimme scherzhaft ernst, ich erkannte sie sofort. Ruckartig stand ich aufrecht von meiner Ecke auf und betrachtete meinen im Türrahmen stehenden Vater.

„Papa!“, rief Yamino, er war ebenfalls überrascht. Unser Vater war eigentlich immer irgendwo in der Welt unterwegs, wir sahen ihn sehr selten. Wenn er uns dann mal besuchen kam, wussten wir nicht, wann und wie lange. Ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob man das schlechte Organisation oder Überraschungseffekt nennen sollte.

„Was machst du denn hier?“ Meine Stimme hatte sehr, sehr leise gefragt. Da ich mich nicht viel bewegt hatte, war ich in einem eher mangelhaftem Zustand. Ich wusch mich zwar regelmäßig, doch das half nicht viel gegen meine roten und verquollenen Augen, aus denen in schier endloser Zahl neue Tränen tropften und meine so schon nassen Wangen benetzten. Dunkle Ringe des Schlafmangels hatten sich um meine Augen gelegt, meine Haut wirkte merkwürdig bleich durch das mangelnde Sonnenlicht.

Unser Vater hatte mich gerade eine Sekunde angeguckt, ehe er auch schon mit großen Schritten zu mir kam. Besorgt wuschelte er meine Haare ordentlich und strich mir die Tränen, die trotz meiner Freude, dass er endlich wieder mal hier war, nicht aufhören wollten zu tröpfeln. „Was ist passiert, Yakino?“ Sein Blick war direkt und ich versuchte ihm auszuweichen, doch er zwang mich mit sanftem, bestimmtem Druck, ihm in die Augen zu sehen.

„Ähm... Nichts?“, wich ich aus.

„Nichts? Das glaubst du wohl selbst nicht!“ Er schien aufgebracht zu sein, doch ich wollte es nicht erzählen. Es war mir dann doch zu peinlich...

„Yamino, los, erzähl!“

„Nein!“, rief ich und startete einen Befreiungsversuch, um Yamino zum Schweigen zu bringen, aber unser Vater, Fujitsu Hiyoki, hatte mich fest im Griff, ich konnte mich nicht bewegen.

„Tschuldige, Yakino, aber ich denke, dass Papa es wissen sollte“, entschuldigte Yamino sich, bevor er zu erzählen anfing. Ich wollte ihn noch anschreien, dass er es nicht tun sollte, aber Vater hielt mir meinen Mund zu. „Vor so ziemlich einem Jahr haben Yakino und James Jahrestag gefeiert und sind in aller Frühe irgendwohin gefahren, wohin weiß ich nicht. Als er dann gegen Abend wieder nach Hause kam, blies er Trübsal und ich hatte keine Ahnung wieso. Er hat mir den Grund zwar nie erzählt, aber in den Nachrichten kam ja, dass James' Vater gestorben ist. James selbst hat sich bei uns nicht mehr gemeldet.“

Vaters Gesicht wurde besorgt. Sehr besorgt sogar. Und auch irgendwie enttäuscht, wobei ich nicht dachte, dass er so schaute, weil die Geschichte so unspektakulär war.

Vater nickte eine Weile lang still vor sich hin, bevor er in einer verzweifelten Geste seine Hände in die Luft warf: „Okay, ich habe keine Ahnung, wie ich dich aufmuntern könnte, also schlag du etwas vor!“

„Ich?“

„Ja, du! Du kannst ja nicht den Rest deines Lebens Trübsal blasen.“

Ich überlegte. Jetzt, da Vater endlich mal wieder hier war, fühlte ich mich gleich geborgener und besser. Doch egal, wie lange ich auch nachdachte, mir fiel nichts Wirkliches ein. Ich wollte James gerne sehen, doch wie sollte ich es anstellen? Direkt zu ihm zu gehen konnte ich nicht, ich wollte nicht aufdringlich wirken, auch wenn ich ihn unbedingt sehen wollte.

Warte mal... Er betrieb, da er keine weiteren Geschwister hatte, selbst die Agentur, oder? Vielleicht könnte ich...

„... mich verkleiden und in die Agentur einschleichen?“, sprach ich aus Versehen meinen letzten Gedanken laut aus. Yamino und Vater sahen mich nachdenklich an.

„Wenn es dir hilft...“, murmelte Vater, er schien ernsthaft darüber zu grübeln.

„Wir können ihn nicht allein schicken...Sollte ich mitkommen?“, murmelte nun auch Yamino.

Jetzt schmiedeten sie schon Pläne ohne mich...
 

Wenige Minuten später war es beschlossene Sache, dass ich und Yamino - alleine ließen sie mich nicht – uns als Mädchen verkleidet – sie meinten, eine einfache Verkleidung als Junge reichte nicht – uns in der JulyShine-Agentur als Zwillingsmodels – damit wir immer zusammen waren – bewerben sollten.

Der Plan war, so betrachtet, ziemlich sicher, aber ich hatte immer noch meine Zweifel, auch wenn es mehr oder weniger meine Idee war.

„Am besten suchen wir uns noch neue Namen, oder? Damit man den Schwindel nicht so schnell bemerkt“, fügte Yamino erklärend zu seinem Vorschlag hinzu.

„Ja, besser wäre es wohl...“ Ich verschränkte die Arme und sah nachdenklich an die weiße Decke des Wohnzimmers, an der mehrere Lampen ihr ebenso weißes Licht verbreiteten.

„Wie wäre es, wenn wir erst einmal eure Namen in lateinischen Buchstaben schreiben, danach zwei Buchstaben austauschen und sie wieder in das Japanische übersetzen?“, schlug Vater vor. Er war wohl erst neulich wieder in Europa gewesen. Ob er wohl auch in England gewesen war?

„Ja, das ist eine gute Idee. Die Namen klingen zwar noch ähnlich, aber sie werden mit anderen Schriftzeichen geschrieben. Also... Das wäre dann Yakino und Yamino, oder?“, überlegte Letzterer.

„Wir könnten ja die beiden A in unseren Namen durch U ersetzen, dann hätten wir Yukino und Yumino. Ich finde, die Namen klingen gar nicht so schlecht“, beteiligte ich mich am Gespräch.

„Ich mag die Namen, aber wie sieht es mit Nachnamen aus?“

Über die Nachnamen mussten wir länger diskutieren, als über die Vornamen. Bei der folgenden, längeren Diskussion mit vielen Vorschlägen entschieden wir uns für „Namida“, was Träne hieß.

„So, da das geklärt wäre, werde ich passende Perücken und so weiter besorgen. Ihr wollt eure natürliche Haarfarbe behalten, oder?“ Vater hatte sich erhoben und seine Jacke angezogen.

„Es ist auch das einfachste, oder?“

„So gesehen, ja. Wenn eine Strähne mal raus schauen sollte, dann ist es nicht so auffällig wie bei einer komplett anderen Farbe.“

„Dann nehmen wir das.“

„Gut, ich bin dann bald wieder hier, bis dann!“ Er gab uns beiden noch einen Kuss auf die Wange, ehe er durch die Tür verschwand.

Yamino und ich saßen noch eine Weile still schweigend im Wohnzimmer. Auf einmal bekam ich das dringende Bedürfnis, mich bei ihm zu bedanken.

„Danke, Bruderherz.“

„Aber wofür denn?“ Er wirkte ein wenig überrascht.

„Dafür, dass du dich mit mir als Mädchen verkleidest und dass du immer für mich da warst.“

„Das ist doch selbstverständlich, ich bin schließlich dein Zwillingsbruder.“

„Trotzdem“, erwiderte ich mit meiner stursten Stimme, die ich gerade hatte.

„Na gut.“ Er lächelte, als er ebenfalls von seinem Stuhl aufstand. „Ich werde mich mal über Modelbewerbungen schlau machen, ruh dich also aus, okay?“ Gähnend stimmte ich ihm zu. Nachdem sich all der Trubel gelegt hatte, spürte ich die Müdigkeit in meinen Gliedern stecken. Die vielen Tränen entfalteten ihre schläfrig machende Wirkung.

Ich schleppte mich den Weg durch den Flur in mein Zimmer und plumpste schwerfällig auf das Bett. Nun merkte ich erst, wie müde ich war, auch wenn ich es wohl auch gut an den tiefen Augenringen hatte erkennen können. Jetzt ließ ich mich in sanfte Träume von einer heilen Zukunft und Gegenwart gleiten.
 

„Aufstehen, Siebenschläfer!“, weckte mich Yamino. Ich erkannte ihn sofort an der Stimme, doch als ich sein Gesicht erblickte, fiel ich aus allen Wolken. Dort, wo ich Yaminos mir meist als irgendwie verschlafen wirkendes Gesicht erwartete, waren feminine Züge mit dezenter Schminke, die diese nochmal untermalten. Ich hatte nicht gewusst, dass er so weiblich aussehen konnte.

„Ähm... Yamino?“, fragte ich, immer noch ziemlich verwirrt und überrascht von der Totalveränderung meines Bruders, den ich zu kennen geglaubt hatte.

„Ja, Yakino?“, antwortete dieser und fuhr sich durch die Perücke. Dann grinste er hinterhältig. „Keine Sorge, gleich bist du auch an der Reihe. Um genau zu sein wollte Vater in... drei... zwei... eins...“ Exakt in diesem Moment stürzte unser Vater ins Zimmer, seine Augen leuchteten richtig. Sehr beunruhigend.

„Komm, Yakino-chan“, säuselte er und nahm mich am Arm. Ich zweifelte langsam an meiner eigenen Idee, wobei diese sich deutlich von der Ausführung unterschied. Außerdem hatte ich gerade Angst vor unserem Vater bekommen.

Er zog mich durch den Flur in sein Zimmer. Vaters Zimmer nahm, nachdem er es einige Male vergrößert – also die Wände der Nachbarzimmer einreißen ließ – hatte, gut mehr als die Hälfte der Wohnung ein. Hier lagerte seine komplette Schminksammlung, die er gerade nicht benötigte. Es kamen immer wieder Assistenten aus allen Teilen der Welt hierher, um Nachschub für Vater zu holen. Wie ich jetzt bemerkte, gab es hier nicht nur Schminke, sondern auch noch diverse Perücken, Regale mit irgendwelchen elektronischen Gerätschaften und auch Kleidungsstücke.

Lange konnte ich mich nicht in dem für mich riesigem Raum umsehen, Vater drückte mich auch schon in einen bequemen Sessel vor einem Spiegel, der mindestens anderthalb Meter breit und zwei Meter hoch war. An dessen Rändern waren Lampen befestigt, die ihr strahlendes Licht in den Raum warfen.

„Dann wollen wir doch mal“, sagte er zuversichtlich, während er mit kritischen Blicken meine Figur und mein Gesicht betrachtete. Danach verschwand er in die hinteren Tiefen seines Zimmers, in die ich nicht ohne Weiteres blicken konnte, da hier das reinste Chaos herrschte, und Vater war der alleinige, unbestrittene Herrscher. Selbst seine Assistenten brauchten eine ausführliche Erklärung, um das Gewünschte zu finden. Ich persönlich möchte lieber nicht in die weiteren Tiefen des Raumes eingeweiht werden.

Als eine halbe Ewigkeit verstrichen war, kam er endlich wieder aus dem Kleidungsurwald zurück, mit einigen Sachen über dem Arm. Unter diesen Sachen war unter anderem einfache, weiße Frauenunterwäsche und ein Etwas, das nicht sehr bequem wirkte und meines Erachtens nach ausgestorben war. Scheinbar wohl nicht.

Zuerst wurde mein Kopf knallrot, dann wunderte ich mich, wieso Vater diese Sachen hatte und, als letztes, aber längstes Gefühl, bekam ich eine sehr, sehr große Panik.

Was hatte mein eigener Vater mit mir vor?!

„Als erstes lernst du die grundlegenden Dinge, die eine Frau oder auch ein Mädchen wissen muss. Das hier“, er zeigte auf das unbequeme Ding, „ist ein Korsett. Damit zaubern wir dir eine Taille.“ Er lächelte freundlich, doch es hatte eine diabolische Aura. Er erzählte noch lange sehr ausschweifend, doch viel bekam ich nicht wirklich mit, ich wunderte mich eher, woher er all diese Kleider und das Wissen über Frauenklamotten hatte...

Während er mir das nötige Wissen eines Mädchens erzählte, steckte er mich in dieses Korsett und schnürte mir die Luft ab. „Kann. Nicht. Atmen“, presste ich hervor.

„Das kommt noch, du überlebst das. Schließlich ist noch niemand daran gestorben“, lachte er nur erbarmungslos und zog die vielen Schnüre noch fester. Ich versuchte Luft durch meine Lunge zu quetschen. Dieses Korsett musste ich nun jeden Tag tragen, ich glaube, ich überlebe das nicht...

Er erzählte und redete und zog mich immer weiter wie ein Mädchen an. Ich hatte nun etwas an, von dem ich dachte, dass ich so etwas nie tragen würde. Ein Kleid. Und nicht einfach ein einfaches, simples Kleid, nein. Es war mit Rüschen und Schleifen bestückt, in den Farben Pink, Lila und Weiß. Ich war zu sprachlos, es war mir zu peinlich, als das ich irgendetwas sagen konnte.

Schon drückte mein Vater mich wieder in den Sessel, wahrscheinlich war jetzt mein Gesicht dran.

Auf Wiedersehen, schönes Jungenleben, ich habe dich sehr genossen.

Nun griff Vater sich einen der vielen Pinsel, die in einer schlichten, aber vom Durchmesser durchaus breiten, Dose aufbewahrt wurden, und tupfte mit der Spitze in etwas, das nach Puder oder Ähnlichem aussah. Während er mit dem Pinsel über mein Gesicht strich – das kitzelte vielleicht! - fing er an, über Schminke zu reden. Mich interessierte das Gesagte nicht, also schloss ich für eine krze Weile meine Augen, unwissend, wirklich einzudösen.

Erst als mir, unwissend wieviel Zeit vergangen war, jemand an meinen Haaren ein wenig zog und zerrte, schreckte ich aus meinem Dösen hoch.

„Tsch, tsch“, machte mein Vater und bedeutete mir mit leichtem Druck auf meine Schultern, sitzen zu bleiben. Scheinbar bereitete er meine Haare darauf vor, nicht mehr an das Tageslicht zu kommen. Nachdem er mir etliche Zöpfchen gemacht und fixiert hatte, setzte er mir eine komische, hautfarbene Haube auf. Dann stülpte er mir eine Perücke in meiner natürlichen Haarfarbe, Blond, über. Kritisch beäugte er diese, fummelte an den einzelnen Haarsträhnen herum und nahm einen Lockenstab zur Hand. Er drehte in die Spitzen Locken hinein, floch kleine Zöpfe und verzierte diese mit Perlen.

Nachdem er endlich zufrieden war, griff er noch einmal zur Schminke. „Da du geschlafen hast, konnte ich deine Augen nicht richtig schminken!“, klagte er. Über meinen Rücken lief ein kalter Schauer. Überhaupt kam mir meine Idee immer dämlicher und dämlicher vor. Ich wollte nicht wie ein Mädchen aussehen...

„Augen auf!“ Vater hob mein Kinn an und rückte mir mit noch mehr Schminke zu Leibe.
 

Ich durfte mich nun nach einer gefühlten Ewigkeit endgültig im Spiegel betrachten. Nun war ich vollkommen erstaunt, wobei man es doch eher geschockt nennen konnte. Ich hatte das rosane Rüschenkleid an, welches mir bis zu den Knien reichte. Ich trug weiße Kniestrümpfe, die am Saum noch mit pieksender, weißer Spitze verziert war, und passende Schuhe mit Schleifchen. Ich würde mal sagen, dies war wirklich nicht mein Geschmack.

Mein Gesicht wirkte nun, ebenso wie Yamino, sehr feminin, obwohl ich immer gedacht hatte, ich hätte ein relativ maskulines Gesicht. Vater hatte mir auch einen Hauch lilarosanen Lidschatten auf die Lider gestrichen, er hatte dazu gemeint, es betone meine Augenfarbe, Blau. Da ich keine Ahnung von solchen Dingen hatte, hatte ich nichts dazu sagen können, es war mir, ehrlicherweise, auch relativ egal.

Nachdem ich meinen ersten Schock, dass ich dieses Mädchen wirklich sein sollte, überwunden hatte, fand ich, dass ich gar nicht so schlecht aussah.

Was hatte ich gerade gedacht?

Ich war nun geschockt von mir selbst. Meine Männlichkeit schwand schneller als ich glauben wollte...

In diesem Moment stürmte Yamino ins Zimmer. Das war eigentlich gar nicht seine Art, verwundert drehten sich zwei Köpfe in Richtung Tür. „Was ist...“ Ich stoppte, als er mir ein Blatt Papier unter die Nase hielt und betrachtete dies, jedoch hielt er es zu nah an mein Gesicht, sodass ich es nicht entziffern konnte. Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und hielt es in einem passendem Abstand von meinem Gesicht entfernt. Dann fing ich an zu lesen.

„Der Traum vom Modeln...“, las ich die Überschrift laut vor, „Wolltest du schon immer ein Model werden? Jetzt hast du die Gelegenheit mit JulyShine ganz groß rauszukommen! Wir suchen die neuen Gesichter von morgen. Komm zu einem unserer Castings in deiner Stadt!“ Unten waren dann Städte mit Datum, Ort und Uhrzeit aufgelistet. Unter der eher bescheidenen Anzahl der Städte war wie durch ein Wunder auch unsere.

„Warte mal...“ Ich betrachtete das Datum genauer und nahm auch die angegebene Zeit in Augenschein. „In einer Stunde ist Anmeldeschluss...“, murmelte ich, Yamino nickte eindringlich.

„Wir müssen sofort los!“, rief er und zerrte mich und Vater nach draußen. Im Gehen schnappte sich Vater noch seinen Autoschlüssel. Zum Glück war das Auto nicht weit vom Haus entfernt geparkt, aber der Ort des Castings lag für uns eine knappe Autostunde entfernt, da wir am äußerstem Stadtrand unserer nicht gerade kleinen Stadt lebten.

Während der Fahrt hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und es kamen immer mehr Zweifel und Ängste auf. Yamino und Vater redeten nicht, ich redete auch nicht, die Luft war erfüllt von angespannter Stille, während wir über die vielen Straßen der Stadt rasten. Ich las mir nochmal das Flugblatt durch, zuckte zusammen, als am Ende stand, dass James und ein Mann namens Finn Jiven die Jury bildeten. Er gehörte zu der Familie, die den Julys schon seit Langem als engste Berater dienten. Nun hatte er scheinbar das Amt übernommen, seit James' Vater verstorben war. Ich kannte ihn nicht persönlich, doch James hatte schon öfters über ihn gesprochen. Schmerz durchstach mein Herz, als er wieder in meinem Kopf auftauchte.

James...

Er war also wieder hier in der Stadt... Wieso hatte er sich bloß nicht gemeldet?
 

James

Es kamen mehrere hundert Mädchen, die Models werden wollten, aus seiner Heimatstadt zu uns. Ich erwartete nicht, ihn in der großen Stadthalle zu treffen, doch tief in mir drin, das spürte ich, wünschte ich mir das. Doch ebenso ergriff mich auch leise Panik und Angst, weil ich einfach nicht wusste, wie ich ihm entgegen treten sollte.

„Die nächste, bitte!“, bat Finn, mein Berater, der mir ebenfalls zu einem Modelcasting geraten hatte, das nächste Mädchen hinein. Ich genehmigte mir einen kurzen Schluck Wasser aus dem Glas und einen Blick auf die Uhr. Der Anmeldeschluss war fast vorbei, es standen jedoch immer noch mindestens zwanzig Mädchen auf der Liste. Von den bisherigen Mädchen, die anderen Städte mitdazugenommen, hatte mir noch keine so gut gefallen, dass ich sie für das nächste Programm von JulyShine nehmen würde, auch wenn die Zeit drängte und wir langsam wieder ein paar neue Gesichter brauchten.

Jeden Tag dachte ich an Yakino und fragte mich, was er wohl machen würde. Ich traute mich jedoch nicht, ihn anzurufen oder ihm einen Brief oder Ähnliches zu schreiben, denn ich ahnte, wenn ich das tat, würde mein Herz zersplittern und ich würde das Versprechen, das ich Vater einst gab, nicht halten können. So hatte ich meine Liebe für ihn versperrt und verschlossen, auch wenn mein Herz sich auch nach einem Jahr noch dagegen wehrte.

Das nächste Mädchen betrat die Bühne, wieder sah sie zwar hübsch aus, doch sie hatte erneut keine Ausstrahlung. Schnell waren Finn und ich uns einig, wir nahmen sie nicht. Nachdem ich ihr dies freundlich lächelnd mitgeteilt hatte - ich konnte trotz allem mein Lächeln behalten, was mich selbst manchmal erstaunte - kamen noch weitere Mädchen wie sie.

Nun war der Anmeldeschluss erreicht und die letzte Liste mit Namen erreichte Finn.

„Es sind noch drei Mädchen da. Obwohl... Warte mal, beim letztem Punkt sind zwei eingetragen.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und erkundigte sich beim Anmeldungsleiter, der gerade dabei war, wieder durch die Tür hinauszutreten. Dieser, das konnte ich von meinem Platz beobachten, zuckte nur fragend mit den Schultern und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Seufzend kam Finn wieder zurück.

„Was ist los?“, fragte ich freundlich.

„Hier, beim letztem Punkt sind zwei eingetragen. Sollen wir sie aufspalten oder nicht?“ Er zeigte mir die Liste. Yukino Namida und Yumino Namida.

„Sie scheinen verwandt zu sein.“

„Ja, man hat mir gesagt, es seien Zwillinge.“

„Dann lassen wir sie einfach zusammen auftreten, ist doch nichts dabei. Außerdem wäre das auch mal interessant, findest du nicht?“ Ich verriet nicht, dass die beiden allein vom Namen her mich insgeheim an Yakino und seinen Zwillingsbruder Yamino erinnerte. Ein Stich der Trauer zuckte durch meinen Körper, doch ich schüttelte ihn schnell ab.

„Gut, ich geb der Organisation Bescheid, dann können wir uns auch die letzten ansehen.“
 

Yakino

Ich hatte Angst.

Obwohl uns eben Bescheid gegeben wurde, dass wir zu zweit casten konnten, dennoch:

Ich hatte Angst.

„Ruhig atmen, Yukino-chan“, mahnte Yamino mich mit seiner Mädchenstimme. Wir saßen hinter der großen Bühne, das Mädchen, welches vor uns dran war, ging gerade auf die Bühne. Durch einen kleinen Spalt im Vorhang konnte ich einen kurzen Blick auf James erhaschen, mein Herz tat einen großen Sprung. Er lächelte so freundlich und sanft wie immer, es zerriss mir mein Herz. Ich sehnte mich nach diesem Lächeln, doch gleichzeitig hielt mich diese Distanz, die zwischen uns entstanden war, davon ab, ihn direkt damit zu konfrontieren. Ihm zu zeigen, dass ich ihn immer noch liebte.

Nach einer kurzen Weile wurden wir aufgefordert, auf die Bühne zu treten. Yamino hatte schon zu seiner tiefen Ruhe gefunden und ich bald auch. Gefasst traten wir auf die Bühne, kurz bevor mir das grelle Scheinwerferlicht für einen Augenblick meine Orientierung nahm Yamino, mein Fels in der Brandung, meine Hand und zog mich sanft weiter. Wir blieben dann in der Mitte der Bühne stehen, Yamino vermittelte mir mit sanftem Händedruck, dass ich stehen bleiben sollte.

Während ich in Yaminos Nähe auf der Bühne stand, richtete sich mein Blick nach vorne und traf auf James. Mein Herz zog sich zusammen, Gefühle überfluteten mich, die ich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Ich wollte ihm so vieles fragen, so vieles sagen.

„Ihr seid Yukino und Yumino Namida, richtig?“, fragte uns Finn freundlich. James musterte uns nur schweigend mit seinem sanftem Lächeln, ohne etwas zu sagen. Für einen kurzen Moment dachte ich, Wiedererkennen in seinem Blick zu erkennen, doch ich hoffte stetig, wenn auch mit sich zusammenziehender Brust, dass ich mir dies nur eingebildet hätte.

„Ja, ich bin Yumino und das hier ist meine Zwillingsschwester Yukino-chan“, stellte Yamino uns vor. Seine Stimme klang wie sanftes Wasserplätschern, auch wenn es komisch klang, es damit zu vergleichen. Sie war ruhig, bestimmt und wirkte beruhigend auf mich. Da fiel mir auf, dass ich vielleicht die einzige Person in diesem Raum war, die seine Stimme mit so etwas Abstraktem verglich.

„Und ihr tretet zu zweit auf, weil...?“ Wieder Finn, scheinbar hatte er heute das Ruder in der Hand, aber ich hatte keinen Blick für ihn, ständig klebte mein Blick an James, ich konnte einfach nicht anders und hoffte einfach, dass er es nicht als unhöflich empfand. Ab und zu lenkte ich ihn auf Finn, aber irgendwie schwenkte es immer zurück, ohne mein bewusstes Eingreifen.

„Wir haben bisher eigentlich alles zusammen gemacht, und als ich Yukino-chan gefragt hatte, ob sie mit mir zum Casting gehen würde, hat sie das getan.“ Bei uns sprach auch nur Yamino, bemerkte ich.

„Interessant... Würdet ihr theoretisch denn auch alleine Modeln?“

„Wissen wir nicht wirklich, aber am Anfang würden wir es bevorzugen, zusammen zu modeln.“

Finn nickte nachdenklich, James Blick konnte ich nicht deuten. Es kam mir so vor, als würde ich ihn gar nicht mehr kennen, doch gleichzeitig bildete ich mir auch ein, sein Gesicht immer mehr wiederzuerkennen.

„Gut, dann machen wir doch mal kurz ein paar Fotos. Das Thema wäre dann wie für alle anderen: Blumenstrauß! Ihr bekommt beide einen Rosenstrauß und dann würde ich euch bitten zu posieren. Unser Fotograf wird euch auch noch mit einigen Tipps versorgen, also macht euch keine Sorgen.“ Finn lächelte und winkte jemanden aus dem hinterem Bereich herbei, der zwei Sträuße in der einen Hand und eine Spiegelreflexkamera in der anderen hatte. Sofort überkam mich die Panik.

Beruhigend drückte Yamino meine Hand, ehe wir die Blumensträuße entgegen nahmen und der Fotograf uns bedeutete, anzufangen.

Yamino wies mir die richtigen Posen, indem er mal lachte, mich mitzog und mir den richtigen Weg wies und ebnete. Er wirkte ganz und gar wie ein Mädchen. Vielleicht sollte ich ihn und mich auch bei unseren 'Mädchennamen' nennen, wenn wir gerade solche spielen.

Manchmal machte Yumino ganz alberne Posen, wie zum Beispiel, dass sie - komisch, den eigenen Bruder als Mädchen zu bezeichnen - den Blumenstrauß auf den Kopf legte, aber es war lustig und ich machte gerne mit. Nach einer Weile hatte ich James komplett ausgeblendet und lachte wieder. Yumino merkte dies und lachte zufriedener und noch glücklicher als ohnehin schon. Sein Lächeln wirkte viel, viel wärmer und das brachte mich wiederum dazu, ebenfalls von tiefem Glück erfüllt zu sein.

„Okay, das reicht!“, riss uns der Ruf von Finn wieder auf die Bühne in der Stadthalle zurück, auf der wir unsere kleine, kurzweilige Welt erschaffen hatten. Wir übergaben die Blumensträuße dem Fotografen, der uns überglücklich anstrahlte, zurück und standen dann wieder in der Mitte der Bühne und warteten die Entscheidung von James und Finn ab. Plötzlich war es mir peinlich, so vor James posiert zu haben. Ebenso machte ich mir Sorgen darüber, dass wir unseren Blumenstrauß ziemlich zerfleddert zurückgegeben hatten.

„James, der Agenturleiter von JulyShine und ich, sein Berater, haben uns dazu entschlossen, euch unter Vertrag zu nehmen!“

Einen Moment lang wusste ich nicht, was das bedeutete, doch als ich es realisiert hatte, atmete ich erleichtert aus. Zufälligerweise taten ich und Yumino es im selben Moment, woraufhin wir leise kicherten.

„Nähere Informationen lassen wir euch zukommen, wenn ihr uns eure Kontakt...“

„Halt, halt!“, unterbrach Jemand Finn plötzlich. Ich erkannte Vater an seiner Stimme, doch wieso wartete er nicht draußen? Ich war völlig perplex, als er auf die Bühne kam, heruntersprang und vor Finn sich aufbaute und zu seiner vollen Größe aufstellte. Aber auch sein Aussehen war komplett anders, statt blonder Haare hatte er nun schwarze und trug, sonst gar nicht seine Art, eine Sonnenbrille. Auch seine Stimme hatte er leicht verstellt. „Ich bin der Vater dieser äußerst bezaubernden Zwillinge hier und werde Ihnen ganz sicher nicht die Mailadresse von ihnen geben! Bitteschön, meine müsste genügen.“ Er kritzelte eine seiner vielen Mailadressen auf das Formular, das Finn uns ursprünglich geben wollte, und nickte zufrieden. „Wir ziehen gerade um, unsere Adresse lassen wir Ihnen später zukommen, okay?“

Leicht angeschlagen und verwundert nickte Finn und betrachtete die Mailadresse. Ich vernahm ein leises Kichern, dessen Quelle James war, was natürlich sofort meine Aufmerksamkeit erregte. Tatsächlich kicherte er leise in sich hinein, es tat eben so gut wie es schmerzte, ihn wenn auch nur leise kichern zu hören. Wie gerne ich ihn gefragt hätte, weshalb, doch ich durfte nicht.

„Das war es dann auch, auf eine gute Zusammenarbeit“, kam er endlich auch zu Wort. Schmerz zuckte durch mich, als ich seine Stimme nach so langer Zeit wieder hörte.

„Auf gute Zusammenarbeit“, wünschte Yumino ebenfalls. Mir fiel auf, dass ich gar kein Wort gesprochen hatte, doch das war mir auch lieber so. Überhaupt fürchtete ich die ganze Zeit, er könnte mich durch meine Bewegungen und meine Art und Weise erkennen, was ich mir tief, tief in mir wünschte.

Aber es durfte nicht sein.
 

James

Die ganze Zeit konnte ich meinen Blick nicht von Yukino Namida trennen. Sie faszinierte mich, sie erinnerte mich an etwas, was ich wohl in meinen Erinnerungen vergraben hatte, was ich dabei war, für vielleicht immer zu vergessen. Es war nur bei ihnen so gewesen, dass ich kaum gesprochen hatte. Ich wusste einfach irgendwie nicht mehr, was ich sagen musste, also hatte Finn immer gesprochen.

Ja, es war, als hätte ich mich an etwas erinnert, eine Saite in mir hatte auf Yukino reagiert, doch ich wusste einfach nicht, wieso. Die Zwillinge waren sicherlich eine Bereicherung für die Agentur, sie hatten auch diese gewisse Ausstrahlung, die ich gesucht hatte.

Der Vater der beiden war äußerst amüsant, ich musste leise kichern, als ich seine Besorgnis aus seiner Stimme erriet. Er erinnerte mich ein wenig an Yakinos Vater, den ich manchmal auf Aufträgen sah.

Yakino...

Ich versank in kurz Tagträumereien von einer heilen Gegenwart mit ihm, als mich etwas jäh aus den Gedanken riss.

„Auf Wiedersehen“, sagte jemand. Es kam von Yukino, aber es erinnerte mich auf schmerzliche Weise an ihn. Lange konnte ich ihr nicht hinterherschauen, zu schnell war sie mit ihrer Familie hinter dem Vorhang in den Tiefen der hinteren Bühne verschwunden.

„Wuoah!“ Finn streckte sich genüsslich und machte ein zufriedenes Gesicht. „Scheint als wäre heute doch kein so schlechter Tag.“ Ich musste zugeben, dass auch ich sehr zufrieden war. „Komm, wir bestellen etwas von Hong Yun!“

Hong Yun war ein Chinarestaurant und Finns Lieblingsrestaurant. Er hatte es einmal in Deutschland gefunden und war hin und weg, wobei ich es bis heute nicht verstand. Für ihn schickten sie auch mal Essen ins Ausland, wobei es dann natürlich nicht mehr frisch war. Was ihn immer wieder freute waren die Glückskekse, die er zu jeder Mahlzeit und manchmal auch so bekam. Er war nämlich ein ziemlicher Glückskeksfanatiker und glaubte alles, was in ihnen stand.

„Hmm... Vielleicht“, lächelte ich.
 

Yakino

Zu Hause angekommen fragte ich Vater nochmal etwas: „Ähm, sag mal... Wir ziehen doch nicht wirklich um?“

Dieser grinste spitzbübisch, mir schwante Böses. „Das nicht direkt... Wir mieten uns eine Wohnung und ziehen dort für die Dauer des Projektes ein!“, eröffnete er uns mit einem sehr selbstzufriedenem Lächeln.

„Was ist mit unseren Möbeln und so?“, fragte Yumino, sie zog sich ihre Perücke ab und verwandelte sich wieder in meinen altbekannten Zwillingsbruder Yamino. Naja, bis auf das Kleid, welches er immer noch trug. Und ich übrigens auch.

Ich bekam das Verlangen, ihn zu umarmen und gab diesem schließlich auch nach. „Was ist denn los?“

„Ach, ich freue mich, dass du wieder der Alte bist.“

„Dann werd du doch auch wieder Yakino!“ Lachend zog er auch mir die falsche Haarpracht ab.

Den restlichen Abend diskutierten Yamino und Vater über die weitere Vorgehensweise, während ich einfach nur bei ihnen saß und mich freute, dass wir zu dritt waren. An James dachte ich nur ein einziges Mal und komischerweise verspürte ich diesmal keine richtige Trauer.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück