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The Place, where you belong...

Wichtelgeschenk für Kiki
von

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Das Fest der Familie

Kaito streckte die Hand aus, um ein paar der kleinen Schneeflocken auf seiner Haut schmelzen zu lassen. Es war bereits dunkel und er stand auf einem der edlen Balkons, die zu Azraels Villa gehörten und von geschmückten Tannengirlanden geziert wurden. Die Umgebung bot einen wahrlich traumhaften Anblick!

Bereits seit Wochen waren sie alle in Zusammenarbeit damit beschäftigt, nicht nur die Villa, sondern auch den großen Garten im Sinne des anstehenden Weihnachtsfests zu gestalten und das Ergebnis konnte sich sehen lassen!

Alles erstrahlte in bunten Lichterketten, geschmückte Tannenbäume zierten die Auffahrt, Azraels Engelsskulpturen wurden durch Bodenlichter angestrahlt und hatten allesamt von Amy eine Weihnachtsmütze aufgesetzt bekommen. Ohnehin die Pflichtmode für heute, wie sie entschieden hatte und so ließ sie ihnen lediglich die Wahl, ob sie Weihnachtsmann, Rentier oder Weihnachtself sein wollten, denn heute war der große Tag letztendlich gekommen!

Warum sie als Wächter überhaupt einen solchen Aufwand für ein paar Feiertage betrieben?

Ganz einfach – sie hatten es sich verdient! Nach all den Monaten des Terrors, der von Satariel und seinen Verbündeten ausging, all den Sorgen, Ängsten und des Verzichts und schließlich dem entscheidenden Kampf, war langsam aber sicher wieder etwas Normalität in ihr Leben eingekehrt. Azrael meinte, er sei stolz auf sie und dass sie sich eine Auszeit reichlich verdient hätten, um einfach mal wieder Mensch sein zu dürfen und Weihnachten gemeinsam als Familie zu feiern schien dazu zu gehören.

„Familie…“, murmelte Kaito in die Stille der kalten Nacht und schloss seine Hand als wolle er damit die Schneeflocken einfangen und für sich bewahren, doch natürlich schmalzen sie dadurch nur umso schneller und entrannen in kleinen Tropfen seinem Griff.

Es war Jahre her, dass sie weiße Weihnachten gehabt hatten. Mindestens fünf Jahre wenn er sich nicht täuschte, denn sein kleiner Bruder war nicht älter als maximal zwölf gewesen als sie damals mit ihren Eltern und seinem zu der Zeit noch putzmunterem Golden Retriever Meister Myagi zum Spazieren und Schlittenfahren mittags in die Berge gefahren waren.

Kaito erinnerte sich noch gut an Shios warmes Lachen, wenn sie Meister Myagi Schneebälle zugeworfen hatten und dieser sich jedes Mal mit einem empörten Gesichtsausdruck geschüttelt hatte, wenn er nach den Schneebällen geschnappt und diese dadurch pulverisiert sein Gesicht gepudert hatten. Was ihn allerdings dennoch nie von der Freude abgehalten hatte, die Bälle immer wieder zu fangen. Ebenso erinnerte er sich an die kleinen Trainingskämpfe, die er sich mit seinem Vater geboten hatte, weil der Schnee weich und sie dick genug angezogen waren um nicht Gefahr zu laufen, einander zu verletzen wenn sie ihre Judowürfe einsetzten. Das selbstsichere, stolze Grinsen seines Vater, wenn es diesem gelungen war, Kaito zu überwältigen und er damit geprahlt hatte, dass Erfahrung wohl über Jugend triumphierte, hatte er sich in seinem Gedächtnis ebenso bewahrt, wie die halb belustigte, halb sorgenvolle Miene seiner Mutter, die ihnen zugesehen hatte und sich nicht entscheiden konnte, ob sie ihren Mann oder ihren Sohn anfeuern sollte.

Am Abend hatten sie dann gemeinsam mit Renjos und Yuris Familie in der Pension gegessen, beschert und bis in die Nacht gefeiert, so wie jedes Jahr…

Kaito schluckte und schloss die Augen als er bemerkte, dass seine Sicht verschwamm.

Das war wohl der Nachteil der wieder eingekehrten Normalität. So erleichtert er auch war, dass die Angelegenheit mit Satariel erledigt war und er sogar langsam wieder etwas von seiner Paranoia abließ, immer das Schlimmste zu erwarten, wenn er Shio und Renjo nur kurz aus den Augen ließ, so machte es einem nun umso bewusster, wie viel sich verändert hatte und dass es nie wieder so sein würde wie es war…

Die Balkontür öffnete sich und Kaito musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es sich um seinen Bruder handelte. Auch wenn Shio keinen Wächterring besaß und das erkennende Summen der Schmuckstücke somit ausblieb, hatte Kaito begonnen, seine Nähe zu fühlen. Wie ein Hauch warmer Sommerwind, der selbst in den kältesten Tagen und dunkelsten Stunden einen Teil der Kälte davonwehte. An sich ein sehr angenehmes Gefühl, doch für den Moment wäre es Kaito fast lieber, alleine zu sein. Da er seinen Bruder allerdings nicht einfach wegschicken konnte und wusste, dass auch er es heute vermutlich nicht leicht hatte, wischte er sich rasch ungesehen über die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen.

„Kaito?“, leise Sorge schwang in Shios Stimme mit, während er etwas zögerlich näher trat, „Geht es dir gut?“

„Klar!“, kam es von Kaito vielleicht etwas zu prompt, der die Aussage allerdings zu untermauern versuchte, indem er seinem Bruder ein wie er hoffte überzeugendes Lächeln schenkte, als dieser sich nun neben ihn an das Geländer stellte und besorgt zu ihm aufsah, „Ich wollte nur kurz frische Luft schnappen und da Amy jetzt schon die ganze Zeit am Singen ist, hatte ich befürchtet, sie würde Kazu und mich wieder für dramatische Licht- und Windeffekte missbrauchen wollen.“

Shio schmunzelte sacht, wohl weil auch er sich noch gut an einen gewissen Karaokeabend in der letzten Woche erinnerte, bei dem sich herausgestellt hatte, dass Kazuki und Kaito zwar keine begnadeten Sänger waren, sich aber zumindest als „sexy Bühnenrequisiten“ eigneten und zudem mit ihren Fähigkeiten Amys Showeinlagen unterstützen konnten.

Doch Kaito sah deutlich, dass der Versuch, Shio vom Thema abzulenken zwecklos war.

„Du musst nicht für mich stark sein, Kaito.“, sagte er sehr direkt und auch wenn er noch immer lächelte, nahm es nun einen etwas betrübten Zug an, der auf Kaito gemeinsam mit den Worten ernüchternd wirkte. Sein eigenes, ohnehin gespieltes Lächeln erstarb, während er den Blick wieder in die Ferne schweifen ließ und die Schneeflocken beobachtete.

„Ich vermisse sie auch…“, flüsterte Shio nach einem kurzen Moment des Schweigens und Kaito hörte die Tränen in seiner Stimme, die seinen eigenen Hals unnatürlich trocken werden ließen. Er wagte es nicht, seinen Bruder jetzt anzusehen, denn dann würde er wohl selbst den Kampf gegen die Tränen verlieren. Stattdessen legte er seinen Arm um die schmalen Schultern und zog ihn näher an sich. Der Arm, der sich daraufhin um seine Hüfte legte wirkte tröstend und gab ihm die Kraft, den schmerzenden Gedanken auszusprechen, der ihn schon seit Wochen quälte und trotz der allgemein heiteren Weihnachtsstimmung wie ein dunkler Schatten über ihm hing.

„Das ist das erste Weihnachtsfest ohne sie.“, sagte er schließlich leise und obgleich es eine schlichte Tatsache war, machte es dies für Kaito unangenehm real und endgültig – ihre Eltern waren tot! Und sie würden auch nicht mehr zurückkommen, nie mehr…

„Ich…“, begann Kaito erneut und zuckte mit einem hilflosen Lächeln die Schultern, „ich weiß einfach nicht, ob ich überhaupt feiern will.“

Es fiel ihm schwer dies auszusprechen, denn er wusste dass es nicht fair war und gerade Shio war einer der letzten, denen er die Weihnachtsstimmung vermiesen wollte. Doch es war Shio selbst, der Kaito in den vergangenen Monaten immer dringlicher darum gebeten hatte, offener mit ihm zu sprechen und ab und zu auch Shio die Chance zu geben, für ihn da zu sein, wenn ihn etwas bedrückte, statt sich immer einzureden, alles alleine stemmen zu müssen. Und auch wenn es Kaito jedes Mal wieder Überwindung kostete und es für ihn gewöhnungsbedürftig war, so hatte er letztlich eingesehen, dass sein kleiner Bruder erwachsen wurde und es zudem tatsächlich befreiend sein konnte, manche Gefühle und Sorgen mit ihm zu teilen.

Nun spürte er ihn nicken und nahm an, dass dies bedeutete, dass es ihm ebenso ging. Vielleicht sollten sie also einfach Nachhause fahren und Weihnachten aussperren? Aber in der Pension… war es diese Tage noch unerträglicher als irgendwo sonst.

„Ich weiß wie du dich fühlst.“, meinte Shio schließlich und Kaito wollte ihm schon den Vorschlag unterbreiten, diese Feierlichkeiten dann gemeinsam ausfallen zu lassen als er bereits fortfuhr, „Zuerst habe ich auch so gedacht und wollte, wenn schon nicht mit ihnen gemeinsam, dann lieber gar nicht feiern, aber…“

Er machte eine Pause und als Kaito zu ihm sah, glitzerten zwar Tränen in den großen amethystfarbenen Augen, das Lächeln mit dem er den geschmückten Garten betrachtete wirkte allerdings überraschend ehrlich.

„Dann habe ich gesehen, dass sich alle so viel Mühe geben.“, fuhr er fort, „Und dass es Spaß gemacht hat, mit ihnen Plätzchen zu backen und zu schmücken, über die Weihnachtsmärkte zu schlendern und Schlittschuhlaufen zu gehen. Auch wenn wir Mama und Papa vermissen, sie würden nicht wollen, dass wir all das in unserer Trauer versäumen oder?“

Shio blickte zu ihm auf, etwas verunsichert als erwarte er eine Bestätigung und als Kaito ihm mit einem leisen „Nein, bestimmt nicht“ Recht gab, kehrte Shios Lächeln zurück und ließ ihn so glücklich erstrahlen, dass allein das genügte, Kaitos Trübsinn ein wenig zu lichten.

„Dann ist es also okay und nur in ihrem Sinne, dass wir den Abend heute nicht als das erste Fest ohne sie sehen, sondern als das erste Fest gemeinsam mit unserer neuen Familie.“, schloss er und so naheliegend dieser Gedanke eigentlich auch war, schien Kaito erst seinen Bruder gebraucht zu haben, um ihm auch in seinem Herzen Einzug zu gestatten. Sie hatten schließlich nicht vor, ihre Eltern zu ersetzen, denn das würde niemand können, aber… Shio hatte Recht! Sie würden nicht wollen, dass dieser Tag, den sie für ihre Söhne immer mit so viel Liebe und glücklichen Erinnerungen gefüllt hatten, von nun an ein Tag der Trauer sein würde! Und noch weniger würden sie wollen, dass sie diejenigen ausschlossen, die sich ihrer annahmen, sich um sie bemühten und kümmerten und ja… die zu einer Familie geworden waren!

Kaito schloss erneut kurz die Augen und nun waren es Bilder seiner „neuen Familie“, die er vor sich sah und die Kälte vertrieben. Er drängte die Tränen zurück und ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen als er die Augen wieder öffnete und Shio aus liebevollen Augen ansah.

„Du hast Recht.“, sagte Kaito dann, strich über das weiche Haar seines Bruders und hauchte ihm einen kleinen Kuss auf die Stirn, „Danke, mein Kleiner. Mom und Dad wären sehr stolz auf dich. So wie ich!“

Shio schien gerührt und erfreut von diesen Worten, doch bevor er etwas erwidern konnte, öffnete sich die Balkontür erneut und nun war es Renjo, der dort stand, mit der aufgezwungenen grünen Wichtelmütze auf dem Kopf, an die er sich inzwischen so gewöhnt zu haben schien, dass er sie schon nicht mehr bemerkte.

„Hey, ihr könnt euch gleich bei Azraels Eisskulpturen einreihen wenn ihr länger da draußen rumsteht.“, meinte er und hob mit einem Schmunzeln die drei dampfenden Tassen an, die er in seinen Händen hielt, „Glühwein? Kazuki hat’s mit dem Alkohol bei der Zubereitung sehr gut gemeint, also genau die richtige Mischung für uns.“

Er zwinkerte Kaito zu, da sie beide durch ihre ausschweifenden, nächtlichen Streifzüge früher recht trinkfest waren und Kaito erwiderte sein Lächeln, was ihm mit einem Mal viel leichter zu fallen schien.

„Wir kommen.“, erwiderte er, wuschelte seinem Bruder nochmal liebevoll durch das Haar, bevor sie gemeinsam mit Renjo wieder nach drinnen gingen und ihre Tassen entgegennahmen.

Das Fest der Liebenden

„Ich hoffe du hast gute Gründe mich per Glühwürmchenpost hierher zu zitieren! Ich war nämlich sehr beschäftigt!“, meinte Rayne missmutig kaum dass er das abgedunkelte und nur von Seelenlichtern erhellte Büro des Todesengels betrat, der von seinem Buh zu ihm aufsah und sich dabei wie üblich keine Gefühlsregungen ansehen ließ.

„Tut mir leid, es lag nicht in meiner Absicht, dich bei etwas Wichtigem zu unterbrechen.“, erwiderte Azrael mit der stoischen Ruhe, die nicht verriet, ob er Raynes Lüge bezüglich des „Beschäftigtseins“ durchschaut hatte.

Wenn Rayne nämlich ehrlich war, hatte er nichts Wichtigeres getan als auf einer Berglichtung im Schnee zu sitzen und die bunten Lichter der fernen, weihnachtlich geschmückten Stadt zu betrachten. Ja, das war die bittere Wahrheit! Denn seit das Problem „Satariel“ vom Tisch war, war Rayne gewisserweise arbeitslos und langweilte sich halb zu Tode!

Natürlich, er hätte zu seinem ursprünglichen Plan a zurückkehren und beginnen können, sein gesammeltes Wissen gegen Azrael und seinen Kindergarten einzusetzen, um sie einen nach dem anderen auszumerzen und dann ungestört damit fortzufahren, diese Welt von der Tyrannei der Menschen zu befreien, doch… ohne Dagon?

Was sollte er alleine mit dieser Welt? Er liebte zwar die Natur und die Tiere, aber es war in erster Linie Dagon gewesen, der ihn diese Dinge lieben gelernt hatte. Auch schien Rayne jegliches Interesse daran verloren zu haben, die Wächter oder die Menschen abzuschlachten. Mit ihnen zu spielen, sie zu manipulieren, sie leiden zu lassen… es war alles einfach irgendwie sinnlos geworden und verlor damit seinen Reiz. Also was hatte er stattdessen getan?

Nichts! Größtenteils im wahrsten Sinne des Wortes! Er hatte Wolken beobachtet, dem Rascheln der Bäume gelauscht, Sonnenauf- und untergänge angeschaut und verwaisten oder verletzten Tieren das Leben gerettet oder ihnen die Gnade eines schnellen Todes zu Teil werden lassen. Auch seinen Bastardsohn hatte er ab und zu aus der Ferne beobachtet, ihm manchmal sogar Besuche abgestattet und hauptsächlich hatte er viel nachgedacht.

Darüber wo sein Platz war, was jetzt überhaupt noch Sinn machte, was er mit sich anfangen sollte, ob er überhaupt noch etwas mit sich anfangen konnte…

Aber mit diesen Fragen drehte er sich seit Wochen nur im Kreis und kam einfach nicht zu einem Ergebnis, was für ihn nicht frustrierender sein könnte! Er war ein verdammtes Genie! Er hatte immer einen Plan! Aber seit Satariel weg war und Rayne keinen Vorwand mehr hatte, sich von seiner Orientierungslosigkeit abzulenken, fühlte er sich unangenehm verloren.

Auch wenn er es niemals zugeben würde, die ehrliche Wahrheit war wohl, dass es lediglich Azraels Nachrichten und gelegentlichen Aufträge waren, die ihn wenigstens zeitweise über seine empfundene Leere und Überdrüssigkeit hinwegtäuschten.

„Ich habe mir überlegt, dass du heute hier sein solltest und hielt dies für einen guten Grund, dich zu rufen.“, fügte Azrael noch an und schien dies tatsächlich ernst zu meinen.

„Dass ich heute hier sein sollte?“, wiederholte Rayne ungläubig und zog verblüfft die Brauen in die Höhe, „Wofür? Etwa um mit dir und deinen flügellosen Engelchen die Geburt vom >Sohn Gottes< zu feiern?“, Rayne lachte spöttisch auf, „Ich bitte dich! Hast du vergessen, dass ich ein Dämon bin? Abgesehen davon wissen wir ja wohl beide, dass dieser Jesus-Knilch nicht Gottes sondern Gabriels Sohn war und unter der Führung seines größenwahnsinnigen Daddys ebenfalls größenwahnsinnig wurde! Wenn man jeden durchgedrehten Menschen feiern würde, der sich für was Besseres hält als der Rest, käme man aus dem Feiern nicht mehr raus!“

„Es geht nicht um die Herkunft des Festes, sondern um seine Bedeutung.“, entgegnete Azrael ruhig und als Rayne ihn auffordernd ansah, erklärte er sich näher, „Nun, die Menschen zum Beispiel sprechen diesem Fest die Bedeutung zu, mit denen zusammen zu sein, die man liebt.“

Diese Worte wirkten kurz wie ein Schlag vor den Kopf, während Rayne Azrael einfach nur ansah, nur um sich kurz darauf wieder daran zu erinnern, mit wem er hier sprach. Azrael war vermutlich nicht einmal bewusst, wie die vorgebrachte Definition an dieser Stelle klang, denn er sprach es mit der gewohnten naiven Ungerührtheit, was Rayne schließlich ein verheißungsvolles Lächeln auf die Lippen trieb.

„Na wenn das so ist…“, schnurrte er und ging mit geschmeidigen Schritten um das Podest des Totenbuches herum, um sich gelassen dagegen zu lehnen und nun in unmittelbarer Nähe zu dem Erzengel mit einem anzüglichen Lächeln zu ihm aufzublicken, „Wieso bin ICH dann hier, Azrael?“

Er erwartete bereits den verwirrten, unbeholfenen Blick, den Azrael meistens aufsetzte, wenn Rayne sich so verhielt und er die Verbindungen durch all die Dinge, die unausgesprochen blieben in Kombination zu seiner Weltfremdheit nicht so recht knüpfen konnte. Diesmal jedoch sah Azrael ihn nur ruhig aus goldenen Augen an und die Antwort folgte prompt.

„Weil ich dich gerufen habe und du gekommen bist.“, meinte er nüchtern und Rayne versteifte sich leicht.

Touché! Das war wohl ein Eigentor! Es war unklar, ob Azrael die Worte so meinte, wie Rayne sie auffasste, aber etwas in seinem Blick…

„Bild dir nichts drauf ein!“, entgegnete Rayne grimmig, dessen Miene sich schlagartig wieder verfinstert hatte, „Wenn das also alles war, kann ich ja jetzt wieder verschwinden und Schneeflocken zählen!“, er war sich ziemlich sicher, dass Azrael es durch sein Glühwürmchen ohnehin wusste, „Immer noch besser als mit deinen Bälgern dieses alberne, überbewertete Konsumfest zu feiern und >Happy Family< zu spielen!“

Er wandte sich zum Gehen, denn das hier, diese Villa, Azraels Wächter, dieser ganze göttliche, himmlische Quatsch… hier gehörte er nicht dazu! Er war ein Dämon! Ein Oberst! Er hatte schlimme Dinge getan! Menschen und auch Wächter auf die grausamsten Arten getötet! Selbst wenn er es wollen würde, man würde ihn hier nie akzeptieren! Und warum sollte er dies wollen? Er wollte es nicht!

Also brauchte er auch Azraels Mitleid nicht und musste sich nicht von ihm sagen lassen, dass er so verzweifelt war, dass er immer gleich angerannt kam, wenn dieser geflügelte Eunuch pfiff! Er hatte Besseres mit seiner Zeit anzufangen und brauchte weder Azrael noch sonst irgendjemanden! Alleine war er immer besser dran gewesen!

„Rayne.“, Azraels Stimme ließ ihn unwillkürlich inne halten als er bereits den Türgriff umschlossen hatte, „Ob du mit uns feierst oder nicht, bleibt natürlich allein deine Entscheidung. Aber ich habe es dir schon einmal gesagt und werde es nun wieder tun – du hast hier einen Platz bei uns!“

Rayne drehte sich nicht zu dem Erzengel um, doch seine angespannten Schultern verrieten das Gefühlschaos in seinem Inneren. Er hasste es, wenn sich Azrael durch die Nachrichten seiner Seelenlichter Zugang zu ihm erschlich, sich für Raynes Gedanken und Gefühle zeitweise empfänglicher machte und diese dann so direkt zur Sprache brachte. Doch er konnte ihn nicht unterbrechen, denn diese Worte taten auf diffuse Weise ebenso gut wie sie schmerzten und ihm Angst machten.

„Einen Platz, den du dir selbst verdient hast!“, fuhr Azrael fort, „Meine Wächter müssen sich vielleicht noch daran gewöhnen… sich an dich gewöhnen, aber auch sie wissen, dass sie ohne deine Mithilfe womöglich nicht mehr am Leben wären. Du könntest zu uns gehören, Rayne. Der einzige, der dir dabei im Wege steht, bist du selbst. Aber ich “, Azrael zögerte kurz, etwas das bei ihm selten vorkam und Rayne dazu verleitete, sich wieder etwas unsicher zu ihm umzudrehen.

„Ich zähle dich schon lange als einen Teil dieser Familie dazu. Es würde mich freuen, dich heute hier zu haben.“, gestand der Todesengel dann und das Lächeln, das dabei seine Züge zierte, wirkte ehrlich und aufrichtig.

Azrael bestand immer darauf, dass er nie lügen würde, wie Rayne nun durch den Kopf schoss und ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er hatte Azrael noch nicht oft lächeln sehen, wie ihm gerade auffiel. Zumindest nicht auf diese Weise, denn normalerweise war es ein trauriges Lächeln, das man bei ihm sah. Dies jedoch…

Rayne schüttelte sacht den Kopf. Er sollte gehen! Dieser melancholische Depp wollte ihn nur mit seinem Gesülze verwirren und tat dies zu seinem Leidwesen auch noch mit Erfolg! Denn nach diesen Worten war es auf einmal nicht mehr so leicht, Azrael einfach stehen zu lassen. Es… würde sich falsch anfühlen. Aber bleiben? Azrael meinte es wahrscheinlich wirklich gut, was schon ironisch an sich war, bedachte man dass sie eigentlich Todfeinde sein müssten, aber er wusste vermutlich nicht, was er damit auslösen würde wenn Rayne blieb. Dass „der Rest“ von Azraels Familie nämlich ebenfalls über seine Anwesenheit erfreut wäre war stark zu bezweifeln!

//Ein Grund mehr zu bleiben oder nicht?//, meinte eine hämische Stimme in seinem Kopf, der er nur mit einem leisen Schmunzeln stillschweigend Recht geben konnte. Seit wann interessierte es ihn schließlich was diese Bälger wollten? Wenn ER hier bleiben und dieses bescheuerte Fest mit ihnen feiern wollte, würde er sich von ihnen sicherlich nicht davon abhalten lassen!

Aber wie sollte er nun diese Entscheidung kundtun, ohne dass es so klang, als habe Azraels Geschwafel von Plätzen und Familien ihn dazu bewegt?

Rayne öffnete den Mund, doch als ihm nichts Passendes zu sagen einfiel und er nur dastand wie ein Wasserspeier, ergriff erneut Azrael das Wort.

„Du kannst es dir in Ruhe überlegen.“, gestand dieser ihm zu, bevor er zu seinem Schreibtisch ging und zu Raynes Überraschung ein weihnachtlich verpacktes Paket darunter hervorholte und mit diesem zu ihm herüberkam.

„Was wird das denn jetzt?“, fragte Rayne verblüfft, obgleich das wohl offensichtlich war, ihn aber im ersten Moment völlig überforderte.

„Ich habe ein Geschenk für dich.“, sprach Azrael dann das Offensichtliche auch noch aus, was Raynes Verständnislosigkeit allerdings nicht im Geringsten milderte.

„Warum?“, wollte er wissen und sah den Erzengel forschend an, bevor er fast schon misstrauisch hinzufügte, „Ich habe nichts für dich.“

Geschenke waren meistens kein Akt der bloßen Nächstenliebe! Sie waren an unausgesprochene Bedingungen gebunden und erwarteten eine Begleichung entweder ebenfalls in Form eines Geschenks oder eine andere Gefälligkeit. Er hatte kein Geschenk für Azrael, wie dieser sich sicherlich denken konnte, was also wollte er von ihm?

„Ich habe es gekauft, weil ich hoffte, du würdest bleiben.“, antwortete Azrael mit einem nachsichtigen Lächeln und hielt ihm das Päckchen entgegen, das Rayne nun mit einer erhobenen Braue entgegennahm.

„Also willst du mich damit bestechen?“, stellte er fest und als Azrael nur milde belustigt meinte, dass er es nennen konnte, wie es ihm beliebte, stahl sich wieder ein Grinsen auf Raynes Lippen, „Gut, dann schauen wir mal mit was der große Todesengel meint, mich bestechen zu können…“

Azrael kannte ihn inzwischen wohl zumindest gut genug um zu wissen, dass Rayne viel zu neugierig wäre, um dieses Päckchen nun ungeöffnet zu lassen. Darüber, dass es eine Falle sein könnte und ihm irgendetwas Explosives oder Giftiges entgegenkäme, wenn er es öffnete, waren sie inzwischen hinaus. So misstrauisch er dem Paket jedes anderen Erzengels, Dämons oder Wächters auch gegenüberstehen würde – Azrael hätte genug Gelegenheiten gehabt, ihn umzubringen, wenn er gewollt hätte.

Der professionellen Verpackungsart nach zu urteilen hatte Azrael das Geschenk vermutlich nicht selbst verpackt, sondern dies in einem Laden übernehmen lassen. Vielleicht auch so bestellt. Durch seine Duraskrallen brauchte Rayne weder Messer noch Schere um die Bänder ohne Schwierigkeiten zu lösen und anschließend das Papier herunterzureißen. Hervor kam dann erstmal nur eine schuhkartonähnliche Schachtel, die groß genug wäre, einen Drucker zu beinhalten, aber abgesehen davon dass Rayne bezweifelte, dass Azrael ihn mit einem Drucker zu bestechen versuchte, war es dafür nicht schwer genug. Bevor er sich wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend zum Geschenköffnen auf den Boden setzen musste, ging er zu Azraels Schreibtisch herüber, stellte die Schachtel dort ab und als er dann den Deckel abnahm und der Inhalt zum Vorschein kam, runzelte er fast etwas enttäuscht die Stirn.

„Klamotten?“, fragte er irritiert als er erstmal nur schwarzen Stoff erkannte, bevor er nach dem obersten Teil der zusammengelegten Kleider griff, es auseinanderfaltete und empor hob, wobei er nicht umhin kam, amüsiert aufzulachen, „Fetisch-Klamotten?“

Er betrachtete das schwarze Oberteil in seinen Händen, das in der Tat die Kürze seiner sonst üblichen Oberteile hatte, voraussichtlich somit seine Bauchmuskeln nicht verdecken würde. Zudem war es ärmellos, hatte dafür aber eine Kapuze mit weißem Pelzkragen. Das Material war reinstes Leder, doch innen mit dem weißen Pelz gefüttert, das sich auch am Saum, sowie an den Armlöchern wieder fand. Abgesehen von der generellen Kürze des Oberteils, wies es zudem einen recht tiefen V-Ausschnitt auf, welcher dann in eine Schnürung überging, die es einem vermutlich ermöglichte, das Teil perfekt an die eigenen Körperformen anzupassen.

Als Rayne auch noch die anderen Kleidungsstücke des Pakets in Augenschein nahm, fand er eine zum Oberteil passende, schwarze Hose mit einem dunkelroten Gürtel, der farblich auf die mit Schnallen besetzten Stiefel und Handstulpen abgestimmt war, welche ebenfalls je weißen Plüsch am Saum hatten. Der eindeutigste Beweis, dass es sich hierbei allerdings um ein Fetisch-Weihnachtsmann-Kostüm und nicht etwa nur um die Mode eines exzentrischen Designers handelte war die beiliegende, schwarze Weihnachtsmütze, ebenfalls mit weißem Fell und einem dazu passenden Bommel.

„Eine sehr subtile Art, mich in deine geheimen Fantasien einzuweisen.“, merkte Rayne lachend an, der kaum, dass er begriffen hatte, was Azrael ihm geschenkt hatte, gar nicht mehr damit aufhören konnte, „Bist du… bist du etwa in einem Sexshop gewesen?“

Wollte er belustigt wissen und bekam vor Lachen kaum noch Luft. Azrael allerdings ließ sich nicht beirren, beobachtete ihn sogar recht vergnügt.

„Aus dem Internet.“, erklärte er ohne das geringste Anzeichen von Scham, „Amy war der Meinung, dass wir aus dem heutigen Weihnachtsfest eine Art Kostümfeier machen sollten und da ich gehofft hatte, dass du meine Einladung annehmen würdest, habe ich vorsorglich für dich nach einem Kostüm gesucht. Ich hielt dieses für passend. Das Rot hat dieselbe Farbe wie dein Haar.“

Rayne nahm die Handstulpe, die er sich gerade probehalber angelegt hatte, genauer in Augenschein und stellte fest, dass er Recht hatte. Es passte perfekt und sogar die Größe der Klamotten war seine. Azrael schien einen erstaunlich guten Blick für so etwas zu haben und dass er etwas fand, das tatsächlich auf absurde Weise zu Raynes sonstigem Kleidungsstil passte und ihm entsprechend gut gefiel war… ja, was?

Er spürte etwas, das er nicht so genau benennen konnte, weil er so etwas normalerweise unterdrückte. Aber es war wohl Dankbarkeit, vielleicht sogar Rührung?! Irgendwelche Weichei-Gefühle jedenfalls und allein schon dafür, dass Azrael diese in ihm auslöste, müsste er ihm eigentlich dieses Zeug nun an den Kopf pfeffern und verschwinden. Stattdessen wusste er, dass dies spätestens jetzt keine Option mehr war…

„Ach was soll’s!“, war schließlich seine Antwort, ehe er begann, seine Klamotten abzulegen, um sich für die Feier „angemessen“ einzukleiden.

Ungebetener Gast

„Wenn du willst, können wir später noch ne Runde drehen!“, meinte Kazuki gut gelaunt, der mit Kaito auf der großen Couch in Nähe des riesigen Weihnachtsbaumes saß und sich mit ihm gerade angeregt über sein neustes Prachtstück unterhielt. Bei dem es sich natürlich um einen nigelnagelneuen Sportwagen handelte. Von seinen Eltern zu Weihnachten, wie er mit einem betont gleichmütigen Lächeln erzählt hatte, denn ihrem Sohn teure Geschenke zu machen, schien das einzige zu sein, das sie Kazuki zu geben hatten. Angesichts DIESES Geschenks jedoch… Kaito konnte einen gewissen Neid nicht leugnen.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er daher voll Begeisterung und setzte sich etwas aufrechter hin, als wolle er am liebsten gleich nach draußen und den Wagen probefahren, „Und ich… darf ich mal fahren?“

„Klar!“, antwortete Kazuki prompt, sah dann allerdings mit einem verschmitzten Grinsen zu der zum wiederholten Mal gefüllten Glühweintasse in Kaitos Händen, „Wir haben immerhin ne gute Versicherung! Wenn du nämlich noch mehr davon trinkst, weiß ich nicht, ob ich dich noch…“

„Hey Kaito!“, Renjos Stimme unterbrach ihr Gespräch und Kaito blickte fragend zu seinem besten Freund, der sich nun neben Kaito auf den freien Platz plumpsen ließ und ihm mit einem Lächeln ansah, das Kaito noch aus Kindheitstagen kannte. Das war dieses kindlich anmutende Lächeln, das Renjo immer drauf hatte, wenn ihm gerade ein Streich geglückt war und er sich schwer tat, nicht sofort loszulachen.

„Was hast du angestellt?“, fragte Kaito mit skeptisch erhobener Braue seinen grünbemützten Freund.

„Sieh nach oben!“, sagte dieser nur als sein Blick nun eindringlicher wurde und er mit einem verführerischen Lächeln mit den Augen nach oben wies.

Kaito tat wie geheißen, blickte an die Decke und sah – nichts!

„Nicht ganz so hoch!“, korrigierte Renjo ihn belustigt und erst nachdem dieser eine Hand hob um den Rentierhaareif, den Kaito von Amy aufgezwungen bekommen hatte, etwas nach vorne zu rücken, erkannte Kaito den kleinen grünen Zweig, den wohl „irgendein“ Weihnachtswichtel während seines vertieften Gesprächs mit Kazuki von hinten an seinem Geweih angebracht haben musste.

„Ehrlich, Renjo, ein Mistelzweig? Ist das nicht ein bisschen zu klischeehaft? Selbst für uns?“, meinte Kaito, kam allerdings nicht umhin belustigt zu lachen und Renjo kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht böse gemeint war.

„Ach, halt die Klappe und bewahre die Tradition!“, forderte Renjo nur und bevor Kaito noch widersprechen konnte, spürte er schon die Hand in seinem Nacken und die vertrauten Lippen auf den seinen. Es war ein inniger Kuss und Kaito ging nur zu gerne darauf ein, wobei es nun nicht mehr nur der Glühwein war, der ihm einheizte.

Es war angenehm, sich mit Renjo nicht mehr verstecken zu müssen. Vor kurzem noch wären sie für so einen Kuss in irgendeine ungesehene Ecke verschwunden und wären dann in Erklärungsnot geraten, wenn sie dabei die Zeit vergaßen. Aber auch wenn sie zumindest in der Öffentlichkeit immer noch nur beste Freunde waren, so war es schön, es wenigstens vor den anderen Wächtern nicht mehr geheim halten zu müssen. Wobei sich herausgestellt hatte, dass es eigentlich eh nie so ein großes Geheimnis gewesen war, wie sie beide angenommen hatten, denn nachdem sie sich endlich dazu entschlossen hatten, sich vor den anderen zu outen, hatte jeder bereits schon Bescheid gewusst oder es zumindest geahnt. Nicht weil Yuki oder Shio etwas verraten hätten, sondern wohl schlichtweg, weil sie nicht ganz so subtil mit ihren Gefühlen waren, wie sie es sich eingebildet hatten. Aber da ihre Befürchtungen sich nicht bestätigten und sie von den anderen weder anders behandelt noch anders gesehen wurden, war es eine große Erleichterung gewesen.

Um ihre Liebe auch der Öffentlichkeit zu zeigen waren sie noch nicht bereit, denn sie wussten, dass dort nicht jeder so tolerant sein würde und als „schwul“ ließen sie sich beide nicht gerne bezeichnen. Denn abgesehen davon, dass sie… nun ja einander liebten gab es keinen anderen Mann, der für sie von Interesse war!

Für Kaito zumindest nicht! Bei Renjo war das manchmal schwerer zu sagen, denn auch wenn er nichts dafür konnte, so war sein Geist und sein Körper schlichtweg leichter zu manipulieren. Duras hatten bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf seine menschliche Seite und Kyle… nun, Kaito war jedenfalls froh, dass der heute nicht hier war!

Nachdem Satariel aus der Welt geschafft wurde, waren die beiden englischen Wächter noch eine Weile geblieben, um sie weiter zu trainieren und auch auf das vorzubereiten, was künftig auf sie zukommen würde, zu den Feiertagen allerdings waren sie zurück in ihre Heimat nach England geflogen um dort bei ihrer richtigen Einheit zu sein. Ein bisschen war es schade, denn Kaito hatte gerade begonnen, sich an sie zu gewöhnen, doch in Renjos Sinne war es dann eigentlich ganz praktisch, ihn nicht mehr Kyles „Dauerbestrahlung“ auszusetzen.

Renjo löste den Kuss, trennte sich allerdings nur so weit von ihm, um ihm feixend entgegenzusehen.

„Sonstige Beschwerden, Rudolf?“, fragte er leise und Kaito grinste.

„Nichts gegen gute Klassiker!“, entgegnete er und war es dann selbst, der Renjos Lippen mit seinen verschloss und den Kuss intensivierte. Viel Zeit zum genießen blieb ihnen allerdings nicht, denn Amy, die man zuvor aus dem Esszimmer noch munter ihre Weihnachtslieder hatte schmettern hören, ließ nun verlauten, dass alles zum Essen fertig gedeckt und bereit war.
 

Das Esszimmer und die gedeckte, lange Tafel waren ebenfalls ein Traum. Gehalten in dem von Azrael bevorzugten weiß und gold. Das Geschirr war feines Porzellan, das Besteck echtes Silber – was Kaito beurteilen konnte, denn in der Pension hatten sie ebenfalls ein Set – und die platzierten Sekt- und Wassergläser aus edlem Kristall. Der große Kristallkronleuchter an der hohen Decke tauchte den Raum in ein warmes, gemütliches Licht und die Tischdeko bestand aus verteilt liegenden kleineren und größeren Diamanten, ein paar Eisskulpturen in Engelsform sowie kunstvoll verzierten, goldenen Weihnachtskugeln.

Im ersten Moment schien einfach alles zu glitzern und in den verschiedensten Farben durch die Lichtbrechung zu funkeln. Es war gut, dass man Kaito nicht zur Tischdeko eingeteilt hatte, wie ihm nun durch den Kopf schoss. Denn auch wenn er das immer noch besser konnte als Kochen, so wurde es bei ihm immer etwas rustikaler und seine bevorzugten Themenmottos waren „Autos“ oder „Sport“. In diesem Fall hätte er mal eine Ausnahme gemacht und „Weihnachten“ gewählt, aber auch das sähe bei ihm dann wesentlich anders aus.

So war es ganz gut, dass die Deko von den besseren Feingeistern in ihren Kreisen übernommen wurde und Azrael stinkreich war!

Aber auch die Köche hatten großes Lob verdient, denn die Speisen, die aufgetischt wurden, ließen einem schon beim Geruch das Wasser im Mund zusammen laufen.

Nachdem alles von der Küche ins Esszimmer gebracht wurde, nahmen sie an der großen Tafel Platz und Kaito setzte sich zwischen Renjo und Ryo, dem er zuvor noch grüßend eine Hand auf die Schulter legte und ihm ein Lächeln schenkte, das für Ryo mehr sagen würde als es Worte taten, denn als Wächterpartner waren diese nicht nötig.

Kaito wusste, dass der Rothaarige vermutlich hauptsächlich wegen ihm hier war und sich diese Feierlichkeiten „antat“. Er hatte schon die vergangenen Tage gespürt, dass Kaito etwas belastete, dass er trauerte und Kaito hatte gespürt, dass Ryo ihm als Antwort darauf seine übliche Art von stillem Beistand zukommen ließ. Keine unnötigen Worte, keine erzwungenen Gespräche und Aussprachen, nur seine stille Unterstützung und damit Hinweis genug um Kaito eigentlich da schon das wissen zu lassen, was Shio ihm vorhin auf dem Balkon nochmals näher gebracht hatte. Dass sie nicht mehr alleine waren!

Also erwiderte Kaito Ryos Unterstützung und Anwesenheit nun mit seiner Art des unausgesprochenen Danks in Form eines Lächelns und wenn er sich nicht täuschte, schien sein Partner dieses sogar kurz zu erwidern.

Kaito setzte sich und als er seinen Blick über die Runde schweifen ließ, schlich sich ein belustigtes Schmunzeln auf seine Lippen. Überall sah man nur Weihnachts- und Wichtelmützen oder Rudolfgeweihe, wie er eins hatte. Nun alle so mit ihren Weihnachtsaccessoires hier beisammen sitzen zu sehen hatte durchaus was für sich. Doch… einer fehlte noch… oder zwei?

Überrascht bemerkte er, dass es nicht nur Azraels gedeckter Platz war, der frei blieb. Links neben diesem an der Tafelspitze war noch ein weiterer gedeckter Platz, was seltsam war, denn als Kaito nochmals reihum alle durchzählte, schienen alle da zu sein: Amy, Yuki, Shioya, Seraphin, Kazuki, Aeon, Akira, Noir, Ryo, er selbst und Renjo.

„Ich fürchte, ihr habt einen Platz zu viel gedeckt.“, stellte Kaito an Amy gewandt fest, die bei der Deko beteiligt gewesen war und ihm nun am Tisch gegenübersaß.

„Willst du mir damit etwa unterstellen, ich könnte einen Fehler gemacht haben?“, erwiderte sie schelmisch und als Kaito nur den Mund öffnete und vor sich hinstammelte, statt eine schlagfertige Antwort zu geben, lachte sie munter und schüttelte dann den ebenfalls mit einer grünen Wichtelmütze gezierten Kopf, „Nein, das stimmt schon so, Süßer. Ich habe bei der Sitzordnung Azraels Anweisungen befolgt, also nehme ich an, dass unser Liebchen noch einen Gast mitbringen wird.“

Sie wirkte dadurch nicht im Geringsten nachdenklich oder in ihrer Stimmung gedämmt, Kaito allerdings tauschte auf diese Worte hin mit Renjo einen beunruhigten Blick.

Ein Gast? Azrael und ein Gast? Es gab nicht viele Personen, die das Recht hatten, in dieser Villa ein- und ausgehen zu dürfen und die Vorteile des Bannkreises zu nutzen. Normalerweise war dies lediglich Wächtern vorenthalten. Tatsächlich fielen Kaito nur zwei Personen ein, die als Gast gemeint sein könnten.

Der eine war Azraels Erzengelbruder Gabriel und der andere…

Noch bevor sich die Tür öffnete war Raynes Nähe zu spüren. Vermutlich war er zuvor in Azraels Büro gewesen, wo seine Aura verdeckt wurde, aber abgesehen von diesem einen Zimmer konnte ein Duras innerhalb dieses Bannkreises seine wahre Identität nicht verschleiern und kurz bevor er mit Azrael den Speisesaal betrat, erklang das warnende Summen seines Ringes.

Wo zuvor noch rege Gespräche an allen Ecken geführt wurden, war es mit einem Mal mucksmäuschenstill geworden und alle Blicke richteten sich auf den hochgewachsenen Erzengel und seinen „Gast“.

An sich gaben die beiden ein ulkiges Bild ab, denn Raynes Outfit gab beinahe noch mehr nackte Haut preis als es Amys schon recht knappes – und durchaus sexy aussehendes – Weihnachtselfenkostüm tat, aber dass Rayne gerne freizügige, extraordinäre Kleidung trug war hier niemandem mehr neu. Was viel verblüffender war, war eher dass er gerade tatsächlich eine Art schwarzes Weihnachtsmannkostüm trug. Sich also damit gewisserweise… anpasste? Dieser Begriff in Bezug auf Rayne schien nicht so recht zu passen und doch fiel Kaito spontan nichts anderes ein.

„Wow…“, war es dann allerdings Rayne, der als erstes die Stille brach, „Mann, hier geht ja echt die Post ab!“, er klopfte Azrael anerkennend auf die Schultern während sich ein hämisches Grinsen auf seinen Zügen breit machte, „Wie gut dass ich das hier nicht verpasse!“

Gut, momentan war hier wohl wirklich tote Hose, denn Raynes unerwartetes Auftauchen hatte sie alle kalt erwischt. Fast alle zumindest, denn Amy löste sich rasch aus ihrer Starre und lachte erheitert auf.

„Nun, Herr Dämon, die Stimmung ist immer so gut, wie man sie sich macht.“, entgegnete sie dann und zwinkerte ihm keck zu, „Wie wär’s wenn ihr euch erstmal setzt und dann zeigst du uns später, was ein Dämon unter einer gelungenen Feier versteht?“

Sie meinte es gut und schien Rayne wie immer eine Chance geben zu wollen, nichts Zynisches schwang in ihren Worten mit, doch der Gedanke, Rayne nun den Rest des Abends am Hals zu haben trug nicht unbedingt dazu bei, Kaito in Feierstimmung zu versetzen.

„Glaub mir, Schätzchen, die Art wie Dämonen feiern…“, Rayne grinste verschwörerisch, während die intensiven, smaragdgrünen Augen über die jüngsten Mitglieder ihrer Runde glitten, „ist nichts für Kinder!“

Und doch folgte er nun Amys Aufforderung und setzte sich gemeinsam mit Azrael an die freien Plätze am Ende der Tafel. Kaito sah aus den Augenwinkeln wie sich Renjo neben ihm verspannte und als er besorgt zu diesem blickte, war nichts mehr von der vorigen Gelassenheit mehr zu erkennen. Ein Fakt, der nun auch Kaito aus seiner Fassungslosigkeit verhalf.

„Was tut DER hier?“, fuhr Kaito den Erzengel ungehalten an, weder fähig noch gewillt, seinen Zorn zu verbergen. Es war schließlich Weihnachten! Das Fest der Liebe und Familie! Shios und sein erstes Weihnachtsfest mit ihrer neuen Familie, er wollte nicht diesen Störenfried hier haben und sich ständig fragen müssen, was in Renjo wohl vor sich ging, während er gezwungen war diesem Möchtegernvater gegenüber zu sitzen!

„Ich habe ihn eingeladen.“, antwortete Azrael ruhig und wandte sich dann an die Allgemeinheit, „Rayne hat viel für uns getan! Im Kampf gegen Satariel hat er mehr riskiert und mehr einstecken müssen als jeder andere hier. Dass wir letztendlich siegreich waren, haben wir zu einem großen Teil ihm zu verdanken.“

„Hey, Engelchen! >Rayne< kann für sich selbst sprechen.“, meinte der Duras mit einem belustigten Grinsen, aber Azrael schien es vorzuziehen, diesen Einwand zu ignorieren. Denn er legte Rayne nur eine Hand auf die Schulter und fuhr an seine Wächter gewandt fort: „Er hat sich seinen Platz hier verdient!“

Erneute Stille trat ein. Kaito wusste nichts darauf zu erwidern. Was Azrael sagte stimmte ja gewisserweise, denn Rayne war ihnen trotz all ihres Misstrauens und ihrer Verdächtigungen eine große Hilfe gegen Satariel gewesen. Auch ihre Vermutung, dass er sich kaum, dass Satariel kein Thema mehr war, gegen sie richten würde, hatte sich bisher nicht bewahrheitet. Weder hatte er einen von ihnen angegriffen, noch hatte er in den letzten Monaten einem Menschen etwas angetan, denn natürlich hatten sie dies im Blick behalten. Manchmal war er sogar bei Renjo aufgetaucht, das wusste Kaito, weil er entweder dabei gewesen war oder es von Renjo erzählt bekam und auch ihm hatte er nichts getan. Nicht wirklich jedenfalls.

Sie waren nie wirklich schlau aus ihm geworden, denn meistens wenn Rayne sie besuchen kam, nervte er sie nur ein wenig und ging dann wieder. Kaito vermutete, dass ihm wohl langweilig geworden war und dass er diese Langeweile nicht damit vertrieb, Menschen oder Wächter abzuschlachten sprach vielleicht für ihn, aber nichts desto trotz… war er einfach unerträglich!

Azraels Worte und seine Fürsprache für Rayne waren ja schön und gut, aber so wie Kaito Rayne kennen gelernt und bisher erlebt hatte, hatte dieser nie wirklich Hinweise gegeben, überhaupt einen Platz hier haben zu wollen. Er verachtete sie schließlich, wie er nicht müde wurde, ihnen deutlich zu machen. Was also wollte er hier? Ihnen die Festlichkeiten verderben?

Kaito wollte diese Gedanken gerade aussprechen, doch Renjos Hand, die seine unter dem Tisch ergriff und beruhigend streichelte, ließ ihn inne halten.

„Ist schon gut, Kaito. Ich komm klar.“, flüsterte Renjo ihm zu und Kaito sah ihn prüfend an um zu sehen, ob das stimmte. Ein wesentlicher Grund, weshalb Kaito Rayne nicht hier haben wollte war schließlich Renjo!

Nicht nur, dass Raynes Anwesenheit genügte, um in ihm wohl jedes Mal wieder ein heilloses Gefühlschaos anzurichten, wurde Kaito den paranoiden Gedanken nicht los, dass Raynes ganze Zurückhaltung in den letzten Wochen und das vermeintliche Wechseln auf die „gute Seite“ nichts anderes bezweckte als Renjos Vertrauen zu gewinnen, ihn zu manipulieren und dann irgendwann doch zu „bekehren“. Ähnlich wie Senator Palpatin alias Darth Sidious es mit Anakin Skywalker getan hatte. Oder wie es dieser als Darth Vader später mit seinem Sohn Luke versucht hatte.

Renjo meinte darauf dann zwar immer, dass er dann eben Luke und nicht Anakin wäre und sich nicht auf die dunkle Seite der Macht ziehen lassen würde, aber Kaito war einfach nicht wohl dabei, ihn mehr Zeit als nötig mit Rayne verbringen zu lassen. Auch wenn Azrael Rayne vertraute, ihm selbst fiel das nicht so leicht!

„Also… bist du nun einer von uns?“, war es schließlich Renjo, der die entscheidende Frage aussprach und sich im Gegensatz zu Kaito direkt an Rayne und nicht an Azrael wandte. Kaito sah Renjo irritiert an, denn er schien die Frage tatsächlich ernst zu meinen. Nicht sarkastisch wie es wohl bei Kaito geklungen hätte, der sich einfach nicht vorstellen konnte, dass Rayne jemals einer von ihnen sein könnte, geschweigedenn dies wollen würde.

Waren sie nicht nur „Azraels Kindergarten“, „wertlose Maden“ oder „gerupfte Hühnchen, die sich Engel nannten“? Was Bezeichnungen anbelangte, hatte Rayne jede Menge für sie parat und Kaito erinnerte sich nicht, dass jemals etwas Nettes darunter gewesen wäre. So tauschte er mit Kazuki einen Blick und wusste, dass zumindest dieser seine Meinung teilte. Ein paar andere wirkten verunsichert, zum Teil wohl peinlich berührt durch die von Azrael zur Sprache gebrachten Schuld, in der sie bei Rayne standen und zum anderen wohl dem gesunden Misstrauen, das jeder Wächter gegenüber einem Duras hatte.

Dass Rayne sich allerdings diesmal ungewöhnlich viel Zeit zum antworten ließ, machte Kaito hellhörig. Er hätte schon längst irgendeinen großspurigen Spruch erwartet, von wegen, dass Rayne sehr tief fallen müsse, um „einer von ihnen zu sein“ oder dergleichen, doch nichts davon kam. Stattdessen schien Rayne kurz nachzudenken, warf dann einen kurzen Blick zu Azrael, bevor er kurz die Augen schloss und ergeben seufzte.

„Nun ja… es ist Weihnachten oder nicht?“, antwortete Rayne schließlich und lächelte resigniert als er wieder zu Renjo aufsah und diesem eindringlich entgegenblickte, „Behaupten die Menschen nicht immer, dass man dieses Fest zusammen mit der Familie verbringen sollte?“

Er lachte, auf eine Weise, wie Kaito ihn nie hatte lachen hören. Irgendwie verlegen, fast etwas verunsichert, bevor er schnell fortfuhr, wie um diese Unsicherheit zu überspielen: „Nicht, dass man viel auf das Gerede von Menschen setzen sollte. Laut denen stinken Dämonen auch nach Schwefel und Gott ist ein liebender Vater, der jede Sünde vergibt und allgegenwärtig ist, aber…“, er zuckte gelassen mit den Schultern, „Man kann’s ja mal ausprobieren.“

Mit dieser Antwort hatte wohl keiner von ihnen gerechnet und auch wenn Kaito sich nicht sicher war, in wieweit Raynes Worten zu trauen war und ob er ihnen nicht nur etwas vorspielte, spürte er zu seiner eigenen Überraschung noch etwas anderes in sich aufkommen, was er in Verbindung mit Rayne erst einmal empfunden hatte und das, bevor er ihn wirklich gekannt hatte, doch es war Mitleid!

Die Art wie Rayne sprach, die ungewohnte Verunsicherung und die Tatsache, dass er hier war, dass er bereit war, es trotz seiner sonst immer großspurigen Worte „auszuprobieren“, die Besuche der letzten Monate bei Renjo… auf einmal fiel es Kaito wie Schuppen von den Augen – das war keine Langeweile! Es war Einsamkeit.

Darum mordete er auch nicht oder versuchte, gegen die Wächter vorzugehen. Aus der Sicht eines Duras wäre dies vielleicht ein Mittel gegen Langeweile, aber gegen Einsamkeit würde es nicht helfen.

„Und abgesehen davon…“, meinte Rayne dann noch und das Grinsen, das sich nun bei ihm breit machte, während er der erste war, der sich an den aufgetischten Speisen bediente, sah schon wieder mehr nach ihm aus, „Gibt’s hier was zu essen!“

„Hört, hört!“, stimmte Amy munter zu und machte dann den Vorschlag, dass sie alle zugreifen sollten, bevor es noch kalt wurde und tatsächlich kamen sie einer nach dem anderen der Aufforderung nach, während wohl jeder für sich stillschweigend beschlossen hatte, Rayne wenigstens für heute Abend hier zu dulden und ihm zumindest eine Chance zu geben.

An Weihnachten ist niemand allein!

Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sich geradewegs bäuchlings auf das große Bett fallen und vergrub sein leicht erhitztes Gesicht in den weichen mit Satinbezogenen Kissen. Alles um ihn drehte sich, obwohl er ruhig lag und die Augen geschlossen hielt. Eine seltsame Mischung aus gefühlter Schwerelosigkeit und gleichzeitig bleierner Schwere hatte seinen Körper befallen und ließ ihn daher keinen Muskel mehr rühren.

„Was war bloß in diesem Punsch drin?“, grummelte er in das Kissen und spürte die Hand, die ihm die schwarze Weihnachtsmütze vom Kopf nahm und ihm daraufhin sanft durch das leicht verschwitzte Haar strich. Im Gegensatz zu sonst wunderte sich Rayne diesmal nicht über Azraels Berührung. Sein Verstand war wie benebelt und das einzige, das er noch zu erfassen fähig war, war dass es gut tat. Dagon hatte ihn auch manchmal auf diese Art durchs Haar gestreichelt und ihm mit einem sanften Lächeln gesagt, wie schön seine Haarfarbe war.

Auch, dass er sich hier in Azraels Schlafgemächern befand, wusste er zwar, störte ihn aber nicht. Er hatte nicht vor, heute noch zu gehen, denn es fühlte sich an, als würde sein Körper ihn ohnehin nicht mehr tragen wollen.

Eigentlich hatte er nicht viel getrunken, aber spätestens jetzt wusste er, dass er wohl nach der ersten Tasse Glühwein hätte aufhören sollen. Duras vertrugen keinen Alkohol! Oder zumindest er nicht. Er wusste nicht, wie es bei anderen Obersten war, aber nachdem Rayne vor 100 Jahren von Dagon in diese Welt gerufen wurde und begonnen hatte, die Menschen zu studieren, hatte er auch diverse Getränke ausprobiert. Alkohol gab es bei ihnen im Infernos schließlich auch, nur natürlich aus anderen Dingen zubereitet, weil schlichtweg alles im Infernos anders war als in der Menschenwelt. Andere Tiere, andere Pflanzen und auch die Duras unterschieden sich immerhin deutlich von den Menschen.

Die meisten Gifte und Krankheiten der Menschen kamen gegen das Immunsystem eines Duras nicht an. Nur beim Alkohol hatte Rayne die Erfahrung gemacht, dass es seltsamerweise bei ihm deutlicher anschlug als bei den Menschen.

Zwei Tassen von diesem Teufelszeug hatten genügt und er fühlte sich wie gerädert und auf der anderen Seite so gut wie schon lange nicht mehr.

„Ich bin stolz auf dich.“, hörte er Azrael sagen, während dieser ihm weiterhin über das Haar strich, „Danke, dass du geblieben bist.“

Rayne konnte nicht anders als zu lächeln, merkte es nicht einmal, weshalb er es nicht unterbinden konnte, doch stehen lassen konnte er diese Worte so auch nicht.

„Spar’s dir, Eng‘lchen!“, erwiderte er mit leiser, träger Stimme, ohne sich die Mühe zu machen die müden Lider zu heben, „Nett sein is‘… anstreng’nd! Das mach ich sicher nich wieder.“

Und ja, es war anstrengend! Ob man ihn wirklich als „nett“ bezeichnen könnte, war vielleicht fraglich, denn dass er eben gerne prahlte und seinen Senf zu allem dazu gab, war ein Teil von ihm, den er nicht einfach ablegen konnte, aber Azrael zuliebe hatte er zumindest versucht, heute ein bisschen weniger beleidigend und zynisch zu sein. Nicht immer ganz leicht, aber wenn er wollte, konnte er sich schließlich ganz gut beherrschen.

Er wagte es kaum, es zuzugeben, doch… der Abend war amüsant gewesen. Momentan kam es ihm allerdings irgendwie irreal vor. Nicht nur, dass er in seinem ganzen Leben nie zuvor Weihnachten gefeiert hatte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dies mit einem Erzengel und seinem Wächterverein zu tun. Dass es dann sogar irgendwie angenehm gewesen war, war der nächste Schreck.

Die Diskussionen mit der vorlauten Wächterin waren bisweilen sehr erheiternd und drehten sich hauptsächlich darum, wer von ihnen in ihrem Outfit heißer aussah und wenn er das nicht nur geträumt hatte, hatte er sich von ihr tatsächlich zu einem Gesangscontest herausfordern lassen. Was zu einer bühnenreifen Performance des Songs „Bed of Nails“ geführt hatte und ja, tatsächlich Spaß gemacht hatte.

Zudem war das das erste mal gewesen, dass er so lange am Stück mit seinem Sohn zu tun gehabt hatte und auch wenn er nichts von dem allgegenwärtigen Familiengesülze hielt, musste er erkennen, dass es zwischen Renjo und ihm vielleicht doch ein paar Parallelen gab. Zumindest dann, wenn er sein Söhnchen Sprüche klopfen hörte oder den Blick sah, mit dem dieser seinen geliebten Windbeutel betrachtete, kam ihm dies vage bekannt vor. Und sein Windbeutel… die amethystfarbenen Augen, die auch dessen Bruder hatte, sie erinnerten ihn unweigerlich an Dagon. So schien zumindest Renjos Geschmack nicht gänzlich von seinem abzuweichen, wobei es ohnehin nicht nur Dagons Äußeres gewesen war, weswegen Rayne ihn geliebt hatte…

Rayne lachte leise, als ihm plötzlich etwas einfiel, das Dagon mal zu ihm gesagt hatte und als Azrael nachfragte, was so komisch war, drehte er sich etwas mühsam auf den Rücken. So konnte er Azrael ansehen, der neben ihm auf dem Bettrand saß und auch wenn Raynes Sicht verschwommen war, meinte er ein dezentes Strahlen von dem Todesengel ausgehen zu sehen. Klar, Engel hatten diesen himmlischen Schimmer, Erzengel erst recht, aber es war ihm nie zuvor so deutlich aufgefallen wie jetzt.

„Dagon meinte mal… wir beide… also du un ich“, Rayne grinste sacht, während er bemüht geordnet fortfuhr, „würden gut zusamm’n pass‘n.“

Etwas irritiert von dem eigenen Leiern seiner Stimme runzelte er sacht die Stirn. Er klang ja wie ein Volldepp! Mal abgesehen davon, dass diese Aussage ebenso bescheuert war. Das hatte er Dagon auch schon klar gemacht, als dieser das behauptet hatte, warum erwähnte er es also jetzt?

„Und was denkst du?“, fragte Azrael nun und die Sanftheit und Ruhe seiner Stimme waren einlullend. Normalerweise würde Rayne diese Frage gehörig ausnutzen, ein wenig mit Azrael flirten und sich über seine Reaktion amüsieren, aber momentan kam er nicht einmal auf die Idee, sich damit vor einer ehrlichen Antwort zu drücken. Es wäre irgendwie gerade zu anstrengend. Was war schließlich dabei, wenigstens einmal die Wahrheit zu sagen und weder eine Show abzuziehen, noch zu lügen? Es war immerhin Azrael…

„‘S is absurd!“, antwortete er daher ehrlich und immer noch nicht fähig, die Trägheit seiner Stimme zu überwinden, während er matt lächelte, „Du bist’n Erzengel…“

„Das war Dagon auch.“, warf Azrael ruhig ein und Rayne nickte sacht, bevor er den Kopf schüttelte.

„Ja, aber’n Gefall’ner! Kein Hamplmann Gottes… Nich‘ dass du… ich mein…“, Rayne seufzte müde und schloss erneut die Augen. Nichts von dem, was seinen Mund verließ drückte annähernd das aus, was er eigentlich meinte. Dass Azrael ein Erzengel war, war eine Tatsache und das allein machte schon Dagons Worte lächerlich.

Aber nicht, weil Azrael ein Hampelmann Gottes wäre, nach allem was er bereits für Rayne getan hatte und die Tatsache, dass er ihm vertraute und sich für ihn einsetzte, war nämlich Hinweis genug, um zu wissen, dass Azrael nicht wie seine Brüder und Schwestern tickte. Das Leben hier im Menschenreich musste ihn wohl verändert haben, so wie auch Rayne.

Aber nur rein hypothetisch – wenn Rayne und Azrael angeblich so gut füreinander geschaffen wären, würde das dann nicht vielleicht schon genügen, um Azrael auch zu einem Gefallenen werden zu lassen? Rayne war immerhin ein Dämon und die meiste Zeit benahm er sich auch wie einer! Würde er Azrael nicht verunreinen?

Der Gedanke hätte an sich etwas für sich! Selbst derjenige zu sein, der genug Einfluss besaß um den Fall eines Erzengels herbeizuführen und wenn er Azrael dann für sich hätte, wäre das auch nicht schlecht. Doch wenn er ein Gefallener war würde er sterblich werden und früher oder später…

„Was hat’s mir gebracht?“, wisperte Rayne mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen, „Dämon, Gefallner… am Ende lass’nse ein’n im Stich! Un‘ ich…“

Er brach ab und spürte die Hand, die ihm nun statt durchs Haar über die Wange strich und ihn zwang, die Augen wieder zu öffnen. Azrael beugte sich nun zu ihm herab und war ihm mit einem mal so nahe, dass Rayne ihn trotz seiner verschwommenen Sicht wieder klarer erkennen konnte. Alles andere um sie herum schien sich auf einmal um sie zu drehen und nun war es nur noch das Zimmer hinter Azrael das verschwamm, während er die hellen Augen des Todesengels so deutlich und so eindringlich sah als würde er sie zum ersten Mal richtig erkennen. Der Schmerz in ihnen, die Verlorenheit, die Einsamkeit, Trauer, Verlust… so viel stand in ihnen geschrieben und noch mehr, denn als er ihn nun ansah war da etwas, das Rayne nie bei ihm gesehen hatte. Zumindest nie auf sich bezogen.

„Du bist nicht mehr alleine, junger Duras.“, erklärte Azrael leise ohne seine Hand von Raynes Wange zu nehmen und das Lächeln auf seinen Lippen, traurig und doch irgendwie glücklich ließ Raynes Herz höher schlagen, „Wir beide müssen dies nicht mehr sein! Dagon hat uns beide verraten. So ist das Leben...“, Azrael lächelte verständnisvoll und bevor Rayne sich versah nahm er seine dunkle Gestalt an. Die silbernen Haare färbten sich dunkel, die hellen Augen wurden golden und die Aura, die von ihm ausging wechselte mit.

Der zuvor traurige und verstehende Ausdruck in den hellen Augen wurde nun zu Entschlossenheit aus der nichts desto trotz dieselbe Ehrlichkeit sprach, als er fortfuhr: „Ich aber bin der Tod, Rayne! Und der Tod verrät einen nie!“

Mit diesen Worten überbrückte er die letzten Zentimeter zwischen ihnen und als sich ihre Lippen berührten war es, als würden mit einem Mal all der Schmerz und die Ängste von ihm abfallen. Wie aus Reflex öffnete Rayne den Mund, um Azraels Zunge Einlass zu gewähren und alles an diesem Kuss, alles an seiner Nähe, alles an IHM fühlten sich so richtig an, dass Rayne mit einem mal begriff, was Dagon gemeint hatte.

Es spielte weder eine Rolle, dass Azrael ein Erzengel war und er ein Dämon, noch dass Azrael wie Dagon um so vieles älter war als er und in ihm vielleicht noch ein halbes Kind sah. Auch spielte es keine Rolle, dass Azrael und er nicht unterschiedlicher sein könnten, denn was ihre Gefühle anbelangte und den Dingen, nach denen sie sich sehnten könnten sie sich vermutlich nicht ähnlicher sein.

Den Großteil seines Lebens, hatte sich Rayne nach dem Tod gesehnt und sich dann hier dennoch solange an das Leben geklammert, bis es ihn erneut verriet. Wenn man also alles verloren hatte, was blieb einem noch bis auf den Tod? Ja, dieser würde einen nie verraten und war zudem unsterblich! Dieses Mal wiederholte Rayne seinen Fehler nicht! Dieses Mal machte er zum ersten Mal etwas richtig!



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von: abgemeldet
2015-08-24T19:44:08+00:00 24.08.2015 21:44
Ich liebe dieses Kapitel! :D
Es ist so perfekt und süß und ich finde es passt alles und awwh~! ♥
Ich mag die beiden einfach noch immer!
 
(wobei es sicher witzig wäre, einen betrunkenen Rayne rumzuschubsen, *hust* >D)
Antwort von:  caty
24.08.2015 22:11
hach danke. als ich es geschrieben hatte, hätte ich ja nicht gedacht, dass du mal da drüber stolpern würdest aber es reut mich sehr, dass es auch dir gefällt und es für dich so passt :D
Antwort von: abgemeldet
25.08.2015 10:30
Ich sehe alles! Harharhar! >:D

Nein, aber da war ein Rayne vorne als Cover drauf und ja...da musste ich zumindest den Rayne-Teil lesen ;D
Von:  elesie
2013-12-31T15:22:21+00:00 31.12.2013 16:22
So, endlich komm ich dazu auch nen Kommi zu schreiben.^^
Und als erstes muss ich dir recht geben. Deine FF würde wirklich gut zwischen besagte Kapitel meiner FF passen.^^
Die Szene zwischen Kaito und seinem Brüderchen war wirklich rührend zu lesen und es ist schön, dass Shio es zumindest ansatzweise geschafft hat, Kaito ein wenig aufzubauen! Und es wäre schön, wenn das auch im richtigen Play mal so sein könnte.^^
Azrael und Rayne zu lesen war köstlich! Vor allem das mit seinem Weihnachtskostüm. Und ich bin mal gespannt, was sich mit den beiden im RPG noch so alles ergeben wird. Und vor allem, wie unsere Jungs darauf reagieren werden. ;)
Die Idee, dass alle irgendwelche Mützen oder Geweihe tragen müssen, konnte ja nur von Amy kommen. Und es passt verdammt gut zu ihr. Einige waren sicher hell begeistert so was aufziehen zu müssen. *g*
Überrascht und gleichzeitig gefreut hat es mich, wie offen Renjo und Kaito mittlerweile ihre Gefühle füreinander zeigen können.
Mal sehen, wann sie sich das im RPG trauen werden.^^

Eine wirklich sehr schöne FF! ♥
Danke dafür!^^
Da freut man sich doch gleich noch mehr drauf im RPG weiter zu machen.
Antwort von:  caty
31.12.2013 16:53
Aww vielen dank. Freut mich sehr dass es gefallen hat :D und ja freu mich auch schon drauf wenn die hektik bald vergeht und es im bddtus und den andern rpgs weiter gehen kann ^.^ danke für deinen lieben kommi :-*
Von:  xXKikiXx
2013-12-28T15:56:12+00:00 28.12.2013 16:56
....
Ohne Worte
Ich bin erstmal echt sprachlos und dann...
Awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww
Is das schön *Sonne in den Schatten strahl*
OMG *__*
Ich hab Gänsehaut bekommen am Schluss.

„Ich aber bin der Tod, Rayne! Und der Tod verrät einen nie!“

extrem toll, wahnsinnig toll ♥♥♥
Ich bin einfach nur noch begeistert.
Danke danke danke
das ist so super das ich kaum weiß was ich noch sagen soll außer Danke und du hast mir damit wohl die größte Freude gemacht. Einfach Wahnsinn *knuddelknutsch*
Antwort von:  caty
28.12.2013 18:12
Hach das freut mich sehr zumal das kapitel so egtl gar nich geplant war aber es schrieb sich dann von selbst. Schön dass es anklang fand und ich dir eine freude machen konnte :-*
Von:  xXKikiXx
2013-12-28T15:46:41+00:00 28.12.2013 16:46
*schnief*
das ist total rührend ♥__♥
zuerst hab ich natürlich über Kaito, Renjo und Kazuki lachen müssen. Schön das die sich wieder verstehen, aber schnelle Autos schweißen ja bekanntlich echte Jungs zusammen ;)
Das mit dem Mistelzweig war sehr süß ♥__♥ zum knutschen ehrlich *fg*
das Auftauchen Raynes war spannend und witzig zugleich. Dem seine große KLappe stopft wohl echt so schnell keiner, außer eben hier durch Zufall sein Junior.
Und es ist total schön zu lesen das Kaito mal etwas tiefer in Rayne blickt. Vielelicht bin ich ja bald doch nicht mehr die einzige die Rayne toll findet (neben unserem Engelsliebchen natürlich) ;)
wunder, wunderschön danke *noch mehr strahl*

Antwort von:  caty
28.12.2013 18:05
Freut mich dass es gefallen hat. Bei dem kapi war ich am unsichersten. Iwie zu viel interaktion mit meinen eigenen charas aber schön dass es trotzdem intetessant war :)
Von:  xXKikiXx
2013-12-28T15:31:00+00:00 28.12.2013 16:31
Awwwwwwwwww ♥__♥

Is das toll *strahl*
Ich kann mich vor Lachen kaum noch auf dem Stuhl halten. Du schaffst es aber auch sowas von gut Azrael wiederzugeben. Das ist schon fast unheimlich *gg*
herrlich wie du ihn und Rayne miteinander komunizieren lässt *fg*
genau so würde Azrael reagieren.
Total toll.
Über den Gedanken Azraels im Sexshop muss ich immer noch grinsen. Das ist dann wohl ein Bild für Götter, aber auch alles andere.
Einfach nur toll.
Danke danke danke ♥___♥
Antwort von:  caty
28.12.2013 18:00
Hihi da bin ich ja erleichtert dass ich azrael getroffen hab. War mir an diversen stellen sehr ubsicher ob ich die charas nich total ooc mache ^^"
Von:  xXKikiXx
2013-12-28T15:17:01+00:00 28.12.2013 16:17
♥♥♥
Ach wie is das süß *quietsch*
Eine schöne Idee.
Traurig und doch rührend zugleich, und Renjo mit grüner Wichtelmütze ist ja wohl das Highlight ♥
ganz toll und soooo schön die beiden Brüder mal auf einer Ebene zu sehen *schwärm*
Antwort von:  caty
28.12.2013 17:58
Danke das freut much :-*
Hab mir ja schon überlegt ne auflistung zu machen welche charas welche kopfbedeckungen aufhaben xD


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