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Eine Frage des Standpunkts

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Sichtwechsel

Sein Spiegelbild sah ihm mehr als mürrisch entgegen, als er die Reste des Rasierschaums mit einem Handtuch abwischte und ein letztes Mal das Ergebnis kontrollierte.

Nile unterdrückte ein genervtes Seufzen, als er das Handtuch etwas unkontrolliert auf die dafür vorgesehene Stange zurückwarf und stattdessen nach seinem Hemd griff. Heute war der Tag, an dem die neuen Rekruten entscheiden mussten, in welche Einheit sie eintreten wollten.

Für Nile bedeutete das nicht allzu viel Arbeit, es waren nie viele Neue, die er hatte. Maximal zehn Frischlinge und maximal fünf Leute, die sich irgendwie in den stationären Truppen besonders hervorgetan hatten.

Es würde vermutlich ohnehin die gleiche alte Leier wie jedes Jahr sein. Fast alle kamen sie aus dem gleichen Grund hierher: Ein sicheres, vergleichsweise einfaches Leben das mit zunehmendem Dienstalter auch zunehmend lockerer wurde und mit immer weniger Arbeit verbunden war.

Er kannte die Gerüchte, die unter den Soldaten im Umlauf waren, dass die Militärpolizei mit Abstand die verkommenste, faulste und unfähigste der drei Einheiten war. Nile konnte nicht anders, als ironisch zu schmunzeln, wann immer er diesen Vorwurf hörte. Natürlich stimmte es und er wäre ein kompletter Vollidiot, wenn er das nicht längst selbst wüsste.

Die Militärpolizei war die Zuflucht all jener, die gut genug (oder reich genug) waren, um den Gefahren des richtigen Militärs entkommen zu können und sich dennoch damit rühmen wollten, was für gute Soldaten sie doch waren.

Sie waren nicht mehr als das Produkt der Menschen, die gezwungen gewesen waren so zu tun, als würden sie sich für das Leben aller anderen interessieren. Als würden sie die Ordnung erhalten und wirklich für den Schutz des Königs sorgen, den kaum einer von ihnen überhaupt je zu Gesicht bekam.

Vor langer Zeit mochte die Militärpolizei vielleicht einmal gewesen sein, was sie vorgab zu sein: Die Eliteeinheit des Königs, die Hüter einer Ordnung, die es heute nicht mehr gab. Eigentlich gab es all das nicht mehr. Der König war nur eine Gallionsfigur, der Adel interessierte sich für nichts, die Ordnung, die sie so gekonnt vorgaukelten hatte es zu Niles Lebzeiten nie gegeben. Es war nichts weiter als eine einzige, große Farce.

Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte er fast darüber lachen können.

Doch dazu war er vermutlich einfach schon zu lange dabei und so setzte Nile eine unbeeindruckte Miene auf, als er seine Jacke überstreifte und sich auf den Weg machte.

Die „Aufsteiger“ aus den stationären Truppen beeindruckten ihn eher weniger. Sie waren genau, was er erwartet hatte. Hatten letztes Jahr knapp den Platz in die Top zehn verpasst und sich stattdessen abgerackert, um dennoch befördert zu werden. Er hielt ihnen die übliche Begrüßungsrede über Ehre und Pflicht und dergleichen. Auch nichts weiter als ein schlechter Scherz.

Einer der Neuzugänge stach Nile dabei ins Auge. Er hatte sich als Marlo Freudenberg vorgestellt und während der gesamten Rede hatten seine Augen dieses seltene Funkeln gehabt. Er war einer von ihnen – von den wenigen Ausnahmen, die alle Jubeljahre einmal auftauchten.

Er wollte etwas verändern, er war überzeugt von den Werten, die sie alle nur zum Schein repräsentierten. Für ihn war es eine Ehre und eine Erfüllung seiner Träume. Armer, naiver Trottel.

Nile verabschiedete die Neulinge mit einem Salut und wies einen der älteren Soldaten an, sie zu ihren Quartieren zu bringen. Das war eine Handlung, zu denen er seine Leute gerade noch bringen konnte.

Nile unterdrückte ein Seufzen, als er zu seinem Büro lief, um darauf zu warten, dass die letzten Rekruten ihre Entscheidung trafen und in Kürze hier aufschlagen würden.

Er trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Vorhof des Gebäudes. Mehrere seiner Soldaten lungerten um den großen Brunnen herum und unterhielten sich lautstark. Er war sich ziemlich sicher, was sich in den Flaschen in ihren Händen befand, aber Nile zog es vor darüber hinwegzusehen.

Tatsächlich hob er nun wirklich den Blick und sah hinauf. Vor dem blauen Horizont zeichnete sich die dunkle Silhouette des Palastes ab, in dem der König lebte. Selbst Nile war ihm erst ein einziges Mal begegnet – und das war bei seiner Ernennung gewesen. Er war ein unscheinbarer Mann, der kein einziges Wort gesagt und nur gelangweilt auf seinem Thron gesessen und zugesehen hatte.

Nile atmete resigniert und fast ein wenig melancholisch aus, als er sich gegen den Schreibtisch lehnte und weiter hoch in den Himmel blickte.

Er war auch einer der Narren gewesen, als er vor Jahren der Militärpolizei beigetreten war. Nicht anders als Marlo war er in der Überzeugung gekommen die Gerüchte wären nichts weiter als schlechte Propaganda der Neider, die nicht gut genug waren. Die ersten Tage hatten ausgereicht ihn eines Besseren zu belehren.

Doch Nile war stur gewesen. Er hatte sich alle Mühe gegeben möglichst schnell die Karriereleiter hinaufzuklettern, um an der Spitze alles ändern zu können. Er hatte gekatzbuckelt und Überstunden über Überstunden geschoben, sich bei Leuten eingeschmeichelt und sogar den einen oder anderen bestochen.

Und doch war alles umsonst gewesen. Er war sich selbst nicht mehr sicher, wann genau ihm das eigentlich klar geworden war. Nach seiner Ernennung zum Kommandanten hatte er sofort versucht Ordnung in die Truppe zurückzubringen. Vielleicht war er zu schnell vorgegangen, vielleicht war es von vornherein sinnlos gewesen. Er hatte nicht mehr als Spott und Gelächter kassiert, war nicht ernst genommen worden. Die Soldaten glaubten einfach nicht, dass ihr Kommandant so etwas ernst meinen konnte. Schließlich waren sie verkommen und der Verkommenste von ihnen wurde Chef, oder?

Nile schloss kurz die Augen und rieb sich über die Schläfen. Er hatte locker lassen müssen. Sonst hätten sie ihm gar nicht mehr gehorcht und er wäre seinen so mühsam erkämpften Rang ganz schnell wieder losgewesen.

Und so saß er nun in der Zwickmühle. Während von außen alle über ihn lachten, weil seine Leute machten, was sie wollten, lachten seine Leute über ihn, wenn er mit Strafen und Sanktionen drohte. Somit war er wohl auch nicht mehr als eine Gallionsfigur geworden.

Er schnaubte. Ironie des Schicksals.

Mal sehen, wie lange Marlo brauchen würde, bis er es aufgab und einsah, dass er auf längst verlorenem Posten kämpfte.

Mit einem Blick auf die Uhr stieß Nile sich ab und lief langsam los in Richtung des Haupteingangs. Er rechnete mit acht Frischlingen. Normalerweise kamen mit wenigen Ausnahmen alle zehn Besten zu ihm, aber er hatte die Liste gesehen und er wusste, dass Eren Jäger, die Nummer fünf, nicht kommen würde. Nicht, dass er sonderlich böse darum war, wenn er ehrlich mit sich selbst war, machte ihm der Junge Angst.

Allerdings machte er ihn auch wütend. Nicht wegen dem, was er getan hatte, sondern vielmehr für was er stand. Erwin und seine verdammte Einheit. Sie waren das Selbstmordkommando des Militärs, gering geschätzt, mit dem Ruf nur Steuergelder zu verschwenden in sinnlosen, gefährlichen Aktionen außerhalb der Mauern.

Und doch… Nile hatte etwas mehr Einblick in dieser Sache, als es die meisten Menschen hatten. Er wusste, dass die Soldaten der Aufklärungslegion die tatsächliche Elite waren, auch wenn jeder das gerne unterschlug. Nur diejenigen, die mit vollem Eifer bei der Sache waren, wählten die Aufklärungslegion, nur diejenigen, die gut genug waren und schnell lernten, überlebten die ersten Expeditionen. Und, was Nile fast wahnsinnig machte, sie alle vertrauten Erwin mit ihrem Leben.

Er schickte sie regelmäßig und ohne mit der Wimper zu zucken in den Tod und diese verfluchten Idioten gehorchten klaglos. Immer und immer wieder.

Sie wussten es, sie wussten ganz genau, dass sie nur Schachfiguren in Erwins Spiel waren und dennoch schätzten sie ihn und sprachen nur in den höchsten Tönen von ihm. Er verfeuerte sie und sie waren auch noch froh darüber.

Unbewusst ballte Nile leicht die Fäuste. Ihm war vollkommen klar, dass Erwin ein absolutes Genie war, wenn es um Strategie und Taktik ging und dass er meistens erreichte, was er wollte – die Gerichtsverhandlung war ein viel zu gutes Beispiel dafür. Es hatte einen Grund, warum gerade er Kommandant geworden war. Aber es war so unglaublich sinnlos. Er war kaltherzig und skrupellos. Warum? Warum sahen sie alle zu ihm auf? Warum lief bei ihm alles so geordnet? Und warum zum Teufel waren sie alle bereit sich für seinen hirnrissigen Krieg zu opfern?

(Und warum zur Hölle gehorchten ihm seine eigenen Leute nicht einmal, wenn er ihnen verbot vor der Mittagsstunde Alkohol zu trinken?!)

Immer war es Erwin, der seinen Weg durchsetzte und wenn er über Leichen ging. Eren Jäger war das beste Beispiel. Es war typisch für Erwin seine Kräfte einsetzen zu wollen, den Jungen als lebende Waffe ins Spiel zu bringen. Und es war aus strategischer Sicht sicher auch nicht dumm, insbesondere, da dieser völlig durchgeknallte Kerl das scheinbar auch noch gerne tun wollte.

Aber es war leichtsinnig und gefährlich. Nicht nur, dass niemand wusste, woher diese Kräfte kamen oder wie kontrollierbar sie waren, was sollte man den Leuten erzählen? War Erwin bewusst, dass er damit Aufstände und Unruhen geradezu provozierte? War ihm klar, dass ein einziger Fehlschlag im schlimmsten Fall ausreichen würde, einen kleinen bis mittleren Bürgerkrieg auszulösen?

Nile schnaubte. Wahrscheinlich war es das sogar. Aber Erwin ignorierte es. Für ihn zählte das Ergebnis, nicht die Anzahl der Leichen auf seinem Weg.

Er zwang sich die Gedanken beiseite zu schieben, als einer seiner Leute mit einem Klemmbrett in der Hand auf ihn zukam. Er nahm es nickend an und warf einen flüchtigen Blick darauf, während er die Tür öffnete – und erstarrte.

Ungläubig sah er auf das Mädchen, das vor ihm stand und zurück auf die Liste. Ein Name. Nur ein verdammter Name.

Er war realistisch genug gewesen um zu wissen, dass neben Eren Jäger auch Nummer eins – Mikasa Ackerman – sicher nicht kommen würde. Er hatte ihre Reaktion bei der Gerichtsverhandlung gesehen, es war hochgradig unwahrscheinlich, dass sie sich für die Militärpolizei entscheiden würde, nachdem er versucht hatte ihren Ziehbruder hinrichten zu lassen (auch wenn er nichts gegen den Jungen persönlich hatte, so war Nile auch noch immer der Ansicht, dass das am wenigsten Aufsehen erregt und die Ordnung am schnellsten wiederhergestellt hätte).

Aber was zum Geier war mit den anderen sieben Bestplazierten passiert?! Vor ihm stand Nummer vier, Annie Leonhard. Als Einzige.

Schnell blätterte Nile um und traute seinen Augen nicht. Aufklärungslegion. Alle. Erwin hatte mit einer einzigen Ausnahme sämtliche Besten des Jahrgangs bekommen.

Es kam schon einmal vor, dass unter den Zehn jemand war, der meinte, er müsste die Welt retten, aber fast alle?!

Was ging hier ab? Normalerweise hielt Erwin ihnen doch diese dämliche Rede von wegen Sterberaten und Risiken, die so gut wie jeden abschreckte. Was hatte er ihnen dieses Jahr erzählt, damit sie alle zu ihm kamen?!

Und was, zum Teufel fiel ihm überhaupt ein genau in diesem Jahr seine Taktik zu ändern und ihm alle Rekruten zu nehmen? Wollte er ihn endgültig blamieren und lächerlich machen?

Nile knurrte leise.

Warte nur ab, Erwin, irgendwann, früher oder später bekommst du das zurück…!



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