Frontseite der Klinge
Das Innerste geäußert und aufs Äußerste verinnerlicht.
Ein Wechselbalg, die Welt getauscht und nun werden wir sehen.
(Asp)
Wechselbalg
Das Leben eines Menschen passt in einen Plastiksack.
Je nach Person und Ereignis war dieser Beutel unterschiedlich groß. Wollte beispielsweise ein Kind sein eigenes Chaos nicht beseitigen, waren dessen Eltern schnell geneigt, alle Spielsachen und damit die kindliche Unschuld in einen Müllsack zu werfen. Dagegen schaffte es ein Junkie, Glückseligkeit und Lebensgefühl wie flockigen Pulverschnee in einer fingerbreiten Tüte aufzubewahren. Erst recht am Ende eines Daseins gelang es ohne Mühe, die menschlichen Überreste in einen Leichensack zu stecken. Wurde der Tod absichtsvoll herbeigeführt, konnte es passieren, dass der verantwortliche Mörder sich wiederum eines Müllsacks bediente, um die zersägten Einzelteile zu verbergen.
Als Farfarello aus der Psychiatrie entlassen wurde, passte seine gesamte Existenz in einen verschließbaren Plastikbeutel von fünfzehn Zentimetern Breite und dreißig Zentimetern Länge. Darin befanden sich zur Überbrückung der nächsten Tage verschiedene Medikamente, auf die er eingestellt war. Nur das Messer, das sie ihm bei seiner Einweisung abgenommen hatten, gaben sie ihm nicht zurück.
Wahrscheinlich war Farfarello der erste Patient, den man aus der Anstalt gehen ließ, ohne ihn vorher von der Zwangsjacke zu befreien. Dieses Kleidungsstück ließ ihn etwas umständlich in den nachtschwarzen Bentley mit den getönten Scheiben einsteigen, zu dem Brad Crawford ihm hilfsbereit und ohne Worte die Autotür öffnete. Im Innenraum roch es nach Zigaretten und Leder.
„Du bist nun frei“, erklärte Crawford souverän, in entspannter Haltung unter den Falten seines Nadelstreifenanzugs, die Hände auf dem Lenkrad und den Blick geradeaus. An den Rändern der Frontscheibe starben die letzten Eisblumen. „Bis zu deinem ersten Auftrag werden wir dich im Keller einquartieren.“
Freiheit, so meinte Farfarello in jenem Moment zu verstehen, bedeutete offenbar, von einem Gefängnis zum anderen zu wechseln. In Zukunft sollte er also dafür sorgen, weitere Menschenleben kompakt genug für einen Leichensack zu gestalten.
Nach einigen Sekunden des Schweigens fügte Crawford hinzu, als hätte er vergessen, das zu erwähnen:
„Willkommen bei Schwarz.“
Der Raum im Keller war groß, leer und auf gleiche Weise vergittert wie Farfarellos vormaliges Gefängnis. Durch die Streben warf das Neonlicht gekreuzigte Schatten auf den Zellenboden. Hinter den Schatten lehnte sich Farfarello an die kahle Wand, um nicht in Berührung zu kommen mit Gottes Zeichen und dem Folterwerkzeug seiner geheiligten wie entweihten Kinder.
„Du hast es Schuldig zu verdanken, dass wir dich bei uns aufnehmen“, meinte Crawford und begleitete seine Aussage mit einer zur Seite weisenden Geste. Neben dem großgewachsenen Amerikaner, der in seinem legeren Anzug unbestreitbar seriös auftrat, wirkte der Mann mit den grünen Haaren und der unkonventionellen Kleidung beinahe unpassend. Jener Fremde lächelte das neue Teammitglied von Schwarz breit an.
„Ciontach?“, fragte Farfarello monoton. Es war das erste Wort, das er seinen Partnern gegenüber formulierte. Schuldig lächelte hierauf und antwortete:
„Ja, das bin ich.“
Brad Crawford stellte die Menschen in seinem Umfeld meist vor vollendete Tatsachen und ließ ihnen nur so viele Informationen zukommen, wie er selbst für notwendig erachtete. Dementsprechend hatte er Schuldig erst kurz vor seiner Abfahrt mitgeteilt, welche Rolle er in Zukunft zu spielen hatte. Niemand kam sonderlich einfach an den soziopathischen Iren heran, der seit seiner Überführung kein Wort mehr gesprochen hatte. Auch wenn Schuldig ebenso wenig wie die meisten anderen Leute im krankhaften Wirrwarr von Farfarellos Gedanken ein vollständiges Verstehen erlangen konnte, würden seine Fähigkeiten dennoch zur Vermittlung ausreichen. Brad Crawford, das Orakel der Organisation, war sich sicher, Schwarz würde mit Farfarello um einen humanen Faktor der Inhumanität erweitert werden.
Indessen hatte Schuldig nicht vor, gegen seine neue Verantwortung zu protestieren.
Es vergingen einige Tage, in denen sich das Personal im Gebäude um den Neuzugang kümmerte. Einer der Mitarbeiter musste in einem unvorsichtigen Augenblick sein Leben lassen, als er dem typisch irischen Rotschopf mit dem narbenübersäten und gleichfalls von einer Augenklappe durchschnittenen Gesicht zum Essen die Riemen der Zwangsjacke löste. In den wenigen Sekunden des Schreckens brach Farfarello dem Ahnungslosen das Genick. Takatori kam für die Entsorgung des Leichnams und für die Reinigung der Fußböden auf, die der Getötete mit seinen körperlichen Hinterlassenschaften beschmutzte. Danach steigerte sich die Angst des Personals um ein Vielfaches und die Dosis von Farfarellos Medikamenten wurde im entsprechenden Maß erhöht. Darüber hinaus verhielt sich dieser allerdings den überwiegenden Teil der Zeit ruhig, sogar relativ ungefährlich.
Weder Crawford noch Schuldig verschwendeten einen Gedanken daran, wann der Vierte im Bunde von Schwarz seine Initiation erhalten sollte. Nagi Naoe bekam davon lediglich am Rande etwas mit. Er hatte sich für derlei Nebensächlichkeiten noch nie interessiert.
Schließlich sah Farfarello den grünhaarigen Mann mit dem unverschämten Grinsen wieder. Er tauchte in seinen Räumlichkeiten auf, ohne eine Spur von Furcht zu zeigen. Unbeschwert betrat Schuldig die Gefängniszelle, warf Farfarello ein paar Messer vor die Füße und nötigte ihn dazu, die Zwangsjacke auszuziehen. Dieser wehrte sich reflexartig. Dann jedoch langte Farfarello in einer Mischung aus Faszination und Pflichtbewusstsein nach einem der Messer. Es hatte ein ausgewogenes Gewicht, lag schwer und gut in seiner Hand. Direkt über dem Griffschutz war auf dem Ansatz der Klinge das Wort Frost eingraviert. Farfarello mochte die milchigen Lichtreflexe, die sanft ineinander übergingen, wenn er das Messer bewegte.
Der stetig grinsende Schuldig sagte etwas aus weiter Ferne, bedeutungsvoll oder nebensächlich. Was auch immer er mitteilte, die Fetzen der verbalen Kommunikation lagen auf Farfarellos Nervenbahnen wie Wackersteine am Wegesrand. Schuldig fragte ihn, ob er lachen würde, dabei hatte Farfarello keine Miene verzogen. Stattdessen merkte er, dass er den Deutschen verstehen konnte, obwohl sich seine Ohren vor jedem unheiligen Wort verschlossen. Eine Saite in seinem Kopf, durch Telepathie in Schwingung versetzt, schien Farfarello zu verraten, was Schwarz von seinem neuen Zuwachs erwartete.
„Träume und Hoffnung“, meinte Schuldig finster lächelnd, „so etwas gibt es nicht in dieser Welt. Die Dunkelheit braucht kein Licht, denn sie ist der reinste Stoff von allem. Der Stoff, aus dem die Träume sind, die einzig wahren Albträume. Was jetzt ist, ist Wahrheit. Wer das nicht versteht, sollte diese Welt besser verlassen.“
„Wahrheit“, griff Farfarello das Gehörte auf und hielt es so unnachgiebig fest wie das Messer in seiner Hand.
„Wenn du bereit bist“, räumte Schuldig ein, „können wir solchen, die sich nicht belehren lassen, gern gemeinsam einen Ausweg aus dieser Welt zeigen. Was meinst du?“
Zwar antwortete Farfarello nicht, doch waren seine von Dunkelheit und unreinem Licht durchfluteten Gedanken Antwort genug. Gebannt starrte er auf die helle Lichtlinie der Schneide, um ihre verheißungsvolle Schärfe abzuschätzen.
„Hast du irgendeinen Wunsch?“, fragte ihn Schuldig nach einer Weile. Fast hätte Farfarello vergessen, dass er nicht allein war. „Sollte dir Schwarz die Wahl lassen, ob du für uns arbeiten willst oder nicht, wofür würdest du dich dann entscheiden?“
„Einen Wunsch“, wiederholte Farfarello das Wort gleichgültig. „Ich habe keinen Wunsch. Ich habe einen Auftrag.“
Ein Schwarm von Schmetterlingen stieg hinauf in die Luft, als die Klingenspitze wie ein Reißverschluss den Brustkorb öffnete. Es waren rote Schmetterlinge. Sie flatterten in Intervallen aus der Wunde empor. Gebannt verfolgte Farfarello das Schlagen ihrer feuchten und staubigen Flügel. Rasch senkten sich ihre hübschen Körper, sammelten sich um den geöffneten Leib und taumelten zwischen den Blumenranken umher, die aus den Rippen sprossen.
Berauscht stach Farfarello weitere Male in das leblose Fleisch hinein und beobachtete, wie immer neue Blumen glucksend dem Torso entwuchsen, Rosen und Tulpen, schimmernd rot und mit wiegenden Köpfen. Gottes Werk konnte so viel Schönheit hervorbringen.
„Das reicht.“ Jemand schüttelte ihn. „Hör endlich auf.“
Schuldig zog ihn auf die Beine und rüttelte erneut an den schmalen Schultern seines Kollegen, um ihn in die Realität zurückzuholen. Farfarello schaute den Deutschen emotionslos an, dann wieder hinab. Er betrachtete seine blutverschmierten Hände sowie das besudelte Messer, welches er krampfhaft mit seinen schmutzigen Fingern umschloss. Er suchte auf der Erde nach der zu lobpreisenden Blumenwiese und den leuchtenden Schmetterlingen. Doch alles, was er fand, war die Hässlichkeit von Gottes Schöpfung.
Nach diesem ersten Auftrag erhielt Farfarello den Codenamen Berserker. Er tötete nicht eiskalt wie ein Killer, sondern wütete wie ein Monstrum.
Im Folgenden sollte er die Zelle im Keller verlassen und bezog, gleichfalls im Untergeschoss, ein enges Zimmer ohne Fenster, ausgestattet mit einer knackenden Klimaanlage. Alles in diesem Raum war beruhigend weiß, die Wände, der Schrank, das Bett und der Nachttisch. Seine ebenso weiße Zwangsjacke durfte Farfarello zudem behalten. Ein weiterer Faktor, der sein Gemüt besänftigte, bestand aus dem robusten Sicherheitsschloss an seiner Tür. Farfarello brauchte keine Stimme, als er Schuldig stumm darum bat, seine Unterkunft stets abzuschließen und den Schlüssel sicher zu verwahren. Manchmal, mitten in der Nacht, spürte der Telepath, wie Farfarellos Gedanken panisch nach ihm griffen.
„Druid an doras! Le do thoil!“
„Sie ist verschlossen“, schickte ihm Schuldig müde zurück. „Keine Sorge. Niemand außer mir wird sie öffnen. Schlaf weiter.“
Ab und zu besuchte Schuldig den Iren aus Langeweile. Er brachte ihm Essen oder fehlende Medikamente. Hernach nahm er das Geschirr, Besteck und jedes Wasserglas wieder mit sich fort, sobald er Farfarello verließ, damit dieser keines jener zerbrechlichen Objekte zertrümmern oder benutzen konnte, um sich daran selbst zu verletzen. Mit der Zeit häuften sich auf dem kleinen Tisch neben dem Bett sowohl Mullbinden als auch die zahlreichen Verpackungen von Tabletten. Der Berg an leeren Blistern wurde von Tag zu Tag höher. Irgendwann fragte Schuldig, zu den Medikamenten nickend:
„Helfen die denn?“
Farfarello ließ sich zur Seite auf das Bett fallen und blickte Schuldig starr aus seinen aufgerissenen Augen an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Das leise Dröhnen der Klimaanlage verebbte beim automatischen Umschalten und verdichtete zusätzlich die Stille im Raum. Schuldig reagierte auf das Schweigen mit einem Schmunzeln und wandte sich letztlich zur Tür. Bevor er ging, sagte er:
„Schon klar. Du weißt ja nicht, wie es anders wäre.“
Klackernd huschten die zierlichen Finger des Jungen über die Tastatur. Nagi schaute nur flüchtig auf, als Schuldig die Zentrale betrat, in der das Team üblicherweise die Durchführung ihrer jeweils nächsten Aufträge vorbereitete.
„Jemand sollte mal den Müll entsorgen“, meinte Schuldig, während er sich lässig die Hände in die Taschen schob und seine beiden Teamkollegen abwechselnd musterte. Keiner von ihnen schien ihm Beachtung zu schenken. Auch Crawford bedachte ihn nun lediglich mit einem kurzen Blick durch seine randlose Brille.
„Ich rede von Farfarello“, ergänzte Schuldig.
„Er ist doch eben erst zu uns gestoßen“, entgegnete Nagi, auf bissige Weise desinteressiert, wobei seine tippenden Finger nicht zum Stillstand kamen. „Wieso sollten wir ihn gleich wieder entsorgen?“
„Sehr witzig, Wunderkind. Ich meine sein Zimmer. Niemand scheint dort aufzuräumen oder sauber zu machen.“
„Ist die Frage ernst gemeint, Schuldig?“ Crawford hob unmissverständlich eine Augenbraue. „Müsstest nicht gerade du mitbekommen haben, welche Angst unser Reinigungspersonal davor hat, überhaupt in seine Nähe zu kommen? Nicht ohne Grund, wie du weißt. Ich kann mich nicht ständig nach neuen Mitarbeitern umsehen.“
„Kürzlich habe ich mich dazu überreden lassen“, murmelte Nagi missmutig, die feinen Gesichtszüge vom Monitor erhellt, „als er da unten diese Sauerei veranstaltet hat. Ich werde bestimmt kein zweites Mal wischend auf dem Boden herumkriechen.“
„Ach?“ In gespieltem Erstaunen legte Schuldig eine Hand vor seinen geöffneten Mund. „Ich dachte, du könntest wie beim Zauberlehrling einfach irgendwelche Besen verhexen, die für dich die Arbeit erledigen, Wunderkind.“
Nagi quittierte den Sarkasmus seines Kollegen lediglich mit einem giftigen Blick.
„Was ist eigentlich mit Farfarello los?“, wollte Schuldig nun wissen. „Verletzungen machen ihm nichts aus. Er scheint sie nicht einmal zu spüren.“
„Eine pathologische Form von Analgesie?“, schlug Nagi vor, übellaunig und nur halb zuhörend.
„Nein“, wies Crawford entschieden ab, „es ist nichts angeboren Neurologisches, sondern vielmehr psychisch bedingt, womöglich psychosomatisch.“
Schulterzuckend kratzte sich Schuldig am Hinterkopf.
„Jedenfalls türmt sich auf seinem Tisch schon ein Gebirge auf, sozusagen ein Blistermountain.“ Unvermittelt lachte Schuldig über seinen eigenen Scherz. Hierfür erntete er von dem Jüngeren ein Augenrollen, vom Älteren ein Kopfschütteln. Crawford konnte an der Aussage nichts Amüsantes entdecken und Nagi war es schlichtweg egal.
Erneut tummelte sich die Schar der roten Schmetterlinge im süßen Rosenduft, der wie Nebel in der Luft lag.
„Gib ihm ein Messer”, hatte jemand verlangt und Farfarello war mit seiner Waffe in den Krieg gezogen. Dornenrosen flossen über die weite Ebene. Einst war dem alten Geschlecht eine ähnliche Rose entsprungen. Aus der Wurzel gebar der unbefleckte Mutterschoß den Sohn des allmächtigen Herrn. Weiter rankten sich die roten Blumen über den Erdboden, bis Farfarello mit dem Messer in seiner vom Lebenssaft rutschigen Hand erkannte, wie sich das ermordete Opfer zu seinen Füßen in etwas zurückverwandelte, das es ursprünglich war: ein Mensch. Sofort verströmte der schwere Geruch nicht nur eine berauschende Süße, sondern zugleich die metallische Note von Blut.
„Gabh mo leithscéal“, sagte Farfarello leise. „Ich habe Gottes Werk vernichtet. Nein, ich habe Gottes Werk verrichtet.“
„Wozu entschuldigst du dich dann?“, fragte Schuldig, der neben ihn getreten war, mit seinem immerwährenden Lächeln.
„Das kann ich nicht. Das kann niemand.“ Ein bitterer, abweisender und misstrauischer Ausdruck zeichnete Farfarellos Gesicht. „Niemand kann sich selbst von der Schuld freisprechen. Man muss darum ersuchen. Ich entschuldige mich nicht. Ich bitte um Vergebung.“