Zum Inhalt der Seite

Roots

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

001. Kapitel – Die andere Hälfte

Es war ein warmer Herbsttag – selbst für italienische Verhältnisse. Es war die letzte Ferienwoche; und die Clique um Mario wollte noch jeden Tag nutzen, bevor es wieder mit der Schule losging. Wie üblich hatten sich die vier Jungen im Park verabredet, wo sie meistens Fußball spielten. Dieser Sport nahm einen großen Teil in ihrem Leben ein. Fünf Tage die Woche trainierten sie mit der Mannschaft, der sie alle angehörten. In den Ferien war das Training jedoch meistens ausgefallen, da viele einfach zu beschäftigt waren. Und da die Verde Vento Ricona eigentlich eine Schulmannschaft – und dazu noch eine ohne Trainer – war, lief es längst nicht so professionell wie bei anderen Mannschaften ab. Das Team war gar nicht so schlecht. Im Vergleich zu den letzten Jahren hatten sie sich sogar sehr stark verbessert. Die letzten beiden Neuzugänge hatten dies bewirkt, indem sie neuen Wind und neues Potential mitgebracht hatten. Und mittlerweile zählten diese beiden zu Marios besten Freunden.
 

Normalerweise freute er sich jeden Tag auf das Treffen mit seinen Freunden. Umso mehr, da er sie nun schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. Der Grund dafür ging neben ihm und lächelte ihn aufmunternd an. Doch derselbe Grund sorgte seit einigen Stunden auch für ein beklemmendes Gefühl im Bauch.

„Jetzt zieh nicht so ein Gesicht“, bat seine Schwester ihn. „Sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen.“

Der Vierzehnjährige verzog das Gesicht und musterte das Mädchen, das ihm bis aufs kleinste Detail glich.

„Das glaube ich aber schon. Matteo kenne ich seit immerhin fünf Jahren. Wenn ich ihm nach all der Zeit erst jetzt erzähle, dass ich eine Zwillingsschwester habe…“, brummte er und wirkte unglücklich.

„Dann ist das eben so“, winkte sie ab, fasste dann aber nach seine Hand, als sie merkte, dass ihm diese Erklärung nicht reichte.

„Mach dir darüber bitte keine Gedanken, Brüderchen. Sie sind deine Freunde. Und das wären sie nicht, wenn sie dich nicht verstehen würden, oder? Ich war sieben Jahre fort; selbst wenn du es ihnen mal erzählt hättest, hätten sie dir nicht geglaubt, ohne mich je gesehen zu haben. Warte doch erst einmal ab, wie sie überhaupt reagieren. Und wenn sie doch sauer werden sollten, dann werde ich mal ein Wörtchen mit ihnen reden.“

Mario musste grinsen. Es war wohl eine ihrer größten Stärken, dass sie immer wusste, was es zu sagen galt, um jemanden aufzuheitern. Er konnte mit niemandem besser reden als mit ihr. Sie war seine zweite Hälfte, und auch wenn sie jahrelang voneinander getrennt gewesen waren, war der Kontakt doch nie abgebrochen. Sie hatten immer gewusst, wie es dem anderen gegangen war. Und das auch ohne es sich sagen zu müssen. Das war wohl das besondere Band zwischen Zwillingen.

„Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bist“, murmelte er leise zu seiner Schwester.

Sie lächelte. „Ich auch, Mario.“

Fröhlich hakte sie sich nun bei ihm ein und so gingen sie weiter.

Der Treffpunkt war eine kleine Wiese mit einem Tor vor einer Mauer. Die Ballabdrücke an dieser zeugten von den vielen Stunden Training, die sie hier absolviert hatten. Manchmal war es zu anstrengend mit dem Rest der Mannschaft, der eine launische Motivation hatte. So ganz hatten sie den Ruf der Loser-Mannschaft, die sie vor gar nicht allzu langer Zeit gewesen waren, nicht ablegen können. Und so wurden sie auch behandelt. Dass Cesario und dann auch Henry das Gegenteil bewiesen hatten, schloss leider nicht den Rest des Teams ein. Und die Intrigen von einem ehemaligen Mitglied hatten vor einem Jahr dafür gesorgt, dass sie nicht nur als Versager, sondern auch als Betrüger da gestanden hatten. Einige waren gegangen, weil es ihnen zu viel war. Andere trainierten nur noch sporadisch. Es war ein fester Kern von elf Leuten, die sie vorweisen konnten – gerade genug für eine Mannschaft. Mario tat als Kapitän alles was er konnte, um das Team am Laufen zu halten. Er wollte die letzten beiden Jahre nicht umsonst alles gegeben haben, das Niveau der „Veveri“, wie sie sich meist nur nannten, immer weiter zu erhöhen. Nun aber war er an seine Grenzen gestoßen.

An dieser Stelle kam Marion ins Spiel. Sie hatte in Madrid ebenfalls Fußball gespielt, unter weit besseren Voraussetzungen. Er hoffte, dass sie es vielleicht schaffen konnte, die Jungs zu motivieren, und wenn sie dazu ihren weiblichen Charme spielen lassen musste.
 

Schon von weitem hörten sie Cesario und Matteo herumalbern. Mario wurde schneller. Plötzlich wollte er sie seinen Freunden unbedingt vorstellen.

„Hey“, machte er auf sich aufmerksam. Drei Paar Augen sahen ihn an, es folgten drei aufklappende Münder. Die Verwirrung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

„Was ist das denn?“, fragte Cesario in seiner gewohnt naiven Art.

„Das ist ein Mädchen“, klärte Henry ihn grinsend auf und musterte sie eingehend.

„Hast du sie vor uns versteckt?“ wollte der Amerikaner wissen.

„Quatsch“, mischte sich Matteo ein, verschränkte die Arme und wirkte – wie von Mario schon vermutet – gekränkt. „Ich war so oft bei ihm zu Hause, da war nie irgendeine Schwester. Und schon gar keine, die ihm wie ein Ei dem anderen gleicht.“

Marion behielt ihr freundliches Lächeln, ließ es nur eine Spur entwaffnender werden und hielt Matteo schließlich die Hand hin.

„Ciao, ich bin Marion.“

Eine Augenbraue wanderte nach oben. „Marion“, echote er. „Du bist Marios Zwillingsschwester und heißt Marion.“

Sein Blick wanderte von ihr zu seinem Freund. „Willst du uns verarschen?“

Nun verschränkte auch Mario die Arme. „Nein! Das ist nicht sehr einfallsreich, ich weiß, aber beschwer dich da nicht bei mir sondern bei meinen Eltern! Marion ist meine Zwillingsschwester und basta!“

„Hey, beruhigt euch mal“, versuchte Henry die Wogen zu glätten. „Mario ist doch nicht verpflichtet, uns seine Familie vorzustellen. Und bei einer so hübschen Schwester kann ich das sogar verstehen.“

„Hübsch, pfft“, murrte Matteo, merkte dann aber, dass das nicht so herüberkam wie er es meinte und biss sich auf die Lippe.

„Ich meine…“, startete er einen Versuch sich zu erklären, wurde aber von Marion unterbrochen.

„Streitet euch nicht. Mario trägt keine Schuld daran. Ich war lange in Madrid, bei unserer Tante.“

„Wieso denn das?“, hakte Henry nach.

„Das ist unsere Sache.“

Die Freunde schienen sich damit zufrieden zu geben, denn sie ließen ihre Fragen sein und setzten sich zusammen mit den Zwillingen schließlich in das weiche Gras.

„Marion wird jetzt hier bleiben, auf unsere Schule gehen und sie möchte auch beim Training mitmachen.“

„Na dass sie Fußball spielt, überrascht mich jetzt nicht“, grinste Cesario. „Spielst du auch im Tor?“

„Nein, ich bin Mittelfeldspielerin. Aber ich habe im Gegensatz zu Mario in einem richtigen Verein mit Trainern und vielen Teammitgliedern gespielt. Ich glaube, da fehlt euch ein wenig der Feinschliff.“

Henry nickte. „Ein wenig ist gut. Ich glaube, die meiste Erfahrung hatten bisher Cesario und ich vorzuweisen, und die schloss eigentlich nur vernünftige Trainer ein.“

„Wenn es euch also nicht stört, wenn ein Mädchen mitspielt“, begann Mario, gefasst auf jede mögliche Antwort.

„Klar“, erklärte Matteo stellvertretend für alle. „Je mehr je besser. Mir vergeht nach der letzten Aktion mit Tino nämlich echt die Lust…“

Ohne Umschweife erzählte Matteo daraufhin von dem Streich von Tino und Danielo. Sie waren abgesehen von Cesario die Jüngsten im Team, und leider auch die, die das Ganze am wenigsten ernst nahmen. Sie hatten mit Spraydosen die Wände der Santa Madeira besprüht und dumm wie sie waren auch alle wissen lassen, dass die Veveri die Schuld an dem Desaster trugen.

Mario fluchte und ließ seine Wut an dem Gras zu seinen Füßen aus.

„So nimmt uns erst Recht niemand ernst! Wir haben doch jetzt schon Probleme, überhaupt Mannschaften für Freundschaftsspiele zu finden! Nicht mehr lange und wir sind wieder dort, wo wir vor zwei Jahren waren. Und das, obwohl wir eigentlich besser geworden sind!“

„Was sollen wir auch tun? Für die meisten sind wir doch sowieso nur die Veveri perditori!“, stimmte Matteo mit ein und bohrte mit seinen Stollen ein Loch in den Rasen. „Oder die Veveri delinquente.“

„Ja, Matteo, wir bereuen es alle, dass wir Don aufgenommen haben. Aber das kann keiner rückgängig machen!“, murrte Mario genervt. Dieses Thema hing ihm so langsam zum Hals raus.

Don war ein ehemaliger Spieler, erklärte er schließlich seiner Schwester. Er hatte ungefähr ein halbes Jahr lang bei den Veveri mitgespielt. Zwar war er ein guter Teamplayer gewesen, doch fair war er nicht unbedingt. Und was noch schlimmer war: er hatte nicht davor zurück geschreckt, Schiedsrichter und Spieler zu bestechen.

„Das war schlimmer als damals bei dir, Henry“, meinte Matteo und sah diesen aus den Augenwinkeln an.

„Shut up!“, knurrte der älteste unter ihnen und warf eine Handvoll ausgerupftes Gras nach dem Freund.

Marion wusste, worum es dort ging, tat jedoch unwissend, um Mario nicht die Blöße zu geben dass er hinter dem Rücken seiner Freunde über diese geredet hatte.

„Was hast du denn angestellt?“, fragte sie also.

Henry erzählte ihr, wie er vor knapp zwei Jahren von Amerika nach Ricona gekommen war und zu den Veveri wollte. Er hatte in den zwei Monaten, die er in der Stadt war, niemanden kennen gelernt und deswegen voreingenommen gegen die meisten Gleichaltrigen gewesen.

Teamplay war jedenfalls keine seiner Stärken, und so hatte er die Veveri eigentlich nur benutzen wollen, um sich austoben zu können.

Es hatte nicht so geklappt wie er es gewollt hatte, und aus Wut darüber - und wohl auch weil Cesario ernsthaft versucht hatte, sich mit ihm anzufreunden und Henry das nicht glauben wollte – hatte er sich den Sciacallo angeschlossen. Diese Mannschaft war für ihre egoistischen Spieler bekannt. Den Namen hatten sie sich nicht einmal selbst gegeben, ihn aber angenommen, weil sie ihn „cool“ fanden.

Henry hatte diese Mannschaft erfolgreicher werden lassen, weil er mit Abstand einer der besten Spieler dort gewesen war. Damals hatte er die ganze Mannschaft gegen die Veveri aufgehetzt. Mario und Cesario jedoch hatten schnell gemerkt, was wirklich in dem Jungen vorgegangen war und ihm immer wieder die Hand gereicht. Es hatte gedauert, bis Henry ihnen glauben konnte und aus Schuldgefühlen war er für ein halbes Jahr nicht mehr in der Nähe der Schule oder der Spieler aufgetaucht.

„Irgendwann nach einem halben Jahr stand er dann plötzlich wieder auf der Matte und wollte mitspielen, diesmal aber vernünftig“, schloss Cesario die Erklärung und boxte dem Freund auf die Schulter.

„Jetzt ist Don der Kapitän der Sciacallo. Er hat allen anderen die Schuld gegeben und wollte die Bestechungen Matteo und mir in die Schuhe schieben. Zum Glück hat Leonardo das Ganze auffliegen lassen können. Don hat sich dann zurückgezogen und stänkert gegen alle anderen Mannschaften. Manchmal haben die sogar mehr Spiele als wir, weil jeder ihnen eins aufs Maul geben will.“

Marion sah ihren Bruder an.

„Sonst hattet ihr keine anderen Mitspieler?“

„Doch. Jamie…“ , seufzte Mario. Der Gedanke an Jamie hinterließ bei den Freunden ein flaues Gefühl im Bauch, allerdings aus einem ganz anderen Grund als Don es tat.

Der kleine Mailänder mit irgendwelchen britischen Wurzeln hatte nur ein paar Wochen bei den Veveri mitgespielt und schnell gemerkt, dass es einfach kein Sport für ihn war. Er hatte sich sehr angestrengt um besser zu werden und hatte eigentlich gar nicht gehen wollten. Mario und Henry hatten bald gemerkt, dass er nur einen Grund brauchte, nicht nach Hause zu müssen. Normalerweise hätten sie ihn nicht lange mitspielen lassen, da er mit seinen elf Jahren viel jünger als die anderen gewesen war. Aber er wirkte, als hätte er viel durchmachen müssen und sie hatten ihm zumindest so helfen wollen, ein wenig Abstand zu bekommen.

Drei Wochen war er nur dabei gewesen, hatte aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Was aus ihm geworden war, wussten sie nicht, vermuteten aber, dass er wieder nach Mailand zurückgekehrt war. Mario hätte ihn sonst noch viel länger mitspielen lassen, egal wie schlecht er auch gewesen sein mochte.
 

Nachdem er fertig mit dem Erzählen war, seufzten die Jungs tief. Marion sah die Sorge im Blick ihres Bruders.

„Und nun?“, wollte sie das Thema auf etwas Angenehmeres lenken.

„Ich hatte überlegt, Flyer zu verteilen“, erklärte Henry. „Andere Mannschaften machen das auch, oder gehen durch andere Schulen. Wenn das Team schnell genug wächst, finden wir vielleicht auch Sponsoren, damit wir schulübergreifend werden können.“

Der Kapitän und Torwart nickte dazu. „Das ist eine gute Idee. Wenn wir auch nur zwei, drei Spieler dazu bekommen, dann reicht das schon um auf uns aufmerksam zu machen. Wir müssen unser Image endlich loswerden.“

„Brauchen wir dazu nicht einen Trainier?“

Das war natürlich ein guter Einwand von Cesario. Natürlich brauchten sie einen Erwachsenen, der sie unterstützte. Kinder allein durften die meisten Entscheidungen nicht treffen. Sie brauchten jemanden, der die Aufsicht führte, sich um sie kümmerte und alles regelte, was es zu regeln gab.

„Jedes vernünftige Team braucht einen Trainer“, warf Matteo ein.

„Wenn wir nur einen finden würden. Henry und Piero haben schon so viel herum gefragt, sogar bei der Kommission.“

Wieder seufzte Mario, und mit ihm Henry. Wieder flog ein Büschel Gras durch die Gegend.

„Dieser Scheiß Ruf, der uns anhängt. Das nervt so! Wir haben doch eigentlich bewiesen, dass wir besser geworden sind! Andere Teams haben zu uns gehalten und uns unterstützt! Teams wie die Diabolos, die nun wirklich einen guten Ruf innehaben! Was sollen wir denn noch tun?“

Marion lächelte vielsagend. „Das lass mal meine Sorge sein.“

„Hast du eine Idee?“

Selbstbewusst lehnte sie sich zurück und stützte sich auf den Ellenbogen auf. „Ich weiß, wie wir das bei unserem Team in Madrid gemacht haben. Das lässt sich hier sicher genauso durchführen.“

So wie sie es sagte, glaubte Mario ihr sofort.

„Manchmal braucht man nur ein paar starke Frauen, um etwas zu erreichen“, grinste sie und zwinkerte den Jungs zu. „Und manchmal findet man Hilfe, wo man sie nie erwarten würde. Uns ist eine unserer besten Spielerinnen in einem Park wie diesem begegnet. Und…“

Marion hielt inne, als sie ein Geräusch hinter der nächsten Ecke der Mauer vernahm. Ein Geräusch, was jedem Fußballer bekannt vorkam: Ein Ball wurde gegen die Mauer geschossen.

Mit großen Augen sahen die Jungs sich an und sprangen auf. War das ein Zufall, direkt nach Marions Worten?

Sie stand etwas langsamer auf, lächelte breit und dankte dem Zufall dafür, sie in einem Moment wie diesem so zu unterstützen. Die Jungs rannten schon weiter um die Ecke um zu sehen, wer da spielte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück