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Rabenherz (Die Macht der Krokaren)

von

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Prolog

Die drückende Sommerhitze war über Algahra hereingebrochen und verlieh der Landschaft sowie seinen Bewohnern nach dem langen und harten Winter wieder Farbe. Der Himmel erstrahlte jeden Tag aufs neue in einem herzhaften Blau. Die Gesichter der Menschen wurden bei der kleinsten Anstrengung so rot, dass man im Vorübergehen denken musste, sie seien in einen Farbtopf getaucht worden. Im ganzen Land vertrockneten die Getreidefelder und verwandelten sich in eine Art gelben Teppich aus sterbenden Pflanzen. Die Bauern verzweifelten und mit ihnen König Danilo.

Der Anblick der Dürre stimmte Kathya traurig. Sie schaffte es - dank dem Kontrollzwang ihres Vaters - nicht oft über die Grenzen des Guts hinaus, aber, wenn Hella dieses Jahr eine Kutsche organisierte mit der sie in die stärker besiedelten Teile der Stadt fuhren, erwarteten sie unterwegs stets Felder, die in der Hitze der Mittagssonne eingingen. Es gab für sie keinen Schatten, kein Wasser, keinen Schutz. Und die Verantwortlichen konnten nur daneben stehen und hoffnungsvoll auf den nächsten Regen warten, der das Überleben der Pflanzen und damit die Sicherung ihrer Existenz bedeuteten. Es war ein grauenvolles Spiel, zu dessen Beobachtern sich leider auch Kathya zählen musste. Wenn es doch nur eine Möglichkeit für sie gäbe zu helfen! Sie hätte sich sofort aufgemacht, sie hätte alles getan um nicht nur den stillen Augenzeugen spielen zu müssen, sie hätte-

"Kathya? Kathya, wo bist du?" Die zarte Stimme Hellas durchbrach ihre düsteren Gedanke und schob sie für die nächsten Minuten energisch beiseite. 

"Hier, Hella. Am Schreibtisch." Sie drehte sich auf ihrem unbequemen Stuhl um und blickte zur Tür. Im nächsten Moment schob sich ein brauner Haarschopf mit freundlichem Gesicht durch den Rahmen, gefolgt von einem schlanken, zierlichen Körper, gehüllt in ein einfaches Magdgewand. Die junge Frau verzog jedoch sofort das Gesicht und seufzte, noch bevor sie einen Schritt über die Schwelle getan hatte.

"Kathya, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du deine Haare kämmen und das Kleid anziehen sollst, das ich dir rausgelegt habe!", empörte sich Hella und trat auf ihr Bett zu. Darauf lag – unberührt – eine rote Tracht. Die Ärmel waren lang, zum Handgelenk hin breiter und mit Samt überzogen. Das Ende des Rocks reichte bei dem Mädchen bis zum Boden und ließ sie regelmäßig stolpern – was nicht zuletzt an den unbequemen Schuhen lag, die sie nur anzog, wenn man sie dazu zwang. Alles in allem war es grässlich in diesem Aufzug herumzustolzieren, als wäre sie eine verwöhnte Dame des königlichen Hofes, doch sie tat es Hella zuliebe. Die junge Magd war der einzige Lichtblick in Kathyas Leben und der Grund, weshalb sie nicht schon vor Monaten davon gelaufen war.

"Sie werden dein Verschwinden mir in die Schuhe schieben wollen.", hatte sie ihr mit ruhiger Stimme zugeflüstert, "Dass es ihr eigener Fehler sein könnte, kommt ihnen dabei gar nicht in den Sinn. Bitte bleib." Die Dringlichkeit, die in ihrem Blick gelegen hat, hatte das Mädchen schließlich umgestimmt und sie zum Bleiben überredet. Viel mehr noch: Seit dem zwängte sie sich sogar Monat für Monat in ihre lächerliche Tracht, um bei der großen Clanversammlung ihrem Vater alle Ehre zu machen. Nach ihrem eigenen Wohlbefinden wurde bei diesem ewigen Krieg unter Clanoberhaupt-Anwärtern schon lange nicht mehr gefragt; ihr Vater Adamo wollte lediglich seine Brüder übertrumpfen.

Seufzend erhob sich Kathya und nahm das Kleid an sich, als Hella es ihr mit vorwurfsvoller Miene entgegenhielt. Sie hielt es an, prüfte die Ärmel, legte es um die Taille, doch es schien tatsächlich noch zu passen. Ich muss anfangen mehr zu Essen, schoss es dem Mädchen durch den Kopf, während sie ihr einfaches Hemd mit weitem Kragen und die braune Baumwollhose abstreifte und stattdessen den "Roten Tot" über zog. Voller Abscheu betrachtete sich im Spiegel, doch Hella schlug entzückt die Hände zusammen und eilte in den kleinen Empfangsraum, der Kathya meistens zum Lesen zur Verfügung stand. Sie folgte ihr. Das Zimmer war recht spärlich eingerichtet und verbarg ihren Reichtum und ihre adelige Herkunft. Zwei Sessel standen vor einem Ziertisch auf einem farbenfrohen Teppich, der dem Parkett einen scharfen Kontrast bieten sollte. Bücherregale reihten sich an den Wänden entlang. Die Fächer waren bis zur Gänze hin gefüllt und ließen die Mauern dahinter verschwinden. Fackeln brachten in der Nacht oder in der Abenddämmerung unzählige Schatten zum Tanzen. Es war gemütlich und mehr als sie jemals für nötig erachtet hätte, auch wenn sie durch vermeintlichen "Freunde" aus anderen Clanen öfters darauf hingewiesen wurde, wie arm die Kiapo doch seien – in finanzieller, wie auch geistiger Hinsicht. Obwohl das natürlich völliger Stuss war.

Entschlossen nahm Hella Kathyas Metallkamm zwischen die Finger ihrer rechten Hand und setzte sich seitlich auf die gepolsterte Fensterbank. Auffordernd klopfte sie auf das freie Kissen vor sich und wartete, bis das Mädchen sich darauf nieder gelassen hatte.

"Muss das sein?", fragte sie und betrachtete argwöhnisch den mit Edelsteinen besetzten Läuserechen. Sie hielt diesen Luxusgegenstand für recht unnötig und den Umstand, dass sie sich die Haare kämmen musste, eben so sehr.

Doch die junge Magd lachte nur erheitert und begann vorsichtig ihre blonden Haare zu ordnen und in Form zu bringen. Währenddessen blickte Kathya geistesabwesend aus dem offenen Fenster. Die Jungen hatten schon mit dem Kampftraining begonnen. Gerade waren Nereo und George in den umzäunten Sandplatz getreten und standen sich mit gezogenem Holzschwert gegenüber. Sie warteten auf ein Zeichen des Trainers und beobachteten mit wachsamen Blick jede Bewegung ihres Gegenübers. Das Mädchen malte sich in Gedanken schon einen schnellen, routinierten Kampf aus, der höchstens ein Ringen beinhaltete. Keine geschickten Täuschungen würden ausgetauscht werden mit dem man seinen Kampfpartner mehr erniedrigen könnte, als mit einem bloßen Kräftemessen. Das sah bei den fortgeschritten Schülern schon ganz anders aus, die nicht mit Stärke sondern mit Klugheit und Wendigkeit punkteten.

Nun gab der Trainer endlich sein Zeichen und die beiden Jungen schlugen ihre Schwerter gegeneinander. Der Klang des Aufschlags war dumpf. Nereo wagte nach einiger Zeit einen Schritt nach vorne und zwang George so zu einem Ausfallschritt. Er drückte mit der freien Hand gegen den oberen Teil der Klinge und ließ sich nicht davon beeindrucken, dass sein Kampfpartner es ihm nachmachte. Jetzt stand es Kraft gegen Kraft, Kathya seufzte enttäuscht. Dieses Fechten war wirklich zu erwarten gewesen, aber trotzdem konnte sie ihren Ärger darüber nicht ganz verbergen. Sie bekamen so eine große Chance und dann verschwendeten sie ihre Zeit mit dummem Kräftemessen. Warum nicht einmal Übungen anwenden, die den Gegner überlisteten? Aber das kam den kämpfenden Jungen offensichtlich nicht in den Sinn. Sie dachten, Stärke sei das einzige was zählt und keiner wollte nachgeben um letztendlich zu Siegen. Kathya wäre es völlig anders angegangen, da war sie sich sicher.

Hella riss sie schließlich aus ihren trüben Gedanken. "Ach, Mädchen. Was machst du immer mit deinen Haaren? Sie sind bereits so verfilzt, dass man meinen könnte, ein Vogel hätte darin sein Nest gebaut." Sie spürte ein ziepen und heulte leise auf. Die Magd blieb jedoch erbarmungslos und hantierte weiter mit ihrem blonden Haarschopf. Schließlich begann sie, ihr warme Metallstäbe hineinzudrehen, was das Mädchen nur widerwillig hinnahm. Ihre Haare würden die nächsten drei Tage lockig bleiben. 

"Können wir die Locken das nächste Mal nicht weg lassen?", fragte Kathya hoffnungsvoll und betrachtete sich in dem kleinen Handspiegel, den Hella ihr reichte, nach dem sie die Metallstäbe entfernt hatte. Natürlich, in Verbindung mit ihren blauen Augen, der Stupsnase und dem schmalen Kinn sah das ganze beinahe hinreißend aus und brachte die älteren Herren regelrecht zum dahin schmelzen, aber passte es auch zu ihr? Zu der wahren Kathya?

"Du weiß, dass Adamo das nicht gerne sieht.", erwiderte sie und setzte sich dem Kind gegenüber, "Außerdem bist du ein hübsches Mädchen, von jungen 8 Jahren. Du kannst dich auch mal verschönern, sonst läufst du ständig nur in Jungenkleidung herum." Sie lächelte sanft und strich ihr eine gelockte Strähne aus dem blassen Gesicht. Völlige Stille folgte, in der nur die Jungen auf dem Kampfplatz störten, wie sie ächzend wieder und wieder ihre Holzschwerter gegeneinander schlugen. Ein dumpfer Aufschlag, wieder und wieder, bei dem sich mit einem Mal etwas in Kathya regte. Sie wandte sich an die junge Magd, die die Kämpfenden auf dem Sandplatz ebenfalls betrachtete. Ein stämmiger Knabe hatte gerade seinen schwach wirkenden Kampfpartner nieder gerungen und warf triumphierend die Fäuste in die Luft. Das Ergebnis war wohl für niemanden überraschend, denn seine Kameraden waren von seiner Darbietung schlicht gelangweilt.

"Hella?"

"Ja?"

"Wieso bekommen bei den Kiapos die Mädchen keinen Kampfunterricht?"

Hella schien überrascht zu sein, besann sich jedoch schnell und antwortete mit ruhiger Stimme. "Das ist nicht nur bei euch so. Mädchen werden nie der Kampfkunst unterwiesen, das ist einfach nicht üblich und mit den Traditionen auch nicht vereinbar."

"Welche Traditionen?", wollte Kathya wissen, "Dass die Frau Zuhause bleibt und sich um die Kinder kümmert, während der Mann zum Ritter ausgebildet und in den Krieg geschickt wird?"

Die Magd nickte und bestätigte damit die Befürchtungen des jungen Mädchens. Das ist alles so.. veraltet!

"Aber wir leben im Frieden! Nordas und Kyvarla sind verbündete von Algahra und können uns auf Grund des Vertrags überhaupt keinen Krieg erklären.", erwiderte sie aufgebracht und pustete energisch die blonden Locken zur Seite, die ihr dabei ins Gesicht fielen. Hella nahm ihre Hand und strich behutsam mit dem Daumen darüber. Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.

"Glaube mir, die Kampfkunst zu beherrschen bringt nur zu viel Verantwortung mit sich. Außerdem kannst du damit später nichts anfangen, Frauen werden nicht zum Ritter ausgebildet", sagte sie sanft und seufzte, "Bitte schlag dir diese Idee aus dem Kopf. Ich möchte, dass weder du noch ich in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Das würde alles unnötig kompliziert machen."

Es war wieder einmal die Dringlichkeit in Hellas Augen und die Bestimmtheit ihrer Stimme, die Kathya dazu brachte zuzustimmen. Wahrscheinlich hatte sie recht, was sollte sie mit der Kampfkunst anfangen? Ritter konnte sie nicht werden und zum Weglaufen war ihr das Leben von Hella zu wichtig – Adamo war ein gefährlicher Mann, wenn er wütend war; es wäre ihm geich, dass die junge Magd nicht Schuld an Kathyas Verschwinden war. Sie wollte ihr nicht schaden, nur um ihre eigenen, egoistischen Interessen durchzusetzen. Das lag nicht in ihrer Natur.

Schließlich erhob sich Hella und verabschiedete sich mit einem Knicks. "Meine kleine Kathya wird langsam erwachsen.", schniefte sie und wandte sich zum Gehen, "Wir sehen uns morgen. Und benimm dich bitte bei der Versammlung!" Mit diesen Worten war sie im Gang verschwunden und ließ Kathya alleine zurück. Das Mädchen beobachtete noch eine Weile, wie die Jungen eine neue Technik übten, bei der sie nicht so recht verstand um was es ging, bis sie sich entschloss ein letztes Mal einen Blick in den Spiegel zu werfen.

Der Rock des roten Kleids fiel locker und in Falten zum Boden hin, die Ärmel passten sich wundervoll an. Kathyas blonde Locken und die hellen, blauen Augen fügten sich harmonisch in das Bild der Kiapo ein. In den roten Schuhen lief sie etwas gehemmt, lies sich ihre Unsicherheit jedoch nicht anmerken und schritt erhobenen Hauptes durch den Raum. Das würde ihrem Vater sicher gefallen. Sie sah sehr edel und erwachsen aus, obwohl sie bei diesen Temperaturen schon jetzt schwitzte, und würde die Töchter seiner Brüder mit ihrem außergewöhnlichen Aussehen sicher übertrumpfen. Mit ihren braunen Haaren und den grünen Augen sahen sie nicht anders aus als jede andere Kiapo auch. Kathya jedoch hatte ihre Haarpracht und ihre Iris von ihrer Mutter – einer eleganten Jarek – geerbt und stach damit deutlich aus der Masse heraus. Das freute natürlich ihren Vater, doch sie selbst fand es für ihre Zukunft auf dem Gut nicht unbedingt förderlich.

Noch einmal betrachtete sie sich und ihren Aufzug und je länger sie in den Spiegel sah, desto mehr kämpfte sie gegen ein Gefühl des Ärgers und der Unsicherheit an. Wieso sollte sie nicht einfach mal etwas anderes ausprobieren? Zum Beispiel hatte sie schon immer die leichten Gewänder der Kämpfer bewundert. Ein Oberteil, das kurz über den Knien endete und ebenfalls verbreiterte Ärmel aufwies, wurde zu einer leichten Baumwollhose getragen. Der Saum steckte in hellbraunen Lederstiefeln und ein Gürtel um die Taille diente zur Aufbewahrung von Dolchen und dem einzigen Schwert, das ein Kämpfer trug. Es war einfach und praktisch und überhaut nicht zu vergleichen mit Kathyas Kleidern, die daneben extravagant und protzig wirkten. Und sie passten deutlich besser zu ihr.

Unerwartet brach eine Woge von Eigensinnigkeit über Kathya herein, woraufhin ihr eine Idee durch den Kopf schoss, die sie gleich darauf wieder verwarf. Ich kann doch nicht.. - oder doch? Was wird Vater dazu sagen? Traut er sich, mich vor der Menge an Clanmitgliedern zurechtzuweisen?

Entschlossen schritt das Mädchen auf ihren Schreibtisch zu und zog eine der vielen kleinen Schubladen mit den silbernen Knäufen auf. Sie wühlte eine Weile inmitten der Federn, Perlen, Stifte und anderen Zeichenutensilien, bis sie plötzlich aufsah und mit einem Ruck etwas metallisches hervor zog - die Jarek-Schere ihrer Mutter, die sie für ihren Arbeit als Schneiderin benutzt hatte, bevor sie von ihnen gegangen war.

Kathya schob den wehmütigen Gedanken an eine blonde, zierliche Frau, die sich über eine Arbeitsbank beugte und einen Pelzmantel bearbeitete energisch beiseite und besah sich die Schere genauer. Die zwei mit Rubinen besetzten Griffe glänzten im grellen Sonnenlicht, das durch das offene Fenster drang. Die beiden Klingen waren scharf und bereit, den Stoff ihres Kleides zu bearbeiten. 

Vorsichtig, und bedacht darauf nicht mit dem geschärften Metall abzurutschen, setzte sie an ihrem Rock an, drückte ihre Hand zusammen und ließ die Schere durch die Falten gleiten. Es ging ohne Ziehen, ohne Zerren und nach ein paar Sekunden rutschte ein großer Teil des roten Stoffes zu Boden. Danach trödelte sie den entstandenen Saum auf, zog eine lange Baumwollhose über ihre nackten Beine und schlüpfte in ein paar Lederstiefel, bei denen sie die Öffnung nach außen umgeschlagen hatte. Tief atmete sie durch und betrachtete sich abermals im Spiegel. Erleichterung und Zufriedenheit machten sich in ihr breit und verdrängten das Gefühl von Angst, die sie bei der Erinnerung an ihren Vater verspürte. Es würde schon alles gut gehen, er würde sich nicht trauen, Kathya vor der Clanversammlung anzuschreien - jedenfalls hoffte sie das. Jetzt gibt es jedenfalls kein zurück mehr.
 

Mit klopfendem Herzen stolzierte Kathya dem Herrenzimmer im unteren Stockwerk entgegen. Schon von weitem hörte sie den anhaltenden Lärm, klirrende Gläser und vereinte Stimmen. Offenbar fand gerade eine Diskussion statt, ansonsten hätten nicht so viele Leute gleichzeitig die Stimme erhoben. Sie straffte sich, bevor sie leise die verzierte Holztür aufdrückte und durch den kleinen Spalt schlüpfte. Vor ihr breitete sich der Salon des Gutes mit seinem riesigen Eichentisch und dem edlen Silberbesteck aus, an dem sich bereits die restlichen Kiapos niedergelassen hatten und eifrig miteinander plauderten. Allein Fackeln und ein Kaminfeuer erhellten den fensterlosen Raum und verströmten eine unheimliche Wärme. Als nun die riesige Tür hinter Kathya, lauter als gewollt, ins Schloss fiel drehte sich das Meer aus Köpfen zur ihr um. Ihre Blicke blieben an ihrer Kleidung hängen und glitten daran herunter, während sich die Augen erstaunt weiteten. Lass dir nichts anmerken, raunte sie sich selbst zu. Sie stellte sich an die kurze Seite der Tafel und sah nun dem Clanoberhaupt Dicodan direkt in die erheitert blitzenden Augen. Er war ein alter, gutmütiger Mann, der die Dinge, die um ihn herum geschahen, meist anders beurteilte als seine Gefolgsleute ohne sich daran zu stören. Sein langes, weißes Haar war stets im Nacken zusammengebunden und unterstrich die kantigen, aber freundlich wirkenden, Gesichtszüge. Kathya mochte und bewunderte ihn zutiefst.

"Clanoberhaupt Dicodan." Sie verneigte sich anmutig.

"Kathya. Bitte setz dich.", erwiderte der Greis höflich und wies auf ihren Stuhl, der nur wenige Meter entfernt am Tisch wartete. Das Mädchen nickte und wandte sich ab. Die Köpfe folgten ihr. Beobachtet mich nicht so, ihr Aasgeier, dachte sie verärgert, stoppte abrupt und warf einen vielsagenden Blick in die Runde, worauf hin sich promt jegliche Augenpaare von ihr lösten und stattdessen in die Luft oder auf ihre Teller starrten. Kathya lächelte zufrieden. 

Während sie sich auf ihr weiches Kissen sinken ließ, verebbte nach und nach die anhaltende Stille und machte erneut aufflammenden Gesprächen Platz. Allerdings – so fiel ihr auf – stierte ein Kiapo immer noch wütend vor sich hin: Adamo. Ihr Vater hatte die Hände, zu Fäusten geballt, links und rechts von seinem Teller auf der Tischplatte platziert und sah nicht gerade glücklich drein. Als Kathya schließlich zwischen dem intensiven Durcheinander von Stimmen und einem Schluck Wasser seinen schweren Atem an ihrem Ohr vernahm, war ihr bereits bewusst, dass etwas schreckliches auf sie zu kam.

"Kannst du mir erklären, was das soll?", presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Sie schluckte und wagte es nicht ihm in die Augen zu blicken. Sie waren mit Sicherheit ein Meer aus Wut und Abscheu.

"Was meinst du?", fragte sie unsicher. Es war vielleicht nicht die beste Taktik, aber im Eifer des Gefechts war ihr nichts besseres eingefallen.

"Du weißt genau, was ich meine. Das hier-", er zog fest an ihrem Ärmel,"-ist nicht das, was ein Mädchen bei einer Clanversammlung tragen sollte. Hat dir Hella kein Kleid heraus gelegt?"

"Doch!", erwiderte das Mädchen energisch, wurde jedoch im nächsten Moment wieder kleinlaut, "Das ist das Kleid."

Adamo lachte freudlos auf und ließ von ihr ab. "Das wird Konsequenzen haben, Fräulein. Dafür werde ich sorgen."

Kathya lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was meint er damit? Er wird doch nicht Hella zur Verantwortung ziehen! Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun!

Den ganzen Abend über beobachtete sie ihren Vater, der nach ihrer verheißungsvollen Auseinandersetzung jedoch wieder guter Dinge zu sein schien. Er wirkte auf einmal, völlig ohne Vorahnung, wie ausgewechselt. Als würde er sich über etwas freuen. Als würde er sich darüber freuen den Verantwortlichen für Kathyas Auftreten – den es nicht gab – zur Verantwortung zu ziehen. Denjenigen, der ihn so sehr vor seinen Brüdern und dem gesamten Clan blamiert hatte. Sie ahnte furchtbares.
 

Als Kathya am nächsten Morgen plötzlich eine fremde Magd, die ihr persönlich zu alt und zerstreut war, zur Verfügung stand, wusste sie, dass etwas passiert sein musste. Hella war nicht mehr da und ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Niemand konnte ihr Auskunft darüber geben, wo ihre Freundin sich befand und aus unsicheren Quellen erfuhr sie, dass das Gerücht, die junge Magd sei davon gelaufen, weil sie es nicht mehr aushielt für die adligen Kiapos zu arbeiten, die Runde machte. Zum Anfang glaubten es nur argwöhnischsten, aber nach einiger Zeit nahm ihnen das gesamte Personal jedes ihrer Worte bezüglich Hella ab.

Nein, sie würde mich nicht alleine lassen. Ich habe sie geschützt und sie mich. Sie würde nicht einfach so davon laufen. Dies waren die einzigen positiven Gedanken, an die sich das junge Mädchen über Wochen und Monate hinweg verzweifelt festklammern konnte und die ihr schließlich und endlich zu der schwersten Aufgabe ihres Lebens verhalfen: Kathya würde eine verborgene Kämpferin werden. Sie würde sich für Hellas Verschwinden und die auszustehende Einsamkeit rächen, die es ihr beschert hatte. Selbst wenn ihr Vater tatsächlich in die Sache verstrickt sein sollte.
 


 

Und der Schwur und der Eid eines jeden Kämpfers besiegelte ihr Schicksal.
 

Das Mädchen im Knabenmantel

Die Sonne schien verführerisch am Himmel über Felic. Es war einer der letzten schönen Tage im Jahr, denn die Sommerzeit neigte sich langsam dem Ende zu, doch unter dem Schloss von König Danilo dachte niemand an eine Pause im Gasthaus oder einen langen Waldspaziergang. Gearbeitet wurde, trotz des verlockenden Wetters und der ewigen gegnerischen Zurückhaltung, mit größter Sorgfalt.

Ray lag bäuchlings in der engen Kammer seines Postens und spähte durch ein kleines Loch im Mauerwerk. Der kalte Stein berührte seinen Rücken und seine Schultern, die Stiefelspitzen bohrten sich sachte in die Rillen des hinteren Walls und vor seinen Augen erstreckte sich das weitläufige Tal von Felic. Die idyllische Stadt mit seinen schmalen Sandwegen wurde eingekesselt von umliegenden Bergen, die bedeckt waren mit dichtem Buschwerk und die Senke erst zu einem Tal formten. An den gegenüberliegenden Hängen weidete das Vieh der Bauern, hier und dort konnte man zwischen abgeernteten Getreidefeldern ein paar der Clangüter erkennen und trotzdem waren noch etliche Flächen unbenutzt. Wirklich nicht zu vergleichen mit dieser Steinzelle, dachte Ray, schob seine Nase bis zu der kleinen Öffnung in der Wand vor und atmete tief ein, in der Hoffnung ein wenig der frischen Luft erhaschen zu können. Er begann jedoch sofort zu husten und Sand zu spucken, den er versehentlich vom Boden eingeatmet hatte. Sein Brustkorb presste ihn dabei ein paar Mal gegen die Decke und verschlimmerte das Keuchen, das aus seinen Lungen drang.

„Hey, Ray! Wehe, du erstickst mir da drin.“, ertönte eine gedämpfte Stimme zu seiner Linken, „Ich komme dahinter, wenn du dich vor der Arbeit drücken willst.“

„Das würde ich auf jeden Fall nicht-“, er hustete ein letztes Mal laut, „-so machen, Paride. Dafür bin ich zu schlau.“ Er lächelte und schaute noch einmal durch sein Guckloch, doch in seinem Blickfeld regte sich immer noch noch nichts. „Heute scheint sich wirklich nichts zu tun.“

„Heute? Den ganzen Sommer hat sich schon nichts getan! Und trotzdem lässt uns Ivano stundenlang im Staub herum kriechen. Ich hätte lieber die Stadtwache übernommen, aber die hat sich natürlich unser allerliebster Adamo reserviert.“, erwiderte Paride verärgert.

Ray seufzte. Assassine Adamo war wirklich nicht beliebt unter den Fratern, aber er verrichtete seine Arbeit sorgfältig und das war das einzige, das ihn als sein Kamerad interessieren sollte – nicht ob ihn der Matador vorzog oder nicht.

„Lass ihn in Ruhe, Paride.“, entgegnete der junge Mann angesichts des angriffslustigen Tons, der in der Stimme seines Freundes mitschwang und den er nicht weiter reizen wollte, indem er meinte, dass er den älteren Mann zwar ziemlich unsympathisch fand, aber seine Art die Dinge anzugehen durchaus billigte. Auf der anderen Seite ertönte ein unzufriedenes Grummeln, eine Pause folgte.

„Ich finde es einfach nur ungerecht.“, nahm sein Nachbar den Gesprächsfaden kleinlaut wieder auf.

„Ich verstehe dich doch, aber wir können nichts daran ändern.“, antwortete Ray verständnisvoll, während er erneut nach draußen spähte. Außer einigen Kindern, die mit langen Stöcken Schwertkämpfe imitierten, war nichts zu sehen. „Wie lange die Schicht wohl noch dauert? Ich hätte nichts dagegen mir mal wieder die Beine zu vertreten. Und vielleicht etwas zu essen. Natürlich nur, falls es den anderen nichts ausmacht, wenn ich nach 5 Stunden an meinem Posten in die Küche schleiche und etwas außerhalb der Mahlzeiten zu mir nehme.“

Paride antwortete nicht. Ihm entfuhr nur ein leises „Psst“, das Ray beinahe entgangen wäre. Skeptisch spitzte er seine Ohren und konzentrierte sich auf die Geräusche außerhalb der Kammern. Der Klang von Lederstiefeln, die auf Stein traten schallte ihm entgegen.

„Schichtwechsel!“ Der allseits bekannte Wärter pfiff leise vor sich hin und schob sorgsam die erste der zehn Luken auf, die den Gang entlang in die Wand eingelassen waren. Sofort war zu hören, wie die erste Wache sich nach draußen schob. Endlich hier raus!

„Ich glaube, du wirst früher als gedacht zu deinem Essen kommen.“, meinte sein Freund amüsiert, doch er hörte ihm schon kaum mehr zu. Ein letztes Mal schenkte er der vertrauten Umgebung außerhalb der Schlossmauern einen wachsamen Blick – nichts zu sehen – dann wartete er geduldig. Die Schritte hallten immer lauter zu ihm hinüber und endlich rutschte Paride neben ihm über den Boden hinaus.

Ray hörte nun wie ohne Umschweife der Zugang zu seiner Kammer geöffnet wurde, spürte ein Hand, die sich um sein Fußgelenk legte und ihn nach draußen zog. Um es dem Aufseher nicht noch schwerer zu machen, legte er die Handflächen auf den Steinboden unter ihm und drückte sich ebenfalls nach hinten, ein paar Sekunden geringen Kraftaufwands und er war endlich befreit. Der junge Mann blinzelte kurz im Licht der flackernden Fackeln bevor er sich aufrichtete, schließlich klopfte ihm der Wärter Arigo auf die Schulter und bedachte ihn mit einem höflichen Kopfnicken, bevor er weiter zog.

Paride hatten sich unterdessen zu seinem Freund gesellt und reckte sich genüsslich. Er wirkte etwas blass und kränklich, was am stundenlangen Lichtentzug liegen könnte, schien jedoch auch an Gewicht verloren zu haben. Sein blaues Kämpfergewand und die helle Baumwollhose hingen schlaff an seinem Körper, in den Gürtel hatte er neue Löcher stechen müssen, die Schafte seiner Stiefel schlackerten bei jedem Schritt.

„Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ray unsicher, „Du siehst ziemlich.. krank aus.“

Paride sah ihn zunächst etwas zweifelnd an. Er schien mit sich zu ringen, ehe er bestimmt seinen blonden Kopf schüttelte. „Nein, Nein. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Ich musste nur herausfinden, dass meine Tochter mit ihrem Liebhaber nach Kyvarla durchgebrannt ist. Das macht mir immer noch zu schaffen. Die Gesetze sind dort bezüglich den Liebesbekanntschaften und der Ehe vielleicht nicht so streng, aber die Gefahr eines Betrugs ist doch dadurch gleich viel größer! Ach, Ray. Sei einfach froh, dass du noch keine Kinder hast.“

Ein Stich der Wehmut durchfuhr den jungen Mann und ließ ihn zusammen zucken. Ich hätte einmal beinahe eine Frau gehabt. Und Kinder hätten bestimmt auch nicht lange auf sich warten lassen.

Paride hatte offenbar nichts bemerkt, denn er blickte sich im Gang um und seinem Freund darauf hin erwartungsvoll in die Augen. „Was machen wir jetzt?“

„Etwas essen?“

Er lachte. „Eigentlich hätte ich es mir denken können! Nun gut, auf in die Küche, aber lass uns leise sein. Du weißt wie sauer die Frauen werden, wenn wir uns vorm Abend bei ihnen herum treiben.“

„Auch, wenn sie es immer in den falschen Hals bekommen.“, entgegnete Ray kopfschüttelnd.

„Eine Liebeserklärung?“

„Schon wieder.“

Sie lachten und machten sich munter plaudernd auf den Weg zur Treppe. Sie führte sie direkt hinauf in den Korridor im Erdgeschoss des Schlosses, der durch schmale Durchgänge in der Mauer und gläserlose Fenster in den ausgedehnten Haupthof mündete. Hier trainierten an normalen Tagen auf aneinander gereihten Sandplätzen die Schüler, oder auch Tiros, der Tutoren. Meistens wurden für einfache Stichtechniken eigens hergestellte Strohpuppen in der Mitte platziert, doch für kompliziertere Täuschungsmanöver mussten auch schon mal die Dienstboten herhalten. Zitternd und mit gezogenem Schwert standen sie dann dem Schüler gegenüber. Es war immer wieder lustig mit anzusehen, wie leicht ein 15-Jähriger Knabe einen erwachsenen Mann innerhalb von Sekunden zu Boden fallen lassen konnte - wenn er wollte. Es kam jedoch öfters vor, dass sie sich einen Spaß daraus machten und mit gelangweiltem Blick die Schweißperlen beobachteten, die sich immer massiger auf der Stirn des Dieners bildeten, je länger der Tiro ihn schmoren ließ. Und dann schlugen sie mit einem Mal zu.

Heute allerdings war der einzige freie Tag, den die Schüler im Monat für sich selbst oder ihre Familie übrig hatten, während sie in der Fraternitat ihrer Ausbildung nachgingen. Somit konnte logischerweise auch kein Training statt finden. Einzig drei Tutoren waren auf den Sandplätzen zu sehen, wie sie die Strohpuppen auf Belastbarkeit prüften und in der Praxis neue Übungen entwickelten. Ray und Paride beachteten sie nicht weiter, bestimmt würden sie sich nur damit unbeliebt machen einen Tutor aus dem Konzept gebracht zu haben.

Stattdessen setzten sie ihren Weg in die Küche fort. An der nächsten Ecke liefen sie links herum und zwei weitere Treppen hinauf, die sie auf einen langen Gang führten. Die Fackelhalter hier waren leer und der edle, rote Teppich, der sonst den Schmutz vom Stein fernhalten sollte, verschwunden. Die Tiros nahmen nämlich besonders die Sauberkeit ihrer Stiefel nicht sonderlich ernst und hatten damit in früherer Zeit die Angestellten regelrecht in den Wahnsinn getrieben. Das Auslegen eines leicht entfernbaren Teppichs war die beste Lösung des Problems gewesen und war es bis zum heutigen Tag geblieben. Er wurde an den freien Tagen vom Schmutz befreit.

Die Frater gingen ein paar Schritte, ehe ein Bote ohne Vorwarnung aus der nächstgelegenen Tür gestolpert kam. Er prallte ungehindert mit Paride zusammen, der noch schnell genug von Ray festgehalten werden konnte. Der junge Angestellte war jedoch ungebremst auf den Steinboden gefallen und rieb sich nun mit verzerrter Miene den hinteren Teil seines Schädels. Als er ihnen das Gesicht zuwandte und sein Blick an ihren Gewändern hängen blieb, rappelte er sich hastig hoch und verbeugte sich mit hochrotem Kopf.

„Schon gut.“, beschwichtigte Ray, „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„J-ja. Danke“, erwiderte er stotternd, „I-ich habe eine Nachricht vom M-matador für euch. Er w-wünscht euch zu sehen.“

Der junge Mann nickte und ließ seine Finger in der Luft nach vorn schwingen, worauf hin der Bedienstete sich abermals hastig verbeugte und davon eilte. Paride blickte ihm mit einem Kopfschütteln hinterher und schnalzte abschätzig mit der Zunge. „Geht dir dieses unterwürfige Verhalten nicht langsam ganz schön auf die Nerven? Also mir schon.“

„Bei uns zu Hause war das nicht anders. Ich weiß mittlerweile, wie ich mit ihnen umgehen muss ohne mich unwohl zu fühlen.“, erwiderte der junge Mann achselzuckend und fuhr ohne Umschweife fort, „Begleitest du mich zu Ivano?“

Paride legte die Hand in sein Kinn und schielte zur Unterstreichung seiner nachdenklichen Haltung zur Decke. „Hmmmm..“, brummte er, „Gehe ich mit dir zu Ivano und greife wohl möglich noch ein wenig Tee und Gebäck ab oder lasse ich mich in der Küche von Marga mit einer Bratpfanne verprügeln?“ Er löste die Hand von seinem Kinn und blickte seine kichernden Freund gespielt vorwurfsvoll an. „Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich mich da ohne dich rein traue, oder?“

„Nein, du hast recht.“, prustete er und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Dann zog er Paride am Handgelenk mit sich – vor allem um seine Belustigung darüber zu verbergen, dass er immer noch eine Heiden Angst vor der Küchenmagd Marga hegte.

Der kleine Raum, in dem der Matador Besucher empfing und gelegentlich seinen Tee zu sich nahm, befand sich am Ende des langen Korridors im zweiten Stock. Die Tür war reichlich verziert und dadurch nicht unschwer von den anderen zu unterscheiden, die im Vergleich zu ihr karg und öde da standen. Allerdings kannte Ray diesen Eingang zu genüge aus seiner Zeit als Tiro und musste den Gang somit nicht nach dem richtigen Holzbrett absuchen; voller Erwartung kam er mit Paride instinktiv vor der zehnten Tür zum Stehen und klopfte vorsichtig an.

Augenblicklich drehte sich der abgenutzte Knauf und das schwere Eichenholz schwang nach innen auf. Hinter der Tür lugte ein gepflegt wirkender Diener hervor, der die beiden Frater mit einer ausholenden Armbewegung herein bat. Er schloss das Brett hinter ihnen, als sie durch den Rahmen schritten und trat mit einer Verbeugung durch eine unscheinbare Nebentür hinaus. Ist nur mir so oder war er ziemlich in Eile?

Ein Räuspern in Richtung des schweren Schreibtisches, der den bescheidenden Raum beherrschte, ließ ihn seine Aufmerksamkeit wieder auf Ivano lenken. Der Matador hatte es sich auf einem einfachen Holzstuhl bequem gemacht und beobachtete die beiden Frater aus klaren, blauen Augen. In seine blonden Haare hatten seit dem letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, noch mehr graue Strähnen geschlichen. Die Arme hatte er, wie im Trotz, vor der Brust verschränkt, doch ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken bedeutete er ihnen, auf den beiden Sessel vor seinem Tisch Platz zu nehmen. Ray ließ seinen Blick ebenso sehr auf ihm ruhen wie Paride, während sie sich in den weichen Stoff sinken ließen und langsam ihre Muskeln entspannten. Ivano ließ seine Augen kurzzeitig zwischen den Beiden hin und her huschen, dann schlug er die Lider nieder und löste sich aus seiner beinahe anklagenden Körperhaltung, in dem er die Arme vor sich auf dem Schreibtisch ablegte.

„Frater Ray, ich habe nur nach euch geschickt und nicht nach Frater Paride-“

„Ist es ein Problem, dass ich hier bin? Ich kann auch wieder gehen, wenn ihr das wünscht.“, fiel ihm der junge Mann eifrig ins Wort und war schon dabei sich zu Erheben, als der Matador den Kopf schüttelte.

„Nein, Nein. Es ist nichts geheimes.“, sagte er leise lachend, „Ich wollte euch, Frater Ray, nur darum bitten, dass ihr bitte die Stadtwache für Frater Adamo übernehmt. Ich weiß, ihr habt gerade eine 3-stündige Schicht im Beobachtungsposten hinter euch, aber eben so weiß ich, dass ihr den ganzen Sommer über im Schloss bleiben musstet und es sicher eine willkommene Abwechslung für euch wäre.“

Ray lächelte glücklich und neigte dankbar den Kopf. „Danke, Matador Ivano! Es wird schön sein den letzten Sommertag in der Stadt zu verbringen, aber eines ist mir noch unklar. Weshalb kann Frater Adamo die nächste Stadtwache nicht übernehmen?“

„Er ist leider durch eine außer planmäßige Mission verhindert.“, erklärte Ivano. Seine blauen Augen blitzten vergnügt auf. Wahrscheinlich hat er es sogar so geplant, damit ich endlich mal wieder hinaus komme, bevor der Sommer sich endgültig verabschiedet, schoss es ihm durch den Kopf. Doch der erfreuliche Gedanke an die Hilfe des weisen Matadors wurde von einem gewissen Schuldbewusstsein verdrängt. Genau, was war mit Paride?

„Matador Ivano?“, fragte er sorgsam, mit einem Seitenblick auf seinen Freund, der inzwischen mutlos in seinem Sessel zusammen gesunken war. „Könnte ich Frater Paride zur.. Unterstützung mitnehmen? Zwei Augenpaare sind bekanntlich besser als eins und zusammen könnten wir sicher auch böse Machenschaften schneller und effektiver unterbinden.“

Er wusste genau, was Ray bezwecken wollte, er war nicht dumm. Doch zu seinem Erstaunen vertiefte sich das Lächeln um die Gesichtszüge des alten Mannes. „Ich denke, das wird sich einrichten lassen, Frater Ray.“
 

Es war ein schönes Gefühl durch das große Haupttor nach draußen gelassen zu werden. Ein leichter Windhauch strich Ray über das Gesicht und ließ im Gehen den dünnen schwarzen Mantel, den er sich über sein Kampfgewand geworfen hatte, sachte um seine Beine streichen. Er blinzelte im fahlen Sonnenlicht, das schon beinahe den Berg auf der gegenüberliegenden Seite des Tals schnitt und atmete tief ein. Seine Lungen füllten sich augenblicklich mit frischer, klarer Luft.

„Danke noch mal.“, sagte Paride, während die Freunde langsam den Pfad zur Stadt hinunter liefen, der in den Berg gehauen worden war. Von dort aus konnte man schon vom weitem die unversehrten Mauern aus hellrotem Ziegelstein erkennen, die die kleinen gemütlichen Häuser umgaben und die Grenze zum großen Wohn – und Handelsviertel markierten.

„Keine Ursache. Ich finde es alleine sowieso viel zu langweilig.“, erwiderte Ray und rückte die Kapuze in seinem Nacken zurecht. Sie verfielen abermals in ein angenehmes Schweigen, während sie weiter den Weg hinunter marschierten. Der harte Boden verlief sich nach einer Weile in einem zertretenen Sandweg und es wurde zunehmend schwieriger schnell voran zu kommen, denn die Lederstiefel sanken mit ihrer dünnen Sohle tief in die Erde ein. So kamen sie schließlich keuchend vor dem geöffneten Eisentor zum Stehen, das sie freundlich in die Stadt geleitete, und atmeten einige Male tief durch, bevor sie ihre Kapuzen überzogen. Mit der angelegten Kopfbedeckung konnten sie problemlos ihre Gesichter vor den Dorfbewohnern verbergen, um späteren Racheakten zu entgehen, sollten einige informierte Komplizen noch auf freiem Fuß sein. Spätestens nachdem Frater Doan am Morgen nach der Wache nackt im Wald aufgewacht war – wahrscheinlich war Schlafmittel in seine Mahlzeit gemischt worden – wurde diese Vorsichtsmaßnahme zu einer bevorzugten Gepflogenheit.

Ray schritt neben Paride zunächst durch die ruhigeren Wohngebiete der Stadt. Ab und zu kamen ihnen kleine Gruppen von Einwohnern entgegen, die freundlich grüßten und danach wieder ihrer Wege gingen, aber im allgemeinen war es sehr ruhig. Erst, als sie den Marktplatz erreichten wurde es etwas interessanter. Sie mussten die Stände und ihre Waren überprüfen, wobei sie sich besonders gerne beim Schmied aufhielten und sich für ihren nächsten Einkäufe ein paar Waffen empfehlen ließen. Am Ende legte der Verkäufer für Ray einen Dolch mit gebogener Klinge und braunen Lederriemen zur Seite, für Paride eine Scheide aus gehärtetem Stoff, die mit etlichen Eisenringen verziert wurde.

„Wird das nicht ziemlich schwer?“, meinte sein Freund, als sie sich vom Schmied entfernten und auf einen breiten Seitengang zusteuerten, der vom Marktplatz wegführte.

Er zuckte nur mit den Achseln. „Sicher, aber es sieht doch ziemlich gut aus. Bestimmt kann man ein paar der Eisenringe auch entfernen.“

Ray schüttelte lächelnd den Kopf und ließ seinen Blick über sein Umfeld schweifen. Dann blieb er mit einem Ruck stehen. Er hob einen Arm vor Parides Körper, um ihn davon abzuhalten weiter zu laufen, spitzte die Ohren und horchte in die Gasse hinein, die sich vor ihnen ausbreitete. Hatte er da gerade nicht etwas gehört? Eine Art Jubelschrei? Der Frater legte eine Hand um sein Ohr um die Geräusche besser auffangen zu können und drehte sich einmal um die eigene Achse. Nichts. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt.

Merkwürdig enttäuscht ließ Ray die Arme wieder sinken. Aus den Augenwinkel fing er den Blick von seinem Freund auf, der ihm forschend ins Gesicht sah.

„Tut mir leid, Paride.“, sagte er entschuldigend und seufzte, „Ich dachte ich hätte etwas gehört, aber das war wahrscheinlich nur Einbildung.“

„Oh.“, entfuhr es ihm, „Ich denke nicht, dass es sein kann, dass wir uns beide gleichzeitig etwas einbilden. Das wäre für mein Verständnis ein zu großer Zufall.“

„Dann lass uns der Sache doch mal nachgehen.“, erwiderte der junge Mann belustigt und eilte weiter. Die Gasse, in der sie sich befanden, mündete in einen kleinen Hinterhof, aus der begeisterte Rufe zu ihnen hinüber drang. Sie lugten um die Ecke und erspähten eine große Ansammlung an Menschen, die einen Kreis um zwei Männer gebildet hatten. Die beiden – höchstwahrscheinlich Kaufleute, wie Ray wegen den üppigen Gewändern annahm – hatten eine Prügelei begonnen und wälzten sich auf dem gepflasterten Boden herum. Der Kleinere hatte gerade die Oberhand gewonnen und rammte dem Mann unter ihm mehrere Male seine Faust ins Gesicht, der fasste ihn allerdings bei den Handgelenken und drückte ihn von sich. Dann schlug er seinem Gegner so kraftvoll in den Magen, dass er auf keuchte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch hielt.

„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte Ray aufgebracht – mehr zu sich selbst als zu Paride - als er ein Messer in seiner Hand aufblitzen sah. Jegliche Erheiterung der letzten Sekunden war wie auf einen Schlag verflogen. Der junge Frater füllte seine Lungen mit Luft um die Stimme zu erheben, doch sie versagte. Eine großgewachsene Gestalt in einem schwarzen Mantel war zu der Menge hingetreten und hatte dem Mann mit dem Messer mit geschickten Handgriffen die Arme auf den Rücken gedreht. Sie hatte die Kapuze übergezogen und unter ihrem Mantel blitzte ein rotes Kämpfergewand hervor. Sie zog ihn hoch und erlaubte dem Kleineren der beiden somit aufzustehen. Er rappelte sich auf und schien Worte des Dankes zu stammeln, denn er verbeugte sich einige Male hastig. Der Unbekannte blieb jedoch unbeeindruckt und schickte ihn mit einer entschiedenen Handbewegung fort. Dann entzog er dem Mann sein Messer.

„Komm, Ray. Näher heran.“, flüsterte Paride neben ihm und zog ihn mit sich. Die Gestalt hatte die Klinge zur Kehle des Händlers rutschen lassen und redete leise auf ihn ein. Als die Freunde sich näher heran pirschten, konnten sie die Worte deutlich verstehen.

„.. und wirst niemanden mehr bedrohen? Ich weiß, dass dein Prügelknabe aus Notwehr gehandelt hat. Du jedoch wolltest ihn töten. Versprichst du es?“ Die Stimme klang tief und bedrohlich.

„Ja! Ja!“, rief der Mann im Griff der Gestalt und versuchte sich zu entziehen. Sie blieb jedoch erbarmungslos.

„Dann lasse ich dich laufen. Aber merke dir eins: Wirst du noch einmal einen unschuldigen Menschen bedrohen, werde ich es wissen. Und dann töte ich dich.“ Sie löste sich aus ihrer angespannten Haltung und ließ ihn vorwärts stolpern. Er rappelte sich aus dem Dreck auf und rannte davon, in wenigen Sekunden war er hinter der nächsten Mauer verschwunden.

Erst jetzt bemerkte Ray, dass die Anfeuerungsrufe verebbt waren. Die Leute blickten nervös hin und her und wichen entsetzt rückwärts. Nur er und Paride blieben zurück und rührten sich nicht von der Stelle.

„Unbekannter. Wie ist euer Name?“, rief Paride aus einigen Metern sicherer Entfernung.

„Wer fragt das?“, erwiderte die ummantelte Gestalt und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Kapuze war so weit ins Gesicht gezogen, dass Ray durch den Schatten allein den Ansatz eines Kinns erkennen konnte.

„Ich bin Frater Paride und das ist Frater Ray.“, erklärte sein Freund bestimmt, „Ich danke euch dafür, dass ihr uns die Arbeit abgenommen habt.“

„Das, was ich getan habe, ist meine Aufgabe.“

„Nun, eigentlich wäre es unsere Aufgabe gewesen, aber es tut nichts zur Sache. Habt ihr eine Kämpferausbildung?“

Die Gestalt zögerte kurz. „Ja, aber das haben alle männlichen Clanmitglieder. Das ist nicht außergewöhnlich.“

Ray bemerkte, wie Paride unschlüssig den Mund öffnete und ihn gleich darauf wieder schloss. Er konnte dem Unbekannten nicht von der Fraternitat des Königs erzählen. Die Organisation wurde seit ihrer Gründung von den Mitgliedern und Angestellten geheim gehalten. Die Einwohner von Felic wussten nichts von ihr und sollte ihr Gegenüber sich dazu entschließen zu fliehen, würde es bestimmt innerhalb von Stunden bekannt sein.

„Ich wundere mich nur-“, begann er, „-dass sich ein so guter Kämpfer außerhalb unserer Reihen aufhält.“ Er deutete auf sich selbst und Ray.

„Eure Reihen? Was meint ihr?“

„Kommt mit uns und ihr werdet es erfahren.“

„Tut mir leid.“, entgegnete die Gestalt reserviert, „Mein Zuhause und meine Leute sind hier. Ich bin nicht so dumm, blind Fremden zu vertrauen.“

Sie wandte sich ab und wollte in einem Seitengang verschwinden, als Ray ein Gedanke durch den Kopf schoss. Lass ihn nicht einfach so gehen. Wir können jede Unterstützung gebrauchen! Mach ihm klar, dass er selbst als Assassine seine Leute beschützen kann.

„Wartet doch!“, rief er deshalb und sprintete vor. Er versuchte verzweifelt den Zipfel des Mantelärmels zu fassen zu bekommen, doch stattdessen griff er nach der weiten Kopfbedeckung. Wahrscheinlich war es unhöflich ein Gesicht, das unter einer Kapuze verborgen war, zu entblößen, aber es war für Ray die einzige Möglichkeit den Fremden zum Stehen blieben zu bewegen.

Als der schwarze Stoff den Kopf herunter rutschte, hielt er tatsächlich erschrocken inne und griff mit beiden Händen nach seinem Schädel. Doch Rays Augen erwarteten keine kurzen dunklen Haare, als sie sie endlich zu Gesicht bekam. Sie waren lang und blond. Und, als der Fremde schließlich zu ihm herumwirbelte, war es noch nicht einmal ein Männergesicht, das ihn erschrocken anblickte.

„Eine Frau.“, flüsterte er heiser, „Ihr seid eine Frau!“

Er griff nach ihrem rechten Arm und legte fest seine Finger darum. Auf der anderen Seite hielt sie Paride fest, der sich erst aus einer Starre lösen musste, bevor er zupacken konnte. Er schob blitzschnell seinen Fuß hinter ihr Bein und ließ sie zu Boden fallen. Sie wehrte sich verzweifelt, doch Ray legte nur seinen scharfen Dolch an ihre Kehle, um sie dazu zu bringen still zu halten.

„Wir bringen euch jetzt erst einmal hier weg. Ihr könnt uns später erklären, weshalb du ein Kämpfer bist.“, sagte er an sie gewandt und half seinem Freund ihre Arme und Beine zu fesseln, „Es wird auch nicht lange dauern.“ Wenigstens ist sie so schlau nicht zu schreien ,um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Damit band er ihr seine beiden Tücher über Augen und Mund zusammen, wuchtete sie unsanft auf seine und Parides Schultern und machte sich leise ächzend auf den Weg zum Schloss.

Gespräch unter vier Augen

„Wieso habt ihr nicht zuerst die Fraternitat informiert?“ Ivano stand, an seinen Schreibtisch gelehnt, vor Ray und Paride. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und seine Augen funkelten verärgert zu ihnen hinunter.

Sie haben sich in den Sessel im Empfangsraum Ivanos nieder gelassen um Bericht zu erstatten, nach dem sie das Mädchen bei einem Wärter in Obhut gegeben hatten. Zuerst hatte der Matador sie noch erheitert mit Tee und Wein begrüßt, doch nachdem sie ihm geschildert hatten was in der Stadt vorgefallen war, war er merkwürdig ernst geworden. 

„Es tut mir Leid, Matador Ivano, aber damit hätten wir nur Zeit verloren.“, erwiderte Ray, „Das Mädchen war bereit die Flucht zu ergreifen und wäre sie von uns nicht schnell genug davon abgehalten worden, wäre sie jetzt unauffindbar. Ich habe das Gefühl, dass sie sehr klug ist und erst denkt und dann handelt. Das hätte die Suche nach ihr deutlich schwerer gemacht.“

Der alte Mann schien kurz über seine Worte nachzudenken. „Vielleicht hätte sie uns aber auch die Zeit gegeben darüber nachzudenken, was nun mit ihr passieren soll. Ihr wisst, dass auf die Ausführung des Kämpfens von weiblichen Personen eine lebenslängliche Einbuchtung im Kerker aussteht?“

Ray nickte bedrückt. „Ja, aber..“ Er stockte und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Wie sollte er ihm beschreiben mit wie viel Geschick sie die beiden Kaufmänner in Schach gehalten hatte? Wie sie dem Mann mit dem Messer die Arme auf den Rücken gedreht und ihn in so einer unangenehmen Stellung gehalten hatte, dass er sich unmöglich daraus befreien konnte?

Glücklicherweise kam ihm Paride schnell genug zu Hilfe. „Matador Ivano, bisher gab es noch keinen Fall von dieser Art. Die Frauen, die wir aufgreifen konnten, sind wegen dem Versuch die Kampfkunst zu erlernen verurteilt worden und nicht, wegen der tatsächlichen Benutzung. Vielleicht sollten wir erst einmal in Erfahrung bringen wie weit sie in der Ausbildung ist, um über ihre Strafe zu entscheiden und.. Nun. Denkt ihr, dass wir sie zu einem Assassinen-?“

„Nein.“, unterbrach ihn Ivano, der schon ahnte worauf der Frater hinaus wollte. „Ich persönlich würde sie nicht zu einem Mitglied der Fraternitat machen und wohl möglich noch zu einem Assassinen ausbilden. Nicht, weil ich denke, man sollte Frauen allgemein keine Chance geben, sondern weil es mir nicht logisch erscheint mit unseren Traditionen wegen einer einzelnen Kämpferin zu brechen. Allerdings wird darüber wohl letztendlich König Danilo entscheiden.“

Rays Herz krampfte sich zusammen. Der König von Algahra war als gerecht und gutmütig bekannt, aber bei Gesetzesbrechern kannte er in den meisten Fällen keine Gnade. So war ein junger Mann vor 3 Jahren wegen Diebstahls zu einem Diener der Fraternitat geworden und stand noch heute in ihrem Dienst. Damals hatte er mit ihm gesprochen und erfahren, dass er für seine Mutter und seine kleine Schwester etwas zu Essen beschaffen wollte. Sie lebten in Armut, konnten sich kaum die Miete eines kleinen Raumes über einem Gasthaus leisten und nach dem Tot seines Vaters war er als einziger Mann in der Familie zum Familienoberhaupt geworden. Während er erzählte, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie seine Familie nun überleben sollte war er in Tränen ausgebrochen und Ray hatte es bisher nicht übers Herz gebracht ihm zu erzählen, dass seine kleine Schwester tot in einer Seitengasse aufgefunden worden war und ihre Mutter kurz darauf Selbstmord begangen hatte. Der junge Mann würde es ohnehin nicht über die Grenzen des Schlosses hinaus schaffen um sie zu besuchen, so traurig das auch war.

„Hat sie denn bisher etwas über sich preisgegeben?“, hörte er Paride gerade fragen und die Frage nach dem Mädchen ließ ihn abermals aufhorchen.

„Nein, sie schweigt stur wie ein kleines Kind. Wir können machen was wir wollen.“, gab Ivano zu und seufzte. Dann wanderte sein Blick zu Ray hinüber, der ihn auffing und darin nach einem Gefühl von Anschuldigung suchte, doch das war es nicht. „Würdet ihr mit ihr reden, Frater Ray?“

„Ich?“

„Ja, ihr. Ihr habt ein Händchen für schwierige Fälle und seid feinfühliger als die Wachen, die ein Verhör nur als eine Art Mittel zum Zweck betrachten. Daher würde ich euch gerne mit diesem Fall betrauen.“ Der alte Mann lächelte und wandte sich an Paride. „Ihr kümmert euch bitte darum, dass der König von dem Aufgriff der Kämpferin erfährt und wir in den nächsten Tagen eine Privataudienz erhalten. Ich möchte nicht, dass bei der Verurteilung überflüssiges Publikum anwesend ist.“

Der Frater nickte und erhob sich eilig. Er schenkte den beiden Männern zum Abschied einen höflichen Blick, klopfte seinem Freund im Vorübergehen auf die Schulter und war mit wenigen langen Schritten aus der Tür, die der Diener hinter ihm schloss. Auch Ray wollte sich erheben, doch Ivano bedeutete ihm sitzen zu bleiben.

„Lasst mich noch klarstellen, welche Informationen die wichtigsten sind.“ Er ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich den unbequemen Holzstuhl und verschränkte die Finger ineinander.

„Bringt in Erfahrung aus was für einer Familie sie stammt und wer ihr die Kämpferausbildung näher gebracht hat, wobei die Gründe dafür nicht wichtig sind. Dann müsst ihr herausfinden ob es noch mehr von ihr gibt. Ob eine Art Organisation wie unsere existiert, wird sie sicher nicht preisgeben, aber jeder Hinweis darauf ist entscheidend. Und zu guter Letzt wäre wichtig zu wissen, was sie mit ihren Fähigkeiten getan hat, aber auch hier denke ich nicht, dass sie euch Dinge wie Diebstähle offenbaren wird.“

„Ihr erwartete ziemlich viel von mir.“, entgegnete Ray zaghaft und bereute im nächsten Moment, dass er indirekt deutlich gemacht hat, er würde die Aufgabe ablehnen. Ivano hat so viel vertrauen in mich, um mir so eine Aufgabe zuzuteilen. Da werde ich sicher nicht ablehnen, nur weil es mir schwierig vorkommt, schoss es ihm durch den Kopf und er fügte hastig hinzu: „Natürlich werde ich es trotzdem versuchen.“

Der Matador lächelte. „Ihr dürft ihr auch gerne über etwas über die Fraternitat erzählen, wenn sie das Vertrauen zu euch fassen lässt. Vor allem da der König sie sicher nicht laufen lassen wird.“

Ray nickte und erhob sich mit einer Verbeugung. „Ich melde mich bei euch, wenn ich ein Ergebnis erzielt habe und hoffe, dass es nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen wird.“

„Solange die Angelegenheit erledigt ist, bevor die Audienz beginnt ist alles in Ordnung. Und nun rasch ans Werk.“, erwiderte Ivano.

Der junge Mann neigte zum Abschied höflich den Kopf und wandte sich zum Gehen. Als der Diener hinter ihm die Tür geschlossen hatte, lehnte er sich an das schwere Brett und atmete einmal tief durch. Er würde sich gleich auf den Weg zu den Verhörzellen machen, um mit dem Mädchen zu reden. Je früher er anfing, desto eher konnte er dem jungen Ding ein paar Antworten abringen und sie auf das Bevorstehende vorbereiten. Dabei entlockte ihm der Gedanke an die Privataudienz beim König und die Verurteilung ein tiefes Seufzen.

Was habe ich mir da nur eingebrockt?
 

Kathya sah sich voller Abscheu in dem kleinen Raum um, in den man sie gebracht hatte. Außer dem Tisch mit zwei gegenüberstehenden Stühlen, an dem sie saß, und zwei Fackeln an den Wänden war er komplett leer. Die Wände waren aus groben Ziegelsteinen gemauert und der Boden gepflastert, wodurch jedes laute Geräusch, das sie machte doppelt so laut zurückschallte und in den Ohren dröhnte. Vielleicht wollte man dadurch sicherstellen, dass sie ruhig blieb.

Allerdings wäre sie das so oder so geblieben. Sie war nicht so dumm nach Hilfe zu schreien oder an der großen Eisentür zu hämmern, bis sie sich komplett verausgabt hatte. Sie würde ihre Energie mit Sicherheit noch brauchen und wollte sie nicht durch törichtes Randalieren verschwenden. Die Wache hatte das jedoch offensichtlich erwartet, denn alle fünf Minuten lugte ein braunes Augenpaar mit buschigen Brauen durch einen schmalen Schlitz in der Tür, um sich zu vergewissern, dass sie auch immer noch an ihrem Platz saß. Kathya konnte über solch ein Verhalten nur lächeln. Wie sollte ich denn von hier fliehen? Durch Geheimgänge, die andere Gefangene gegraben haben? Durch eine versteckte Leiter? Durch Magie? Vielleicht erwarten sie auch noch, dass ich jeden Moment durch die Tür spaziert komme.

Ein Geräusch von Metall auf Metall lenkte Kathyas Aufmerksamkeit für kurze Zeit auf die Tür, aber es wurde nur einmal mehr der Spalt aufgesperrt. Wieder schielte ein Augenpaar herein, doch es war nicht dasselbe wie bei den anderen Malen. Die Augen waren grün und die dazugehörigen Augenbrauen viel schmaler und geschwungener. Als das Mädchen den Blick des Fremden erwiderte schob sich die Abdeckung abermals davor und sie hörte wie der Riegel des Eisentors betätigt wurde.

Eine gedämpfte Stimme drang an ihr Ohr. „Sie hat nicht einen Laut von sich gegeben und sich nicht einen Millimeter bewegt. Ich dachte schon, sie wäre abgehauen.“

Jemand anderes lachte leise. „Vielleicht kann ich ihr ein paar Worte entlocken. Danke euch, Arigo.“

Plötzlich schwang die Tür nach Innen auf und Kathya erblickte einen jungen, hochgewachsenen Mann mit braunen Haaren, der im Türrahmen stand. Sein Äußeres wirkte gepflegt und ein munteres Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Als er eintrat und sorgsam die Tür hinter sich schloss, bemerkte sie, dass auch er ein Kämpfergewand trug, das die gleiche Farbe wie seine Augen aufwies – ein kräftiges waldgrün.

Der Fremde stellte sich nun an den Tisch und lächelte zu ihr hinab. „Darf ich mich setzen?“

Kathya runzelte die Stirn, nickte jedoch und sah dabei zu wie er sich elegant auf den Stuhl sinken ließ. Er bemerkte ihren Blick und als er ihn erwiderte, wandte sie sich wieder ab. Er lachte hell auf.

„Was gibt es da zu Lachen?“, fragte sie verärgert und hielt sich im nächsten Moment erschrocken die Hand vor den Mund. Er hat mich schon innerhalb der ersten zehn Sekunden zum Reden gebracht, dachte sie und fluchte innerlich. Sein Lachen wurde lauter und verebbte nur langsam.

„Ich glaube, dass es euch jetzt nichts mehr bringt zu schweigen.“, sagte er sobald er sich gefangen hatte, „Jetzt weiß ich nämlich mit Sicherheit, dass ihr nicht taubstumm seid.“

Das Mädchen presste die Lippen aufeinander und verfiel in ein leichtes Grübeln. Auf der einen Seite hatte er Recht, wieso sollte sie überhaupt noch schweigen? Es würde ihr nichts bringen, außer den netten Nebeneffekt, dass man sie weiter festhielt. Doch auf der anderen Seite, wusste sie nicht, wieso sie sich überhaupt mit einem Fremden unterhalten sollte. Ich taste mich lieber erst einmal langsam vor. Mal sehen wohin es mich bringt. 

„Könnt ihr mir eine Frage beantworten?“ Sie unterdrückte ein Lächeln, als der junge Mann vor Überraschung über ihr Sprechen die Augenbrauen hochzog. 

„Natürlich. Ich werde euch zu allem, was ihr wissen wollt eine Antwort geben.“

„Zu allem?“, hakte sie nach. Er zögerte, als ihm langsam dämmerte auf was das Mädchen hinauswollte. „Nun, vielleicht nicht zu allem, aber zu den meisten Sachen.“

„Nagut.“, erwiderte sie resigniert, „Wo bin ich?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass das eure erste Frage ist.“

„Was hätte ich denn als erstes fragen sollen?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Zum Beispiel, wer derjenige ist mit dem ihr euch hier unterhaltet. Das wäre auch eine Frage gewesen, die ich als erstes gestellt hätte.“

Nun konnte sie unter seinem Wohlwollen das Lächeln nicht mehr unterdrücken. „Erst ihr, dann ich.“

„Gerne.“, sagte er, stand auf und verbeugte sich elegant, „Ich bin Frater Ray vom Clan der Ginto. Es freut mich, einen 20 Jahre alten Greis, eure Bekanntschaft zu machen Madame..?“

„Kathya.“, erwiderte sie und verbeugte sich ebenfalls vor ihm, „Die verborgene Kämpferin vom Clan der Kiapo. Es freut mich ebenfalls eure Bekanntschaft zu machen, Frater Ray.“

Es sah wahrscheinlich ziemlich merkwürdig aus, wie sie sich in einer bedrückend engen Zelle gegenüber standen und sich voreinander verbeugten, doch es hatte für Kathya etwas respektvolles. Etwas, das man stets machen sollte und in der Gesellschaft üblich war. Etwas, das sie verband.

„Eine verborgene Kämpferin also.“, sagte Ray nachdenklich, als sie sich wieder gesetzt hatten und sich über den Tisch hinweg in die Augen blickten. Mit einem Mal grinste er schelmisch. „Ich hatte schon überlegt, ob die Tatsache, dass ihr dem Kaufmann mit dem Messer den Arm auf den Rücken drehen konntet, einfach nur etwas mit Geschick und nicht mit einer Kämpferausbildung zu tun hat.“

Kathya biss sich auf die Unterlippe. Jetzt habe ich mich auch noch selbst verraten. Was ist mir mir los, ich bin doch sonst nicht so kopflos, dachte sie, doch gleich darauf kam ihr ein weiterer Gedanke.

„Ihr seid derjenige der mich auf dem Hinterhof in der Stadt gefesselt hat!“, rief sie anklagend aus.

„Das bestreite ich auch nicht.“, bemerkte er kühl, „Aber es war meine Pflicht. Ihr wisst sicherlich, dass es Frauen verboten ist die Kampfkunst zu erlernen und alleine der Versuch wird schon bestraft. Ich musste allerdings feststellen, dass unser Regelwerk in dieser Hinsicht etwas lückenhaft ist, denn einen Fall von einer tatsächlichen Ausführung hat es bei uns noch nie gegeben.“

„Wem gegenüber müsst ihr diese Pflicht erfüllen?“ Ihre Stimme hatte sich wieder beruhigt und auch ihre Augen waren nicht mehr ein Meer aus Abscheu und Hass. Sie selbst hatte sich auch an einen Schwur geklammert und deshalb das Gesetz gebrochen; sie konnte Rays Verhalten beinahe nachvollziehen.

„Der Fraternitat des Königs, meiner Bruderschaft.“, erwiderte er, „Ich habe mich ihr schon vor Jahren verschrieben und befolge seit dem die Anweisungen des Königs und dem Matador Ivano.“

Das klang für Kathya schon etwas interessanter. „Und was hat es damit auf sich? Was müsst ihr tun?“

„Die Fraternitat ist eine geheime Organisation zum Schutz der drei verbündeten Länder Algahra, Kyvarla und Nordas.“, gab er bereitwillig Auskunft, „Wir müssen zum Beispiel Hinweisen auf Verschwörungen nachgehen oder betrügerische Absichten unterbinden und tarnen uns dabei als Algahrische Ritter. Die eigentliche Tat ist dabei von Mission zu Mission unterschiedlich und ist auch vom Ausbildungsstand abhängig. Ich bin ein voll ausgebildeter Assassine, mir können daher Missionen vom Grad einer Bündnisverschwörung zugeteilt werden.“

Kathya lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verarbeitete die Menge an Informationen, die in ihr Gehirn geflutet waren. Eine Bruderschaft. Davon scheint die Bevölkerung nichts zu wissen, denn sonst hätte mich diese Information schon vor langer Zeit erreicht. Wahrscheinlich ist es nicht umsonst eine geheime Organisation.

„Und wie steht es mit Felic selbst?“ Rays Frage unterbrach ihr Grübeln. „Habt ihr euch auch irgendwie.. organisiert?“

Kathya musste bei dieser offensichtlichen Fragestellung unwillkürlich lächeln. „Wenn ihr andeuten wollt, dass es mehr von meiner Sorte gibt muss ich euch leider enttäuschen. Wenn es jemanden gibt, der es mir gleich getan hat, dann ist mir derjenige nicht bekannt.“

Er seufzte erleichtert und entspannte sich sichtlich. „Das ist gut.“

Als er den fragenden Blick der jungen Frau auf sich spürte, fügte er missmutig hinzu: „Ich hasse es, Menschen ihrer Freiheit zu berauben. Vor allem, weil ich mich sehr für ihre Geschichten interessiere und sie mir so bereitwillig alles erzählen. Ich könnte Dinge vortragen, bei denen euch die Nackenhaare zu Berge stehen würden. Diese Ungerechtigkeit und Grausamkeit könnt ihr euch nicht einmal in euren kühnsten Träumen ausmalen. Manchmal sind Familienväter dabei, die gestohlen haben damit ihre Familie ganz knapp überlebt oder Mütter, die dabei erwischt worden sind wie sie ihre Babys vor die Tür des Waisenheims gelegt haben. um ihnen eine bessere Zukunft zu bieten. Und dann werden sie für Jahre in den Kerker gesperrt oder zu einem unserer Diener. Das ist so-“

„Wie werden sie mit mir verfahren?“, unterbrach sie ihn eindringlich. Er zögerte plötzlich, blickte ihr nicht mehr in die Augen sondern beklommen zur Seite, blieb stumm.

Sie spürte, wie eine Woge von Angst über sie hereinbrach. Wenn sie mit einfach Dieben ohne böse Absichten schon so verfahren, was soll dann erst mit mir passieren? Lebenslänglich Kerker und wohl möglich niedere Arbeiten? Ich kann das alles nicht. Ich kann nicht so lange von meiner Familie getrennt sein, kann den Leuten in der Stadt nicht abtrünnig werden.

Hätte ich es doch bloß gelassen. Wäre ich doch niemals eine Kämpferin geworden.

Kathya fühlte die Tränen bereits ihre glühenden Wangen hinunter rinnen, bevor es ihr Gehirn verarbeitet hatte. Sie tropften auf die Tischplatte und auf ihre Kleider, benetzten ihre Haut und brachten ihre Augen zum Brennen. Sie wollte sie einfach mit dem Ärmel wegwischen und sich entschlossen dem Stellen, was sie erwartete, doch sie konnte nicht. Die junge Frau konnte sich vor Angst und Sorge nicht bewegen und ließ den Tränen, die als dicke Wasserperlen massenweise aus ihren Augenlidern drangen, freien Lauf. Sie setzte sich nicht einmal gegen den mitfühlenden und gleichzeitig skeptischen Blick von Ray zur Wehr, den sie auf sich spürte, während sie den Kopf gesenkt hielt um ihren Schmerz zu verbergen. Doch plötzlich spürte sie seinen Körper neben sich.

„Alles wird gut.“ Kathya hörte die Stimme nur entfernt und fühlte kaum, wie sich seine Hand auf ihre Schulter legte und dort verweilte. Sie konzentrierte sich nur auf die Wärme seiner Haut, die Weichheit seiner Stimme und das Mitgefühl, das darin mitschwang. Sie bezog daraus Kraft und schaffte es endlich zu ihm aufzublicken und ihm direkt in seine grünen Augen zu sehen, die ihr mittlerweile so vertraut waren, als würde sie sie schon ein Leben lang kennen.

„Was wird mit mir passieren?“, fragte sie erneut, mit brüchiger Stimme und klopfendem Herzen.

„Ihr werdet bald für eine Privataudienz hinauf ins Schloss gebracht werden. König Danilo entscheidet über euer Schicksal.“ Und sein Tonfall ließ sie erneut in Tränen ausbrechen.
 

„Matador Ivano.“

Der Matador wirbelte herum. „Frater Paride. Was gibt es?“ 

Er lächelte und neigte leicht seinen Kopf. „Ich habe gute Neuigkeiten. Die Berater und der König haben einer Privataudienz in zwei Tagen zugestimmt und erwarten uns bei Sonnenuntergang im Audienzsaal.“

Ivano seufzte erleichtert. Er hatte den jungen Mann erst vor einem Tag mit seiner Bitte zum König geschickt und war froh, dass alles reibungslos verlaufen war. „Wer soll anwesend sein?“

„Frater Ray, ich und ihr. Und natürlich das Mädchen. Außerdem ein Verteidiger, der die Interessen der Angeklagten vertritt.“, erwiderte Paride.

„Darf es einer von uns sein oder muss ein Unbeteiligter in die Sache mit hinein gezogen werden?“

„Wie immer, Matador. Die Zeugen dürfen die Angeklagte verteidigen, wenn sie dazu befragt werden, aber im allgemeinen muss ein Unbeteiligter hinzugezogen werden.“

Und schon hatte er wieder ein ungutes Gefühl. Wer sollte die Interessen des Mädchens vertreten? Er hatte sich bereits – für den Fall der Fälle – in der Fraternitat umgehört, ob es jemanden unter den Fratern und Tutoren gab, der die junge Frau unterstütze. Doch bisher war niemand bereit ihr zu helfen. Vielleicht würde er bei Adamo oder Doan mehr Erfolg haben, die bald von ihrer Auslandsmission zurückkehren würden und mit denen er sich bisher nicht in Verbindung setzen konnte.

„Hat sie denn bereits mit Frater Ray gesprochen?“, unterbrach ihn Paride und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwert.

„Ja. Der Wärter hat Stimmen aus der Verhörzelle gehört, aber ich hatte noch keine Gelegenheit mit Frater Ray darüber zu sprechen, was sie von sich preisgegeben hat. Er meinte, wenn er etwas wichtiges in Erfahrung bringt, würde er sich bei mir melden. Im Moment scheint das nicht der Fall zu sein.“

Paride nickte bedächtig. „Meint ihr, dass er Informationen zurückhalten würde um sie zu schützen? Er scheint sich sehr um sie zu sorgen.“

Der Matador dachte kurz über seine Worte nach, schüttelte jedoch entschlossen den Kopf. „Nein, das sähe ihm nicht ähnlich. Er war immer darauf bedacht, meinen und König Danilos Befehlen so genau wie möglich Folge zu leisten und würde es nicht wagen, sie wegen einer Gefangenen nicht zu befolgen. Vielleicht muss er das gehörte erst einmal überdenken und sich darüber im klaren werden, was er mir erzählen kann und was nicht. Was wichtig sein könnte und was er getrost beiseite schieben kann. Und ich lasse ihm gerne die Zeit.“

Paride zuckte mit den Achseln und lächelte. „Es ist gut, dass ihr ihm so vertraut, Matador. Ich will euch auch nicht weiter aufhalten und ich selbst habe auch noch einige Sachen zu erledigen.“

„Natürlich.“, erwiderte der alte Mann lächelnd, „Frater Paride.“

„Matador Ivano.“ Er verbeugte sich flüchtig und ging an ihm vorbei in Richtung seiner Gemächer. Als er um die Ecke spaziert war, stieß Ivano den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte und machte sich ebenfalls auf, um sich wieder in seinem ruhigen Lesesaal niederzulassen und über einem guten Buch ihre jetzige Situation zu vergessen. Bei so viel Unruhe, die das Mädchen jetzt schon mit sich gebracht hat, will ich eigentlich überhaupt nicht die Ursache für Rays Schweigen erfahren. Was ist nun, wenn er das Mädchen tatsächlich deckt? Obwohl mich immer noch die Frage nach dem Grund plagt, denn der ist nicht wirklich offensichtlich. Sie hat das Gesetz bezüglich des Kämpfens gebrochen und sich somit gegen alles und jeden gestellt, der für die Fraternitat selbst steht – und somit auch gegen ihn. Das sollte ihm eigentlich klar sein.

Leise vor sich hin grübelnd folgte Ivano den Treppen und roten Teppichen, bis er vor der Tür seiner Räume stand und sie leise aufdrückte, nur um sich fast zum gleichen Zeitpunkt zu fragen, warum er überhaupt so leise war. 

Sein Diener hatte ihm ein Tablett mit exotischen Früchten aus Kyvarla bereit gestellt und dazu heimischen Wein in ein Glas gefüllt, das der Matador nun anhob und sich mit einem lauten Seufzer in das weiche Polster seines Sessels fallen ließ. Er setzte das kühle Gefäß an seine Lippen, ließ ein wenig der rötlichen Flüssigkeit in seinen Mund laufen – und spuckte es im hohen Bogen wieder aus. 

Ihm war gerade ein Gedanke gekommen, der beinahe so logisch wie sinnlos war und ihn den restlichen Abend verfolgte, wie ein Schatten. Vielleicht wusste Ivano nun, aus welchem Grund sich Frater Ray – den er seit seinem Beginn als 15-Jähriger in der Fraternitat ins Herz geschlossen hatte und von dem er dachte, er würde ihn wirklich kennen – so verhielt. Vielleicht war schlicht und einfach das unwahrscheinlichste aufgetreten, was er gedacht hätte, als er ihn zu dem Mädchen geschickt hatte: Er könnte tatsächlich freundschaftliche Gefühle für eine Gefangene entwickelt haben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Azahra
2014-01-13T15:14:24+00:00 13.01.2014 16:14
Huhu,

ein sehr schöner Prolog. Spannend geschreiben und Kathya gefällt mir vom Wesen her sehr.
Werde bald mal weiter lesen :)

cucu
Azahra


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