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Weltenende

Die Legende von Serelia
von

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Teil I

Erhaben, stolz und mit einer Anmut, die nie ein anderes Wesen erreichen könnte, stand er auf der Lichtung, den Kopf gen Sonne erhoben und das prächtige Geweih in drohender Schönheit aufrecht erhalten. Es war kein Wunder, dass er der ‘König des Waldes’ genannt wurde, zumindest just in diesem Moment schien es Treseré nicht abwegig. Doch ein jeder König musste eines Tages stürzen und wie der Hirsch nun seiner Aufgabe, einen Sohn zu setzen, bereits nachgekommen war, so war es nun die Aufgabe des Jägers, das edle Tier zu erlegen. Natürlich nur mit einem Pfeil und einem direkten Schuss, denn der stolze Herrscher des Waldes sollte keine Blutspur durch das Geäst ziehen, wäre es doch weit unter seiner Würde - und unter der des Meisterjägers natürlich auch. Doch das sollte ja, wie dem schwarzhaarigen Mann mit den strengen Gesichtszügen beigebracht worden war, keine Rolle spielen. Die Geschöpfe des Waldes gingen stets vor, es wurde sich nur genommen, was gebraucht wurde und es wurde auch alles verwertet, was der Körper hergab. Ja, der Pfeil selbst, den er nun in die Sehne legte und für den tödlichen Schuss vorbereitete, war aus Knochen gefertigt, vielleicht sogar noch aus den Knochen des letzten Waldkönigs. Treseré wusste es nicht mehr so genau und eigentlich war es auch vollkommen egal. Pfeil war Pfeil, solange er traf und das Ziel tötete.

Dann drehte der Wind. Sowohl der König als aus sein Jäger hoben die Köpfe an, Treseré ließ seinen Bogen wieder sinken. Schlagartig hatte sich etwas verändert, ein fremder Geruch, der sofort das Gefühl von Gefahr in den jungen Mann trieb. Doch er stammte nicht von etwas bekannten, nicht von Wölfen und auch nicht von einem Bären. Ja, selbst der faulige Geruch eines Schwefelwurms war es nicht, obwohl die Biester in letzter Zeit häufig aus ihren Gruben krochen. Doch was war es dann? Auch der Hirsch schien mit der Duftnote nichts anfangen zu können, er reckte den Hals weit nach oben und flehmte.

Schwere Süße kroch im Wind, zusammen mit dem Geruch faulen Fleisches und einer Note aus verdorbenem Fisch. Noch nie in seinem Leben hatte Treseré etwas derartiges gerochen und es war seiner Ausbildung als Jäger zu verdanken, dass er sich nicht sofort übergab, als ein weiterer Windhauch den Geruch in einer derartigen Konzentration herrüberwehte, dass der Waldkönig fluchtartig zur Seite sprang und von der Lichtung flog. Der Jäger drückte sich den Ärmel gegen die Nase und spürte dennoch, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte, wie wenn der Magen kurz davor war, sich zusammen zu krampfen. Was bei La’Faresh war das?!

Als der König des Waldes das dichte Grün erreicht hatte und mit einem Satz darin verschwinden wollte, brachen Bäume und der ehemals anmutige Herrscher wurde in die Luft gerissen und mit einem monströsen Brechen von Knochen entzwei geteilt. Ein Maul schob sich hervor, tiefschwarz wie das Schuppenkleid des Sternenbrechers selbst, besetzt mit zwei Reihen dolchlanger Zähne, die mit zermalmender Gewalt auf den Vorderleib des Hirsches niedersanken. Lautes Schmatzen begleitete den Anblick, zwei, dreimal, dann war der Hirsch verschwunden und das Ding, dass sich aus dem Wald schälte, wandte sich dem hinteren Teil zu, der auf dem Grasboden lag und in zuckenden Bewegungen das dunkle Rot auf dem saftigen Grün verteilte.

Treseré erbrach sich. Der Geruch war nun so stark, dass es selbst der geschulte Jäger nicht mehr aushielt und der Anblick des Waldkönigs, dessen Umrisse sich in dem gigantischen Hals abzeichnete, wie die Maus in einer Schlange, gab ihm den Rest. Als er den Kopf wieder hob und den Blick hoffnungsvoll auf das Wesen richtete, in einem Stoßgebet zur Sternenschöpferin, dass es ihn nicht gehört hatte, lag bereits ein gräulich-grünes Auge auf ihm, fixierte ihn, fesselte ihn. Treseré wusste, dass es nun zu spät war. Ob er nun fliehen würde oder nicht - er hatte einfach keine Chance. Wie ein Krokodil kroch es hervor, ein massiger, wurmartiger Leib, aufgedunsen wie der einer fetten Made. Sechs Beinpaare trugen ihn, die vordersten viel zu lang für den Leib und die hintersten nicht mehr als winzige Stummel. Eine monströse Bestialität, ein Wesen, von dem der Jäger sich erhofft hatte, es nichteinmal in seinen dunkelsten Alpträumen zu sehen… und dem er doch nun mitten in die Augen sah, in das graue, schleimige Auge, dass nichts als Hass und Hunger erahnen ließ. Unstillbaren, unsagbaren Hunger und das ewig anwährende Verlangen nach Rache.

Angstschweiß rann seinen Rücken hinab, verursachte einen eiskalten Schauer und Treseré wollte fliehen, als sich das Maul öffnete, als ihm der faulige, widerliche Atem entgegenschlug, doch sein Körper gehorchte nicht. Kein Muskel ließ sich bewegen, ja selbst der Atem blieb aus seinen Lungen aus, weckte die Panik vor dem Ersticken, die in Anbetracht seines baldigen Endes doch unglaublich irrational war. Sein Tod würde nicht lange dauern, nur ein Biss, ja nur ein einziger Schmerz und der Körper wäre zerschmettert von riesigen Zähnen. Treseré hatte das Gefühl, als verginge die Welt in einer Ewigkeit, als würde alles Leben auf seinen Schultern lasten und durch seine Schuld, seine Unfähigkeit zu fliehen, vernichtet. Wärme breitete sich in seinem Schoß aus, als er sich einnässte vor Angst und er begann zu schluchzen, zu zittern und zu flehen. Stundenlang, Tagelang, Jahrelang. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen, während sich das tiefschwarze, endlose Maul auf ihn zubewegte, sich immer und immer weiter näherte und die dolchlangen Zähne sich in seinen Körper schlugen. Das Licht war fort, gestorben, vernichtet, vertilgt. Gefressen von der Schwärze, gefressen vom Ende aller Dinge. Schwarz und Weiß schufen Grau, Licht und Dunkelheit Dämmerung. Sterne entstanden, Sterne vergingen.

Der Weltenfresser vertilgte alles.

Prolog - Teil II

Ein Ruck ließ den Geist erwachen, das Gefühl des freien Falls, überraschend, schreckvoll, kurz. Treseré saß aufrecht in seinem Bett, als er die Augen endlich öffnen konnte. Seine Nachtkleidung war nass, ebenso sein Bettzeug, und es roch nach Urin und Schweiß. Es war still, so still, dass der junge Priester seine Atmung hören konnte, rasend und abgehackt, während sein Herz aus der Brust zu springen drohte. Seine Finger waren so sehr in seine Decke verkrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten und es schmerzte, als er losließ und versuchte sie zu entspannen. Noch immer begriff er nicht, was geschehen war. Ein Traum, ja, doch gleichzeitig auch nicht. Es war etwas anderes gewesen, etwas schreckenerregenderes, etwas… realeres. Das Ende aller Dinge? Eine Vision?

Der Wächter atmete tief durch, versuchte die Angst, die in seiner Brust rebellierte, zu verdrängen und stand dann auf, bewegte die Finger, die vom verkrampften Griff schmerzten, bewegte die Beine, die sich anfühlten, als hätte sie jemand zwischen eine Holzklemme gelegt. Noch immer irritiert griff Treseré nach dem kleinen, bronzenen Kerzenhalter und öffnete die Holztür zum Flur, entzündete die Kerze an einer der Fackeln im Gang und ging wieder zurück in seinen Raum. Auf dem Nachttisch abgestellt, machte er sich ersteinmal daran, das Bett abzuziehen, das strohgefüllte Laken und die Wolldecke, denn beides musste gewaschen werden. Das Stroh würde entsorgt werden müssen, doch darum kümmerte sich der Wächter ersteinmal nicht, denn allein der Gedanke hinaus auf den dunklen Hof zu gehen jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Treseré hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet, sie war immerhin ein Teil des ewigen Zyklus, ein wichtiger Bestandteil der Welt, doch jetzt schienen ihm sogar die Schatten der wenigen Möbel bedrohlich, die die kleine Kerze an die Wand warf. Das durchnässte Stroh in einem Eimer abgelegt, hob er die Decke und das Laken auf, beides wirr und knotig ineinander verschlungen. Ungewöhnlich, war es sonst nicht seine Art, denn Treseré hasste Unordnung.

“Bruder? Ich muss mit dir reden!”

Wie absurd die Handlung war, die der Wächter nun auf die Stimme und das Öffnen der Tür folgen ließ, wurde ihm erst bewusst, als Bruder Fared die Wolldecke und das nasse Laken behutsam von sich hinabstriff. Sofort machte der junge Wächter einen Satz nach vorne, schob mit dem blanken Fuß beides beiseite und verneigte sich leicht, entschuldigend.

“T-Tut mir leid, Fared…”

Seine Stimme zitterte. Sie hatte einen brüchigen Klang, war belegt und die Tonlage wollte die Furcht, die noch immer in ihm weilte, alles andere als verstecken.

“Schon gut… Ich wollte eigentlich auf ein ‘Herein’ warten, doch ich wusste nicht, ob du wach warst oder geschlafen hast… deswegen bin ich einfach hereingekommen.”

Fared strich sich durch die Haare. Erst jetzt bemerkte Treseré dass auch er zerzaust wirkte, die schulterlangen, schwarzen Haare waren ungekämmt und standen ab und das linke Auge des Ordenbrudes war blutunterlaufen. Auch er trug nicht die normale Nachtrobe, schien sich ebenso umgezogen zu haben und ein leichter Geruch von Kernseife ging von ihm aus. Im Gegensatz zu Treseré selbst.

“Du hast es auch gesehen, nicht wahr?”

Eine einfache Frage, die jedoch unglaublichen Schrecken in dem jungen Wächter hervorrief. Wenn der Bruder nun mit ja antwortete, bedeutete es, dass all das kein Traum gewesen war… sondern eine Vision, eine Einsicht und das Schicksal aller Dinge. Innerlich betete Treseré zur Goldenen, dass er es verneinen würde, dass er sich alles nur einbildete…

“Das Ende aller Dinge? Ja.”

Fared senkte den Blick, bestürzt, und legte die rechte Hand auf seine linke Brust, hielt sie dann ausgebreitet einen Moment über der rechten Schulter, die Innenfläche nach außen gerichtet und die Finger wie Strahlen abgespreizt. Das Zeichen der Sternenbringerin, der Göttin La’faresh. Treseré wurde bleich und ein Gefühl von Taubheit durchzog seine Beine, ein Gefühl von absoluter Schwäche durchzog seinen ganzen Leib und er spürte nichteinmal, wie Fared ihn auf den Stuhl drückte, der vor dem kleinen Schreibpult stand. Es dauerte einige Momente, bis das Bewusstsein des Wächters wieder ganz zurückkehrte und er den Blick fast verzweifelt, doch gleichzeitig fest entschlossen hob, seinen Glaubensbruder ansehend. Fared verstand, was er sagen wollte.

“Ja, Treseré. Die Zeit ist gekommen. In einer Stunde werde ich es allen eröffnen, in der großen Halle. Mach dich fertig und bereite alles vor, was du brauchst. Ich werde nach Bruder Laktus und Schwester Marie sehen.”

Der ältere Wächter verneigte sich, was Treseré erwiderte, und verschwand dann wieder aus dem Zimmer. Seufzend fuhr Treseré sich mit der Hand durch die kurzen, rotbraunen Haare und verweilte noch einen Moment auf dem Stuhl. Wie konnte eine einzige Nacht nur alles so sehr verändern? Wie konnte eine einzige Nacht das Schicksal allen Lebens so vernichten? Es war unbegreifbar und selbst wenn er wollte, Treseré würde es wohl nicht verstehen. Nur eines hatte der junge Mann verstanden: Das beginnende Schicksal der Welt lag nun in den Händen der Wächter.

Sumpfjagd

Tief atmete er ein, als er das große Tor hinter sich ließ und die hölzerne Zugbrücke überquerte. Die Morgenluft war angewärmt und es roch nach frischem Gras und den purpurnen Glockenblumen, die überall auf den saftigen Wiesen wuchsen. Eine seichte Brise wehte und das Laub der Bäume bewegte sich sacht mit, während der Gesang der Vögel die Szenerie untermalte. Ein wunderbarer Morgen, wie Selian fand, und er drehte sich ein letztes Mal um und überlegte, ob er auch wirklich alles bei sich hatte, was er für diese Reise brauchte. In Gedanken ging er alles durch, was er eingepackt hatte und  kam zu dem Schluss, dass ihm wohl nichts fehlen würde. Wenn doch, so würde er halt improvisieren müssen. Doch das sollte wohl kaum ein Problem darstellen, nicht? Der Krieger war immerhin die letzten Jahre auf diesen Moment vorbereitet worden. Guter Dinge schritt er voran, der Geist von Tatendrang und Ehrgeiz erfüllt. Selian wusste zwar, dass nur ein Fünftel der Krieger, die sich dieser Queste stellten, auch wieder zurückkehrten - und dieser Gedanke hatte ihm heute Nacht zumindest für eine gewisse Zeit den Schlaf geraubt - doch er war zuversichtlich, dass er es schaffen würde. Ja, dessen war er sich sicher!

 

Das war vor knapp einer Woche. Die positive Einstellung, die Selian noch am Anfang trug, war nun fast gänzlich verloren gegangen. Sonnenschein hatte er zuletzt vor drei Tagen gesehen, denn  nun verschluckten die gigantischen Mangroven sämtliche Sonne und was blieb war eine graue Mischung aus Nebel, Sumpfgasen und dem bisschen Licht, dass es noch durch die Blätter schaffte. Selian seufzte. Seine Kleidung war klamm, die Stiefel nass und matschig und vermutlich roch er auch nicht mehr sehr angenehm. Doch es musste sein! So sehr sich sein Körper mittlerweile nach einem warmen Bett sehnte, so sehr war es seine Pflicht, diese Aufgabe zu beenden - erfolgreich zu beenden! Die Option des Versagens gab es nicht, entweder er kam erfolgreich zurück oder gar nicht. Eher würde der Krieger sich selbst in den sumpfigen Mooren dem Tod überlassen, als mit der Schande und Ehrlosigkeit zu leben die ein Versagen mit sich brachte. Doch noch war nichts aussichtslos! Erst heute Morgen hatte er Spuren gefunden, die ihm deutlich gezeigt hatten, dass er auf dem richtigen Weg war. Einzig eine gute Gelegenheit musste sich noch bieten, ein einzigartiger, perfekter Moment, der es ihm ermöglichte den letzten Schritt zu wagen und sich der Bestie zu stellen. Die Frage war allerdings, ob sich dieser Moment in wenigen Minuten, in ein paar Stunden oder erst in ein paar Tagen ergeben würde. Selian hoffte inständig, dass es weder das erste noch das letzte wäre. Er fühlte sich in diesem Moment alles andere als bereit, doch genauso wenig war ihm der Gedanke angenehm, noch Tage in diesen Sümpfen verbringen zu müssen. Das frische Wasser wurde knapp - und Selian wusste, dass er auf keinen Fall das scheinbar saubere Wasser aus den kleinen Tümpeln trinken dürfte, so verlockend es auch schien. Es würde ihn krank machen und er konnte es sich nicht leisten, in irgendeiner Art und Weise geschwächt zu werden. Zumindest noch schwächer, als er eh schon war, denn die Reise und der Marsch durch die Sümpfe zerrten bereits an seinen Kräften. Bereits Monate zuvor hatte er sich auf diese Reise vorbereitet und doch fühlte er sich, als hätte er gestern erst erfahren, dass er sie antreten muss. Selian hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Offensichtlichsten: Dass es derart schwer würden würde. Nicht, dass es völlig abstrus war - es hatte immerhin einen Grund, warum so viele die Prüfung niemals schafften. Doch er hatte es unterschätzt, und das nicht wenig.

Es raschelte in den dichten Blättern links von ihm und der Krieger erstarrte. Sofort legte er die Hand an den Griff seiner Waffe und zog sie ein Stück aus der Scheide heraus. Er schob sie jedoch wieder zurück, als nur ein Bo'arg-Junges hervorkam und ihn erschrocken ansah. Es schien ebenso wenig damit mit Gesellschaft gerechnet zu haben und nachdem es den Krieger für ein paar Sekunden regungslos angesehen hatte, quiekte es schrill auf und verschwand wieder in den dichten Farnblättern. Die Luft, die Selian zuvor in seiner Lunge gefangen gehalten hatte, entwich mit einem deutlich hörbaren Zischen, als er sie zwischen den Zähnen heraus presste.

"Verdammtes Wildschwein...", Selian grummelte, ließ die Klinge wieder in die Scheide zurückgleiten und wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. Es war viel zu warm und die Luftfeuchtigkeit war unangenehm hoch. Der Krieger schwitzte unter seiner Rüstung und dem Gambeson, doch er würde sie hier in dieser Gegend sicherlich nicht ablegen. Stattdessen griff er nach seinem Wasserschlauch, nahm einen kräftigen Schluck davon und kippte sich etwas über den Kopf und in den Rücken seiner Rüstung hinein. Er schauderte kurz, seufzte dann aber wohlig aus und genoss den kurzen Moment der Abkühlung. Dann ging er weiter, einfach 'der Nase nach', auch wenn es hier in dieser sumpfartigen Gegend doch etwas schwerer war. Seine Beute schien zu wissen, wie es sich vor ungebetenen Gästen schützen musste. Dennoch war der Geruch des Markierungspfeils selbst zwischen Sumpfgasen und abgestandenem Wasser noch gut zu verfolgen. Selian hoffte nur, dass der Pfeil auch noch saß - nicht dass er nun einer längst unbrauchbaren Spur folgte. Doch bisher war es so gelaufen, wie Selian geplant hatte. Nun, zumindest in den größten Teilen. Aber ein paar Abweichungen vom Plan waren wohl nicht schlimm, immerhin zählte Improvisation auch zu einer der Eigenschaften, die ein Krieger des Khaniresh brauchte...

Immer wieder zog es ihm fast die Stiefel aus, wenn er sie nicht so fest geschnürt hätte. Mal versank er bis zum Knöchel, ein anderes Mal sogar bis ans Knie. Fluchend verbrachte er mehrere Male damit, sich zu befreien und sein Bein wieder aus einem Schlammloch zu ziehen. Er wusste jetzt genau warum die meisten diese Gegend mieden. Zwei Stunden war er weiter marschiert und eigentlich wollte er auch noch viel weiter, doch Selian sah ein, dass er nun eine Pause brauchte. Sein Magen knurrte und seine Füße schmerzten von den feuchten Schuhen und dem unwegsamen Gelände. Eine hochgelegene und damit trockene Wurzel einer Mangrove bot den perfekten Platz um sich auszuruhen. Sie stach geradezu hervor; ein Glücksfund in dieser nassen Gegend. Vielleicht könnte er ja sogar die Schuhe ein wenig ausziehen, seine Wollsocken trocknen lassen und dann ... Selian stoppte wenige Schritte vor der Wurzel. Das war fast schon ZU gut um wahr zu sein... fast schon zu gestellt. Der Krieger zog das Schwert aus der Halterung am Gürtel und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne, so dass er mit der Spitze der stählernen Klinge an die Wuzel kam. Kaum, dass er sie berührte, sank die vermeintliche Wurzel ab und aus dem schlammigen Wasser schnellte ein dunkelgrünes, pflanzliches Maul hervor. Fast wäre er darauf hereingefallen... Selian zog das Schwert aus den schmalen Lücken zwischen den hölzernen 'Zähnen'  wieder zu sich und betrachtete den leicht ölig schimmernden Überzug aus Gift. Eine Klappdorne; eine fleischfressende Pflanze. Wie der Name schon vermuten ließ, besaß die Pflanze zwei Klappen, die sich bei Berührung der vermeintlichen Wurzel schlagartig schlossen und mithilfe von festen, verholzten Dornen ein Schlafgift in das Opfer injizierten. Ein Entkommen gab es nicht, denn das Gift war hochwirksam und die Pflanze begann sofort mit der Verdauung des Opfers.  

"Bei La'faresh ... soviel zu meiner Pause.", Selian seufzte, zuckte aber mit den Schultern und sah wieder auf sein Schwert. Das Gift klebte daran ... vielleicht könnte er es ja nutzen? Er schwang die Klinge ein paar Mal durch die Luft, damit das ölig-klebrige Gift zumindest im Ansatz etwas trocknete , ehe er sie wieder wegsteckte. Mit ein wenig Glück könnte ihm das den Kampf um einiges erleichtern. Blieb nur zu hoffen, dass es dadurch seine Wirkung nicht verlor... Seine Pause machte der angehende Ritter nun auf einer feuchten Mangrovenwurzel. Es war besser als nichts und ein wenig zu sitzen half auch schon um die Müdigkeit etwas zu vertreiben. Zuviel Ruhe durfte er sich nicht gönnen, denn seine Beute blieb nicht an Ort und Stelle. Und im Gegensatz zu Selian besaß sie einen entscheidenden Vorteil: Flügel. Allerdings stank das Tier nun meilenweit und kein Raubtier konnte es sich erlauben, dass sowohl Rivalen als auch Beute ihn sogar gegen den Wind erschnuppern könnten. Dem Tier blieb nichts anderes als die Flucht in die Mangrovensümpfe, denn dort wurde sein Geruch zumindest etwas abgeschwächt und er war vorerst vor Konkurrenten sicher. Allerdings nicht vor seinem menschlichen Jäger - denn Selian hatte nicht vor seine Jagd aufzugeben. Nur der Tod könnte ihn von seinem Erfolg abbringen, das hatte er sich fest vorgenommen. Ein seltsamer Vorsatz, wenn er so darüber nachdachte. Der Krieger runzelte die Stirn bei seinen eigenen Gedanken, lachte dann aber und lehnte sich zurück um ein wenig zu dösen. In der Dämmerung war er besser unterwegs.

Selian schreckte auf, von einem ohrenbetäubendem Lärm aus seinem Schlaf gerissen. Die Müdigkeit hatte ihn übermannt, es war bereits deutlich nach Sonnenuntergang. Neben dem Krieger ging ein Baum zu Fall, Holz splitterte und er machte einen Hechtsprung von seinem Ruheplatz weg. Schlammiges Wasser spritzte auf, als die Mangrove zu Boden kam und ein lautes, trompetenartiges Geräusch erklang. Ein grauer, mit Knochenplatten geschützter Schädel brach aus dem Dickicht hervor und schlug wie wild hin und her. Das breite, abgeflachte Horn auf der Nase des Tieres wirkte wie ein Rammbock und ließ Holz splittern und junge Bäume brechen. Deutlich konnte Selian die panisch aufgerissenen Augen des Tieres erkennen, das mit seinem Körpergewicht versuchte die im Weg stehenden Wurzeln und Pflanzen zu zertrampeln. Noch bevor er allerdings irgendwie reagieren konnte, ging ein Ruck durch den Leib des Graubiests und es brüllte auf, ehe ein weiterer Ruck es nach hinten zog, seinen noch immer im Dickicht steckenden Leib tiefer in das Pflanzengewirr riss. Es versuchte mit aller Macht fortzukommen, stemmte die massigen Hufe in den Morast und brüllte erneut auf, schlug mit einem freien Hinterlauf aus, doch es schien nichts zu bringen. Im Grün hinter ihm knurrte es zischend auf und ein unglaublich süßer, fast penetrant in der Nase haftender Geruch wehte zu Selian herüber. Augenblicklich wusste er, was er vor sich hatte, nein, WEN er vor sich hatte. Der Krieger zog die Klinge, wich jedoch zurück. Das Graubiest trat erneut aus, traf diesmal anscheinend und machte einen Satz nach vorne, auf die nun etwas offenere Fläche, ehe es sich so drehte, dass sein gepanzerter Kopf in Richtung der Bedrohung zeigte. An seiner linken Flanke prangte eine tiefe und stark blutende Bisswunde, die mit einer schwarzen, stechend riechenden Flüssigkeit verklebt war. Selian war sich sicher: Er hatte gefunden, was er suchte. Seine Vermutung bestätigend kroch aus dem Dickicht ein reptilienartiges Wesen, eine Bestie mit Schwingen. Ein Wyvern. Der Kopf war wie der eines Warans, doch spitz zulaufend, und die rasiermesserscharfen Zähne waren gebleckt und blutverschmiert. Zwei Hörner ragten am Ende der Wangenknochen empor, ein roter Stachelkamm zog sich vom Kopf über den Rücken entlang und wurde am vertikal abgeflachten Schwanz  farblos. Das Tier ging auf muskulösen, klauenbewehrten Hinterläufen, nutzte seine zu Schwingen umgeformten Vorderbeine jedoch ebenfalls zum Laufen. Die fingerlangen Krallen an swn Flügeln drückten den Morast beiseite und versanken in dem undurchsichtigen, stinkenden Matsch. Der Wyvern knurrte, sah von dem Graubiest zu Selian und schien unsicher was er tun wollte.

Dem angehenden Ritter zog es eiskalt den Rücken hinab, als sich sein Blick mit dem der Bestie traf. Den Pfeil mit der Markierung hatte er aus der Ferne abgefeuert; jetzt war das erste Mal, dass er seiner Beute in die Augen sah. Sie waren kalt, die Pupille zu einem Kreuz zusammen gezogen und die Iris von fast feurigem Orange. Selian erkannte Hunger im Blick, doch auch Verwirrung über die plötzliche Unterbrechung der Jagd. Das Reptil knurrte erneut, während das Graubiest drohend mit dem Kopf schüttelte und seine Waffe präsentierte, mit der es sogar Bäume aus dem Boden reißen konnte. Sie alle standen für eine gefühlte Ewigkeit einfach da. Keine regte sich mehr als nötig; sie alle schienen auf eine Reaktion des jeweils anderen zu warten. Der Schweif des Wyvern peitschte unruhig hin und her und das Graubiest trampelte mit den Vorderhufen im Matsch. Selian blieb wie er war: Sprungbereit in der Hocke, mit gebührendem Abstand zur Graubestie.

Dann ging es erstaunlich schnell. Der Wyvern preschte nach vorne, doch nicht etwa zur Graubestie. Er wusste, dass das Gift seine Wirkung bald entfalten würde; es gab keinen Grund sich in einen direkten und gefährlichen Kampf mit dem gepanzerten Pflanzenfresser zu begeben. Stattdessen war da Beute, die viel einfacher erschien: Selian.

Ein Satz nach links. Selian brauchte einiges an Kraft um sich von dem weichen Boden abzustoßen und seine Stiefel aus dem Schlamm zu reißen. Das klaffende Maul des Wyvern verfehlte sein Ziel, die Zähne krachten in der Leere aufeinander. Das Graubiest rannte los, vorbei an seinem Jäger und ins Dickicht zurück. Der Wyvern brüllte, holte gleichzeitig mit seinem Schwanz aus und Selian blieb die Luft aus den Lungen, als die schwarzgrünen Schuppen auf seinen Plattenpanzer schlugen. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, konnte das Gleichgewicht sogar halten und nutzte den Moment um seine stählerne Klinge in die weiche Seite des Schweifs zu treiben. Er stieß sie hindurch, so weit es ihm möglich war, und riss sie wieder heraus. Ein kurzer Monent, ein winziges Gefühl des Triumphs, dann kreischte Metall auf und Selian verlor den Boden unter den Füßen. Fauliges Wasser und Schlamm raubten ihm die Sicht. Ein überaus stechender Schmerz durchzog seinen Rücken und er biss sich auf die Lippen um nicht augenblicklich nach Luft zu schnappen. Er versuchte sich aufzurichten, doch da war nichts. Nur Schlamm, nur Matsch, nur Wasser. Selian spürte wie Panik in ihm aufkam und er hastig nach festem Grund suchte, bis er verstand, dass er in einem der Tümpel gelandet war. Er musste aufstehen. Sofort. Er stemmte die Arme in den Schlamm, zog die Beine unter seinen Oberkörper und stieß sich blindlings ab. Seine Stiefel fanden Halt an einer Wurzel.

Als er wieder das Knurren des Wyvern hören konnte, schnappte er nach Luft. Der süßliche Geschmack von Verfall kroch auf seine Zunge und er würgte auf. Es brannte ihm in den Augen, in der Nase, in den Lungen. Seinen Rücken spürte er kaum noch. Der Schmerz war höllisch. Selian brauchte viel zu lange um seine Gedanken wieder zu ordnen. Er wusste, dass sich jederzeit das Biest auf ihn stürzen könnte. Er wusste, dass es jetzt jederzeit vorbei sein könnte. Ein dummer Anfängerfehler; er hatte seiner Beute den Rücken zugekehrt. Doch es geschah nichts. Der Krieger hatte sogar Zeit sich mit einer Hand durch das Gesicht zu fahren, sich den Schlamm provisorisch aus den Augen zu wischen und sich umzudrehen. Einen Moment wunderte Selian sich über das Verhalten, dann fiel es ihm wieder ein.

Der Wyvern gab leise, kehlige Geräusche von sich, ein bisschen wie das Winseln eines Hundes. Er wankte und wirkte benommen, der Kopf hing leicht herab und das Reptil schien nicht zu verstehen, was gerade geschah. Selian hingegen konnte sein Glück nicht fassen. Das verdammte Gift hatte seinen Zweck doch noch erfüllt! Es würde das massige Tier zwar nicht schlafen legen, doch so benommen war der Wyvern eine wesentlich geringere Gefahr. Freude wollte allerdings dennoch nicht aufkommen; Selians schmerzender Körper übertönte sie. Noch war der Kampf nicht gewonnen und noch war der Wyvern durchaus eine Bedrohung. Er musste weitermachen, egal wie sehr der Schmerz brannte. Er war so nah an seinem Ziel ... entweder er schaffte es nun oder er würde sterben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  TommyGunArts
2014-04-09T20:05:18+00:00 09.04.2014 22:05
Glückwunsch noch einmal!
Und vielen Dank für diese wunderbare Geschichte. Die beiden Prologe haben mir wirklich sehr gut gefallen.
Ich war eigentlich etwas skeptisch, als ich Prolog Teil II gesehen hatte, weil ich dergleichen gar nicht kenne, aber in diesem Fall macht es absolut Sinn und überzeugt.
Dass Treseré wieder auftaucht freut mich persönlich sehr. Ich hatte ihn ja schon als Nebencharakter abgetan, aber er scheint ja doch der Protagonist zu sein. Und noch dazu ist er Priester, was ich ebenfalls interessant finde.
Ich kann hier nicht einen Tipp-, Grammatik- oder Rechtschreibfehler entdecken, was mich sehr freut und das Lesen angenehm macht.
Ich bleibe auf jeden Fall an dieser Geschichte dran und danke dir, dass du mit dieser tolle Story bei meinem Wettbewerb teilgenommen hast.
Freue mich schon auf das nächste Kapitel.
lg
E. Ternity
Von:  TommyGunArts
2014-04-05T13:39:13+00:00 05.04.2014 15:39
Hallöchen ;)
Ersteinmal einen ganz lieben Dank an dich, dass du an meinem Wettbewerb teilnimmst. Du bist nun mein zweites Kommentar-Opfer.
Ich habe mir mal das erste Kapitel bzw. den Prolog durchgelesen und kann dir jetzt schon sagen: Genau mein Geschmack. Diese Geschichte ist schon jetzt auf Gewinnerkurs.
Du hast eine ganz spezielle und wirklich tolle Art zu schreiben. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein und alles mitzuerleben. Dein Stil erinnert mich sehr an "Die Chroniken von Siala", falls dir das etwas sagt. Und damit will ich dir jetzt ganz und gar nichts unterstellen oder das gar kritisieren, weil ich dich eigentlich viel mehr mit meinem Lieblingsfantasyautor vergleichen möchte (ja, so gut hat mir das Kapitel gefallen!).
Vom Anfang bis zum Ende ist dieses Kapitel ein echter Spannungsheld. Der Charakter Treseré scheint ja im Folgenden nicht mehr dabei zu sein, und trotzdem hast du ihn nicht einfach als unwichtige Nebenfigur und völlig unausgearbeitet gelassen, sondern ihm auf sehr gute Art und Weise Leben eingehaucht. Ich finde ihn sehr authentisch dargestellt und kann sowohl gut mit ihm mitfühlen, als auch seine Handlungen nachvollziehen.
Was mir außerdem sehr positiv aufgefallen ist, ist die Art, wie du das Geschehen beschreibst. Detailliert, aber auf keinen Fall langweilig. Schon alleine, wie du den Hirsch darstellst, den Herrscher des Waldes, der so anmutig daher kommt wie ein König. Oder das Wesen, das plötzlich auftaucht und sich sowohl den Hirsch, als auch Treseré einverleibt. Weltenfresser ist übrigens eine tolle Bezeichnung für dieses Biest. Das gibt ihm noch mehr Grausamkeit.
Ich gehe einfach mal spontan davon aus, dass es sich hier um eine High-Fantasy Geschichte handelt, weil es eine eigene Welt zu geben scheint und du sowohl den Weltenfresser als auch die Schwefelwürmer (wirklich cool :D) erwähnst, die zu dieser eigenen Welt praktisch dazuzugehören scheinen. Außerdem ist mir ein La’Faresh ins Auge gesprungen. Eine Gottheit?
Fehler habe ich nur wenige entdecken können. Nur diese hier sind mir aufgefallen:
und von der Lichtung flog
-> tatsächlich flog? oder meinst du hier eher floh?

dessen Umrisse sich in dem gigantischen Hals abzeichnete
-> abzeichnete[n]

Mehr habe ich auch nicht entdecken können. ;)
Kleine Anmerkung am Rande noch: Deine Vergleiche sind wirklich toll. Ich bin insgesamt absolut begeistert und freue mich schon sehr auf das zweite Kapitel.
Von:  Kefka
2014-03-15T20:08:40+00:00 15.03.2014 21:08
Also ich finde die FF eigentlich ganz gut. Ich konnte mir das alles Bildlich vorstellen, und ich freue mich mehr zu lesen! o3o
Von:  Selma
2013-11-14T07:56:33+00:00 14.11.2013 08:56
Ein sehr interessantes Kapitel.
Stimmungstechnisch schließe ich mich mal meinem Vorposter an.
Jedenfalls wird es Interessant, wenn man jetzt noch die Weltenbeschreibung vor Augen führt, bin ich mal gespannt, wie es weitergehen wird.
Von:  -Angi-chan-
2013-11-08T13:17:17+00:00 08.11.2013 14:17
Wow, du hast wirklich eine wunderschöne Art das Geschehen zu beschreiben. Du schaffst eine interessante Atmosphäre, die du ganz nach belieben ändern kannst, klasse x3
Und ich bin schon gespannt, was noch folgen wird ^^


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