Zwei Wochen
Ohne es zu bemerken, wandert mein Blick erneut auf die Uhr, die leise tickend vor mir an der Wand hängt.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hier schon sitze. Die Beine eng an meinen Körper gezogen, die Arme schützend darum geschlungen und den Kopf auf den Knien gebettet.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich heute bereits auf diese Uhr gesehen habe, wie oft ich es in den letzten Tagen getan habe.
Unaufhörlich starren meine Augen auf den langen, dünnen Zeiger, der schleichend seine Runden zieht, während die anderen Zeiger ihm nach und nach folgen. Wie gebannt bin ich davon, kann mich nur schwer losreißen.
Wie viel Zeit ist schon vergangen?
Träge schweift mein Blick durch den Raum und ich fixiere den Kalender, der an einer der anderen Wände hängt. Jeder Tag, an dem ich hier gesessen und gewartet habe, ist rot markiert.
1 Woche und 6 Tage.
Erneut gleitet mein Blick zur Uhr.
13 Stunden, 23 Minuten und 45 Sekunden.
Ein heiseres Lachen entkommt mir.
Seit fast zwei Wochen sitze ich hier, starre wie betäubt in den Raum und bemerke dennoch kaum, was um mich herum geschieht. Hinge dort nicht der Kalender an der Wand, wüsste ich nicht einmal welcher Tag heute ist, ganz zu schweigen von der Uhrzeit, wenn ich diesen runden Zeitmesser nicht hätte.
Erneut dringt ein bitteres Lachen aus mir hervor.
Vor fast genau zwei Wochen bist du gegangen, hast mich hier allein gelassen.
Zwei Wochen, in denen ich weder ein noch aus wusste.
Zwei Wochen, in denen ich nichts von dir gehört habe, nicht wusste, was du machst.
Zwei Wochen, in denen ich mir immer und immer wieder ausgemalt habe, wie es wohl wäre, wenn du vor meiner Tür stehst, klingelst und wartest, dass ich dir öffne. Wie du mir weinend in die Arme fällst, mich fest an dich drückst und mir sagst, wie sehr es dir leid tut, wie sehr du mich doch liebst.
Aber an keinem Tag in diesen zwei Wochen ist passiert, wonach ich mich doch so sehr sehne. Du bist nicht hierhergekommen, hast mich nicht umarmt, dich nicht entschuldigt oder mir gar beteuert, wie sehr du mich liebst.
Warum nicht?
Ich verstehe es nicht.
Bedeute ich dir wirklich nichts mehr?
Wieder entflieht ein Laut meiner Kehle. Ein Schluchzen, welches ich einfach nicht verhindern kann.
Ich vermisse dich so sehr.
Noch nie waren wir so lange voneinander getrennt wie jetzt. Natürlich gab es schon Zeiten, in denen wir uns auch mal tagelang nicht sahen, aber wir haben telefoniert, haben uns geschrieben. Ich wusste, dass du an mich denkst, dass du mich vermisst, genauso wie ich dich.
Warum hast du mich allein gelassen?
Mein Herz verzehrt sich nach dir.
Kannst du nicht endlich wieder zurückkommen?
Heiße Tränen fließen über meine Wangen und mit einer groben Bewegung wische ich sie weg.
Ich will nicht weinen. Nicht wegen dir. Du hast es nicht verdient, dass ich auch nur eine Träne für dich vergieße. Immerhin bist du einfach gegangen, hast mich zurückgelassen und hast jetzt sicher deinen Spaß - ohne mich.
Bei dem Gedanken entkommt mir wieder ein Schluchzen.
Seit wann bin ich nur solch eine Memme? Seit wann weine ich wegen so etwas? Wegen dir…?
„Du Idiot…“
Meine Stimme klingt belegt, zeugt von den Tränen, die mir noch immer in den Augen stehen, versuchen diese zu überfluten.
Ich hasse mich dafür.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich in diesen zwei Wochen weine. Der Grund ist jedes Mal der gleiche.
Du.
Und ich schaffe es einfach nicht, stark zu sein, nicht an dich zu denken, dich zu vergessen. Ich liebe dich doch. Mehr als jeden anderen auf der Welt.
Mehr als mich selbst.
Wieder wandert mein Blick auf die Uhr, deren Zeiger unaufhörlich über die flache Scheibe kreisen. Es kommt mir fast so vor, als liefe die Zeit rückwärts. War es nicht eben schon fünf Minuten später?
Erneut ein heiseres Lachen.
So etwas ist doch gar nicht möglich. Als wenn die Zeit rückwärts laufen könnte.
Aber wäre dies nicht die Lösung? Wenn es ginge, könnte ich die Zeit zwei Wochen zurückdrehen und dich davon abhalten zu gehen. Dann hätte ich dich wieder bei mir - für immer.
Ein Klingeln reißt mich aus meinen Gedanken und verwirrt sehe ich auf.
Habe ich mir das gerade nur eingebildet?
Ich lausche in die Stille, warte auf etwas, von dem ich selbst noch nicht weiß, was es ist. Vielleicht ein erneutes Klingeln?
Und tatsächlich. Wieder ertönt das Läuten meiner Tür.
Erleichterung macht sich in mir breit und meine Miene erhellt sich.
Bist du das?
All die Kraft, die ich die letzten Tage über verloren habe, kehrt in meinen Körper zurück und ich springe auf. Wie von selbst tragen mich meine Füße zur Tür und es scheint fast so als flöge ich.
Doch noch bevor ich meine Wohnungstür öffne, halte ich inne, die Hand an der Klinke ruhend.
Warum freue ich mich denn so? Ich sollte doch eher traurig, verletzt und vor allem wütend sein. Immerhin hast du mich allein gelassen.
Wie auf Knopfdruck strömen all die Gedanken auf mich ein, die sich in den letzten zwei Wochen in meinem Kopf gesammelt haben. Sie kreisen in meinem Hirn, nisten sich in jede noch so kleine Zelle ein, verdeutlichen mir, wie ich mich gefühlt habe und auch jetzt noch fühle.
Noch einmal ertönt das Klingeln.
Warum bist du nur so verdammt hartnäckig? Kannst du dir nicht denken, dass ich dich nicht sehen will? Oder willst du dich entschuldigen? Willst du mir sagen, dass es dir leid tut und du mich über alles liebst?
Ich gebe mir einen Ruck, öffne zögerlich die Tür und blicke sofort in dein vertrautes Gesicht.
Du siehst gut aus, du strahlst regelrecht.
Ganz im Gegensatz zu mir.
„Was willst du, Kaoru?“, entkommt es kalt meinen Lippen und ich sehe, wie das Lächeln auf deinen Lippen erstirbt. Du wirkst verwundert, verstehst nicht, warum ich so mit dir rede. Weißt du es wirklich nicht?
Stell dich doch nicht dümmer an als du bist!
Während du einfach nur ratlos vor mir stehst, streift mein Blick über deinen Körper, hinab zu den Koffern, die neben dir stehen.
„Was hast du, Kyo?“
Deine Stimme reißt mich aus den Gedanken, die erneut drohen mich zu überfluten, und ich sehe wieder zu dir auf. Dein Blick spiegelt noch immer Verwirrung wider. Meine Augen jedoch verengen sich und ich versuche dich so wütend wie möglich anzusehen, dir zu zeigen, wie ich mich fühle.
Warum tust du nur so, als wüsstest du nicht, was los ist?
„Sag nicht, du bist immer noch sauer deswegen?“
Deine Stimme strotzt nur so vor Hohn und Spott und ein breites Grinsen legt sich auf deine Lippen.
Machst du dich etwa lustig über mich? Darüber, dass ich dich vermisst habe, dass ich mich nach dir verzehrt habe, weil du mich zwei Wochen alleine gelassen hast? Weil du es erst heute für nötig gehalten hast, zu mir zu kommen?
Tränen drängen sich wieder in meine Augen und trotzig hebe ich den Kopf, versuche dadurch erhaben zu wirken, stark. Ich will nicht weinen, schwach sein. Nicht vor dir.
Doch als ich deine Hand spüre, die über meinen blonden Schopf streicht, wie deine Arme sich um mich schlingen, weicht alle Stärke aus meinen Gliedern und ein leises Schluchzen entkommt mir.
Haltsuchend klammere ich mich an dich, wie ein Ertrinkender an den rettenden Halm.
„Sei nicht mehr böse, ja? Ich liebe dich doch.“
Deine Arme drücken mich fester an deinen warmen Körper und du hauchst einen sanften Kuss auf meine bebenden Lippen.
„Und das nächste Mal fahren wir zusammen in den Urlaub.“