Zum Inhalt der Seite

Though Choices

♡ Tᴏᴜʏᴀ × ℕ ♡
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das war meine allererste Fanfiktion und ich bedanke mich bei Celine, dass sie mir geholfen hat, es einigermaßen zu überarbeiten, damit ich es hochladen kann :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank an meine Beta Celine. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Tut mir leid, dass dieses Kapitel vom Stil ein wenig anders geschrieben ist, als die vorherigen Kapitel, aber es lag ein längerer Zeitraum zwischen Kapitel 2 und 3 und ich kam in der Zeit nicht so zum weiterschreiben... Ich hoffe, dass es nicht zu sehr stört. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 01

„Sag mal, hast du ein Problem mit mir?“
 

Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich seine Stimme hörte.
 

Eigentlich war ich nur schnell durch das Wohnzimmer gehuscht, da ich auf dem Weg zur Haustür war. Mein freier Tag war nämlich vor ein paar Sekunden von einer Nachricht auf meinem Viso-Caster ruiniert worden, in der verlangt worden war, dass ich sofort zur Pokemon-Liga zurückkehren sollte.
 

Aber es läuft eben im Leben nicht immer alles so, wie man es gerne hätte.
 

Ich hatte N völlig übersehen. Er saß auf der Couch im Wohnzimmer und schien ein Buch zu lesen, vielleicht starrte er auch nur vor sich hin. Dass N sich immer auf eine überraschende Art und Weise bemerkbar machte, war eine seiner negativen Eigenschaften, an die ich mich nie gewöhnen würde.
 

„Wie bitte?“, fragte ich viel zu laut, obwohl ich eigentlich genau verstanden hatte, was er gesagt hatte. „Wie kommst du denn auf so etwas Absurdes, N?“
 

Die letzten Wochen waren einfach unglücklich verlaufen.
 

Ich hatte viel zu tun, da ich meinen Titel als Champion zurückerlangt hatte und N war ebenfalls beschäftigt, da er nun versuchte sich ein wenig besser in die Gesellschaft einzufügen. Dadurch, dass wir beide unsere Aufgaben hatten, war in der letzten Zeit eine mehr oder weniger große Distanz zwischen uns entstanden.
 

„Ich werde den Verdacht nicht los, dass du dein Interesse an meiner Gesellschaft verloren hast. Stattdessen meidest du mich, als hättest du eine Phobie“, antwortete N und sah weiterhin auf das Buch in seiner Hand. Ich konnte nicht genau deuten, ob er währenddessen darin las oder ob er einfach nur auf die Seite vor ihm starrte, ohne die Worte darauf wahrzunehmen. Er sah weder besorgt noch sauer auf mich aus, eher gleichgültig. Es war wie immer schwierig, seine Gefühlslage zu erahnen. „Es ist nur selbstverständlich, dass ich da annehme, dass du neuerdings eine Abneigung gegen mich hegst.“
 

„Du übertreibst...“, versuchte ich ihn aufzumuntern. „Natürlich ist es im Moment eine stressige Zeit für uns beide. Aber nur, weil wir nicht mehr so viel miteinander zu tun haben, hasse ich dich doch nicht.“ Ob ihn das überzeugen würde? „Außerdem“, ich suchte nach mehr Gründen, „sehen wir uns doch jeden Tag, deshalb... uhm...“ Mir fiel nicht ein, was ich sonst noch sagen könnte. Wahrscheinlich fielen mir die Worte, weil ich seine Reaktion einfach nicht nachvollziehen konnte. Wie kam er nur auf die Idee, ich würde etwas gegen ihn haben?
 

Er starrte weiter auf das Buch vor ihm. „In Ordnung. Dann werde ich von jetzt an keine weiteren Gedanken daran verschwenden, nach einer Lösung für dieses Problem zu suchen.“ „Genau, mach dir bitte keine Gedanken mehr darüber“, bestätigte ich und griff nach meiner Jacke. „Ich bin bis heute Abend weg. Ich habe eine Herausforderung bekommen und muss deshalb zur Pokemon-Liga.“ Er nickte. „Ist das... in Ordnung für dich?“, fragte ich vorsichtig, um mich zu vergewissern, dass er wirklich nicht wütend war. N hatte zwar mit der Zeit akzeptiert, dass Pokemon-Kämpfe notwendig waren, aber mit der Existenz einer Pokemon-Liga konnte er sich noch immer nur schwer abfinden. Und dann war auch noch ausgerechnet ich der Champion von Einall.
 

„Einverstanden. Bis dann“, er sprach es so schnell aus, dass ich es kaum verstehen konnte, aber ich nahm an, das war es, was er geantwortet hat. „Oh... Okay, bis heute Abend.“
 

N war eben einer von vielen Freunden, die mir wirklich wichtig waren. Weil ich andererseits der Einzige war, für den N sich zu interessieren schien, hatte ich ihm vor ungefähr zwei Monaten einen Vorschlag gemacht: Um ihn ein wenig in die Gesellschaft einzugliedern, sollte er vorerst mit mir in eine Wohnung ziehen. Zumindest war das besser, als weiterhin im Schloss von Team Plasma zu leben, das hatte auch er verstanden. Aus diesem Grund hatte er eingewilligt, bei mir zu bleiben.
 

Als ich gerade die Wohnung verlassen wollte, hörte ich, wie er sein Buch zuklappte, aufstand und ohne Worte den Raum verließ. In Momenten wie diesen wünschte ich mir, ich könnte sehen, was in seinem Kopf vor sich ging. Er tat oft Dinge, die ich einfach nicht verstehen konnte und die er mir nicht erklären wollte. Aber ich wollte gerne mehr über ihn wissen und konnte nur hoffen, dass er mit der Zeit diese Eigenart ablegen würde.
 

Aber ich hatte keine Zeit mehr, weiterhin darüber nachzudenken. Ich musste mich beeilen, da ich ohnehin schon spät dran war. Die Liga war so weit entfernt und um überhaupt dorthin zu gelangen, nutzte ich immer ein Flug-Pokemon. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wie alle anderen Mitglieder auch dort zu wohnen. Aber der Grund, der mich davon abhielt, war N.
 

Hätte ich nur früher gewusst, dass der Tag eine Verschwendung werden würde. Dann wäre ich einfach bei ihm zu Hause geblieben.
 

Der heutige Herausforderer war kein Problem für mich. Er besiegte mit großer Mühe die Top Vier und als er bei mir angekommen war, hatte er nur noch die Hälfte seines Teams zur Verfügung und keine Items mehr, mit denen er sie hätte heilen können. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass ich N wegen eines solch schwachen Trainers schon wieder alleine zu Hause gelassen hatte. Ich musste mich nicht wundern, wenn N bald wieder Zweifel an mir bekommen würde. Aber andererseits hätte das ja auch keiner von uns ahnen können. Und wie Anissa zu sagen pflegte: Als Champion sollte ich jederzeit bereit sein. Egal, wer der Herausforderer war... oder eben wie schwach er war.
 

Doch nun stand ich da, ohne auch nur einen ernsthaften Kampf absolviert zu haben. Kattlea saß in einer Ecke und schien zu schlafen, die anderen Drei waren bereits verschwunden. Ich hatte nichts mehr, was ich hier hätte tun können. Deshalb beschloss ich, dass es nicht schaden konnte, wenn ich einfach wieder nach Hause gehen würde. Irgendwie traurig.
 

„Es war eine Fehlentscheidung, heute überhaupt aufzustehen“, gähnte Kattlea. Sie hatte mich schon eine Weile beobachtet, aber nichts gesagt. „Aber der Tag, an dem ein neuer Trainer Zutritt zur Ruhmeshalle erhalten wird, wird schon noch früh genug kommen“, sie rieb sich die Augen und verließ das Zimmer. Sie hatte nicht ganz unrecht. Vielleicht würde meine Zeit als Champion auch ganz von alleine durch einen neuen Herausforderer beendet werden.
 

Ich nutzte ein Flug-Pokemon aus einer meiner PC-Boxen, um so schnell wie möglich zurück nach Hause zu fliegen, da es bereits dunkel geworden war. Die Zeit war wohl doch schneller vergangen, als es ich geahnt hatte.
 

Ich nahm mir vor, von nun an wieder mehr Zeit mit N zu verbringen. Und vielleicht würde ich auch endlich lernen ihn zu verstehen, wenn ich erst mal öfter bei ihm wäre. N schien mir im Moment einfach wichtiger als meine Rolle als Champion. Nicht umsonst hatte ich meinen Titel schon einmal für ihn aufgegeben. Doch wie das Schicksal es wollte, hatte Lilia ihr Gewissen nur beruhigen können, indem sie mir den Titel zurückgegeben hatte, als ich nach Einall zurückgekehrt war.
 

Damit war all der Druck zurück, der schon einmal auf mir gelastet hatte, als ich die Rolle des Helden übernommen hatte. Ich wollte niemanden enttäuschen. Meine Mutter, meine Freunde... Einfach alle waren so stolz auf mich. Nur aus diesem Grund hatte ich den Titel wieder angenommen. Auch wenn es mir leid tat, dass ich so weniger mit N zusammen sein konnte. Dabei war es eigentlich das, was ich wirklich wollte.
 

Ich hatte oft genug gesehen, dass N nicht besonders taktvoll mit anderen Menschen umging und, sobald man nicht seiner Meinung war, aggressiv und manchmal sogar verletzend wurde. Selbst ich hatte schon oft genug wegen seiner Worte meine Tränen zurückhalten müssen. Doch ich hatte auch gesehen, wie liebevoll er mit seinen Pokemon umging und dass er ein wirklich netter Mensch war, dem ich vertraute und dem ich helfen wollte, sich besser einzufügen.
 

Wie sollte ich nur mit zwei so bedeutsamen Aufgaben auf einmal fertig werden?
 

Als ich zu Hause ankam, war N nirgends zu sehen. Vermutlich war er bereits schlafen gegangen und ich hatte schon wieder eine Chance verpasst, ihm zu zeigen, dass mir wirklich etwas an ihm lag. Aber ich konnte jetzt nichts an der Situation ändern.
 

Ich ließ meine Pokemon, zumindest die kleinen Exemplare, im Wohnzimmer frei. N hatte seine Meinung über das Gefangennehmen von Pokemon zwar geändert und tolerierte, dass ich zum Beispiel meinen Drachen nicht immer frei herumlaufen lassen konnte, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich sie für ihn so oft wie möglich aus ihren Bällen befreien sollte. Ich machte mir noch einen kleinen Snack in der Küche und beschloss dann, ebenfalls schlafen zu gehen. Ohne N war es irgendwie langweilig.
 

Nachdem ich den Pokemon eine gute Nacht gewünscht hatte, ließ ich sie im Wohnzimmer zum Schlafen zurück und ging in mein eigenes Zimmer. Ich war bereits ziemlich müde, auch wenn ich keinen sonderlich harten Kampf hinter mir hatte und die meiste Zeit über nur gewartet hatte.
 

„Was zum -“
 

Ich war mehr als überrascht, als ich sah, dass N es sich in meinem Bett bequem gemacht hatte. Das war ein wirklich außergewöhnlicher Anblick. Er war eben doch immer wieder für Überraschungen gut. „Was machst du hier?“, fragte ich verwirrt und stellte mich vor das Bett, doch N schien bereits geschlafen zu haben und öffnete schläfrig seine Augen. Es dauerte ein wenig, bis er überhaupt einen Laut von sich gab.
 

„Mhh...“, murmelte er verschlafen und drehte sich einfach um. „Du musst mir schon auf meine Frage antworten. Sonst habe ich keine Ahnung, was hier los ist“, verlangte ich, da ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. N hatte sich vorher noch nicht einmal in mein Zimmer gewagt. Er interessierte sich einfach nicht dafür und war in dieser Hinsicht eher abweisend. Wahrscheinlich, weil mein Zimmer nicht voll mit Spielsachen war und er es langweilig fand. Oder vielleicht auch einfach, weil er keinen Sinn darin sah, sich die Zimmer anderer Leute anzusehen.
 

„Ahhh...!“
 

N hatte endlich realisiert, dass ich genau vor ihm stand. Plötzlich war er hellwach, schlug die Bettdecke zur Seite und sprang aus dem Bett. Er war zuerst etwas wackelig auf den Beinen. „Ich hätte das nicht tun sollen. Ich dachte, ich würde aufwachen, bevor du zurück bist“, entschuldigte er sich, als hätte er etwas Schlimmes gemacht. N starrte zu Boden und verschränkte seine Arme, als ob er seinen Körper schützen wollte. Er musste sich anstrengen, seine Augen offen zu halten.
 

Ich hatte ihn noch nie zuvor in seinem Schlafanzug gesehen. Sonst war immer Ns kompletter Körper durch seine Kleidung verdeckt, doch nun trug er ein Shirt und eine kurze Hose, sodass ich zum ersten Mal sah, wie dünn er eigentlich war. Er sah unglaublich zerbrechlich aus. „Es ist doch in Ordnung“, versicherte ich ihm. „Ich wollte nur wissen, wieso du hier bist. Das ist so untypisch für dich, nichts weiter.“
 

N sah einmal kurz hoch und als er bemerkte, dass ich nicht wütend aussah, atmete er auf. Er schien erleichtert zu sein.
 

„Wie immer habe ich mir einfach wieder zu viele Gedanken gemacht. Ich habe mir die ganze Zeit über den Kopf zerbrochen. Auch wenn es besser für mich selbst gewesen wäre, ich hätte das nicht getan“, begann er und sah wieder zu Boden. Seine Stimme wurde zittrig: „Dann hatte ich plötzlich einen Albtraum und... Entschuldige, ich möchte das nicht weiter ausführen.“ Ich lächelte. „Du musst dich doch dafür nicht schämen“, versicherte ich ihm. „Willst du nicht einfach heute Nacht hier schlafen? Wo du doch eh schon hier bist.“ Sofort begann er zu nicken, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich diese Frage stellte.
 

Das war eine der Seiten an ihm, die anscheinend außer mir kaum jemand kannte. Obwohl er immer so zielstrebig und selbstbewusst schien, hatte er auch noch diese kindlichen Eigenschaften. Irgendwie musste ich mir eingestehen, dass ich es ziemlich niedlich fand und ich konnte eigentlich nur hoffen, dass N sich öfter von dieser Seite zeigen würde. Dann würde er vielleicht auch mehr menschliche Freunde finden.
 

„Leg dich schon mal ins Bett. Ich gehe ins Bad und komme dann nach.“ Mit diesen Worten verschwand ich aus dem Zimmer und versuchte mich so schnell wie möglich fertig fürs Bett zu machen. Auch wenn es bloß N war, freute ich mich irgendwie, dass ich mit ihm zusammen in einem Bett schlafen würde. Ich war lange allein herumgereist und hatte deshalb auch nicht mehr so engen Kontakt zu einer anderen Person gehabt. Ich konnte nicht anders, als mich zu freuen. Vielleicht sogar gerade, weil es N war. Obwohl mir der Gedanke nicht so gefiel...
 

Es war irgendwie ungewohnt, so etwas zu denken.
 

Als ich zurück in mein Zimmer ging, hatte N sich bereits ins Bett gekuschelt und schien auf mich gewartet zu haben. „Ich dachte, du schläfst schon...“, merkte ich an und schaltete das Licht aus.
 

Das Licht, das von draußen durch das Fenster schien, war genug, sodass ich gerade bis zum Bett finden konnte. N rückte ein Stück näher zur Wandseite des Bettes und ich legte mich, so gut es ging, neben ihn. Auch wenn ich nicht viel sehen konnte und Angst hatte, mich auf seine langen Haare zu legen und ihm weh zu tun.
 

„Ist das okay so?“, wollte ich mich vergewissern, als ich mich neben ihn gelegt hatte. „Ja, du kannst so bleiben“, antwortete er und klang irgendwie anders als sonst. Seine Stimme war viel unsicherer und klang sanfter. Wahrscheinlich schämte er sich unheimlich dafür, in seinem Alter noch so große Angst vor Albträumen zu haben. Aber ich konnte es ihm wie immer nicht übel nehmen. Dass er sich mir gegenüber von dieser Seite zeigte, spiegelte sein Vertrauen wieder und ich wollte es nicht enttäuschen.
 

Erst, als ich so neben ihm lag, kam mir der Gedanke, dass es irgendwie komisch war so mit einem älteren Mann in einem Bett zu liegen. Vor allem weil N eben ein Mann war. Aber er war auch eben einfach N und deshalb kam es mir vor, als wenn es bei ihm in Ordnung wäre. Irgendwie fühlte es sich bei ihm nicht falsch an.
 

„Ich danke dir, dass ich hier schlafen darf, Touya.“
 

„Das ist doch selbstverständlich.“
 

Als ich einmal mitten in der Nacht aufwachte, war ich ein wenig verwirrt. Denn es passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
 

N hatte sich unerwarteterweise an mich gekuschelt und ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte, dass er mir so nah war. Er selbst schlief und womöglich war es nur ein Reflex von ihm gewesen. Doch aus irgendeinem Grund verwirrte mich die Situation unheimlich. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn wegschubsen sollte. Ich wollte ihn auch nicht aufwecken, das erschien mir unfair.
 

Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, dass ich einfach meine Arme um ihn legte. Wahrscheinlich weil N irgendwie niedlich aussah, als er schlief. Aber ich war so müde, dass ich mir gar keine Gedanken darum machen konnte, dass es merkwürdig war, einen älteren Mann zu umarmen, weil er Angst vor seinen Albträumen hatte.
 

Als N plötzlich seinen Kopf an meinen Oberkörper legte und die Umarmung erwiderte, war ich beruhigt genug um einfach einzuschlafen.
 

Leider wachte N am nächsten Morgen vor mir auf und kam mit der Situation schlechter zurecht als ich erwartet hatte. Seine panische Stimme war es, was mich aufweckte. „Was... Was ist hier passiert? Touya...!“, hörte ich N stammeln. In so einer hohen Tonlage hatte ich seine Stimme noch nie zuvor gehört.
 

Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, was mit ihm los war. Dann bemerkte ich, dass ich N immer noch im Arm hielt und er anscheinend peinlich berührt war. Ich ließ ihn los und drehte mich auf die andere Seite. Ich musste erst einmal richtig wach werden.
 

Als ich meinen Kopf zu ihm drehte, weil N plötzlich so ruhig war, sah ich, dass er einfach an die Zimmerdecke starrte. Sein Körper war wie versteinert, sein Blick geschockt und seine Wangen waren rot. „Oh je...“, murmelte ich, denn ich wusste genau, was es zu bedeuten hatte.
 

N schien, was menschliche Nähe anging, wirklich empfindlich zu sein. Nicht, dass es mir vorher schon aufgefallen wäre. Im Gegenteil: N war, sobald jemand nicht seiner Meinung war, immer sehr aufdringlich gewesen und hatte selbst mich, als wir uns noch nicht gut kannten, oft berührt. Ob es nun an der Schulter gewesen war oder ob er versucht hatte, mir einen Pokeball aus der Hand zu schlagen. Er war immer schnell handgreiflich geworden und viele Leute hielten ihn für aufdringlich.
 

Ich hatte nie gemerkt, dass er mit der umgekehrten Situation große Probleme hatte.
 

Oder lag es vielleicht an mir? Könnte es sein, dass es wirklich an mir lag, dass er so übertrieben reagierte? Plötzlich wurde mir klar, weshalb N zu mir ins Bett gekommen war. Jetzt wo ich daran zurückdachte, dass er besorgt war, weil wir uns nicht mehr so oft sahen, war mir klar, dass er weniger wegen eines Albtraums, sondern eher wegen meiner Nähe hierhergekommen war.
 

Und was sollte diese Entschuldigung von ihm? Von wegen 'Ich wollte aus deinem Bett verschwinden, bevor du nach Hause kommst'! Ich hatte das Gefühl, er wollte von mir erwischt werden, wie er bei mir im Bett lag. Und er wollte von Anfang an bei mir übernachten. Aber jetzt musste ich ihn erst einmal ein wenig beruhigen.
 

„Es war nur eine Umarmung, weil ich dich trösten wollte, mehr nicht. Mach bitte kein Drama daraus, okay?“, versuchte ich ihn aufzuheitern. Doch N starrte weiter vor sich hin. „Ich glaube, ich will jetzt aufstehen.“ „N, kann ich vorher kurz über etwas mit dir reden? Ich habe da so eine Vermutung. Willst du sie hören?“, fragte ich vorsichtig, da ich sonst nicht sicher war, wann sich die Gelegenheit wieder ergeben würde. Doch wie zu erwarten stellte sich N quer.
 

„Ich bin nicht einverstanden damit“, antwortete er knapp und starrte noch immer nach oben. „Ich will jetzt aufstehen. Geh zur Seite, damit ich aus dem Bett kann.“ Er selbst bewegte sich kein Stück und wartete drauf, dass ich den Anfang machte. Ich seufzte. Wenn ich diese peinliche Situation nicht sofort aus der Welt schaffen würde, dann würde ich mir den ganzen Tag noch den Kopf darüber zerbrechen.
 

Deshalb beschloss ich, ihn darauf anzusprechen, egal ob er wollte oder nicht.
 

„Kann es sein, dass du mich -“
 

„Aufhören!“, schrie N, um mich zu unterbrechen, und zog sich die Bettdecke über den Kopf, um sich zu verstecken. Seine Finger, die das obere Ende der Bettdecke umklammerten, zitterten heftig. Ich hatte wohl nicht ganz unrecht. Auch wenn ich noch nicht wusste, was ich darüber denken sollte. Immerhin war es für mich auch keine alltägliche Situation und Ns übertrieben sensibles Verhalten machte es nicht gerade besser. Ich entschloss mich also, erst einmal nichts mehr zu sagen.
 

Seine Reaktion war für mich eindeutig genug gewesen.
 

Dennoch war mir klar, dass sich diese Offenbarung nun nicht mehr rückgängig machen ließ und ich mich von nun an mit seinen Gefühlen für mich auseinandersetzen sollte.
 

„Ich weiß, dass es töricht von mir ist“, hörte ich seine leise Stimme unter der Bettdecke. Ich hätte gerne sein Gesicht gesehen. „Wir wohnen jetzt seit erst zwei Monate zusammen und davor haben wir uns fast zwei Jahre nicht gesehen. Trotzdem habe ich Gefühle für dich wie bei keinem anderen. Egal, wie sehr ich darüber nachdenke, ich finde einfach keine Erklärung dafür.“
 

„Naja, es gibt doch auch Liebe auf den ersten Blick“, merkte ich an, doch bereute im nächsten Augenblick, nicht meine Klappe gehalten zu haben. Eigentlich wollte ich ihn nicht in seiner Meinung bestärken. Ich schlug mir mit der Handfläche gegen die Stirn.

„Aber du bist der erste Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet“, murmelte N und zog die Bettdecke ein wenig nach unten, sodass ich seine Augen sehen konnte. Er sah mich mit seinem typischen Blick, den ich nicht genau deuten konnte, an und warte auf eine Antwort. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich hatte mir nie zuvor auch nur Gedanken darüber gemacht, ob er irgendwelche romantischen Gefühle für mich hegen könnte. Das war alles so plötzlich. Wir waren doch Freunde, vielleicht sogar wie Brüder. Aber das...
 

„Touya, ich bin das erste Mal in meinem Leben wirklich verwirrt über meine eigenen Gefühle. Vielleicht könntest du dich ein wenig kooperativ zeigen und mit mir eine Unterhaltung darüber führen, anstatt nur dort zu liegen und zu schweigen.“
 

„Vielleicht interpretierst du zu viel hinein. Immerhin bin ich anscheinend die einzige menschliche Person, die dir überhaupt etwas bedeutet“, versuchte ich zu erklären und ihm seinen Gedanken ein wenig auszureden. Aber er schüttelte sofort den Kopf. „Ich mag meine Pokemon-Freunde auch, und zwar mehr als alles andere auf der Welt. Aber es fühlt sich anders an, wenn ich mit dir zusammen bin!“ Er wurde lauter, weil er merkte, dass ich ihn nicht ernst nahm. Sobald N in seine Situation geriet, in der er nicht die Oberhand hatte, wurde er jedes Mal laut und wollte seine Meinung unbedingt durchsetzen.
 

„Ist ja gut... Ich glaube dir ja. Ich wollte nur sagen, dass dir solche Gefühle für jemanden, der kein Pokemon ist, eben neu sind. Vielleicht bist du da einfach etwas... voreilig?“ Ich sah zu ihm und er schloss die Augen. „Womöglich“, N seufzte, „hast du ausnahmsweise nicht ganz unrecht.“
 

„Siehst du? Und jetzt beruhige dich erst einmal und wir reden später darüber“, ich stand auf und wollte den Raum verlassen. „Oder auch gar nicht“, fügte ich in Gedanken hinzu.
 

„Bitte... halte mich jetzt nicht für seltsam!“, stellte er noch klar. Aber ich musste zugeben, dass ich die Situation schon ein wenig seltsam fand. Das sollte ich jedoch lieber für mich behalten. Ich wollte ihn nicht noch mehr aufregen. Er war unglaublich wichtig für mich geworden, sonst hätte ich ihn nicht zwei Jahre lang gesucht. Aber ich hatte mir wirklich nie vorgestellt, eine Beziehung mit ihm führen zu können. Der Gedanke war einfach absurd und ich hoffte, dass er zur Vernunft kommen würde. Gerade jetzt, wo es doch wieder besser zwischen uns lief, wollte ich nicht, dass er es mit einem seiner Geistesblitze kaputt machte.
 

Dazu kam, dass er nicht nur älter war als ich, sondern auch einfach, dass er ein Mann war. Ich hatte mir alleine aus diesem Grund noch nie Gedanken darüber gemacht, mit ihm eine Beziehung zu wagen. Dieser Gedanke war für mich einfach unglaublich fern. Natürlich war es nicht unmöglich, vor allem, wenn man diese Dinge mochte. Aber ich hatte einfach bis jetzt nie darüber nachgedacht, ob ich so etwas mochte oder nicht.
 

Erst durch Ns Worte begann ich über Dinge nachzudenken, die mir vorher nicht in den Sinn gekommen wären. Nun, wo ich wusste, dass ich ihn haben könnte, wenn ich nur wollte, begann ich mir auszumalen, wie eine Beziehung mit ihm wohl wäre.
 

Aber das war falsch.
 

Bestimmt würde ich ihn nur enttäuschen. Ich konnte nur hoffen, dass er seine Meinung noch ändern und sich eingestehen würde, dass er überreagiert hatte und es sich bei seinen Gefühlen um normale, freundschaftliche Gefühle handelte. Ansonsten war ich mir nicht sicher, wie ich mit dieser Versuchung umgehen sollte. Aber was waren das für Gedanken? Nein, es gab keine Versuchung.
 

Als ich mich angezogen und im Bad fertig gemacht hatte, war N bereits in der Küche und mir war unklar, wo und wie er sich so schnell angezogen hatte. Alles an ihm war einfach ein Rätsel für mich. Ich versuchte ihm zwar aus dem Weg zu gehen, damit ich nicht sofort wieder mit dem Problem konfrontiert werden würde... Das Ganze wurde nur dadurch erschwert, dass er mir anscheinend nicht aus dem Weg gehen wollte.
 

Es war ein schlechtes Zeichen, dass ich, in dem Moment, in dem ich ihn sah, damit begann, ihn mit anderen Augen zu sehen, als ich es vorher je getan hatte. Er hatte, wie immer, Kleidung an, die seinen kompletten Körper bedeckte. Nicht mal seinen Hals konnte ich sehen, da er einen Rollkragenpullover trug, und seine Handgelenke verdeckte er mit großen Armbändern. Durch das Hemd über seinem Pullover war seine Körperform nie richtig zu erkennen.
 

Dennoch sah ich das Bild von letzter Nacht vor mir und ich sah, trotz seiner Kleidung, seine nackten Arme und Beine vor mir und wie er versuchte, seinen dünnen zerbrechlichen Körper vor der Kälte zu schützen, nachdem er aus dem Bett gekrochen war. Er war so niedlich gewesen und ich wollte ihn gerne öfter so sehen.
 

Ich musste unbedingt aufhören, an so etwas zu denken. Das war kein gutes Zeichen. Definitiv.
 

Aber jetzt, wo ich wusste, wie er für mich fühlte, nahm ich ihn, ohne es zu wollen, anders wahr. Ich achtete mehr auf seinen Körper. Ich begann, nach femininen Charakterzügen zu suchen.
 

„Wirst du heute wieder weggehen?“
 

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, dass er mich ansprach. „Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört. Was hast du gerade gesagt?“ Er seufzte. „Dann sei froh, dass ich es dir jetzt nochmal sage, damit du es diesmal verstehst. Hast du heute irgendwelche Pokemon-Kämpfe, die du als Champion austragen musst?“ Er sah ein wenig wütend aus, da er Pokemon-Kämpfe zwar nicht mehr verabscheute, aber dennoch fand er die Idee eines Pokemon-Champions immer noch sinnlos und unnötig.
 

N schien wieder normal zu sein. Gott sei Dank.
 

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich... Ich habe heute nichts zu tun, nur -“ „Das ist perfekt!“, freute er sich und nahm meine Hände in seine eigenen. Das konnte nur etwas Schlimmes bedeuten. „Dann hilf mir bitte dabei, mir über meine Gefühle klar zu werden.“
 

Oh Gott, wie konnte dieser Mann nur immer wieder solche Sachen sagen? Er war wirklich die einzige Person auf der ganzen Welt, die mich immer wieder damit überraschte, wie wenig Taktgefühl er hatte. Ich musste mich irgendwie rausreden.
 

„Ich weiß nicht so recht. Ehrlich gesagt, ich bin mir gerade nicht mal über meine eigenen Gefühle im Klaren“, gab ich zu. Ich wollte ihn zumindest wissen lassen, dass ich durch die Situation auch verunsichert war. Vielleicht würde ihm das ein wenig helfen. „Was meinst du damit?“, fragte er und ich wusste nicht, ob er unschuldig spielte oder ob er wirklich nicht verstand, was ich meinte. „Ach, nichts. Wie soll ich dir denn dabei helfen?“, lenkte ich ab.
 

„Ich hatte noch nie ein Date.“
 

„Oh.“
 

„Ich habe nach den verschiedensten Formeln gesucht, die mir dabei helfen könnten, zu ermitteln, ob eine Beziehung mit dir ein Erfolg wäre. Aber ich konnte einfach keine finden. Allerdings, wenn die Theorie nicht funktioniert, dann könnten wir es doch einfach mit der Praxis versuchen“, schlug er vor. „Sollten irgendwelche Komplikationen auftreten, beenden wir die Beziehung einfach wieder.“
 

So aufdringlich und schon wieder kein Taktgefühl. N schien nicht viel über Beziehungen zu wissen, geschweige denn ihren Sinn zu verstehen. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich habe da ja auch noch ein Mitspracherecht, nicht wahr?“ Ein wenig wütend war ich nun schon auf ihn. Was bildete er sich nur dabei ein, das einfach für mich zu bestimmen? Ich würde dieser Idee auf keinen Fall zustimmen.
 

Plötzlich zog er seine Mütze tiefer ins Gesicht und drehte sich weg. Er begann etwas vor sich hin zu murmeln. „Ich war wirklich ziemlich naiv“, konnte ich gerade so wahrnehmen. N hatte wieder eine seiner Stimmungsschwankungen und ich musste ihn schnell aufmuntern, sonst, das wusste ich, würde ich ihn den Rest des Tages deprimiert oder gar wütend erleben. „Wie lange hast du denn diese Gefühle für mich schon?“, wollte ich wissen. Je mehr Informationen ich hatte, umso klarer würde die Gesamtsituation für mich werden.
 

„Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich habe mich schon immer so anders gefühlt, wenn ich in deiner Nähe war. Deshalb habe ich dir damals verraten, dass ich zu Team Plasma gehöre, und habe es dir dadurch eigentlich ziemlich leicht gemacht, mich zu besiegen, nicht wahr? Wie wäre es mit ein wenig Dankbarkeit für meine Großzügigkeit?“, er lächelte, doch ich wusste, dass es nur gespielt war. Er war noch immer gekränkt, denn er bekam seinen Willen nicht. In Situationen wie diesen kam seine verwöhnte Seite durch, die er sich als Team Plasmas König angeeignet hatte. Manchmal sah ich Parallelen zu seinem Vater und mir war bewusst, durch wen er dieses Verhalten gelernt hatte.
 

Aber seine Stimme war im Laufe des Gespräches immer zittriger geworden. Ob sein Verhalten nur eine antrainierte Fassade war?
 

„Bitte gib mir etwas Zeit. Vielleicht kann ich was machen“, beruhigte ich ihn. Ich wollte mich nicht streiten. Vielleicht könnte ich ihn lieben, ich wusste es nicht. Ich hatte schließlich nie darüber nachgedacht. Aber ich konnte es ja auch nicht ausschließen. „Ich erwarte nichts von dir, was du mir nicht geben kannst“, N sah zu Boden. Ich wollte ihn nicht so sehen. Das passte gar nicht zu ihm.
 

„Wir reden später darüber. Mach dir keinen Kopf“, ich legte meine Hand auf seine Schulter. „N, vergiss niemals, wie wichtig du mir bist. Wir klären das hier später.“
 

„Kann ich... heute wieder bei dir schlafen?“
 

„Vielleicht wäre es erst mal besser, wenn du etwas Abstand von mir hältst.“ Auch wenn es unfair war, ich wollte erst einmal Ruhe haben. N musste eben seine Grenzen erkennen.
 

Den gesamten Tag über passierte bezüglich N nichts Erwähnenswertes mehr. Anscheinend nahm er sich meinen Ratschlag zu sehr zu Herzen und verschwand einfach, ohne dass ich überhaupt bemerkte, wann er die Wohnung verlassen hatte. Ich konnte nicht abstreiten, dass ich mir irgendwie Sorgen um ihn machte.
 

Aber er war alt genug und so selbstständig, dass er selbst in der Wildnis zurechtkam, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Und dann hatte er ja noch diese Gabe mit Pokemon zu sprechen.
 

Solange er zurückkam und nicht wieder für zwei Jahre verschwand, war mir alles recht.
 

Und so beschloss auch ich, mich abzulenken und etwas weniger an meinen Mitbewohner zu denken. Auch wenn mir immer wieder in den Sinn kam, wie gut er geduftet hatte, als er neben mir im Bett gelegen war. Und wie gut ich geschlafen hatte, als ich ihn im Arm gehalten und seinem Atem gelauscht hatte.
 

Vielleicht war eine Beziehung mit ihm ja gar nicht so schlecht. Immerhin fühlte sich seine Nähe gut an. Aber sollte ich es wirklich versuchen?
 

Im Notfall könnte ich es ja wieder beenden.

Kapitel 02

Als N erst spät am Abend wieder zurückkam und ohne etwas zu sagen in sein Zimmer gehen wollte, bat ich ihn, zu mir zu kommen. „Willst du mir nicht etwas Gesellschaft leisten?“, schlug ich vor.
 

Er setzte sich zögernd auf den freien Platz auf der Couch neben mir. Sein Gesicht war blasser als sonst, doch seine Wangen und Augen waren rot. Ich konnte mir den Grund dafür denken. Anscheinend hatte er geweint. „Ich dachte, ich soll Abstand von dir halten“, murmelte er und schien irritiert, dass ich meine Meinung geändert hatte. „Wenn das hier ein Scherz sein soll, dann kann ich gerne darauf verzichten.“ N schien skeptisch zu sein und mir nicht ganz zu trauen. „Ich will dich einfach ein wenig um mich haben. Du willst das doch auch, also nimm meinen Vorschlag einfach an“, bat ich ihn.
 

N blieb still sitzen und starrte unsicher auf seine eigenen Knie. Es tat mir irgendwie schon leid. Dass es ihm so schlecht ging, war auch meine Schuld. Aber nicht nur meine allein: Auch er selbst war dafür verantwortlich. Alt genug war er ja, um zu verstehen, dass man nicht immer alles bekam, was man sich wünschte.
 

Er begann nervös an seiner Halskette zu spielen. Einmal sah er kurz zu mir, als würde er etwas sagen wollen. Doch dann starrte er weiter auf seinen Anhänger und spielte an der Kette, als würde er versuchen, zu verbergen, wie unwohl er sich fühlte. Ich musste ihn auf andere Gedanken bringen. „Was hast du heute gemacht?“, fragte ich, um ihn dazu zu bringen, ein wenig Ruhe zu fassen.
 

„Ich habe meine Freunde getroffen.“ Natürlich redete N nicht von Menschen, sondern von Pokemon, auch wenn ich nicht genau wusste, um welche es sich handelte. N kannte so viele verschiedene Arten und hatte schon in der ganzen Region Freundschaften mit den unterschiedlichsten Pokemon geschlossen. „Hattest du viel Spaß mit ihnen?“ N nickte. „Ja, es macht immer wieder unheimlich viel Spaß bei meinen Freunden zu sein und mit ihnen zu spielen.“ Er begann zu lächeln. Aber ich wusste, dass ihn etwas anderes viel mehr beschäftigte. Keiner von uns beiden wagte es, etwas dazu zu sagen.
 

Es beruhigte mich, dass er, zumindest oberflächlich, wieder in einer normalen Stimmung war. Noch dazu hatte er anscheinend wirklich einen schönen Tag mit seinen Freunden verbracht und war nicht mehr so aufgebracht und durcheinander wie heute Morgen. „Ich bin wirklich glücklich, wenn ich bei meinen Freunden bin“, N sah nachdenklich aus. „Ich wünschte, es wäre mit Menschen genau so leicht wie mit ihnen.“
 

„Es ist nicht deine Schuld, dass du noch keine menschlichen Freunde gefunden hast.“ Ich versuchte, ihm klar zu machen, dass er die Hoffnung nicht einfach so aufgeben sollte. „Menschen sind manchmal schwierig.“ N nickte und sah zu mir: „Ja, das sind sie wirklich manchmal.“ Ich war unsicher, ob er damit mich meinte. Gab er mir etwa die Schuld? Ich konnte doch nichts dafür, dass N auf einmal so eine merkwürdige Idee hatte und sich für mich zu interessieren begann.
 

„Ich habe keine Lust, so eine langweilige Unterhaltung zu führen.“ N begann wieder an seiner Kette zu spielen und ließ seine Finger über den Anhänger wandern. Er schien eingeschnappt zu sein. „Wir können über alles reden, was du willst“, schlug ich ihm vor. Ich wollte ihn wirklich aufmuntern. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich alles getan, nur um ihn glücklich zu machen. Er war mir so unheimlich wichtig. Aber warum verlangte er nur etwas so Schwieriges von mir? N schüttelte den Kopf. „Manchmal“, er seufzte, „habe ich das Gefühl, es gibt niemanden, mit dem ich wirklich reden kann.“
 

Da hatte er nicht ganz unrecht. N interessierte sich für viele Dinge, die andere Leute nicht nachvollziehen konnten. Sobald er einmal anfing, über etwas zu reden, das ihm wichtig war, konnte er kaum noch aufhören. Leider konnte bis jetzt niemand Ns Gedankengängen folgen, sobald er anfing, über seine Hobbys zu reden. Ich hatte ihm vorgeschlagen, dass er dennoch über alles mit mir reden konnte. Doch als er bemerkte, dass ich ihm auch nicht folgen konnte, war er gekränkt und hörte auf, je wieder über seine Interessen zu sprechen.
 

„Willst du über Mathematik reden?“, fragte ich ihn, doch er schüttelte wieder den Kopf. „Es bringt nichts, eine Konversation zu führen, wenn der Gesprächspartner ohnehin nichts dazu beitragen kann. Da kann ich auch gleich einen Monolog führen“, meinte er. Das waren die schwierigsten Momente mit N. Obwohl er immer mit Pokemon zusammen war, war er selbst keins. Aber wie ein Mensch war er manchmal auch nicht. Es war einfach nicht leicht, weder für ihn noch für mich. „Und ich will dich nicht langweilen“, fügte er hinzu.
 

„Nein, du langweilst mich schon nicht. Wie könntest du...?“ Ich wollte gerne mehr darüber hören, was N dachte. Ich wollte, dass er mir endlich alles offen erzählte, was ihm durch den Kopf ging. „Aber es ist schwer, Gedanken in Worte zu fassen“, murmelte er. „Die menschliche Sprache ist so begrenzt.“ Anscheinend wollte er nicht reden.
 

„Da kann man wohl nichts machen...“ Ein wenig enttäuscht war ich schon. Ich konnte nur hoffen, dass sich N früher oder später mir gegenüber öffnen würde.
 

Was für eine traurige Unterhaltung dies doch war. Ich spürte diese unglaubliche Spannung zwischen uns. N vermied es, mir ins Gesicht zu sehen, und seine Antworten fielen so ungewöhnlich knapp und gefühlskalt aus. Es war kein Wunder, dass er enttäuscht von mir war. Aber... Was sollte ich tun? Wieso musste er mich nur so unter Druck setzen? Ich wollte ihn nicht so enttäuscht sehen, aber ich wollte auch nichts tun, was ich bereuen würde. Es gab Grenzen und N war gerade dabei, eine zu überschreiten.
 

Aber vielleicht könnte ich ihn wenigstens ein bisschen aufheitern.
 

„Es ist schon spät, deshalb gehe ich jetzt schlafen.“ Ich wollte nicht, dass eine so angespannte Stimmung zwischen uns herrschte. Es war einfacher, offen über ein Problem zu reden, anstatt es im Raum stehen zu lassen. „Du wolltest mir doch Gesellschaft leisten. Also, willst du?“
 

Er sah mich überrascht an: „Meinst du das ernst? Du meinst, ich kann heute wieder bei dir übernachten?“ Ich nickte. „Natürlich, sonst würde ich dich nicht fragen. Ich habe keine Lust, dich weiterhin so eingeschnappt zu sehen.“ N war völlig aus dem Häuschen. „Ich mache mich sofort bettfertig!“ Dann sprang er auf und rannte sofort ins Bad.
 

War das wirklich richtig? Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm gerade nur Hoffnungen machte oder ob ich es ernst meinte. Aber er war mir wichtig und ich wollte, dass er wieder glücklich war. Auch wenn ich ihm vielleicht nicht alles geben konnte, was er sich wünschte. Wenigstens einen kleinen Wunsch wollte ich ihm doch erfüllen. Alles andere würde sich mit der Zeit zeigen.
 

„Du kannst es doch ausprobieren und wenn du mich doch nicht magst, dann beenden wir die Beziehung sofort wieder“, seine Worte gingen mir eindeutig zu oft durch den Kopf. Ich durfte mich nicht darauf einlassen, es würde ihm nur wehtun. Wenn ich wirklich eine Beziehung hätte haben wollen, dann hätte ich längst ja gesagt.
 

Aber dennoch machte ich ihm so ein Angebot. Was war nur los mit mir? Ich sollte mehr denken, bevor ich etwas in die Tat umsetzte. Es war zwar nett gemeint, doch N hatte sicherlich missverstanden, was ich ihm angeboten hatte. Bestimmt machte er sich jetzt wieder Hoffnung.
 

Konnte ich diese wirklich erfüllen? Es war schwer zu sagen.
 

Es dauerte nicht lange, bis er fertig war und in sein Zimmer huschte, um seinen Schlafanzug anzuziehen. Nachdem auch ich mich fürs Bett fertiggemacht hatte, saß N schon in meinem Zimmer und hatte anscheinend ungeduldig auf mich gewartet. Er war plötzlich so anders als sonst. Irgendwie offener und kindlicher und nicht so ernst, wie er sich normalerweise verhielt. Aber wahrscheinlich lag das auch daran, dass er heute den ganzen Tag gespielt hatte. Doch mir konnte das nur recht sein, denn ich mochte diese Seite an ihm lieber als die kühle, erwachsene Seite. Diese kam mir nämlich immer mehr vor wie eine Fassade.
 

„Soll ich mich wieder an die Wand legen?“, fragte er aufgeregt. „Das ist mir, ehrlich gesagt, egal. Du kannst dich hinlegen, wie du willst, solange du gut schläfst“, antworte ich, schloss die Tür hinter mir und schaltete das Licht aus. Als ich mich zu ihm ins Bett legte, konnte ich trotz der Dunkelheit spüren, wie er neben mir grinste. „Das ist gerade etwas gruselig. Kannst du versuchen, dich ein bisschen weniger zu freuen?“, bat ich ihn, da ich mich doch unwohl fühlte. „Oh. Wirklich eine Schande, dass ich jetzt so hyperaktiv bin, obwohl du jetzt schlafen willst“, N schien nicht wirklich zu versuchen, einen Gang herunter zu schalten.
 

„Sei einfach ein braver Junge und schlaf jetzt.“ Manchmal musste ich mit ihm reden wie mit einem Kind, aber es funktionierte leider sogar. Wahrscheinlich, weil er es von seinem Vater gewohnt war. Dass er auf Befehle, die klangen, als wären sie von seinem Vater, sofort Folge leistete, musste ich ein wenig ausnutzen. Es hatte mir schon oft das Zusammenleben mit ihm leichter gemacht. Und so gehorchte N, war endlich ruhig und schloss die Augen.
 

Leider merkte ich, dass N anscheinend immer noch aufgedreht vom Tag mit seinen Freunden war. Er drehte sich oft im Bett hin und her und konnte anscheinend nicht schlafen, weil er noch nicht müde war. Nur weil ich ihn dazu aufgefordert hatte, war er zu mir ins Bett gekommen. Als er laut seufzte und begann, mich beim Schlafen zu beobachten, riss mir der Geduldsfaden.
 

„Komm her“, forderte ich ihn auf. „W... was meinst du?“, seine Stimme zitterte. „Du kannst doch nicht schlafen, weil du keine bequeme Position findest. Komm her und kuschel dich an mich. Dann kannst du bestimmt schlafen“, schlug ich vor, um seinem Herumgewälze ein Ende zu setzen. N antwortete nichts mehr.
 

Ich bekam schon wieder Mitleid, weil ich ihm überhaupt vorgeschlagen hatte, in meine Arme zu kommen. Denn nun war er sicherlich wieder so beschämt, dass er nicht mal mehr klar denken konnte, und schlafen konnte er jetzt bestimmt erst recht nicht mehr. Aber er machte es mir auch nicht gerade leicht. Wie konnte ich überhaupt schon wieder in so eine Situation geraten? Es war so falsch, diese Gefühle in ihm auszulösen. Wieso konnte ich nicht damit aufhören?
 

Es war einfach zu schwierig. Die Versuchung, ihn in diesen ausgelieferten Zustand zu bringen, den ich gestern Abend gesehen hatte, war so verlockend. Ich wollte ihn wieder so sehen.
 

Aber das war falsch. So etwas sollte man sich nicht wünschen, wenn man jemanden gern hatte. Vor allem, wenn derjenige einen noch viel mehr mochte. Ich verhielt mich unfair ihm gegenüber. Ich sollte ihm einfach sagen, was ich empfand. Aber gleichzeitig war ich mir gar nicht mehr so sicher, was genau ich für ihn fühlte.
 

Es kamen immer mehr Gedanken, die ich eigentlich nicht hätte haben sollen. Und solche Gedanken konnte man doch nicht haben, wenn man wirklich keine romantischen Gefühle für jemanden hegte. Vielleicht war ich wirklich gerade dabei, mich zu verlieben.
 

Überraschenderweise kam N wirklich näher und versuchte, so gut wie möglich, sich an mich zu kuscheln. „So?“, fragte er unsicher, als er dicht neben mir lag. „Nein, das ist doch unbequem. Komm richtig her.“ Ich legte meine Arme um ihn und zog ihn richtig an meinen Körper heran. „Ohhh...!“, N reagierte wie das letzte Mal, als er sich so nah an mir vorgefunden hatte. Zuerst blieb er einfach in der Position, in die ich ihn gebracht hatte, liegen. Doch nach ein paar Minuten begann er, sich zu entspannen. Endlich war er ruhig.
 

„Ich kann deinen Herzschlag hören...“, stellte er überrascht fest, da er mit seinem Ohr genau auf meiner Brust lag. Simple Dinge wie diese faszinierten ihn, weil er so wenig über den menschlichen Körper wusste. Er hatte Menschen bis jetzt immer gemieden und hatte sie als eine Art Abschaum angesehen. Erst seit kurzem hatte er begonnen, sich für sie zu faszinieren. Er versuchte synchron zu mir zu atmen und ich wusste, dass er sich gerade wirklich sicher fühlte. Irgendwie machte es mich unheimlich glücklich, ihn so zu sehen, und ich begann ihn beim Einschlafen zu beobachten. Als ich dachte, er wäre eingeschlafen, bewegte er plötzlich seinen Kopf nach oben. „Ich habe noch nie den Herzschlag von einem Menschen gehört“, bemerkte er erstaunt.
 

Ich antwortete nichts und streichelte ihm durch die Haare, damit er wieder ruhiger werden und schlafen konnte. Sein Haar war so weich. Ich wusste nicht genau, was für einen Duft es hatte, aber es gefiel mir.
 

Um mich in eine bequemere Schlafposition zu begeben, wanderte ich mit der Hand, die ich auf seinen Rücken gelegt hatte, etwas zur Seite. Überrascht stellte ich fest, dass sein Shirt verrutscht war und ich ihn auf an seinem nackten Rücken berührte. Seine Haut war erstaunlich weich. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass ein Junge überhaupt so weich sein konnte. Doch ich wusste, ich würde zu weit gehen, wenn ich ihn dort weiter berühren würde. Ich wollte sein Shirt hinunterziehen, weil ich dachte, er würde frieren, doch er riss bereits die Augen auf und sah mich schockiert an.
 

„Wieso machst du das?“, fragte er verwirrt und ich wusste nicht genau, was er damit meinte. „Damit du dich nicht erkältest“, murmelte ich. „Das meine ich nicht!“, N schien aufgebracht. Er reagierte völlig über. „Wieso hast du mich angefasst?“ „Wie bitte?“, ich wusste nicht, was er damit meinte. „Wieso hast du mich angefasst?“, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck.
 

Ich konnte mir nicht erklären, was N damit meinte. Ich hatte ihn aus Versehen eine Sekunde an seinem Rücken berührt. Aber was war denn dabei? Er konnte nicht wirklich deswegen so wütend sein. Es sei denn... Ich hatte einen schlimmen Verdacht. „Du bist Körperkontakt nicht so gewohnt, was?“
 

N wurde rot, er schloss die Augen. „Ich habe eben nicht viel Erfahrung mit so etwas“, gab er zu und versuchte, weniger aufgebracht zu klingen. „Ist es dann nicht völlig natürlich von mir, so zu reagieren? Würde ich jemanden kennen, der mich regelmäßig so berührt, dann würde ich sicherlich nicht bei solch einem minimalen Kontakt eine Panikattacke bekommen. Aber ich bin eben lieber mit Pokemon zusammen.“ Seine Erklärung klang plausibel. Vermutlich würde es für jeden ungewohnt sein, der nur die Anwesenheit von Pokemon gewohnt war. Dennoch biss sich N auf die Unterlippe. Er schien selbst zu begreifen, dass seine Reaktion lächerlich war. Aber ich konnte es ihm nicht übel nehmen, denn er hatte Recht. Vermutlich hatte N schon lange nicht mehr einen solchen Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Vermutlich hatte ihn seit Jahren niemand mehr liebevoll berührt.
 

„Wie wäre es mit Training?“ Hatte ich das wirklich gerade gesagt? N sah mich erschrocken an. Es war kein Wunder, dass er nicht auf dieses Angebot reagieren konnte. Er krallte sich an meinem Oberteil fest und starrte an mir vorbei in die Dunkelheit.
 

Ich war zu weit gegangen. Ich hatte kein Recht, so etwas vorzuschlagen, obwohl es mir nicht ernst mit ihm war. Ich war inzwischen derjenige, der die Grenze überschritten hatte. „Tut mir leid, das war dumm“, gab ich zu. Was ist gesagt hatte, war fast eine Provokation. Ich fühlte mich, als hätte ich mich über seine Gefühle lustig gemacht. Immerhin wollte ich doch nichts von ihm. Oder etwa doch? Was war nur los mit mir? Wieso konnte ich mich nicht dafür entscheiden, was ich wollte?
 

„Nein“, N schüttelte den Kopf. „Bitte.“ Er sprach es so leise aus, dass ich es kaum verstehen konnte. „Bitte, trainier mich...“
 

Ah, wie konnte er das nur so aussprechen?
 

Das war nicht fair. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Aber mein Gefühl sagte mir, dass ich ihn berühren wollte. Wie konnte ich nur so schnell meine Prinzipien vergessen, nur weil er mir plötzlich so nah war? Und ich war doch derjenige gewesen, der ihn in diese Situation gebracht hatte. Hatte ich mir nicht noch vor ein paar Minuten geschworen, ihm nicht das Herz zu brechen? Sollte ich weitergehen, dann würde es in einer Katastrophe enden.
 

Wieso musste er mich nur so verführen?
 

Aber es war egal, was ich nun tat. Ob ich ihn nun zurückwies oder ob ich einen Schritt weiter gehen würde... Beides konnte dazu führen, dass N verletzt werden würde. Aber ich hatte auf einmal das Gefühl, es wäre richtig, einfach weiter zu machen und ihn zu berühren. Es fühlte sich auf einmal nicht mehr ganz so falsch an, wie ich zuerst gedacht hatte.
 

Ich fing an, mit meiner anderen Hand über Ns Körper zu streicheln und als er bemerkte, was ich tat, gab er ein überraschtes Geräusch von sich, was ein wenig wie ein Quietschen klang. Doch er tat nichts, um meine Hand aufzuhalten und sagte auch nichts. Also fuhr ich fort und streichelte seinen Rücken. Es fühlte sich richtig an. Das, was ich tat, war richtig. Ich wollte es so und er hatte mich darum gebeten.
 

Ich streichelte über seinen Rücken und als ich unten angekommen war, überlegte ich, ob ich es wagen sollte, meine Hand auf die Vorderseite seines Körpers wandern zu lassen, oder ob das zu viel für N war. Doch da er nichts sagte, beschloss ich, es zu wagen. Gerade, als ich mit meiner Hand seinen Bauch berührte, schrie er erschrocken auf. „Was tust du?“, fragte er überrascht. „Ich dachte, das wäre gut. Du hast doch gesagt, dass es okay ist.“ N schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht. Bitte. Solange du es nicht ernst mit mir meinst, fass mich bitte nicht an.“ Ich war überrascht. Aber er hatte mich doch selbst darum gebeten, ihn zu berühren.
 

Ich seufzte. Es hatte sich so gut angefühlt. Auch wenn ich sie nur so kurz gespürt hatte, Ns Haut war so weich und ich wollte mehr davon berühren. Aber N wollte eine Antwort. Solange ich nicht Klarheit schaffen konnte, würde er mir nicht mehr erlauben, ihn anzufassen. Hatte er mich mit Absicht Blut lecken lassen, um mich dann zurückzuweisen und in diese Situation zu drängen? Ich begann, mich zu fragen, ob er ein wenig geschauspielert hatte, um mich so weit zu bringen. Aber als ich ihm in die Augen sah, merkte ich, dass es sein voller Ernst war.
 

„Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst. Ich will dich einfach nur streicheln, damit du entspannen und gut schlafen kannst. Mehr nicht. Ich habe keine Hintergedanken dabei“, das redete ich mich zumindest ein, obwohl ich schon längst nicht mehr leugnen konnte, dass das Verlangen ihn zu berühren nicht doch etwas mehr war als das, was einfache Freunde tun würden.
 

„In Ordnung“, murmelte er beschämt. „Du darfst mich anfassen. Aber nur meinen Oberkörper.“ „Das klingt doch gut“, stimmte ich zu und setzte meine Hand wieder in Bewegung. Als ich sie dieses Mal unter sein Shirt schob und seine Haut berührte, gab er ein leises Geräusch von sich, was weder ein Quietschen noch ein Stöhnen war. „Das war keine Absicht“, er wurde rot. „Ich habe gerade nur so ein Geräusch gemacht, weil du daran schuld bist.“ Aber es gefiel mir, ich wollte mehr davon hören. N war in dieser Hinsicht einfach so unschuldig.
 

„Bitte, mach langsam. Ich habe mich noch nie von einem Menschen so berühren lassen. Das ist so neu für mich“, bat er mich und sah mir in die Augen. Er versuchte zu lächeln, aber ich merkte, dass er Angst hatte. „Es hat dich noch nie jemand so gestreichelt, wie ich es nun tue?“, wollte ich mich vergewissern. Er nickte. „Auch wenn es lächerlich klingt, aber das ist die Wahrheit. Noch nie zuvor in meinem ganzen Leben.“ „Ist das dein Ernst?“ Ich konnte es nicht glauben.
 

Ich fand es einfach unglaublich traurig, dass N selbst als Kind niemals so angefasst und liebevoll gestreichelt worden war. Doch er nickte wieder und sagte nichts mehr, da er sich wohl auch selbst unwohl fühlte, nur daran zu denken. Vermutlich erinnerte es ihn daran, dass er sich schon lange nach einer solchen Berührung gesehnt hatte. Und ich war derjenige, der sie ihm geben konnte. Ich wollte sie ihm geben, ich wollte ihn berühren. Ich konnte nicht länger leugnen, dass ich mich selbst nicht mehr stoppen konnte. Ich wäre nicht so weit gegangen, wenn keine Gefühle im Spiel wären. Auch wenn ich nicht genau wusste, wieso es sich so entwickelt hatte.
 

Während ich seinen Oberkörper streichelte, über seinen Bauch, seine Rippen und über seine Brust, merkte ich, dass sein Atem auffallend lauter wurde. Es war verständlich, da er sensibel war, da er noch nie so einen Körperkontakt hatte. Ich verlangsamte das Tempo etwas. Ich streichelte ihn nun nur noch sehr langsam und ließ meine Hand manchmal sogar an einer Stelle etwas liegen, bis sein Atem wieder ruhiger wurde. „Du musst keine Angst haben“, versicherte ich ihm. „Das ist ganz natürlich. Es wird nichts Schlimmes passieren. Es fühlt sich doch gut an, oder?“ N nickte.
 

Als ich meine Hand wieder in Bewegung setzte, streifte ich aus Versehen einen seiner Nippel und er sah mich überrascht an. „Was war das?“, fragte er irritiert. „Ich habe mich gerade komisch gefühlt.“ „Hat dir das gefallen?“, fragte ich und er schien nachdenklich zu sein. „Ja, das hat es...“ Anscheinend schien er wirklich sehr sensibel zu sein. „Soll ich das nochmal machen?“, fragte ich ihn. Ich wollte nichts machen, was ihn überraschen oder verängstigen könnte. N wartete etwas und schien über eine Antwort nachzudenken. „Es verwirrt mich. Fass mich bitte nicht mehr dort an.“
 

Schon wieder so ein Sinneswandel. Wenn das so weitergehen würde, würde ich ihn vermutlich nie wieder berühren dürfen. Ich musste wirklich vorsichtig mit dem sein, was ich tat.
 

Es wäre das Vernünftigste, Ns Bitte zu akzeptieren. Auch wenn ich gerne mehr gemacht hätte, so merkte ich, dass dies seine Grenze war. Sein Körper zeigte Reaktionen, die er nicht verstand und es war ihm unangenehm. Vermutlich weil er sonst immer alles verstand, oder zumindest davon ausging. Aber ich wollte es nicht akzeptieren. Ich musste ihn irgendwie dazu bringen, seine Meinung zu ändern. „Kein Problem. Dann streichele ich dich so noch ein bisschen, ja?“, ich wanderte mit meiner Hand wieder ein wenig nach unten und streichelte ihm über seine Rippen und seine Taille.
 

Wie sollte ich das nur meinen Freunden erklären? Ich bekam langsam Bedenken. Alleine aus diesem Grund war eine Beziehung eigentlich ausgeschlossen. Alle wussten davon, dass N einmal der König von Team Plasma war. Und ich war der Held, der ihn besiegt hatte... Das passte nicht zusammen. Ich war völlig in Gedanken versunken und achtete kaum noch darauf, dass ich ihn nebenbei weiter streichelte.
 

„Tou... ya... ahh...“
 

Was war das? „Hast du gerade... gestöhnt?“, ich war überrascht. „Aber ich habe dich doch nur... Ich habe nichts gemacht.“ War ich so abgelenkt gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, dass ich zu weit gegangen war? Nein, das konnte nicht sein. Ich hätte es gemerkt. „Ich... Ich... “, N suchte nach einer Antwort. Aber alles was er herausbrachte, waren nur zusammenhangslose Satzfragmente. „Es hat sich auf einmal so... Das war einfach... Ich weiß auch nicht...“
 

Noch nie zuvor hatte ich N so ratlos erlebt. Er wusste wirklich nicht, was er antworten sollte. Sein Gesichtsausdruck wurde immer verzweifelte und er biss sich auf die Lippe. Vermutlich wollte er etwas sagen, aber er brachte es nicht übers Herz, es laut auszusprechen.
 

„Du musst dich dafür nicht schämen. Du bist eben auch nur ein Mensch“, ich lächelte, aber N drehte den Kopf zur Seite und krallte sich an der Bettdecke fest. Es schien ihm unglaublich unangenehm zu sein. „Ich bin nur so empfindlich, denn ich habe so etwas noch nie gemacht. Allein solch harmlose Berührungen lösen Gedanken aus, die...“, wieder brach er ab und kniff die Augen zusammen. „Gedanken, die...?“, ich wollte wissen, was er meinte, doch N antwortete nichts mehr. Er konnte nicht. Aber es war eindeutig, von was für Gedanken er sprach.
 

Natürlich hätte ich an dieser Stelle gnädig sein können und aufhören sollen. Aber jetzt, wo ich N neben mir liegen sah, wie er seine Finger in die Bettdecke krallte und die Augen zusammenkniff, weil er sich so schämte... Jetzt, wo er zu stöhnen begann, wenn ich ihn nur berührte... Das machte auf einmal alles noch interessanter. Ich konnte jetzt nicht aufhören. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn ich ihn an anderen Stellen berühren würde.
 

„Ich frage mich, ob es noch andere Stellen gibt, an denen du dich berührt hast. Hat es sich... komisch angefühlt?“, fragte ich ihn. N gab einen überraschten Laut von sich. „Was meinst du damit?“ Doch ich merkte, dass er sofort wusste, wovon ich sprach. Immerhin war er schon alt genug und es war unmöglich, dass er sich noch nie selbst berührt hatte. „Ich weiß nicht genau, ich dachte mir, du hättest vielleicht eine Antwort. Oder willst du behaupten, du hast dich noch niemals hier angefasst?“
 

Ich ließ meine Hand weiter nach unten wandern, bis zu seinem Hosenbund, doch dann begann er zu zucken. Sein Atem wurde schneller „Touya-“, seine Stimme klang panisch, das war zu viel für ihn. Ich war zu schnell. Er gab ein weinendes Geräusch von sich und hielt schützend seine Hände vor sich, sodass ich nicht tiefer gehen konnte.
 

„Bitte, geh nicht weiter“, flehte er mit zittriger Stimme, „Wenn du es nicht ernst meinst, dann wird mir das wehtun. Dann kann ich dir nicht mehr vertrauen.“ Erst jetzt bemerkte ich, wie glasig seine Augen waren und dass er sicherlich schon seit einiger Zeit mit den Tränen kämpfte. „Ich bin zu weit gegangen“, gestand ich und streichelte wieder durch sein Haar, anstatt über seinen Körper. „Es tut mir leid. Das sollte dich nicht verletzen... Ich wollte dir doch nur etwas Gutes tun.“ „Ich...“, er brachte nichts weiter heraus. Stattdessen gab er einen lauten Seufzer von sich und starrte traurig vor sich hin. Ich wusste genau, was er jetzt tun würde.
 

Aber ich wollte ihn auf keinen Fall weinen sehen. Ich musste ihn aufhalten und etwas sagen, das ihn beruhigen würde.
 

Auf einmal war mein Kopf leer. Mir fielen einfach keine Worte ein, die ihn davon abhalten konnten. Ich wollte etwas Nettes zu ihm sagen, oder etwas, das ihm zeigte, dass er mir wichtig war und dass ich es ernst mit ihm meinte. Aber mir fiel einfach nichts ein.
 

N kniff seine Augen zusammen und eine einzelne Träne rollte seine Wange hinunter. Dann folgten mehrere und er begann laut zu schluchzen. Er hielt sich sofort die Hände vor sein Gesicht und wollte sich verstecken. Gleichzeitig wollte er seine eigenen Tränen wegwischen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Aber es brachte nichts. Er konnte seine Tränen nicht stoppen und begann noch heftiger zu weinen. Seine Hände zitterten und er schaffte es nicht mehr, seine Trauer zu verstecken.
 

Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Das war es gewesen, was ich die ganze Zeit hatte verhindern wollen. Aber ich konnte es inzwischen nicht mehr leugnen, dass ich nicht doch Gefühle für ihn entwickelt hatte. Ich musste ihn beruhigen und ihm sagen, dass alles okay war und dass ich dazu bereit wäre, ihm eine Chance zu geben und ihm das zu geben, was er sich wünschte.
 

Aber mir fehlten einfach die Worte. Egal was ich hätte sagen können, ich wollte es mir gut überlegen. Ich wollte keinen Fehler machen.
 

Ich dachte an die Vorurteile, die die anderen gegen uns haben würden, würde ich wirklich eine Beziehung mit ihm führen. Die Blicke meiner Freunde und den Hass, den noch immer viele gegen ihn hegten. Es machte mir Angst, nur daran zu denken. Deswegen wollte ich ihm sagen, dass ich ihn zwar gern hatte, aber eine Beziehung... Das war einfach nicht das Richtige. Vor allem für uns. Aber nun musste ich etwas sagen und ich hatte keine Zeit mehr, mir die richtige Antwort zu überlegen. Deswegen sagte ich das Erste, was mir in den Sinn kam, als ich ihn ansah. Das Einzige, was mir einfiel, um ihn zum Lächeln zu bringen.
 

„Ich liebe dich.“
 

Hatte ich das wirklich gesagt? „Was?“, panisch sah er mich an, noch immer daran scheiternd, seine Tränen unter Kontrolle zu bringen. „Ich... ich...“, ich stotterte. Was sollte ich nur sagen? Wie sollte ich das erklären? Es war mir sofort in den Sinn gekommen, also musste es wohl stimmen. Und ich konnte es nicht leugnen. Aber ich hätte es nicht so direkt ausdrücken wollen, es war einfach herausgerutscht.
 

Natürlich hatte ich inzwischen begriffen, dass auch ich Gefühle für ihn entwickelt hatte, doch...
 

Ich würde das nie meiner Familie und meinen Freunden erklären können. Und dann auch noch ausgerechnet N... Wo doch wirklich jeder über seine Vergangenheit Bescheid wusste. So eine Beziehung konnte keine Zukunft haben. Aber ich konnte jetzt auch nicht mehr zurück. Und ich war derjenige gewesen, der ihn berührt hatte und so weit gegangen war. Zurückblickend hatte ich bereits viel mehr dazu beigetragen als er.
 

„Ich habe gesagt, dass ich dich gern habe“, ich wusste nicht genau, was ich weiter sagen sollte. Ich musste wie ein Idiot klingen. „Ist das wirklich wahr?“, N hatte sich etwas beruhigt. Zwar schluchzte er noch ab und zu und sein Gesicht war rot, aber zumindest weinte er nicht mehr. Er sah aber auch nicht sonderlich glücklich aus. Eher skeptisch. „Ich dachte, du empfindest nichts für mich...“
 

„Ja, ich … Ich dachte das zumindest..“, stammelte ich, dann wurde ich wieder etwas sicherer. „Aber da war ich dir auch noch nie so nah wie heute. Es macht mich wirklich glücklich, so bei dir zu sein. Ich kann mir wirklich vorstellen, immer so bei dir zu sein.“ Ich war froh, etwas gesagt zu haben, das nicht idiotisch klang. Es war nicht einmal gelogen. Solange es nur wir beide waren, war es in Ordnung. Das war die beste Lösung.
 

Doch dann begann N völlig zusammenzubrechen. Ich sah genau, wie sein Gesicht sich veränderte. Er verlor jegliche Selbstbeherrschung und alles, was von seiner selbstbewussten Fassade übrig war, verschwand nun. Zuerst begannen seine Lippen zu zittern, dann kniff er die Augen zusammen, um seine Tränen aufzuhalten und hielt sich sofort die Hände vor sein Gesicht um sich zu verstecken. Durch seine Finger drangen schluchzende Geräusche, dann wurde er lauter. Dieses Mal war es noch lauter und kläglicher als zuvor. Er schrie regelrecht.
 

Jedes Geräusch, das er von sich gab, stach mir direkt ins Herz. Es tat weh, ihn weinen zu hören. Ich wollte nicht, dass er weinte. Ich hatte ihn doch gerade aufgehalten. Aber ich wusste nicht weiter. Warum weinte er überhaupt? War nicht gerade etwas Gutes passiert?
 

Sofort zog ich ihn zu mir und umarmte ihn, so fest ich konnte. Er drückte sein Gesicht an meine Brust und drückte seinen Körper noch fester an meinen. Er krallte sich regelrecht fest. Ich sah zwar sein Gesicht nicht mehr, doch ich konnte es auf meinem Körper fühlen. Ich konnte fühlen, wie die Tränen aus seinen Augen fielen. Ich spürte seinen Atem, der meine Haut berührte und so warm war.
 

Ns ganzer Körper war so warm und fühlte sich gut an. Ich wollte ihn nicht leiden sehen. Ich wollte dafür sorgen, dass er sich gut fühlte. „Ist ja gut“, beruhigte ich ihn, doch er hörte einfach nicht auf. Die Laute, die er von sich gab, waren herzzerreißend. Aber ich wusste nicht mal, warum er so weinte.
 

Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte. Ich war nicht sicher, ob es eine halbe Stunde war oder vielleicht auch nur zehn Minuten. Aber er wurde leiser und hatte anscheinend keine Kraft mehr. Langsam hob er seinen Kopf und sah mich an, noch immer wimmernd. Seine Haare waren nass von den vielen Tränen und sein Gesicht war rot, seine Augen geschwollen. „N“, ich versuchte so sanft zu klingen, wie ich nur konnte. „Es ist alles gut. Alles ist gut.“
 

Er schloss die Augen und gab noch ein paar weinende Laute von sich, doch es schien ihm besser zu gehen. Vielleicht konnte er auch nicht mehr. Sein Körper sah so kraftlos aus, langsam ließ er los und lag einfach nur noch in meinen Armen. „Da.. Das hat... noch keiner..“, er machte eine kurze Pause, weil ihm das Sprechen so schwer fiel, „...zu mir gesagt...!“ Ich konnte ihn kaum verstehen, weil seine Worte sich mit Schluchzern vermischten. Ich konnte darauf nichts antworten. Ich hielt ihn einfach so fest es ging und streichelte ihm über den Kopf. „Ist schon gut.“
 

Letztendlich war N so kaputt, dass er laut atmend in meinen Armen lag und mich einfach anstarrte. Sein Blick war nichtssagend und leer, seine Augen waren rot vom Weinen. Ich war froh, dass er endlich damit aufgehört hatte, aber ich wollte, dass er wieder lächelte. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Abend so enden würde. Aber vielleicht war es gut. Ansonsten wäre ich vielleicht noch weiter gegangen.
 

Im Nachhinein fühlte ich mich wie ein Bösewicht.
 

„Ich glaube, es ist Zeit zu schlafen“, schlug ich vor und schob N ein Stück zur Seite, damit er sich hinlegen konnte, wie er wollte. „Gute Nacht“, murmelte ich und er blieb so liegen, wie ich ihn hingelegt hatte. Er hatte anscheinend keine Kraft mehr. Sofort schlossen sich seine Augen und sein Atem wurde wieder langsamer. Er atmete laut und gleichmäßig. „Wirst du... von jetzt an für mich da sein?“, fragte er. „Natürlich. Was immer du willst.“ Dann nahm ich seine Hand.
 

Erst jetzt merkte ich, dass meine Verantwortung, die ich ihm gegenüber übernommen hatte, wieder ein ganzes Stück gewachsen war. Aber es war in Ordnung. Ich hatte nun wirklich das Gefühl, dass es richtig war. N brauchte jemanden, der für ihn da war. Ich konnte diese Aufgabe übernehmen.

Kapitel 03

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief N glücklicherweise noch neben mir und war nicht im Laufe der Nacht in sein eigenes Zimmer verschwunden. Es tat gut, ihn wieder so ruhig und friedlich zu sehen, und ich hoffte, dass er nicht sofort aufwachen würde. Ich streichelte ihm sanft über die Wange und beschloss, auch noch ein wenig weiterzuschlafen, und so beobachtete ich ihn, bis auch ich wieder eingenickt war. Erst nach ungefähr zwei Stunden wachte ich wieder auf, da ich spürte, dass N sich bewegte.
 

»Ugh...« N stöhnte, als er wieder zu sich kam. Nach den Geräuschen zu urteilen, die er von sich gab, schien er sich grauenhaft zu fühlen. Kein Wunder, so wie er sich die Nacht zuvor verausgabt hatte. Zuerst hatte er den halben Tag mit seinen Pokémon-Freunden gespielt, wobei ich nur rätseln konnte, wie man sich dieses Spielen vorstellen konnte, und dann hatte er in der Nacht so fürchterlich geweint, bis die gesamte Kraft aus seinem Körper verschwunden und er nur vor Erschöpfung eingeschlafen war. Ich sah, wie er damit kämpfte, seine Augen zu öffnen, aber es wollte nicht funktionieren. Durch die Tränen waren sie wie zugeklebt und mit einem Seufzen schloss er sie wieder. »Grauenhaft. Einfach grauenhaft«, murmelte er.
 

»Guten Morgen, N.« Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn und er zuckte überrascht zusammen. Hatte er etwa vergessen, dass er noch immer in meinem Bett lag? Spätestens jetzt sollten seine Erinnerungen zurückkehrt sein. Mit etwas mehr Willenskraft schaffte er es diesmal, seine Augen zu öffnen, und er sah mich überrascht an. Mir fiel auf, wie mitgenommen er doch aussah. Seine Wangen waren noch immer rot und ich musste mir eingestehen, dass seine Stirn sich auch ziemlich heiß angefühlt hatte. »Oh nein, N. Du wirst doch nicht etwa krank, oder?« Besorgt legte ich meine Hand auf seine Stirn und es gab keinen Zweifel, aber irgendwie wunderte es mich kein bisschen. »Nein, werde ich nicht«, widersprach er. »Ich bin nur ein bisschen erledigt von gestern, nichts Ernstes.« Wie immer konnte er sich nicht eingestehen, auch mal schwach zu sein. »Ich glaube eher weniger«, meinte ich. Erschöpft schloss N die Augen erneut und jeder, der ihn so gesehen hätte, hätte mir zugestimmt, dass er eindeutig nicht in Ordnung war. Als sein Atem langsamer wurde und er anscheinend wieder kurz vorm Einschlafen war, beschloss ich, dass es Zeit war, ins Bad zu gehen.
 

N erschrak und schlug überrascht die Augen auf, als er spürte, wie ich das Bett verließ. »Hey, Touya. Wo gehst du hin?«, fragte er, als ich bereits dabei war, die Zimmertür zu öffnen. »Es geht dir nicht gut. Deshalb ruh dich gut aus, in Ordnung?«, schlug ich vor und wollte nicht, dass er sich weiter anstrengte. Seine Stimme klang so leise, dass ich merkte, dass ihm das Sprechen schwerfallen musste. Verzweifelt sah er mich an. »Und du gehst wohin?«, fragte er noch einmal. Ich wusste, dass er wollte, dass ich bei ihm blieb. Es ging ihm immerhin schlecht, das merkte ich ihm an, auch wenn er mit letzter Kraft versuchte, seinen schlechten Zustand zu überspielen. Es musste für ihn unangenehm sein, dass er mir den Abend zuvor so viele private Dinge offenbart hatte, und ich konnte mir vorstellen, dass er sich im Nachhinein dafür schämte, geweint zu haben. N war die Nacht zuvor so anders gewesen als sonst, so zerbrechlich und offen mir gegenüber. Ich wäre gerne bei ihm geblieben, da er sich immer noch schlecht fühlte.
 

Aber ich musste zur Pokémon-Liga und ich war bereits spät dran, da der Weg immer sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Doch ich fragte mich, ob es wirklich richtig war, heute das Haus zu verlassen. Sollte ich N wirklich alleine lassen? Mir fiel auf die Schnelle niemand ein, der auf ihn hätte aufpassen können. Viele meiner Freunde hassten ihn noch immer und ich war die einzige Person, die sich im Moment für ihn interessierte. Es war eine schwierige Situation und ich war mir sicher, dass es sich in Zukunft bestimmt ändern würde und N mehr Freunde finden würde. Aber ich brauche jetzt einen Freund, der für ihn da sein konnte und, solange ich weg sein würde, auf ihn aufpasste. Warum war es nur so schwierig mit N?
 

»Ruh dich bitte den ganzen Tag aus und verlasse auf gar keinen Fall die Wohnung«, bat ich ihn. »Ich mache dir gleich was zu essen und bring es dir hier ins Zimmer.« Das war leider alles, was ich tun konnte, denn ich konnte nicht wegen Ns Zustand zuhause bleiben. Mir war bereits die Tage zuvor klar geworden, dass ich meine Rolle als Champion nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Jeder freie Tag ohne Training war Verschwendung und ich hatte schon lange nicht mehr trainiert. Vielleicht würde ich es bitter bereuen, wenn ich jetzt sogar zuhause bleiben würde. Als Champion hatte ich eine noch größere Verantwortung als die Arenaleiter der Region. Es ging nicht nur um mich, sondern auch um die jungen Trainer, deren Traum es war, ebenfalls Champion zu werden. Ich hatte nun eine Verantwortung gegenüber ihnen allen und deshalb musste ich sofort zur Pokémon-Liga.
 

»Du hast meine Nummer, sodass du mich immer auf meinem Viso-Caster erreichen kannst. Bitte melde dich, wenn etwas Wichtiges oder Schlimmes passiert ist. Ich meine es ernst!«, rief ich noch, als ich bereits die Treppe herunterging. N antwortete nichts mehr, denn er hatte verstanden und war zu schwach, um noch etwas zu antworten. Hatte ich mir nicht letzten Abend noch geschworen immer für ihn da zu sein? Aber ich hatte eben auch meine Aufgaben als Champion, also musste ich gehen. Ob er wollte oder nicht und ob ich wollte oder nicht. Mir stieg die ganze Aufgabe des Champions ebenfalls schon über den Kopf, aber es war eben immer mein Traum gewesen.
 

Nur wegen N wurde es kompliziert und ich bekam mein Leben nicht mehr auf die Reihe. N war doch ein erwachsener Mann und ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer werden würde, für ihn da zu sein, weil er sich eben doch noch mehr wie ein kleines Kind verhielt, zumindest wenn es um selbstverständliche Dinge ging. Durch die Isolation im Schloss gab es zahlreiche Dinge, die er nie gelernt hatte und von denen ich nicht glauben konnte, dass er noch nie etwas davon gehört hatte. Sein Vater hatte eindeutig bei der Erziehung versagt, oder viel mehr dafür gesorgt, dass aus N ein eigenartiger Mann geworden war. Immerhin hatten wir bereits herausgefunden, dass sein Vater ihn nur für die Rolle des Königs benötigt hatte und ihn vermutlich nach der Erfüllung seines Ziels sogar wie ein benutztes Werkzeug entsorgt hätte. Als ich N darüber aufgeklärt hatte, dass sein Vater ihm viele Dinge verschwiegen oder falsch beigebracht hatte, hatte es uns beide nicht verwundert. Der Mann hatte sich nie wirklich darum gekümmert, was später aus N werden würde.
 

Hätte ich nicht die Aufgabe, N in ein gewöhnliches Leben zu helfen, würde mir die Rolle als Champion vielleicht auch nicht so schwerfallen. Aber sich auf zwei so wichtige, bedeutende Sachen zu konzentrieren, fiel mir einfach schwer. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mir etwas Richtiges zu essen zu machen, weil ich bereits so spät dran war und mich nicht verspäten durfte. Ich wollte diesen Tag als eine Chance für einen Neuanfang nutzen. Mit N lief alles wieder bestens und die Distanz zwischen uns war verschwunden. Dass wir nun sogar ein Paar waren, machte mich glücklich und ich wollte dafür sorgen, dass ich nun auch meine Rolle als Champion besser ausführen würde als je zuvor.
 

»Touya, du wirst mich nicht wirklich in diesem Zustand alleine lassen?«, hörte ich plötzlich Ns schwache Stimme und erschrak. Er war irgendwie die Treppe heruntergekommen, ohne dass ich ihn bemerkt hatte. Nun stand er unten am Geländer und versuchte, sich so gut es ging aufrechtzuhalten. Ich konnte genau sehen, dass er in keinem Zustand war, in dem ich ihn hätte alleine lassen sollen. Seine Beine zitterten und es sah aus, als würden sie jeden Augenblick nachgeben. Ohne den Halt am Geländer wäre er sicherlich bereits zusammengebrochen. Auch seine Augen sahen traurig aus, weil er genau wusste, dass ich nicht bei ihm bleiben würde. »Tut mir leid...!« Ich war verzweifelt. Warum konnte er nicht einfach im Bett liegen bleiben? Warum musste er mich nun auch noch so traurig ansehen, sodass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich ihn nur ansah? Ich konnte doch nichts an der Situation ändern und hätte ich nicht die Aufgabe des Champions, dann wäre ich bei ihm geblieben.
 

Ich wusste, dass N meine Nähe nun brauchte, und nachdem ich ihn zuvor aufgemuntert hatte, indem ich ihn versichert hatte, ich wäre nun für immer für ihn da, tat es mir weh, dass ich nun doch gehen musste, obwohl es ihm so schlecht ging. »Wenn du jetzt schläfst, vergeht die Zeit ganz schnell. Dann bin ich schon bald wieder bei dir«, versicherte ich ihm. »Ich muss jetzt ins Bad und mich für die Pokémon-Liga fertigmachen. Ich komme gleich noch einmal zu dir ins Zimmer. Versprich mir, einfach im Bett liegen zu blieben.« Er nickte, doch ich sah, dass er zu schwach war, um die Treppe wieder alleine nach oben zu gehen. Wie war er überhaupt nach unten gekommen? Dann legte ich einen Arm um ihn und half ihm dabei, wieder in mein Zimmer zurückzugehen.
 

Manchmal war N wirklich dickköpfig. Aber ich wusste, dass er es nicht böse meinte, denn er war krank und sicherlich noch verwirrt vom letzten Abend. Außerdem war es sein gutes Recht, in einem solchen Zustand auf meine Gesellschaft zu hoffen. Dass er nicht akzeptieren wollte, dass es meine Aufgabe war und ich wirklich nicht nur zum Spaß das Haus verlassen musste, war schwierig für uns beide. Ich konnte ihm einfach nicht klarmachen, dass es für mich wichtig war, meinen Titel als Champion nicht zu verlieren, doch er machte sich nichts daraus. Er verstand nicht, wozu ein Champion überhaupt gut war. Es entzog sich seinem Verstand, warum mir dieser Titel so wichtig war.
 

Als ich kurz darauf noch einmal nach ihm sah, schlief er bereits wieder, also machte ich mir keine weiteren Sorgen. Ich ließ ihm etwas Kleines zu essen im Zimmer und konnte nur hoffen, dass er sich durch den Schlaf erholen würde. »Ruf mich an, wenn etwas ist. Dann komme ich sofort nach Hause!«, schrieb ich auf einen kleinen Zettel, den ich neben das Bett legte, um ihn daran zu erinnern, dass ich zu ihm kommen würde und ihm helfen würde, sollte es ihm wirklich so schlecht gehen, dass er meine Hilfe brauchte. Ich wünschte mir zwar, dass es nicht soweit kommen würde, doch ich wollte ihm im Notfall nicht alleine lassen müssen. Auch wenn er schlief, zweifelte ich daran, dass es ihn bis zum Abend besser gehen würde. Doch zum Arzt schicken wollte ich ihn nicht, denn ich fürchtete, dass ihm auf dem Weg etwas passieren würde; er war außerdem noch immer der ehemalige König von Team Plasma und so hatte ich Angst, dass ihm außerhalb der Wohnung jemand auflauern und seinen Zustand ausnutzen könnte. Dem Finstrio zumindest traute ich alles Mögliche zu, um sich an N zu rächen.
 

Ich musste ihn wohl oder übel alleine lassen und machte mich auf den Weg zur Liga. Ich begab mich zum nächstgelegenen Pokémon-Center und durchsuchte meine PC-Boxen nach Pokémon, die ich mitnehmen wollte und die ich stark genug fand, um sie in den heutigen Kämpfen einzusetzen. Vielleicht erwartete mich ja mal wieder ein starker Trainer und meine Pokémon würden dieses Mal zum Einsatz kommen. Mein Kampfgeist war zurück und ich war motiviert, die anderen Mitglieder der Top 4 nicht zu enttäuschen. Ich würde ihnen zeigen, dass ich, trotz meines weit entfernten Wohnorts und meines Lebens mit N, immer noch ein motivierter Trainer war und nicht schwächelte, weil ich lange nicht mehr trainiert hatte. Ich suchte fünf Pokémon aus, dazu ein zusätzliches, das fliegen konnte, weil ich so schneller zur Siegesstraße kommen würde. Im Pokémon-Center der Liga legte ich es dann ab und wechselte es gegen ein starkes Pokémon aus.
 

Als ich die Eingangshalle betrat , warteten bereits Anissa und Kattlea und unterhielten sich. Ob sie auf mich gewartete hatten? Ich ahnte nichts Gutes, als ihr Blick auf mich fiel. Sie hatten eindeutig auf mich gewartet. »Wir müssen reden«, kam es sofort von Anissa. Kattlea hielt sich die Hand vor den Mund. Ich war nicht sicher, ob sie lachte und es zu verstecken versuchte, oder ob sie vor Müdigkeit gähnte, denn sie war oft sehr schläfrig. Ihre Augen verrieten nichts, sie sah wie immer ein wenig müde und gleichgültig aus. »Worum geht es denn?«, wollte ich wissen und ich sah mich um, denn Astor und Marshall schienen nicht in der Nähe zu sein. Ob es nur die beiden Mädchen betraf? Vermutlich hatte ich zu früh Angst gehabt, dass die beiden etwas bezüglich meines Verhaltens mit mir besprechen wollten. Vielleicht ging es ja um etwas völlig anderes. »Wo sind denn die beiden anderen?«, fragte ich.
 

»Die beiden Feiglinge? Die hatten keinen Mut mit dir zu reden, deshalb haben sie Kattlea und mich hierher geschickt«, erklärte Anissa und verschränkte die Arme. Es schien also wirklich um nichts Gutes zu gehen. Als Anissa meinen verwirrten Blick bemerkte, wurde ihre Miene noch finsterer und sie sah mich mit herablassendem Blick an. »Du bist mit Abstand der unzuverlässigste Champion aller Zeiten. Man kann dir einfach nicht vertrauen!«, schimpfte sie und Kattlea nickte, sagte jedoch nichts weiter dazu. Wie immer war sie schweigsam, war jedoch Anissas Meinung. Diese seufzte. Ich konnte ihr regelrecht ansehen, dass sie nicht wirklich böse, sondern auch besorgt war. »Wir meinen es nicht böse, aber... « Sie suchte nach den richtigen Worten. »Es ist eben deine Pflicht, dass du als Champion jeder Zeit bereit bist, herausgefordert zu werden. Du hättest schon vor einem Monat versprochen, dass du von nun an in der Pokémon-Liga bleiben wirst, damit du jederzeit bereit bist. Stattdessen wanderst du hin und her. Alles nur wegen deines Freundes... So geht das nicht weiter.«
 

»Als Champion habe ich doch auch meine Privilegien und... « Leider vielen mir keine vernünftigen Gegenargumente ein. Die Mädchen hatten Recht. Nur wegen N reiste ich zwischen der Liga und meiner Wohnung hin und her, anstatt einfach wie die anderen im Gebäude der Pokémon-Liga zu wohnen. Das war sicherlich kein gutes, richtiges Verhalten, wie es sich für einen Champion gehörte. Sogar die Arenaleiter waren jederzeit bereit und als Champion war ich um ein Vielfaches wichtiger. Ich war der angesehene, stärkste Trainer der Region und es war verständlich, dass meine ständige Abwesenheit und meine Faulheit und mein immer häufiger ausfallendes Training ein schlechtes Licht auf die gesamte Pokémon-Liga der Einall-Region warf. Aber ich versuchte dennoch, den beiden einzureden, dass die Situation nicht so schlimm war, wie sie dachten, denn ein wenig fürchtete ich mich vor Anissas bösen Blick und Kattlea war für mich noch immer eine unberechenbare Person. Ich musste sie besänftigen, denn immerhin hatte ich vor, mich zu bessern und ein guter Champion zu werden. »Ich meine, so viele Herausforderer können das doch nicht sein, oder?«, fragte ich.
 

Mit einem Handgriff klappte Anissa ein Buch auf und schrieb mit ihrem Füller, den sie schnell aus einer kleinen Tasche in ihrer Bluse zog, etwas auf eine der Seiten. »Das hier ist die Anzahl der Herausforderer, die, seitdem du wieder Champion bist, keinen Kampf gegen dich austragen konnten, weil du nicht da warst!« Dann hielt sie mir das Buch vor die Nase. Verblüfft starrte ich auf die Zahl, die sie hastig in das Buch geschrieben hatte. »Oh, das sind...« Ich staunte, da die Zahl höher war, als ich vermutet hatte. »Das sind eine Menge Trainer!«, gab ich zu und wurde rot, da ich meine Sache wohl noch schlechter machte, als ich es erwartet hatte. Ich war noch nicht lange wieder Champion und es war nett von Lilia gewesen, mir so viel Vertrauen entgegenzubringen. Anscheinend hatte ich ihr Vertrauen bereits enttäuscht und war eine Schande für alle Beteiligten. Wie sollte ich ihnen nur klar machen, dass ich mich von nun an ändern wollte?
 

»Wie zu erwarten, dass er es nicht versteht... « Kattlea gähnte in ihr Kissen, das sie zuvor einfach unter ihrem Arm getragen hatte, und meldete sich zu Wort, nachdem sie so lange still gewesen war und einfach nur zugehört hatte. »Lass es mich dir erklären, damit du es nachvollziehen kannst.« Sie rieb sich die Augen, begann dann jedoch mit sicherer Stimme zu erläutern: »Vor zwei Jahren, als du dein Starterpokémon erhalten hast und innerhalb eines Monats bis zum Champion aufgestiegen bist, hat sich Professor Esche aus Avenitia dazu entschieden, nach mehr potenziellen jungen Trainern zu suchen. Diese haben zwar nicht so enorm schnelle Fortschritte gemacht wie du, jedoch sind sie jetzt, nach zwei Jahren, fast alle stark genug, um die Top 4 herauszufordern.«
 

Ich verstand sofort, was Kattlea damit meinte. All die Trainer, die in den letzten zwei Jahren, in denen ich nur nach N gesucht hatte, ihre Pokémon-Reise begonnen hatten, wollten nun gegen uns kämpfen und ich musste stark genug sein, um ihnen standhalten zu können. Ich hatte bereits Mei und Kyouhei getroffen und wusste deshalb, dass in vielen von ihnen ein großes Potential schlummerte. Erst durch die Worte der beiden Mädchen wurde mir bewusst, dass ich mich viel zu lange auf meinem Erfolg ausgeruht hatte. Ich hatte zwar immer noch meinen Drachen, doch war ich mir nicht mehr sicher, ob dies alleine reichen würde, um gegen solche Trainer zu gewinnen. Nur ein schlechter Tag würde dazu führen, dass auch mein Drache besiegt werden würde. Die Scham über meine eigene Faulheit wurde immer größer. Ich musste so schnell wie möglich Taten folgen lassen, um wieder zu einem würdigen Champion zu werden.
 

Anissa blätterte in ihrem Notizbuch. »Aber das ist nicht alles«, fügte sie hinzu. Noch nicht alles? Ich konnte es kaum fassen, dass es noch mehr schlechte Nachrichten gab. »Dazu kommen alle anderen Trainer, die durch andere Umstände ihre Pokémon erhalten haben, und die Trainer mit Starterpokémon, die Professor Esche noch innerhalb dieser zwei Jahre verteilt hat. Nicht zu vergessen all die anderen armen Trainer, die schon seit Jahren die Top 4 herausfordern und so weiter... Verstehst du jetzt, wie groß die Konkurrenz ist?« Ich verstand sofort, was sie damit sagen wollte. Ohne weiter darauf zu warten, dass die beiden von sich aus die Forderung stellen würden, sagte ich es geradewegs heraus: »Das heißt, dass ihr wollt, dass ich hierher ziehe, damit ich Tag und Nacht bereit bin, um gegen all diese zahlreichen Trainer antreten zu können? «
 

Anissa nickte eifrig und Kattlea gab ein leicht gelangweilt klingendes Gähnen von sich. »Genau. Du musst damit rechnen, dass jeden Tag mindestens ein Trainer dich herausfordern will. Der Andrang ist so groß wie seit Jahren nicht mehr!« Anissas Augen strahlten, als sie die Worte nur aussprach. »Wir von der Top 4 leben für den Kampf! Sobald du dich richtig an dieses Leben gewöhnt hast, wirst du gar nicht mehr genug davon bekommen. Sobald du hier in der Pokémon-Liga wohnen wirst, wirst du erst zum richtigen Champion der Einall-Region. Glaub mir, sobald du hier bist, wird dein Kampfgeist erst richtig erblühen!« Ich spürte, dass die beiden trotz des Tadels es nicht böse mit mir meinten. Anscheinend wollten sie mich zu einem von ihnen machen und dafür sorgen, dass sie sich nicht mehr für meine Unzuverlässigkeit schämen mussten. Ich schämte mich selbst, dass ich meinen großen Traum so auf die leichte Schulter genommen hatte.
 

»Du bist der Stärkste der Pokémon-Liga, stärker als wir.« Kattlea rieb sich eine Müdigkeitsträne aus dem linken Auge. »Wir verlassen uns auf dich. Du darfst unser Vertrauen nicht enttäuschen. Du darfst das Vertrauen von Lilia nicht enttäuschen. Sie hat ihren Titel an dich zurückgegeben und du darfst nie vergessen, was sie wegen dir aufgegeben hat. Es war auch ihr Traum!« Da hatte Kattlea nicht ganz unrecht. Ich war bereits vor Jahren zum Champion der Einall-Liga geworden, doch ich hatte den Titel bereits ein paar Tage danach aufgegeben, um nach N zu suchen. Vermutlich war mein Verschwinden für Lilia die große Chance gewesen und sie war unheimlich glücklich gewesen, dass sie nur so doch zum Champion hatte werden können. Es war eine einmalige Chance gewesen und sie hatte sie sofort ergriffen. Nun hatte sie diesen Traum wieder aufgegeben, nur wegen mir. Nicht nur, dass ich keine Ahnung davon hatte, welche Verantwortung ich als Champion hatte, sondern auch Lilias Großzügigkeit, mir den Titel wiederzugeben, nachdem ich sie in einer Revanche besiegt hatte, waren Dinge, über die ich mir nie richtig Gedanken gemacht hatte. Ich hatte in letzter Zeit zu viel über N nachgedacht.
 

Ich hatte es schon fast vergessen und nicht mehr an Ns momentane Situation gedacht. Ob es ihm wohl immer noch so schlecht ging? Er hatte sich bis jetzt nicht gemeldet, doch ich war auch noch nicht lange fort. Ich konnte nur hoffen, dass er inzwischen eingeschlafen war und es ihm bald besser gehen würde. Vielleicht würde ich ihn sogar zu einem Arzt begleiten. Die beiden Mädchen merkten, dass ich wieder in Gedanken war, deshalb räusperte Kattlea und ich erschrak, als ich merkte, dass N mich schon wieder abgelenkt hatte. Selbst hier verfolgten die Gedanken an ihn mich immer noch. »Wir können nur hoffen, dass du eines Tages ein so großartiger Champion wirst, wie Lauro es war«, merkte Kattlea an. »Aber wir vertrauen dir. Du wirst das Richtige tun...« Sie klammerte sich an ihr Kissen und lächelte. Ich erwiderte das Lächeln so gut ich konnte. »In Ordnung. Ich werde darüber nachdenken, was ihr gesagt habt. Ich sage euch nachher Bescheid, aber ich werde auf jeden Fall noch einmal zurück nach Hause gehen, bevor ich hierbleibe... Einverstanden?«
 

Die beiden freuten sich über meine Antwort, denn sie spürten, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, hierher zu ziehen. Sofort, als sie verschwunden waren, klappte ich den Viso-Caster auf und rief N an. Es fühlte sich zwar falsch an, mich sofort nach ihm zu erkundigen, anstatt mir die Worte der Mädchen noch weiter durch den Kopf gehen zu lassen oder zu trainieren, aber er war krank und so war es eine Ausnahme. Ich würde mich nur kurz erkundigen und dann würde ich trainieren. Irgendwie ging er mir einfach nicht aus dem Kopf und ich musste die ganze Zeit daran denken, wie süß er am Abend zuvor gewesen war. Es dauerte ein wenig, bis er den Anruf annahm, vermutlich weil er erst mal aufstehen musste. Dann hörte ich ein Piepen – er hatte mich weggedrückt. »N! Geh doch dran, verdammt!«, fluchte ich, weil ich sofort wissen wollte, ob es ihm bereits besser ging, und rief ihn noch einmal an. Vielleicht hatte er aus Versehen aufgelegt. Doch wieder legte er einfach auf und ich fragte mich wirklich, was nur los war. Immerhin war es wichtig und ich machte mir Sorgen um ihn. Wieso drückte er meinen Anruf weg?
 

Plötzlich kam eine Textnachricht: »Was soll der Unsinn, Touya? Ich bin zu schwach zum Reden. Meinem Hals hat der gestrige Abend ziemlich geschadet. Das ist alles deine Schuld!« Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wieso gab N mir die Schuld für seine Heulattacke? Aber er hatte nicht ganz unrecht. Ich hatte es einfach zu weit getrieben. Wenigstens hatte ich nun ein Lebenszeichen von ihm, aber ich konnte nicht anders, als mir Sorgen zu machen. Vielleicht war ich ein wenig zu paranoid, doch jeder hätte diese Nachricht getippt haben können. Ich wollte seine Stimme hören, aber wenn es ihm wirklich so schlecht ging, konnte ich nichts machen. Im Nächsten Augenblick kam noch ein Nachtrag: »Wozu überhaupt Pokémon-Champion sein? Dass ich mich überhaupt mit dir abgebe, ist mir ein Rätsel! Das soll nicht heißen, dass ich will, dass du schnell nach Hause kommst und ich dich vermisse. Obwohl, vielleicht heißt das doch, dass ich dich vermisse, Touya ♥« Fieber und N war wohl keine gute Kombination. Der Mann drehte ja völlig am Rad. Seine Nachrichten ergaben schon fast gar keinen Sinn mehr. Aber ich gab mich damit zufrieden, denn dass er noch so viel tippen konnte, musste bedeuten, dass es ihm einigermaßen gut ging. Und das war eindeutig von N.
 

Ich ging durch die Eingangshalle und dann die große Treppe hinauf bis zum Raum des Champions. Schon komisch, dass ich das erste Mal hier gewesen war, nur um N zu besiegen. Und nun war ich Champion und sollte hier wohnen. Ich öffnete die große Tür zu dem Raum, in dem ich mich am meisten aufhielt. Der Raum war sehr groß und hinter ihm waren ein paar Türen zu einem Badezimmer und einem Schlafzimmer. Ich fragte mich, ob dieser Ort groß genug wäre, um mit N hier zu wohnen, aber das war er eindeutig nicht. In das Schlafzimmer passten gerade mal ein kleines Bett und sicherlich nicht mal alle meine Besitztümer von zu Hause. Wie sollte dann N mit mir hier wohnen? Wenn N hier wohnen sollte, dann müsste er seine ganzen Spielsachen weggeben, da hier nicht genug Platz dafür war. Auch das Badezimmer war sehr klein. Nur der Raum des Champions war besonders groß, da hier die Kämpfe um den Champion-Titel ausgetragen wurden und weil auch die größten Pokémon dort hineinpassen mussten, ohne an die Decke des Raumes zu stoßen oder etwas zu zerstören.. Aber zum Wohnen konnte man diesen Raum nicht nutzen, dafür war er nicht da. Das würde nur während der Kämpfe stören, wenn ich irgendwas in diesen Raum gebracht hätte.
 

Mir wurde klar, dass, sollte ich meine Pflichten als Champion voll und ganz erfüllen, N nicht mit mir hier leben konnte. Das Gebäude war so konstruiert, dass es gerade für eine Person reichte. Die Räume der anderen Mitglieder der Top 4 waren ähnlich konstruiert, auch, wenn Kattlea ihr Bett trotzdem in den Kampfraum gestellt hatte und Anissa ihre Bücher überall verteilt hatte. Die Kampfbereiche von Marshall und Astor waren ebenfalls nur für Pokémon-Kämpfe zu gebrauchen. Aber die Top 4 liebte den Kampf, deshalb war es ihnen egal. Es gab für sie nichts Größeres als Pokémon-Kämpfe. Sie machten sich nichts aus Menschen, auf die sie aufpassen müssten, denn ich war der Einzige mit einer solchen Aufgabe. Solche Sorgen gab es für sie gar nicht. Ich fragte mich allmählich, ob dies wirklich das Leben war, das ich führen wollte.
 

Ich hatte die Top 4 eigentlich nur herausgefordert, weil ich N aufhalten wollte. Ich hatte die Top 4 besiegen müssen, um ihn zu erreichen. Vielleicht wäre ich ohne N niemals bereit dazu gewesen. Vielleicht hätte ich es nie gewollt. Ich war einfach glücklich, wenn ich Pokémon trainieren konnte, und der Titel des Champions war ein weitentfernter Traum gewesen. Ich war immer sicher gewesen, dass Cheren diesen Titel tragen würde, und hatte mir eingeredet, dass ich es niemals wirklich hätte schaffen können. Es war einfach unglaublich, dass ich mithilfe von N wirklich so weit gekommen war und tatsächlich Champion wurde. Doch damals war es mir mehr um N gegangen. Ich war damals Champion geworden, weil ich zu N wollte. Und nun schien es so, als müsste ich ihn aufgeben, weil ich Champion war. Das war nicht fair. Ich konnte wohl nicht beides haben.
 

Ich wurde völlig aus den Gedanken gerissen, da sich plötzlich die Tür zu meinem Raum öffnete. Anscheinend war es ein neuer Herausforderer. »Touyaaa!«, hörte ich eine vertraute Stimme und ein braunhaariger Junge rannte sofort auf mich zu und fiel mir um den Hals. Ich war überrascht ihn hier zu sehen, denn es war schon lange her, dass wir uns das letzte Mal getroffen hatten. »Kyouhei, was machst du hier?«, fragte ich ihn überrascht. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich ihn hier wiedersehen würde. »Was soll ich denn schon hier machen? Natürlich will ich einen Pokémon-Kampf gegen den Champion!« Kyouhei hibbelte wild herum und schien voller Tatendrang hierhergekommen zu sein. War er etwa ohne Schwierigkeiten und die kleinsten Anstrengungen durch alle vier Mitglieder der Top 4 gekommen? »Bitte, nur einen Kampf! Einer reicht mir schon!«, bat er mich aufgeregt, als hätte er Angst, dass ich ablehnen könnte. »Was meinst du mit 'Bitte'?« Ich lächelte »Da du bis hier gekommen bist, steht dir ein Kampf zu... Also, lass uns anfangen!«
 

Wie ungewohnt es war, den Jungen wiederzutreffen. Ich hatte mich in letzter Zeit so viel mit meinen Problemen beschäftigt, dass es eine gelungene Abwechslung war, dass ausgerechnet er auftauchte. Kyouhei war wie immer gutgelaunt und ich hatte keine Ahnung, ob dies nur eine Fassade war oder ob er sich tatsächlich über die unspektakulärsten Kleinigkeiten auf dieser Welt so dermaßen freute. Aber was auch immer der Grund war, warum er ausgerechnet jetzt zu mir kam, ich war einverstanden mit dieser Situation. Ich würde ihn schnell besiegen und ein wenig Spaß würde es bestimmt auch noch machen.
 

»Ah! Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was Touya so draufhat, jetzt wo er wieder Champion ist!«, sagte Kyouhei und war aufgedreht wie immer. »Es ist so lange her, seit ich deine Pokemon das letzte Mal gesehen habe. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« »Übertreib nicht, Kyouhei.« Ich verdrehte die Augen, denn so lange her war unser letztes Treffen nun auch nicht. »Das war doch gerade erst vor einem Monat. So lange ist das nicht her.« »Aber da warst du noch nicht wieder offiziell Champion! «, jammerte der Junge. »Ich will gegen den Champion Touya kämpfen. Ich kann es kaum erwarten. Zeig mir alles, was du hast! Los, los, los!«
 

Kyouhei verhielt sich wie ein Fanboy. Vermutlich wirkte dieses Verhalten auf viele Menschen lästig, doch mir kam er seit den Ereignissen wie ein kleiner Bruder vor. »Ich kann nur hoffen, dass N keine falsche Entscheidung getroffen hat, als er dir damals seinen Drachen anvertraut hat«, neckte ich ihn, aber Kyouhei schüttelte nur den Kopf. »Auf keinen Fall. Aber trotzdem habe ich eine Bitte an dich, Touya.« Ich hatte keine Ahnung, was er jetzt schon wieder wollte. Aber ich war es ja von Kyouhei gewohnt, dass er immer mit irgendwelchen Überraschungen ankam. Obwohl ich ihn erst seit zwei Monaten kannte, war er mir sympathisch und ich würde wahrscheinlich ohnehin nicht ablehnen.
 

»Ich will unbedingt, dass wir die Drachen in diesem Kampf nicht einsetzen. Ich will wissen, wer von uns beiden der Stärkere ist. Es geht hier nicht um die Drachen, sondern um uns. Ich will wissen, ob ich stark genug geworden bin, um dich zu besiegen. Ich habe bereits Lilia besiegt, deshalb muss ich sichergehen!« Kyouhei wurde plötzlich ernst, fast verzweifelt. Er schien es mit seiner Bitte wirklich ernst zu meinen. Ich hob eine Augenbraue. »Und was ist, wenn ich der Bedingung nicht zustimme?«, fragte ich. Ich hatte meinen Drachen nicht einmal dabei, weil ich wusste, dass ich ihn nicht brauchen würde. Aber ich wollte wissen, was Kyouhei antworten würde. »Das ist egal. Ich werde meinen Drachen eh nicht einsetzen, Touya. Solltest du Zekrom benutzen und ich besiege dich trotzdem, zeigt das nur, dass ich selbst mit meinem normalen Team gegen deinen Drachen ankomme.« Kyouhei schien selbstbewusst. Ich sollte ihn lieber nicht unterschätzen.
 

»Wie bist du eigentlich so schnell durch die Top 4 bis hierher gekommen?«, fragte ich ihn verwundert. Es hatte mich vorher schon gewundert, dass er kurz nach meiner Ankunft sofort durch die Tür gestürmt war. Immerhin hatte ich gerade noch mit Anissa und Kattlea geredet und es war sehr ungewöhnlich, dass Kyouhei nun schon vor mir stand. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie diese Kämpfe abgelaufen sein könnten. »Ich habe mich gestern schon qualifiziert, aber du warst ja nicht da«, erklärte Kyouhei. »Deshalb durfte ich heute einfach direkt bis zu dir durchgehen. Ach ja und wie gesagt, ich habe die Top 4 ohnehin in der Vergangenheit schon geschlagen, vergiss das nicht!« Kyouhei war zwar jünger als ich, aber was ich an ihm bewunderte war, dass er, sobald er einen Kampf bestritt, plötzlich ernst und willensstark wurde. Das schien ein harter Kampf zu werden. Wir gingen auf unsere Positionen, die durch die Markierungen am Boden angezeigt wurden, und ich eröffnete den Kampf: »Dann zeig mir mal, was du draufhast und ob du wirklich gegen mich gewinnen kannst, Kyouhei.«
 

»Aber nehm' du bloß keine Rücksicht auf mich!« Mit diesen Worten schickte Kyouhei sein Flambirex in den Kampf. Sobald es aus seinem Pokéball befreit worden war, schossen sofort zwei Flammen aus seinen Nasenlöchern. »Dein treuer Starter, hm? Lass mich sehen, was er drauf hat!« , rief ich und befreite mein Admurai. »Das hier ist mein Starter. Ob deiner es wohl mit ihm aufnehmen kann?« Das Pokémon gab einen Kampfschrei von sich und stampfte auf den Boden. Ich besaß dieses Pokémon schon sehr lange und es hatte mir sehr in meinem Kampf gegen Team Plasma geholfen. Damals war es noch ein kleines Ottaro gewesen, doch es hatte sich so enorm schnell entwickelt, dass ich wirklich stolz auf seine Kräfte war. Auch, wenn das Flambirex von Kyouhei noch so stark wäre, würde er nicht gegen mein Admurai ankommen. Das war sicher.
 

»Wasser schlägt Feuer... Schon jetzt ist mir dein Pokémon vom Typ überlegen.« Kyouhei lachte. »Was für ein Glück für dich, Touya. Aber warte nur ab, es geht hier nicht nur um Stärken und Schwächen, sondern vor allem um die Stärke und Willenskraft, und davon hat mein Team mehr als genug!« Kyouhei war wirklich sehr überheblich, wenn es um seine Pokémon ging, doch es störte mich nicht. Immerhin wusste ich genau, dass er wirklich etwas auf dem Kasten hatte. Selbst N hatte mir ein paar Geschichten über ihn erzählt und darüber, dass Kyouhei selbst seinen Vater besiegt hatte. Es war eine Menge vorgefallen, bei dem ich zwar nicht dabei gewesen war, doch ich hörte immer davon, dass Kyouhei sich außerordentlich gut geschlagen hatte. Deshalb war mir bewusst, dass es nicht nur Sprüche waren. Ich wusste genau, dass er ein starker Trainer war, auch wenn es noch nicht entschieden war, ob er es wirklich mit mir aufnehmen könnte.
 

»Dann zeig mir, dass du nicht bloß Sprüche klopfen kannst! Zeig mir deine ganze Stärke, Kyouhei!« Mit diesen Worten begann der Kampf. Flambirex attackierte ohne Vorwarnung, und auch ohne dass Kyouhei einen Befehl geben musste, mein Admurai, doch durch die Typen-Schwäche nahm Admurai trotz des Überraschungsangriff, der selbst mich verblüffte, kaum Schaden, auch wenn Flambirex ein ernstzunehmender Gegner war. Es brachte Admurai wieder und wieder zu Fall und nutze seine ganze Stärke gegen mein Pokémon. Doch Admurais Verteidigung und seine Überlegenheit waren Flambirex Verhängnis. Alleine durchs Beobachten sah ich, dass diese Runde an mich gehen würde, auch wenn sein Pokémon sich noch so sehr anstrengte. Schon bald hatte es jede seiner Attacken mindestens einmal gezeigt und ich hatte genug Wissen darüber erlangt, in welchem Augenblick es besonders verwundbar war.
 

Ich schrie den Namen meines Pokémon und es wusste genau, was es zu tun hatte. Sofort schossen Wassermassen neben ihm aus dem Boden und es startete den Gegenangriff. Durch eine Kaskade-Attacke wurde Flambirex schwer verletzt und vor Kyouheis Füße geschleudert. »Flambirex!«, schrie Kyouhei, »Steh auf, ich weiß du kannst das!« Natürlich war das Pokémon noch nicht besiegt, doch ich sah genau, dass es bereits dermaßen mitgenommen aussah, weil es nicht gegen ein Wasserpokémon ankommen konnte. »Warum wechselst du nicht aus? Eine weitere Attacke reicht, um ihn zu besiegen.« Ich gab Admurai ein Zeichen und es machte sich bereit für den nächsten Angriff. Sobald Flambirex aufstehen würde, würde es ihn sofort wieder attackieren. Dieser Kampf würde ein Kinderspiel werden, sollte Kyouhei weiterhin nur auf seine Pokémon vertrauen und nicht auf die Schwächen achtgeben. »Niemals, ich...! Ich kann dich auch so besiegen. Meine Pokémon sind trotzdem stark genug und ich vertraue ihnen.« Als Flambirex diese Worte gehört hatte, regte es sich und stand langsam auf. »Oh mein Flambirex!«, freute sich Kyouhei. »Ich habe doch gesagt, dass es noch kämpfen kann.« Als Flambirex wieder auf den Beinen war, dauerte es nur wenige Sekunden, bis es schon voller Kampfkraft auf Admurai zustürmte und es in die Luft schmiss. Ich hatte nicht einen Augenblick Zeit, darauf zu reagieren und auch Admurai war so überrascht, dass es keine Zeit hatte, sich dagegen zu wehren. »Nein, das ist unmöglich!«

Ich war erstaunt, dass es immer noch kämpfen konnte und nun sein wahres Potential entfaltete. Jedes andere Feuer-Pokémon hatte Admurai immer mit einem Angriff besiegt.
 

»Manchmal muss man eben auch Risiken eingehen, um schwierige Situationen zu meistern!« Kyouheis Augen funkelten. »Los, Flambirex! Besiege Admurai mit deiner Durchbruch-Attacke!« Wie von seinem Trainer befohlen rannte Flambirex ein weiteres Mal los und war viel zu schnell, sodass mein Pokémon wieder keine Zeit hatte, ihm auszuweichen. Zwar konterte Admurai mit einer Wasserattacke, doch Flambirex war auf einmal außer sich, rannte einfach durch die Wassermassen hindurch und schlug auf Admurai ein, wobei es sogar den Boden um sie herum zertrümmerte. Admurai blieb am Boden liegen und gab nur noch ein Stöhnen von sich. Es war nicht mehr fähig, weiterzukämpfen.
 

»Ich muss sagen, dass ich wirklich beeindruckt von dir bin...« Mit diesen Worten rief ich mein Pokémon zurück. Mit diesem Flambirex war nicht zu spaßen. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich versuchte mich gelassen zu geben und ihm zu zeigen, dass Admurai nicht mein stärkstes Pokémon gewesen war. Doch innerlich zitterte ich ein wenig davor, dass auch Kyouhei noch stärkere Pokémon besaß. Zwar wollte er den Drachen von N nicht benutzen, doch es gab auch noch andere starke Arten und ich konnte nur hoffen, dass ich von nun an nicht im Nachteil sein würde. »Du solltest diesen Kampf von jetzt an ernst nehmen, Touya. Ansonsten bin ich nicht nur bald in Besitz des Drachen deines Freundes, sondern auch in Besitz deines Champion-Titels!«, freute sich Kyouhei und rief sein Pokémon ebenfalls zurück. Die letzte Attacke hatte dem Flambirex so zu schaffen gemacht, dass auch es völlig kaputt war. »Ich will sehen, was du noch so zu bieten hast.«
 

»Du willst also, dass ich diesmal zuerst das Pokémon wähle, so?« Das war nicht gut. Ein Pokémon von mir war bereits besiegt und egal, welches ich nun in den Kampf schicken würde, Kyouhei würde ein Pokémon wählen, das ihm überlegen wäre. Aber es brachte nichts, weiter darüber nachzudenken. Ich musste handeln. Ich wollte nicht sofort mein stärkstes Pokémon benutzen, deshalb rief ich mein Cerapendra in den Kampf. Es war ein besonders gefährliches Pokémon, das schon viele Gegner ohne Rücksicht besiegt hatte. Oft wurden die gegnerischen Pokémon durch seine rücksichtlosen und giftigen Angriffe sogar ohnmächtig. Damit sollte das doch zu schaffen sein, egal, was er für ein Pokémon er auswählen würde. Kyouhei wählte sein Morbitesse, das vom Typ her meinem Pokémon überlegen war. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass dieses Morbitesse kein besonders guter Kämpfer war und hoffte darauf, dass ich dennoch gewinnen würde.
 

Doch leider bewahrheitete sich meine Befürchtung. Mit Psychokinese verletzte Morbitesse mein Pokémon, dann verwirrte es Cerapendra auch noch mit Psystrahl. Ich schaffte es zwar, meinem Pokémon den Befehl zu geben, Morbitesse mit seinem Giftschweif zu vergiften, doch am Ende siegte das gegnerische Pokémon. Es ging so schnell, dass ich es kaum fassen konnte. Zuerst dieses Flambirex und nun ein Morbitesse, das meine Pokémon einfach so fertigmachte. Hatte ich überhaupt eine Chance gegen dieses mächtige Pokémon? Ich konnte es kaum fassen, dass Kyouhei überhaupt Pokémon mit einem solch hohen Angriff besaß. Es reichten schon so wenige Treffer, um meine Pokémon, die ich jahrelang trainiert hatte, einfach so zu besiegen.
 

Und so ging es weiter. Ich konnte fast gar nicht hinschauen, wie ein Pokémon nach dem anderen besiegt wurde, bis schließlich fünf Pokémon aus meinem Team keine Kraft mehr hatte. Bereits während des Kampfes war mir klargeworden, dass es auf ein solches Finale hinauslaufen würde. Ich hatte nur ein Pokémon in meinem Team und Kyouhei besaß noch zwei völlig gesunde Pokémon. Wie sollte ich ihn jetzt noch besiegen? Meine allerletzte Hoffnung war, dass Kyouhei nur noch zwei schwache Pokémon besaß und seine Trumpfkarte bereits ausgespielt hatte. Aber auch ich hatte noch ein relativ gutes Pokémon auf Lager, bis Kyouhei noch zwei Pokémon und ich nur noch eins übrig hatte. Es handelte sich um mein Zytomega, das ein beachtlich hohes Level erreicht hatte.
 

Zu meinem Glück schickte Kyouhei ein Skelabra in den Kampf. Zumindest dieses eine Pokémon, da war ich mir sicher, konnte ich ohne Probleme besiegen. Ich konnte nur hoffen, dass mein Pokémon auch dem verbliebenen Pokémon von Kyouhei überlegen sein würde. Was auch immer es war, ich war mir sicher, würde ich Skelabra schnell besiegen, dann würde ich vielleicht noch gewinnen können. Dann würde ich nicht alle enttäuschen müssen. »Das ist also dein letztes Pokémon... Enttäusch mich nicht, Touya!«, stichelte Kyouhei und sein Skelabra flog auf mein Zytomega zu. Zytomega wich ohne Probleme aus, flog hoch in die Luft und zielte mit seinem Konfustrahl auf Skelabra. Das Kronleuchter-ähnliche Pokémon geriet ins Wanken, konnte jedoch die Kontrolle behalten und flog erneut auf mein Pokémon zu. Es war ziemlich hartnäckig, doch ich war mir sicher, dass ich diese Runde gewinnen würde. Das Pokémon hatte keine Chance gegen meines. Endlich war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zeigen konnte, dass ich genug Kraft hatte, um Kyouhei zu besiegen. So schnell würde ich meinen Titel nicht verlieren.
 

Zytomega schoss seine Psychokinese-Wellen auf das Skelabra und ich war sicher, dass dies ausreichen würde, um es zu besiegen und zum eigentlichen Finale des Kampfes zu kommen. Doch Kyouhei schrie im gleichen Augenblick: »Jetzt!« Mit einem Mal flog sein Pokémon viel schneller als zuvor direkt auf mein Pokémon zu und verletzte es direkt mit seinem Körper. Geschockt sah ich zu, wie Zytomega zu Boden flog und sein geleeartiger Körper es sofort wieder in die Luft beförderte. Ich sah in seinem Blick, dass es genauso ratlos war wie ich. »Wie... wie ist das möglich? Was ist das für eine Attacke?«, fragte ich verwirrt. Ein Skelabra konnte so eine Attacke nicht einsetzen, da war ich mir sicher. »Und jetzt noch Nachtflut!«, rief Kyouhei und schwarze Wellen schossen aus der Flamme des Skelabras. Irgendwas stimmte nicht und ich hätte es mir denken können. Jetzt wurde mir klar, warum dieses Pokémon diese Attacken beherrschte.
 

Als Skelabra gerade wieder mein Pokémon direkt mit seinem Körper attackierte, erwischte Zytomega es mit einer Irrschlag-Attacke und meine Vermutung wurde bestätigt. Die Tarnung des Pokemon wurde aufgehoben und Zoroark kam zum Vorschein. Kyouhei begann zu schmunzeln. Nur wegen dieses Tricks hatte mein Zytomega viel zu viel Schaden genommen. Ich wusste jetzt zwar, dass das letzte Pokémon in seinem Team ein Skelabra war, doch nun musste ich erst mal dieses Zoroark besiegen und ich war mir nicht sicher, ob der Sieg nun noch immer so gewiss wäre. »Erinnerst du dich noch an ihn? Dieses Pokemon hat ebenfalls damals N gehört. Ich glaube kaum, dass du es besiegen kannst. N hat seine Pokémon ziemlich gut trainiert und es ist durch mich noch stärker geworden«, meinte Kyouhei.
 

War dies also schon das Ende meines Traumes? Nein, ich konnte es noch schaffen. Ich musste nur daran glauben, denn ich wusste, wie stark meine Pokémon immer waren. Es war unmöglich, dass Kyouheis gesamtes Team mir überlegen war. Ich musste einfach genau so viel Vertrauen in mein letztes Pokémon haben, wie Kyouhei seinen Pokémon vertraute. Er glaubte an ihre Kraft und deshalb war er mir nun überlegen. Doch ich war bereit, ihm zu zeigen, dass auch ich noch nicht aufgegeben hatte. Es ging um meinen Titel als Champion und dies sollte der Tag des Neuanfangs sein. Ich würde nicht verlieren, sondern endlich ein würdiger Champion sein.
 

Ich wurde völlig überrascht, als plötzlich mein Viso-Caster klingelte. »Wieso ausgerechnet gerade jetzt?«, fluchte ich und sah auf den Bildschirm. Kyouhei grinste und sein Zoroark rührte sich nicht. Es schien mein Zytomega zu verspotten und darauf zu warten, dass ich nachgeschaut hatte, wer mich ausgerechnet jetzt anrufen musste. »Verflucht!« Es machte mich unheimlich wütend, dass ich genau in diesem Augenblick einen Anruf bekam. Aber dann sah ich, es war nicht mal ein Anruf, sondern eine Textnachricht.
 

»Komm nach Hause!«
 

N?
 

»Du solltest dich lieber auf den Kampf konzentrieren, anstatt deine Nachrichten zu lesen! Los Zoroark, greif Zytomega an und bring diesen Kampf endgültig zu Ende!«, schrie Kyouhei und sein Zoroark sprang sofort auf Zytomega zu. Es war bereit, den Kampf sofort zu beenden. Aber nein, so durfte es nicht enden. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich jetzt konzentrieren! »Zytomega, du kannst es schaffen! Setz Psychokinese ein!«, befahl ich, obwohl ich wusste, dass mein Pokémon Zoroark unterlegen war. Verdammt, warum musste er auch nur dieses Pokémon im Team haben? Und dann auch noch das Zoroark von N.
 

N... Ob mit ihm alles in Ordnung war? Diese Nachricht machte mir dermaßen Sorgen. Was hatte er nur damit gemeint? Ich malte mir aus, wie er zusammengebrochen war und auf meine Hilfe wartete. Oder war er vielleicht einfach nur einsam? Alles Mögliche hätte Grund für diese Nachricht sein können. Warum musste ich ausgerechnet jetzt an ihn denken? Es ging doch um meinen Titel. Warum konnte ich mich nicht konzentrieren?
 

Ich war so in Gedanken, dass ich gerade noch sah, wie mein Pokémon von Zoroark zu Boden geworfen wurde und die Krallen des Fuchses die empfindliche Hülle meines Pokémon zerkratzte. Zytomega hatte keine Chance. Zoroark war viel zu stark, es war übernatürlich stark. Es war noch viel stärker als damals, als ich es das erste Mal bekämpft hatte. »Zytomega...!« Ich konnte nicht zusehen. Es war dabei zu verlieren, es konnte nichts gegen das Unlicht-Pokémon ausrichten. Und dann waren da noch diese anderen Gedanken. Nein, ich durfte mich nicht von der Nachricht von N ablenken lassen. Es ging ihm gut, Zytomega brauchte jetzt meine Hilfe! Warum machten die Gedanken an N alles so kompliziert? Warum konnte er nicht wenigstens jetzt aus meinem Kopf gehen? Und wenn er in Gefahr war?
 

»Zytomega, setz Schutzschild ein!«, schrie ich und eine glänzende Wand erschien zwischen Zoroark und Zytomega. So hatte ich wenigstens kurz Zeit, um nachzudenken. Aber mir ging immer nur der eine Satz durch den Kopf. »Komm nach Hause.« War mit N alles okay? War ihm irgendwas Schlimmes passiert? Ich konnte nicht klar denken, aber es war unglaublich wichtig, dass ich jetzt klar dachte. Ich musste für mein Pokémon da sein. Ein Trainer, der nicht auf den Kampf achtete, brachte ihm nichts. Ich war dafür verantwortlich, dass es selbst in dieser Situation an sich glauben konnte. »Zytomega... du schaffst das, ich glaube an dich! Du bist die letzte Hoffnung unseres Teams! Benutze Donnerschlag, um Zoroark zu verletzen!«
 

Sofort mobilisierte Zytomega seine Kräfte und ein gelber Strahl kam aus meinem Körper. Zoroark wollte ausweichen, doch es stand zu nah an Zytomega und wurde deshalb schwer vom Donnerstrahl, der von Zytomega ausging, getroffen. Es wurde durch die Wucht der Attacke bis hinter seinen Trainer geschleudert und ein paar Stromstöße gingen einige Sekunden nach der Attacke noch durch seinen Körper. »Zoroark!«, schrie Kyouhei in Panik und rannte zu seinem Pokemon. »Bist du in Ordnung?« Zoroark begann zu knurren und stand langsam auf, immer noch geschwächt durch die Elektro-Attacke. Aber das war nicht genug gewesen, um es zu besiegen.
 

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie Recht die Mädchen doch gehabt hatten. Ich hatte, seit ich Champion geworden war, nicht einmal trainiert und die Kämpfe bis jetzt waren ein Kinderspiel gewesen. Aber in einem richtigen Kampf, in dem sechs gegen sechs Pokémon kämpften, musste ich immer mein Bestes geben. Der eine Monat, in dem ich kaum mehr gekämpft hatte, rächte sich. Ich war nicht mit Herzblut bei der Sache gewesen. All die Kraft, die ich gehabt hatte, hatte ich nur noch in N gesteckt. Und selbst in dieser Situation machte ich mir mehr Sorgen um ihn als um mich. Ich konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Sobald dieser Kampf zu Ende war und egal, wie es ausgehen würde, ich würde sofort zu ihm zurückkehren und nach ihm sehen.
 

»Und nun wird das Pokémon deines Freundes dich besiegen, Touya!«, rief Kyouhei und gab Zoroark ein Zeichen, wodurch dieses losstürmte und sich wieder auf Zytomega stürzte. Ich befahl meinem Pokémon, den Gegner mit Psychokinese anzugreifen, doch Zoroark sprang durch die Wellen hindurch, nahm nur minimalen Schaden und griff Zytomega mit einer Biss-Attacke an. Anschließend schleuderte es mein Pokémon aus der Arena. »Das darf nicht wahr sein...« Schockiert sah ich zu, wie Zytomega auf den Boden aufschlug, völlig regungslos und nicht mehr dazu fähig weiterzukämpfen. »Es kann nicht... verloren haben...«
 

»Ich habe es geschafft!« Kyouhei rannte auf Zoroark zu und umarmte es. »Ich danke dir so sehr, Zoroark! Wir haben gewonnen!« Triumphierend umarmte Kyouhei sein Pokémon und beide hüpften glücklich auf und ab. Langsam ging ich auf mein besiegtes Pokémon zu und rief es zurück in seinen Pokéball. Es war so schnell zu Ende gewesen. »Das war's, du hast gewonnen, Kyouhei. Ich gratuliere dir.« Betrübt sah ich zu ihm. Ich konnte mich nicht für ihn freuen. Ich war zu sehr mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt. Wie konnte ich nur so schnell besiegt werden? Ich fühlte mich unnütz und nicht mehr würdig der Champion zu sein. Es war gut gewesen, dass Kyouhei hierhergekommen war. Er hatte den Titel mehr verdient als ich.
 

»Ich hoffe wirklich, dass du deine Lektion daraus gelernt hat.« Erschrocken drehte ich mich um, als ich die helle Stimme hinter mir wahrnahm. Anissa stand im Türrahmen und hielt ihr Notizbuch in der Hand. »Hast du jetzt eingesehen, dass Champion-Sein keine halbherzige Sache ist?« Was meinte sie damit? Gab es etwa etwas, wovon ich nichts wusste, oder warum hatte sie uns anscheinend die ganze Zeit beobachtet? »Was hat das zu bedeuten, Anissa?« , wollte ich wissen und sie schlug ihr Heft zu. »Ganz einfach. Wir haben Kyouhei extra zu dir geschickt, um dir zu zeigen, was passiert, wenn du weiterhin ein halbherziger Champion bist. Natürlich war dies kein offizieller Kampf, denn Kyouhei hat die Top 4 nicht besiegt, aber zumindest hat dir dieser Kampf gezeigt, wie schnell du deinen Titel verlieren kannst!«
 

»Wie bitte...? Das war abgesprochen?« Ich sah schockiert zu Kyouhei und er nickte. Beschämt sah er zu Boden, als er spürte, dass ich es ihm übel nahm. All dies war also nur ein Schauspiel gewesen. Waren dies überhaupt seine echten Pokémon gewesen oder hatten sie ihm extra zu einem besonders starken Team verholfen? Anscheinend steckte die ganze Top 4 mit drin. »Es tut mir so leid«, jammerte Kyouhei. »Ich habe gelogen. Ich habe die Top 4 nicht besiegt, sondern sie haben mich zu dir geschickt. Bitte sei mir nicht böse! Anissa hat mich... gezwungen. Sie kann sehr gruselig sein, also habe ich zugestimmt. Aber auch nur, weil sie mir versicherte, dass dies nur zu deinem Besten ist...«
 

Nun betrat auch Astor den Raum und stellte sich neben Anissa. Überrascht sah er sich um und als er bemerkte, dass der Kampf bereits zu Ende war, zuckte er mit den Schultern. »Oh, also schon zu Ende. Sehr schade, ich hätte auch gerne was von der Show miterlebt.« Anissa lachte: »Du hast nicht viel verpasst. Kyouhei hat Touya ohne Probleme besiegt. Das war kein spannender Kampf!«
 

Wie bitte? Sollte das alles ein Witz sein? Wie konnten die Mitglieder der Top 4 es nur wagen sich so über mich lustig zu machen? »Hört sofort auf damit!« , befahl ich und wurde langsam ziemlich sauer. Ich hatte in den letzten Minuten solche Angst um meinen Titel gehabt und nun sollte all dies nur ein Witz sein. Eine abgemachte Sache, um mir eins reinzuwürgen. Inzwischen bereute ich es nicht mehr, dass ich mich mehr um N kümmerte. Bei ihm war ich wenigstens sicher, dass er sich niemals so etwas erlauben würde. Ihm konnte ich vertrauen, meinen Partnern in der Liga anscheinend eher weniger. »Ich habe genug hiervon. Ich habe jetzt verstanden, dass ich meinen Titel auf die leichte Schulter genommen habe und dass ich ohne die Kraft meines Drachens ausgeliefert bin. Das war es, was ihr mir zeigen wolltet, nicht wahr?«
 

»Die Wahrheit ist, wir wollen dir helfen«, erklärte Astor. »Also, glaub uns bitte, dass dies hier nur zu deinem Besten ist. Stell dir vor, dies wäre ein offizieller Kampf gewesen! Du hättest ihn haushoch verloren und das Kind dort wäre nun der neue Champion. Nun ja, nicht, dass wir nicht schon mal ein Kind als Boss hatten... Du weißt, was wir dir damit sagen wollen, Touya.« »Auf jeden Fall merkt hier jeder von uns, Touya, dass es anscheinend etwas gibt, das dir sehr wichtig ist und das ich bedrückt. Du solltest langsam eine Entscheidung treffen, was dir wichtiger ist. Der Titel des Champions oder was auch immer das andere ist, das dir solche Sorgen bereitet und dich selbst während eines Pokémonkampfes ablenkt!«, erklärte Anissa. »Das ist nicht gut. Du musst endlich die Entscheidung treffen, dass dir der Kampf wichtiger ist als alles andere! Fälle deine Entscheidung, auch wenn es dir schwerfällt!«
 

»Wie dem auch sei, ich habe tatsächlich eine Entscheidung getroffen!« Ich sah zu Kyouhei. Es war die Wahrheit. Ich hatte wirklich eine Entscheidung getroffen und mir durch den Kopf gehen lassen, was mir wichtiger war. Ich musste bloß dazwischen wählen, ob ich lieber bei N wäre oder weiterhin mit dem Titel des Champion kämpfen würde und mit aller Macht versuchen würde, ihn weiterhin zu verteidigen. Nach den Erkenntnissen an diesem Tag war dies wirklich keine schwere Entscheidung. »Ich habe mich entschieden. Nämlich, dass ich nicht als Champion geeignet bin. Ich denke, auch wenn dieser Kampf nicht offiziell war, sollte von nun an Kyouhei den Titel tragen.«
 

Kyouhei erschrak. »Aber Touya!«, flehte er. »Das kannst du nicht ernst meinen! Es war nur ein Test! Mit deinem Drachen hättest du mich sofort besiegt...! Bitte, gib deinen Titel nicht einfach so auf! Das kannst du doch nicht tun. Du bist doch mein Idol....«
 

Aber ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich war inzwischen wirklich nur noch glücklich, solange ich bei N war. Er hatte mich meine ganze Reise lang begleitet und irgendwie angetrieben, auch wenn wir zunächst Feinde gewesen waren. Ich war gerne bei ihm und ohne ihn fühlten sich die Kämpfe anders an. Es war, als wäre mein Kampfgeist längst erloschen. Zwar war der Titel des Champions immer das Größte für mich, doch ich war inzwischen älter geworden und ich war vernünftig genug, einzusehen, dass selbst Kyouhei stärker war als ich. Ich wollte nicht in der ständigen Angst leben, den Titel jederzeit zu verlieren. Stattdessen wäre es das Beste, für N da zu sein und ihn zu beschützen. Diese Aufgabe war mir inzwischen wichtiger als alles andere. Vor allem jetzt, wo ich wusste, dass ich zwar ihn hatte besiegen können, es jedoch noch andere starke Gegner gab.
 

»Der heutige Tag hat mir gezeigt, dass es in meinem Leben etwas Wichtigeres gibt, als der stärkste der Einall-Region zu sein. Das Leben als Champion wird mich niemals glücklich machen. Es gibt noch so viele Dinge, die ich machen will. Und es gibt so viele Menschen, die mir wichtig sind. Ich will nicht jeden Tag nur kämpfen und ich will nicht kämpfen nur um meinen Titel zu verteidigen, sondern weil es mir Spaß macht. Aber ich habe den Spaß am Kampf schon vor einiger Zeit verloren, weil es im Moment wichtigere Dinge in meinem Leben gibt« gab Touya zu. Kyouhei war viel ambitionierter als er. Es war richtig, den Titel an ihn weiterzugeben.
 

Doch Kyouhei war außer sich, »Wie kannst du deinen Titel einfach so wegwerfen? Ich habe zu dir aufgesehen! Wie kann der Champion so wenig Wert auf seinen Titel legen? Wenn du so einfach aufgeben willst, dann bist du es nicht mal würdig, dich überhaupt als Champion zu bezeichnen!« »Genau deshalb bist du viel besser als Champion geeignet als ich, Kyouhei«, ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Pokémon-Kämpfe sind für dich das Größte. Ich habe nur gekämpft, weil ich einem Freund helfen wollte und jetzt, wo ich alles erreicht habe, was ich wollte, will ich bei diesem Freund sein und für ihn da sein. Ich habe keinen Grund mehr, weshalb ich jetzt noch kämpfen sollte, jetzt, wo er in Sicherheit ist. Ich will nur noch für ihn da sein. Ich habe keinen Grund mehr, zu kämpfen.«
 

»Touya...«
 

»Tut mir leid, Kyouhei.«
 

»Dann soll es so sein!«, verkündete Astor. »Also trittst du von deinem Posten als Champion zurück und überlässt diese Aufgabe von nun an dem Herausforderer, der dich gerade besiegt hat?« Ich nickte. Die Entscheidung war bereits gefällt und ich wusste genau, dass es das Richtige war. »Ich habe so viele andere Träume« , murmelte ich. »Das hier ist nicht meine Welt. Es gibt so viele andere Trainer, die das hier so viel mehr lieben als ich. Ich liebe Pokémon zwar, doch ich bin das Kämpfen leid. Natürlich ist der Titel des Champions das Größte, was man in ganz Einall erreichen kann... Doch...« Langsam zweifelte ich daran, ob ich nicht zu voreilig gewesen war. Aber nein, es war richtig so. Es war das Beste für N und für mich.
 

»Ich werde allen Bescheid sagen.« Anissa klappte ihr Heft auf und begann etwas hineinzuschreiben. »Alle sollen sich hier versammeln. Ich werde zu Kattlea und Marshall gehen und ihnen die Nachricht überbringen. Touya, wenn das wirklich deine Entscheidung ist, dann... können wir dich nicht aufhalten. Du weißt, was das Beste für dich ist.« »Es ist in Ordnung. Es ist das Beste für meinen Freund. Ich bin es ihm schuldig. Ich tue das Richtige für ihn und für mich«, versicherte ich, dann drehte ich mich wieder zu Kyouhei. »Als ich dein Zoroark sah, wurde es mir klar. Das Pokémon ist nur so stark geworden, weil es mit meinem Freund aufgewachsen ist. Er ist etwas ganz Besonderes und er bedeutet mir mehr alles andere hier. Deshalb muss ich gehen und für ihn da sein. Er hat so viel für andere getan. Selbst dich hat er gerettet. Ich denke, ich sollte für ihn da sein und derjenige sein, der ihm hilft.« Kyouhei schien gerührt zu sein. Er sah zu Zoroark hinüber und dieses nickte ihm zu. »Ich werde dich nicht enttäuschen und deine Aufgabe übernehmen. Du wirst stolz auf mich sein!«, versicherte Kyouhei mir. Er verstand genau, wovon ich sprach. »Ich bin jetzt schon stolz auf dich, Kyouhei«, antwortete ich.
 

Was danach geschah, bekam ich kaum noch mit. Ich wollte es nicht mitbekommen.
 

Ich bemerkte, wie ich mich immer weiter verschloss, und als ich abends nach Hause zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, als wären alle Ereignisse des heutigen Tages bereits über eine Woche her, wenn nicht sogar länger. Wie konnte ich nur so leichtfertig mit meinem Titel umgehen? Es machte mich krank, nur daran zu denken. Aber ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Ich war immerhin einfach nicht für den Titel geschaffen. Ich hatte ihn doch schon einmal aufgegeben und das aus gutem Grund. Nun konnte ich endlich für N da sein. Ich musste eben eine wichtige Sache aufgeben, wenn ich nicht beides haben konnte und mir beides so wichtig war wie sonst nichts. Aber N war mir wichtiger und ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Vor allem jetzt, wo wir ein Paar waren und ich ihn so liebgewonnen hatte, wollte ich ihn nicht mehr verlassen.
 

Als ich die Haustür öffnete, sah ich ihn auf der Couch liegen, wie immer mit einem Buch in der Hand. »Oh, schon zurück?«, fragte er beiläufig, während er etwas las, das er vermutlich schon tausend Mal durchhatte. Ich sah N nie neue Bücher kaufen. Aber solange es ihm gefiel und er glücklich war, war auch ich glücklich. Anscheinend liebte ich ihn inzwischen wirklich sehr. Das Einzige, was mich verwunderte, war, dass er überhaupt nicht mehr schlecht aussah. »N, was... Dir geht es ja richtig gut«, murmelte ich, als ich sah, wie munter er in seinem Buch blätterte. »Ich würde es nicht als gut bezeichnen, aber ja. Schlecht gehen tut es mir nicht«, erklärte er ein wenig desinteressiert. Ich setzte mich neben ihn auf die Couch. Ich wollte so viel mit ihm besprechen und ihm von meiner Entscheidung erzählen. Ich brauchte nun jemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Aber erst mal wollte ich wissen, warum es ihm wieder so gut ging. Irgendwas stimmte da nicht.
 

»N... Es geht dir also schon besser als heute Morgen?«, fragte ich und betrachtete ihn. Er sah kein wenig krank aus. »Das kann doch nicht wahr sein, dass du schon wieder so munter bist.« »Aber wieso denn nicht?«, fragte N und sah mich dann erwartungsvoll an. »Werden wir jetzt endlich das Date haben, nach dem ich dich gestern gefragt habe? Immerhin bist du heute so früh zu Hause, dass wir noch etwas essen gehen können!« Er schien sich zu freuen, dass ich so früh zu Hause war. Doch ich wusste nicht, was ich denken sollte. Mir ging so viel durch den Kopf. »N, ich weiß nicht, ob du es weißt, aber es ist ziemlich ungewöhnlich, innerhalb eines Tages wieder vollständig gesund zu sein «, murmelte ich und sah ihn besorgt an. »Kann es sein, dass du... Kann es sein, dass du simuliert hast?«
 

N sah mich überrascht an. »Oh, ich... Ich dachte, das wäre inzwischen klar. Natürlich habe ich simuliert. Ich hatte heute Morgen nicht im geringsten Lust, schon wieder einen Tag ohne dich zu verbringen. Ohne dich ist es einfach langweilig und du weißt doch, dass mich andere Menschen nicht besonders interessieren« , erklärte er beiläufig und las dann weiter auf der Seite vor ihm. »Touya, du weißt, dass du mir so wichtig bist, dass ich wünschte, du würdest gar nicht mehr zur Pokémon-Liga müssen. Ich wünschte, du wärst immer bei mir. Ich liebe d - « Er wurde unterbrochen, denn ohne Vorwarnung griff ich nach dem Buch und nahm es ihm weg. »Hey!«, protestierte er. »Was ist denn in dich gefahren, Touya? Das ist mein Eigentum. Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung dafür!«
 

»Und gestern Abend... Hast du da auch nur simuliert, um deinen Willen zu kriegen, N?« Ich war völlig außer mir. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass ich der Bösewicht wäre und N in eine für ihn völlig unangenehme Situation gebracht hatte. Doch anscheinend war es genau das Gegenteil. »Nein! Natürlich nicht!«, schrie er und sprang auf. »Was gestern Abend passiert ist, ist die Wahrheit. Warum sollte ich sowas vorspielen? Ich habe immerhin geweint. Glaubst du, ich würde mich freiwillig so vor jemandem zeigen?« N sah verzweifelt aus, doch ich war mir nicht mehr sicher, ob ich ihm glauben sollte. Ihm schien ebenfalls inzwischen klar zu sein, dass ich wirklich sauer auf ihn war.
 

»Und deine Textnachricht, ich solle nach Hause kommen? Hast du die auch nur geschrieben, weil dir langweilig war?«, fragte ich ihn ernst und N wich meinem Blick aus. Er schien endgültig zu begreifen, dass er etwas Falsches gemacht hatte. Vermutlich hatte er als König immer den Verletzlichen gespielt, damit sein Vater ihm alles gab, was er wollte und er seinen Willen durchsetzen konnte. Ob das einfach seine Masche war? Er spürte selbst, dass es falsch war, diese Masche bei mir abzuziehen. Er hatte einen Fehler gemacht. »Ich habe dich eben vermisst, Touya. Du bist mir seit gestern Abend so unglaublich wichtig -«
 

»Ich kann es nicht fassen, N!«, schrie ich ihn an und musste mich beherrschen, ihm keine Ohrfeige zu geben. »Wie kannst du nur etwas so außerordentlich Dummes machen? Ausgerechnet du, N!« Sonst war N klug und ich kannte niemanden, der so schlau war wie er. Doch in dieser Hinsicht verhielt er sich gerade so tollpatschig, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. »Du verstehst das gerade völlig falsch!«, protestierte er und rannte mir hinterher, als ich mit seinem Buch in der Hand Richtung Küche ging. »Ich habe nur heute Morgen simuliert, das schwöre ich! Wie hätte ich das denn gestern Abend schauspielern können? Touya, jetzt hör mir doch zu!«
 

Verwirrt sah N zu, wie ich das Buch wütend auf den Boden schmiss und meine Verärgerung nicht weiter zurückhalten konnte. »N. Es geht nicht um gestern Abend oder heute Morgen. Es geht darum, dass du mir eine verdammte Nachricht geschickt hast, dass ich nach Hause kommen soll und ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht habe. Jetzt erfahre ich, dass all dies nur gespielt war... Aber jetzt macht das nichts mehr, denn jetzt habe ich meinen Titel schon aufgegeben, weil ich deinetwegen einen sehr wichtigen Kampf verloren habe. Weil ich mich um dich gesorgt habe!« , schrie ich ihn an und N zuckte mit den Schultern. »Es war nur ein Pokémon-Kampf«, merkte er an. »Sowas braucht doch eh niemand. Es schadet doch nur den Pokémon. Ich bin froh, dass du deinen Titel aufgegeben hast.«
 

Er wollte mir gerade um den Hals fallen, doch ich stieß ihn von mir. Er schien nicht zu verstehen, dass ich keine Lust hatte, mich weiter mit ihm zu beschäftigen. Er verstand wohl nicht einmal, wie wichtig mir dieser Titel gewesen war. Wieso konnte ausgerechnet N nicht nachvollziehen, dass der Titel des Champions immer mein Traum gewesen war? Und nur, weil ich ihn nicht aus meinem Kopf gekriegt hatte, hatte ich nun verloren. Es war ganz allein seine Schuld, dass ich verloren hatte. »Was soll das, Touya? Warum rennst du vor mir weg?«, fragte N verwirrt, als ich ihn wieder zur Seite schob und an ihm vorbei stapfte.
 

»Ich will dich nicht mehr sehen!«, schrie ich, als ich die Treppe hinauf rannte und meine Zimmertür hinter mir schloss. Ich bereute es nicht, sie im gleichen Augenblick abzuschließen, denn einige Sekunden später hörte ich schon, wie N von außen versuchte, die Tür zu öffnen. Er schien wirklich verzweifelt zu sein, doch ich war mir nicht sicher, ob dies auch wieder nur geschauspielert war. Und gestern Abend? Langsam wusste ich wirklich nicht mehr, was ich glauben sollte. Was waren Ns wahre Gefühle und was spielte er nur vor, um mich rumzukriegen? War er wirklich so unschuldig, wie er vorgegeben hatte? Oder war das einfach seine Art, mich dazu zu bringen, bei ihm zu sein? Anscheinend schien es bestens zu funktionieren.
 

»Bitte, Touya! Sei nicht sauer auf mich! Ich habe doch nur dich!«, flehte er, doch ich schüttelte den Kopf. Ich hatte die ganze Zeit schon das Gefühl gehabt, dass ich bei diesem Mann aufpassen müsste. Er war eben zu eigenartig. Er war teilweise nicht einmal menschlich. Dafür wusste er viel zu wenig über Menschen. Ich konnte bis jetzt darüber hinwegsehen, doch ich wusste bislang auch nicht, dass er so merkwürdig war. Er hatte sich mir gegenüber bis jetzt immer höflich und normal verhalten. Geschichten darüber, dass er gruselig wäre und dass man ihn unheimlich schwer verstehen könne, kannte ich nur von anderen. Wir hatten zwar auch bis gestern ein paar Differenzen gehabt, doch das war etwas, worüber ich hatte hinwegsehen können. Nur, weil er distanziert war, war das kein Grund gewesen, ihn zu verurteilen.
 

»Ich habe es wirklich nicht so gemeint. Ich habe dich doch nur vermisst. Tut mir so leid, Touya...«, hörte ich seine Stimme durch die Tür und seufzend stand ich auf, um sie doch aufzuschließen. Ich konnte die Verzweiflung in Ns Gesicht regelrecht sehen. Außerdem würde er eh nicht aufgeben, weil er eben dickköpfig war. Als ich genau vor ihm stand, sah er mich wirklich verzweifelt an und schien zu hoffen, dass ich ihm irgendwie vergeben würde.
 

Ich hatte an diesem Tag bereits eine wichtige Entscheidung gefällt. Es war unüberlegt gewesen und vielleicht hätte ich länger darüber nachdenken sollen. Vielleicht war ich einfach zu nett zu N und wenn ich ehrlich war, kannte ich ihn wirklich nicht. Bis heute Morgen war noch alles in Ordnung gewesen. Aber viele Leute hatten mich bereits davor gewarnt, ich sollte ihm nicht zu nah kommen. Selbst meine Freunde meinten, obwohl sie es einigermaßen akzeptierten, dass er bei mir wohnte, dass ich bei ihm vorsichtig sein sollte. Anscheinend hatten sie die ganze Zeit über recht gehabt. N war gefährlich für mich. »Es gibt nur eine Lösung«, meinte ich und starrte ihn ernst an. »Du hast mir gesagt, wenn es nicht funktioniert, dann kann ich unsere Beziehung wieder beenden, nicht wahr?« »Was?« N erschrak. Er wusste sofort, worauf ich hinauswollte.
 

»Pokémon-Champion zu werden war immer mein Traum und jetzt habe ich es zweimal wegen dir aufgegeben. Denkst du, dass ich diesen Titel jemals wieder zurückbekommen werde? Aber das scheint dich ja nicht mal zu interessieren. Du siehst in mir nur das, was du sehen willst. Solange ich für dich da bin und mich um dich kümmere, bist du zufrieden, nicht wahr?« Ich konnte sehen, wie sehr N meine Worte zu schaffen machten, doch ich konnte jetzt nicht aufhören. Ich war einfach zu sauer auf ihn. Ich hatte meinen Titel für ihn aufgegeben. Meinen Titel als Champion! Und es interessierte ihn nicht einmal!
 

»Du bist eben doch noch der selbstsüchtige König von damals, auch wenn ich mir eingebildet hatte, das wäre alles nur eine Fassade gewesen. Ich bin nicht stark genug, um dir zu helfen, N. Ich kann es nicht. Nicht, wenn dabei meine Träume kaputt gehen.« »Aber was willst du damit sagen? Willst du mich etwa einfach aufgeben? Nach alldem, was wir gemeinsam durchgemacht haben?«, fragte er verzweifelt und ich schüttelte den Kopf. »Nein, N. Dafür bist du mir viel zu wichtig. Ich würde dich niemals aufgeben. Aber unsere Beziehung schon.«
 

»Das kann nicht dein Ernst sein!« Ich konnte die Panik in Ns Stimme regelrecht hören. »Touya, ich habe doch nur dich! Ich liebe dich! Du kannst nicht ernsthaft... Oh... Nein, nein nein nein!« Sofort hielt sich N die Hand vor sein Gesicht. Ich war selbst überrascht, wie kalt es mich dieses Mal ließ. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich jetzt im Hinterkopf hatte, dass er nur schauspielte. Woher sollte ich wissen, ob diese Tränen überhaupt echt waren? N wollte anscheinend doch nur irgendjemanden, der für ihn da wäre. Jetzt, wo sein Vater nicht mehr für ihn da war, suchte er sich eben den nächstbesten. Ich müsste mich nicht wundern, wenn auch seine Liebe zu mir nur gespielt wäre. »Hör auf zu weinen. Du hast keinen Grund dazu. Bitte, N... Das ist lächerlich. Du kannst doch nicht einer Beziehung hinterher trauern, die so gut wie gar nicht existiert hat.«
 

»Touya! Du kannst mir das nicht antun! Ich schwöre dir, Touya! Ich werde dich nie, nie, nie wieder verletzen! Bitte, gibt mir noch eine Chance...!«, bettelte er und ich seufzte. »N, wenn du mir wirklich vergewissern könntest, dass du wenigstens endlich versuchst dich zu bessern und dich in die Gesellschaft einzufügen. Wenn du nur endlich einen Job finden würdest und dich anstrengen würdest. Aber stattdessen lehnst du alles ab und freust dich darüber, dass ich meinen Traum aufgegeben habe. Ich will dich nicht mehr sehen!« Mit diesen Worten knallte ich die Tür wieder vor ihm zu.
 

Wie konnte ich nur einen Abend davor so blind sein? Solange ich mit N alleine war, war alles gut. Doch sobald andere Menschen dazu kamen und unsere Verantwortungen und Träume, war einfach alles an uns und unsere bloße Existenz zum Scheitern verurteilt.

Es vergingen einige Tage, ohne dass wir auch nur ein Wort miteinander wechselten. Ich bemerkte zwar seinen Blick, doch sagte nichts weiter dazu und wollte einer Konfrontation lieber aus dem Weg gehen. Die Zeit verstrich, ohne dass einer von uns sich um den anderen kümmerte. Wahrscheinlich war ich derjenige, der den Großteil dazu beigetragen hatte. Es war ungewohnt, wieder so weit voneinander entfernt zu sein, nachdem wir uns doch gerade so nahgekommen waren, und ich bereute fast, dass es so ausgegangen war und wir keinen Schritt weiter waren als zu Beginn unserer sogenannten Beziehung. Aber war es meine Schuld? N allein war dafür verantwortlich, dass ich den Kampf gegen Kyouhei verloren hatte, und dass er jetzt selbst darunter leiden musste, mein Vertrauen ausgenutzt zu haben, war ebenfalls sein Verdienst. Man kann sich eben nicht immer alles nehmen und niemals etwas dafür zurückgeben. Und ich habe ihm schon genug gegeben und war viel zu nachsichtig mit ihm. Was habe ich denn bis jetzt dafür zurückbekommen?
 

»Touya«, murmelte er einmal, als ich im Flur an ihm vorbeiging. Ich drehte mich nicht um. Ob es mir selbst schon unangenehm war, ihn auch nur anzusehen? Es war nicht so, dass ich mir Schuldgefühle machte. Auf keinen Fall. Es war immerhin alles seine eigene Schuld. Aber irgendwie tat es mir trotzdem leid, ihn allein zu lassen und auch die zweite Aufgabe, die ich noch hatte, so dermaßen zu verhauen, dass ich mich eigentlich mehr für mein eigenes Verhalten schämte als für alles andere. Warum war das nur so schwierig? Es fiel mir schwer, darüber nachzudenken und mir ins Gedächtnis zu rufen, was eigentlich an dem Tag vor zwei Wochen abgelaufen war. Jedes Mal, wenn ich daran zurückdachte, kamen mir wieder neue Details ins Gedächtnis und je länger ich darüber nachdachte, anstatt es nur zu verdrängen und N als den Schuldigen an meiner Misere anzusehen, kam immer mehr Klarheit darüber, was an dem Tag eigentlich wirklich abgelaufen war. Die Erinnerungen daran, dass es mit meinen Pokémon und mir schon lange nicht mehr so gut lief und dass ich schon lange zuvor mein Training als Champion und vertrauenswürdiger Trainer vernachlässigt hatte, kamen zurück. Hatte ich nicht schon Tage zuvor bemerkt, dass ich inzwischen zu einem faulen Trainer geworden war, der ohne seinen Drachen kaum noch eine Chance gegen Neuanwärter hätte? War es dann nicht auch meine eigene Schuld und nicht nur die von N? Was hatte N eigentlich damit zu tun?
 

Ich war mir nicht mehr ganz so sicher, was wirklich an diesem Tag passiert war und warum ich meinen Freund dafür angeschrien hatte, obwohl er meine Nähe suchte, mich wirklich sehr liebte und einfach nur bei mir sein wollte. Wessen Verdienst war es denn nun eigentlich wirklich, wenn N nicht der Schuldige war? Etwa mein eigener? Vielleicht hatte es einfach zu sehr wehgetan, es sich einzugestehen. Eigentlich sollte ich mir einfach erst einmal durch den Kopf gehen lassen, was genau passiert war. Es half nichts, die Schuld nur bei N zu vermuten und stattdessen nicht nach einer Lösung zu suchen, wie es in Zukunft wieder besser für uns beide laufen könnte. Ich war schließlich immer noch für N verantwortlich und hatte mir eingeredet, dass ich zumindest diese eine Sache auf die Reihe kriegen würde. Aber anscheinend kam ich nicht einmal mit N so gut zurecht, wie ich gedacht hatte. Obwohl er sich so oft unschuldig wie ein Kind verhielt und vielleicht all die Jahre über nie wirklich erwachsen wurde, war diese Verantwortung vermutlich doch einfach zu viel für mich. Vielleicht sollte ich erst einmal mein eigenes Leben auf die Reihe bekommen, bevor ich auch nur versuchen konnte, für N da zu sein.
 

Ich hatte im Laufe der Zeit als berühmter Trainer viel Geld verdient, auch wenn meine Zeit als Champion nicht lange angedauert hatte. Dennoch machte ich mir Sorgen, wie lange diese Ersparnisse wohl reichen würden und wie schnell ich eine neue Arbeit brauchen würde. Ewig warten durfte ich natürlich auch nicht. Aber irgendwie fühlte ich mich noch viel träger als zuvor. Alles, seitdem ich den Titel als Champion verloren hatte. Ich hatte seit dem Tag nicht einmal richtig mit jemandem darüber geredet, obwohl ich das Gefühl hatte, als würde N sich mit Absicht immer in meiner Nähe aufhalten. Ob er darüber sprechen wollte? Ich zumindest hatte bis zum heutigen Tag nicht einmal das Verlangen verspürt, überhaupt daran zu denken, was passiert war. Es zu verdrängen war so viel leichter gewesen. Doch N ging auch nicht mehr nach draußen und lief immer in der Wohnung herum, als wollte er mich damit konfrontieren und mit mir sprechen. Wenigstens aus meinem Zimmer hielt er sich fern. So hatte ich wenigstens ab und zu ein wenig Raum für mich, auch wenn er sonst immer in der Nähe war. Es war komisch, sich gleichzeitig so nah und doch so fern zu sein. Aber auch wenn es mir unangenehm war, schien er es für das Richtige zu halten. In Ruhe lassen wollte er mich auf jeden Fall nicht. Dickköpfig wie immer.
 

»Touya...« Wieder diese leise Stimme, die mich dazu drängte, endlich mit ihm zu reden und die Sache endgültig zu klären. Es machte mich wahnsinnig, dass mir selbst nicht einfiel, was ich zu ihm sagen sollte. Ich hatte die Befürchtung, ich würde ihn wieder anschreien, sobald ich auch nur den Mund aufmachen wollte. Konnte er nicht einfach abwarten, bis es mir wieder besser gehen würde? Ich hatte gerademal heute damit begonnen, die Gesamtsituation langsam zu verkraften und der Realität ins Auge zu sehen. Unser Streit war ebenfalls bereits zwei Wochen her und auch wenn ich zumindest darüber nachdenken konnte, ohne mich zu schämen, hatte ich dennoch das Gefühl, als würde ich noch eine lange Zeit brauchen, um mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich von nun an machen wollte. Diese Frage wollte ich zumindest mit mir selbst klären, bevor ich mit N darüber reden können würde. Aber N sah das anders. Er wollte sofort reden und schien es nicht mehr auszuhalten, dass wir einander anschwiegen. »Touya, warum ignorieren wir uns?«, fragte N irritiert. Er stand im Türrahmen zum Wohnzimmer und beobachtete mich dabei, wie ich aus dem Fenster in die Wolken starrte. »Ich verstehe nicht, was passiert ist... Touya, warum reden wir nicht mehr miteinander?« N war deutlich verzweifelt und schien wirklich nicht zu verstehen, warum ich seit Tagen nicht mehr mit ihm sprach. Auch ihm schien das ständige Schweigen unglaublich unangenehm zu sein, weshalb er bis jetzt nur zaghaft versucht hatte, mich auf irgendeinen Weg darauf anzusprechen. Doch nun wurde er lauter. Anscheinend hielt er es nicht mehr aus und wollte Klarheit schaffen. »Worüber willst du denn reden?«, fragte ich ihn sichtlich genervt. Warum konnte er nicht einfach ruhig sein, bis es mir besser ging? Natürlich würde er nicht für immer schweigen können, und wir lebten nun einmal noch immer zusammen und sahen einander die ganze Zeit über. Aber im Moment wäre es mir wirklich lieber gewesen, er wäre für eine Weile ausgezogen. Ich musste noch so viel selbst verstehen, bevor ich mit ihm reden konnte.
 

»Ich wollte einfach nur noch einmal mit dir reden«, antwortete er und lächelte schwach. »Wenn es für dich in Ordnung ist, noch einmal mit mir über das zu sprechen, was passiert ist. Damit ich auch verstehen kann, was in deinem Kopf vor sich geht.« »Ich denke nicht, dass es noch etwas gäbe, was gesagt werden müsste«, erklärte ich ihm. Hatte ich ihm nicht bereits gesagt, wie ich über sein Verhalten dachte? Er hatte mich belogen und herablassend auf mich niedergeblickt, als ich ihm vom Ende meines Traumes erzählt hatte. Er hatte meinen Traum mit Füßen getreten, obwohl er selbst keinen Traum mehr besaß und nur noch belanglos vor sich hinlebte, die meisten Tage nur damit verbrachte, mit fremden Pokémon zu spielen und seine Zeit zu vergeuden. Solange er sich nicht ändern würde, würde ich auch nicht mehr mit ihm darüber sprechen wollen. Das würde doch eh nicht weiterhelfen. Wieso verschwendete er seine Zeit nun schon wieder mit solchen Betteleien, wenn er sie doch auch dafür nutzen könnte, in seinem Leben endlich voran zu kommen?
 

»Du willst nicht mit mir reden? Dann will ich einfach ein wenig bei dir sein und dir etwas beweisen. Wäre das machbar?«, fragte er und ich war mir nicht sicher, ob dies eine Art Trick war, um sich ein wenig bei mir einzuschleimen. N hatte mir bereits bewiesen, dass er ein paar hinterhältige Tricks draufhatte. Auch wenn ich das zu Beginn vor allem von ihm niemals vermutet hatte. »Ich denke, dass wir uns einfach eine Weile nicht sehen sollten«, erklärte ich ihm. »Das wäre einfach besser für... für dich. Um ein wenig zu vergessen und vielleicht ein paar Sachen an dir zu ändern. Damit wir wieder besser miteinander auskommen können.« Es war ja nicht gelogen. Ich wollte wirklich, dass er sich unsertwegen ändern würde.
 

»Aber ich will nicht vergessen!«, schrie er regelrecht. Jetzt stand N nicht mehr ruhig im Türrahmen wie zuvor, sondern ging mit hektischen Schritten auf mich zu. »Ich will einfach nur bei dir sein! Habe ich dir das nicht deutlich genug gemacht? Denkst du etwa wirklich, dass all dies hier nur eine Show wäre? Obwohl wir uns doch so gut kennen, scheinst du nicht zu begreifen, wie ernst es mir mit dir ist! Ich habe mich noch nie bei jemandem so wohl und geborgen gefühlt wie bei dir und ich werde dich sicherlich nicht einfach aufgeben! Vor allem jetzt, wo ich weiß, dass du genauso für mich fühlst! Denkst du wirklich, ich würde einfach wieder verschwinden? Du hättest dir das früher überlegen müssen, als du mir versprochen hast, immer für mich da zu sein! Wo sind deine guten Vorsätze jetzt, wenn ich dich brauche? Anscheinend waren das ja wohl auch nur leere Worte!« N war völlig außer sich und sein ganzer Körper begann zu zittern. Ich konnte nicht deuten, ob es vor Wut oder einfach vor Aufgebrachtheit war. Auf jeden Fall konnte ich ihn wohl nicht so schnell dazu bringen, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Es musste eine Qual für ihn gewesen sein, überhaupt solange ruhig zu bleiben und nichts weiter zu sagen. All die Wut über die vergangenen Tage hatte sich deutlich in ihm angestaut.
 

Das passte mir nicht in den Kram, denn eigentlich war mein Plan gewesen, einfach Gras über die Sache wachsen zu lassen und abzuwarten, bis ich selbst klarer über die vergangenen Tage nachdenken konnte. N hatte immerhin einen Fehler begangen, den ich ihm nicht so schnell verzeihen würde und den er auch nicht von einem Tag auf den anderen wiedergutmachen konnte, auch wenn er es sich noch so sehr wünschte und schon fast forderte, dass ich für ihn da sein musste, weil es eben meine Pflicht war. Doch egal wie sehr er sich anstrengte und mich anbettelte, ich solle es einfach vergessen, ich konnte es nicht. Nicht im Moment. Allerdings spürte ich bereits, dass meine Wut jetzt, da ich, wenn auch ungewollt, wieder mit ihm gesprochen hatte, langsam zu verfliegen begann. Irgendwie machte mich Ns Nähe glücklich, auch wenn das auf irgendeine Art und Weise ziemlich fatal war. Eigentlich sollte ich noch immer sauer auf ihn sein. Doch war mir nicht bereits klar geworden, dass er nicht allein der Schuldige war? Je mehr ich bemerkte, dass auch ich einen großen Teil dazu beigetragen hatte, umso mehr schämte ich mich dafür, dass ich so blind gewesen war, die Schuld nur bei ihm zu suchen. Er hatte sich falsch und schlecht verhalten. Doch dass ich verloren hatte, war nicht darauf zurückzuführen. Im Moment war ich einfach nur noch sauer auf ihn, weil ich nicht wusste, ob ich ihm vertrauen könnte.
 

Ich konnte sein Handeln noch immer nicht verstehen oder nachvollziehen. Aber sicherlich würde es mit der Zeit wieder besser werden und dann würde auch meine Wut auf sein unbedachtes Handeln komplett verschwinden. Dann würde ich ihm wieder vertrauen können. Wenn er mir nur ein wenig Zeit dafür geben könnte, mir über all das, was passiert war, klar zu werden. Warum konnte er nicht einfach solange warten? Ich wollte mich nicht mit ihm streiten und es tat weh, daran zu denken, ihn immer und immer mehr Tag für Tag weiter zu verletzen. Aber warum konnte er nicht einfach einsehen, dass es eben Zeit brauchte, bis ich darüber hinwegkäme und ihm wieder vertrauen könnte? Ich würde doch niemals für immer auf ihn sauer sein. Aber er schien nicht einmal diese kurze Zeit warten zu können....
 

»Du wirst aber wohl oder übel auf meine Hilfe warten müssen«, antwortete ich und versuchte so gelassen wie möglich zu bleiben. »Ich habe auch Gefühle und Wünsche. Du bist nichts Besonderes und schon gar kein Sonderfall. Du hast mir sehr wehgetan und es wird nun eben ein wenig dauern, bis ich dir wieder vertrauen kann, und solange wirst du dich wohl gedulden müssen.« N schüttelte den Kopf und sah mir tief in die Augen. Es dauerte einen Augenblick, bis er anscheinend die richtigen Worte gefunden hatte, mit denen er mit antworten wollte. »Wenn du mir nicht mal die Chance geben willst, meinen Fehler wiedergutzumachen, kann deine Liebe zu mir ja nicht so besonders groß sein«, meinte er mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. Er sah so ernst aus. So anders als sonst. »Als ich dir gestanden habe, wie gern ich dich habe, hast du da vielleicht einfach nur die Chance gewittert, meinen Körper berühren zu dürfen? Ging es dir nur darum? Ist das die Form von Liebe, die ihr Menschen so verzweifelt sucht? Ich habe den Verdacht, dass sich unsere Ansicht von Liebe grundlegend unterscheidet.«
 

Wie bitte? Ich habe ihn benutzt? »Das ist nicht wahr, N«, antwortete ich schnell, um dieses Missverständnis aus der Welt zu schaffen. »Du weißt genau, wie viel ich für dich empfinde. Sonst würde ich dich nicht einfach bei mir wohnen lassen. Ich hab schon viel zu viel für dich getan und nichts von dir zurückbekommen. Aber ich erwarte das auch nicht, weil ich dich gern habe. Ist das nicht Beweis genug, dass ich dich liebe? Ich bin einfach im Moment nicht mehr fähig, dir all diese Dinge zu schenken. Aber wenn wir uns Zeit nehmen und das, was kaputtgegangen ist, wieder aufbauen, dann können wir es vielleicht noch einmal versuchen. Vielleicht können wir auch einfach nur gute Freunde sein. Du weißt, dass ich so oder so immer für dich da bin und dich niemals im Stich lassen würde. Ich könnte mir auch vorstellen, mit dir zusammenzuleben als wären wir Brüder -« »Aber ich will keine einfache Freundschaft und ich will nicht nur dein verdammter Bruder sein!«, protestierte er. »Du hast mir doch schon gesagt, dass du mich gern hast! Wie kann denn ein kleiner Fehler all diese Gefühle einfach so auslöschen? Willst du mich verarschen?« Nun war es Zorn, der sich in Ns Augen widerspiegelte. Seine Stimme war schon lange nicht mehr so leise und zaghaft wie zu Beginn des Gesprächs und ich spürte, dass er nun mit aller Kraft versuchte, seinen Willen durchzusetzen.
 

Ich merkte ihm regelrecht an, wie wütend es ihn machte, dass er gerade das bekommen hatte, was er sich gewünscht hatte und es nun wieder verloren hatte. Er wollte es nicht einsehen. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb so schlimm verhalten und war immer aufdringlicher und taktloser geworden. Deshalb hatte er mich angelogen und immer wieder mit Nachrichten kontaktiert. Weil er mich nicht verlieren wollte und seine Zuneigung zu mir inzwischen bereits viel zu groß war. Es war wahrscheinlich schon fast ungesund. Ich hatte zuvor nicht bemerkt, dass er wahrscheinlich nur aus extremer Liebe gehandelt hatte. Irgendwie hatte ich bis jetzt angenommen, er hätte mich ein wenig ärgern wollen oder wäre egoistisch gewesen. Doch irgendwie schien er mich doch sehr zu lieben. Warum hatte ich früher nicht daran gedacht, dass ich doch etwas so Besonderes für ihn war? Sicherlich hatte er große Angst gehabt, mich zu verlieren, auch wenn ich doch für ihn da war. Ich konnte ihn selbst jetzt noch nicht richtig verstehen, aber zumindest war mir jetzt klar, dass ich ihm wirklich wichtig war und dass ich vielleicht auch ein wenig auf ihn eingehen müsste. Doch dann sagte er etwas Unerwartetes, mit dem selbst ich nicht gerechnet hatte, obwohl ich dachte, ihn inzwischen zumindest annähernd gut zu kennen. »Oder ist das alles ein Plan von dir? Willst du mich erpressen, Touya? Indem du mir Schuldgefühle machst?«
 

»Was? Aber du bist doch derjenige, der...!« Was hatte das nun wieder zu bedeuten? War das wirklich sein Bild von mir? In dem Augenblick wurde mir klar, wie wenig N überhaupt über die Vorfälle an dem Tag, an dem ich meinen Kampf verloren hatte, verstanden hatte. Er war viel zu fixiert auf seinen eigenen Standpunkt. Er hatte mich eben vermisst und hatte nur darauf geachtet, dass ich bei ihm bleiben würde und für ihn da wäre. Ob er gedacht hätte, ich würde ihn nur ausnutzen und verarschen wollen? Dachte er, ich wäre immer nur zur Pokémon-Liga abgehauen, weil ich nur ein Spiel mit ihm spielen würde? Oder sogar, weil er für mich nur ein Freund von vielen wäre? Was hatte er nur über mich gedacht?
 

N hatte wohl nur auf das geachtet, was sein Vater ihm jahrelang über die Menschen beigebracht hatte. Dass Menschen böse und hinterhältig waren, war das allgemeine Bild, was N von allen um uns herum hatte. Irgendwie hatte es mich schon gewundert. Ich war wohl der Einzige, über den er anders dachte und den er für vertrauenswürdig hielt. Wenigstens ich war in seinen Augen keiner von den Bösen. Oder war ich das doch? Hatte er etwa Angst, dass ich genauso schlimm wäre wie die Menschen in den Geschichten seines Vaters? Das war zumindest nicht ganz auszuschließen. Wenn man sein ganzes Leben lang jeden Tag immer nur davon hört, wie schrecklich, grausam und bösartig die Menschen doch wären, war es kein Wunder, dass N bei jeder meiner Handlungen fürchtete, ich würde ihn wohlmöglich verletzen wollen.
 

Er hatte wohl nicht verstanden, weshalb ich wirklich sauer war. Weil ihm Pokémon-Kämpfe und Titel nichts bedeuteten, hatte er es nie nachvollziehen können. Vielleicht bemühte er sich auch nicht oder es lag ihm einfach nicht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Vermutlich dachte er, ich wäre nur gespielt sauer und würde das nutzen, um ihn zu erpressen. N hatte Pokémon-Kämpfe immer verabscheut und vielleicht war es zu viel von mir gewesen zu erwarten, dass er verstehen würde, wie wichtig mir die Rolle des Champions war. Aber zurückblickend hatte ich auch nie wirklich viel darüber gesprochen und ihm auch nie erklärt, was es mir eigentlich bedeutete. Eigentlich hatte ich viele Dinge, die mir wichtig waren, als selbstverständlich angesehen und mir nie darüber Gedanken gemacht, was N eigentlich davon hielt. Hätte ich ihm doch nur klargemacht, dass es mir einfach wichtig war, hätte er es vielleicht aus Prinzip akzeptiert und mir beigestanden. Aber ich hatte ja nie mit ihm darüber geredet. Obwohl ich ihn so oft nach seinen Interessen gefragt hatte, wusste er eigentlich wenig über mich. Im Grunde war ich derjenige, der sich ihm gegenüber nie wirklich geöffnet hatte. Wie hätte er mich dann überhaupt verstehen können?
 

»Tut mir leid, N... Ich... Ich glaube, ich verstehe langsam ein wenig, warum du so ungewöhnlich reagiert hast und dass du es nicht böse meintest«, antwortete ich ihm und versuchte ihn ein wenig zu beruhigen, indem ich ihm erst einmal zustimmte. Eigentlich konnte ich ihn ja auch verstehen und vielleicht würde ich doch nicht so viel Zeit brauchen, ihm zu verzeihen, wie ich noch vorhin gedacht hatte. Eigentlich war ich schon gar nicht mehr so sauer auf ihn wie zu Beginn des Gesprächs. Der Verlust meines Titels machte mir zwar noch zu schaffen, aber hatte ich die Schuld nicht ein wenig zu sehr bei N gesucht? Mir war doch von Anfang an klar gewesen, dass ich etwas ändern wollte und dass ich meine Rolle viel zu sehr vernachlässigt hatte. Das hatte ich doch vor dem Kampf gegen Kyouhei schon gewusst. N hatte kein bisschen Schuld daran, dass ich einfach ein schlechter Trainer gewesen war. Wäre ich von Anfang an ein guter Champion gewesen, wäre es nie auf diese Situation hinausgelaufen. Dann hätte ich Kyouhei auch so besiegt, ohne mich ablenken zu lassen. Vielleicht war es meine eigene Schwäche, die dazu geführt hatte, dass ich besiegt worden war. Selbst Ns Anruf hätte den Kampf nicht mehr so dermaßen verändern können, wäre ich einfach von Anfang an im Vorteil gewesen. Aber die Wahrheit war eben leider, dass ich von Anfang an der Schwächere gewesen war, und das war nicht Ns Schuld gewesen.
 

»Wenn du es wirklich verstehst, dann gib mir wenigstens eine Chance. Gib mir eine Chance zu beweisen, dass ich mich wirklich weiterentwickeln und dazulernen kann. Ich werde dich auch nicht enttäuschen«, versicherte er mir und mir blieb nichts anderes übrig, als zögerlich zu nicken. Auch wenn er mich nicht überzeugen würde, wäre dies vielleicht der Antrieb, den er bräuchte, um sich wirklich zu ändern und um mir nicht noch mehr Sorgen und Probleme zu bereiten als nötig. Vielleicht konnte er sich ja wirklich ändern. Er hatte es doch schon einmal getan und sich von der egoistischen Person, die ich damals kennengelernt hatte, in einen Menschen entwickelt, der versuchte, alle Meinungen zu akzeptieren und sich liebevoll um seine Freunde kümmerte. Vielleicht würde er sich ja noch weiterentwickeln können und lernen, dass er mir und den anderen Menschen vollstens vertrauen konnte, wenn ich ihm nur mein Vertrauen schenken würde. »In Ordnung«, antwortete ich ihm. »Ich gebe dir diese eine letzte Chance. Beweise mir, dass du nicht wieder zu der unselbstständigen Person geworden bist, die ich damals kennengelernt habe. Seit ich angefangen habe, dich vom Team Plasma zu befreien, hast du solche Fortschritte gemacht und bist endlich diesen wichtigen Schritt gegangen. Bitte zeig mir, dass dies nicht alles umsonst war.«
 

»Gut«, antwortete N und kam ein Stück weiter auf mich zu. »Dann werde ich mich jetzt auf das einlassen, was du dir wünschst. Soll ich dir zeigen, wie sehr ich mich inzwischen schon auf euch Menschen einlassen kann und wie sehr ich die Menschen um mich herum bereits verstehe?« Verwundert sah ich ihm dabei zu, wie er vorsichtig meine Hand in seine legte und sie festhielt. Dann beugte er sich ein wenig zu mir nach unten und als er gerade dabei war, mir immer näher zu kommen, spürte ich, wie sehr die Finger meine eigenen umgriffen, als würde er sich ablenken wollen, und wie seine Hand dann zu zittern begann. Immer fester umgriff er meine Hand mit seiner eigenen, bis es mehr als deutlich war, dass er gerade etwas tat, was ihm selbst sehr schwer fiel. Als er mir tief in die Augen sah und noch einmal tief durchatmete, bevor er die Augen schloss, unterbrach ich sein Handeln mit den Worten: »Du musst das nicht machen.« Doch N schüttelte den Kopf. »Doch, das muss ich. Sonst verliere... ich dich für immer...« Dann nahm er wieder ein wenig Abstand von mir und sah traurig zu Boden. Ohne etwas zu sagen verdeckte er sein Gesicht mit seiner Hand und setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer. Irgendwie schien es ihn so fertigzumachen, dass er einfach zu schwach war, sich anderen Menschen anzunähern. Auch wenn er es versuchte.
 

Seufzend setzte ich mich neben ihn und wartete, bis er den Kopf wieder hob und mich fordernd ansah. Ob ich ihm helfen oder irgendwas dazu sagen sollte? Natürlich freute es mich, dass er es wenigstens versucht hatte. Aber war das wirklich der richtige Weg? Anscheinend war er bereit, doch es fehlte ihm noch an Kraft, diese eine Grenze zu überwinden. Mir sollte es recht sein. Ich tat ihm nichts, was ihn verletzen würde, und solange er es auch wollte, wäre es doch in Ordnung. Oder quälte er sich so ab, weil er dachte, ich würde das von ihm verlangen? Irgendwie verlangte ich es ja schon ein wenig. Aber konnte er mir das übel nehmen? Wir waren ja nun doch irgendwie ein Paar und auch, wenn ich ihn an den Kopf geschmissen hatte, dass er mir gestohlen bleiben konnte und ich keinen Wert mehr auf eine Beziehung legen würde, saßen wir nun doch hier und er war kurz davor, mir einen Kuss zu geben. »Tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe«, entschuldigte ich mich bei ihm. Vielleicht würde ihm das die Angst ein wenig nehmen. »Anscheinend hast du doch nicht gelogen und zumindest deine Angst vor Berührungen ist wahr. Ich hatte wirklich gedacht, du hättest nur simuliert, um deinen Willen durchzusetzen. Aber du hast anscheinend wirklich Angst, mich zu berühren. Und dennoch willst du so gerne bei mir sein? Wäre es nicht besser, wenn wir einfach nur Freunde sind? Es fällt mir auch schwer, dich so leiden zu sehen.«
 

»Ich leide nur, weil ich es einfach nicht schaffe!«, gab er zu. Es schien an ihm zu nagen, dass er es nicht übers Herz brachte, diesen kleinen Schritt zu gehen. »Aber ich will bei dir sein, Touya. Ich will nur dich«, meinte er. »Auch wenn ich noch schwach bin. Na und? Du warst auch ein schwacher Trainer, als ich dich kennengelernt habe. Jeder kann sich verbessern und entwickeln. Ich will dir beweisen, dass ich zwar noch in dieser einen Hinsicht schwach bin, aber für dich will ich stärker werden und meine Berührungsängste überwinden. Ich will das wirklich!« Ns Blick wurde wieder entschlossener. Er machte all dies also wirklich nicht nur aus Verzweiflung, sondern weil meine Worte vielleicht doch etwas bewirkt hatte. N wollte mehr über die Menschen wissen und er wollte mir nah sein. Vielleicht sollte ich ihn doch ein wenig dabei unterstützen. Auch wenn es komisch war, dass sich die Situation so gewandelt hatte. »Wie wäre es, wenn du dich einfach bis zu einem bestimmten Punkt nach vorne lehnst und sobald du nach genug bist, übernehme ich?«, schlug ich ihm vor und er wurde sofort rot. Jetzt kam er schon wieder in eine Situation, in der ich die Kontrolle hatte. Aber es ging nun mal nicht anders.
 

»Sagst du das gerade nur um mich aufzumuntern... Oder hast du mir etwa schon verziehen?« fragte er verwundert. In seinen Augen konnte ich den Hoffnungsschimmer regelrecht sehen. »Naja, eigentlich hatte ich ja nie vor, dir auf ewig sauer zu sein«, erklärte ich ihm. »Aber ich musste dich einfach ein wenig in die richtige Richtung schubsen. Wenn man dich nicht ein wenig drängt, handelst du nie. Und wenn ich dir nicht helfe, machst du nur Fehler«, seufzte ich. »Manchmal übertreibst du einfach. Ich will nicht, dass du dich zu sehr in deine Liebe zu mir hineinsteigerst, nur weil das für dich das erste Mal ist, dass du solche Gefühle hast. Ich weiß auch nicht, ob ich mir mit dir überhaupt noch nur eine Freundschaft vorstellen könnte. Zwischen uns ist einfach bereits so viel mehr als das. Ich will nicht, dass das durch dein überstürztes Handeln kaputt geht.« Natürlich gab es noch so viel, über das man hätte reden müssen. Aber vielleicht nicht im Moment. Vielleicht sollte man bei einigen Dingen einfach warten. Ich genoss, dass N wieder normal war und mich nicht mehr anlog. Wir konnten wieder miteinander reden und ich hatte seit langem das Gefühl, als würde er meine Worte richtig aufnehmen und darüber nachdenken. Vielleicht würde ich jetzt endlich alles mit ihm klären können, das mir auf der Seele lag. Ich würde mit ihm darüber reden müssen, dass ich selbst nicht genau wusste, was ich in Zukunft machen würde und dass er schnell Arbeit finden müsste. Auch darüber, dass man sich in einer Beziehung nicht anlügt und dass Vertrauen sehr wichtig ist, hätte ich mit ihm reden müssen. Aber nicht jetzt.
 

»Oh...« N schien überrascht darüber zu sein, dass ich so über die Situation dachte. Ob er es wohl nachvollziehen konnte? »Gehen wir es von jetzt an langsam an. Ich werde mich von jetzt an besser benehmen«, stimmte er mir zu und atmete auf. Anscheinend war er immer noch nicht so bereit, wie ich es mir wünschen würde. »Aber... uhm...« Er druckste herum, als würde er noch etwas sagen wollen. »Würdest du mich... uhm... Würdest du mich trotzdem küssen?«, fragte er. »Das wäre mein erstes Mal und wenn wir einen Neuanfang starten wollen, dann würde ich mich freuen, wenn du es tun würdest. ...Wenn du möchtest!« »Warum denn nicht?«, antwortete ich und legte meine Hand an seinen Hinterkopf. »Keine Sorge, ich mach das schon«, erklärte ich ihm und er nickte zaghaft. So ganz schien er der Sache nicht zu trauen, doch er hatte mich darum gebeten. Eigentlich war er die ganze Zeit über derjenige, der all diese Sachen machen wollte. Das ging doch von Anfang an alles nur von ihm aus. »Stell dich nicht an«, lachte ich und drückte seinen Kopf sanft in meine Richtung. »Du hast du darum gebettelt, also musst du es jetzt auch durchstehen.« »Ja, ja...« Beschämt schloss N die Augen. Es schien ihm immer noch nicht zu passen, dass ich viel mehr Erfahrung hatte als er. »Entspann dich und sei einfach still, dann wird das schon«, bat ich ihn. Mir hatte es besser gefallen, als er zu beschämt gewesen war, um überhaupt den Mund aufzumachen.
 

»Warte«, unterbrach er mein Vorhaben und legte seine Hand so auf meine Brust, sodass ich gezwungen war, wieder ein wenig Abstand von ihm zu nehmen. »Ich will mir das doch lieber aufheben.« Was? Was sollte denn dieser plötzliche Sinneswandel auf einmal? Warum musste er ausgerechnet jetzt, wo auch ich endlich wieder in der Stimmung war, sowas sagen? »Aber...!«, brachte ich nur hervor. Mir fiel einfach nicht ein, was ich weiter zu Ns Stimmungsschwankungen sagen sollte. Das war einfach zu viel für mich. Einerseits sagte er immer und immer wieder, wie sehr er mich doch liebte. Aber andererseits durfte ich ihn nicht anfassen und immer wenn ich ihn soweit gekriegt hatte, machte er doch einen Rückzieher. War das seine Masche? Aber was brachte ihm das? So würden wir uns niemals näherkommen... »Immer noch Angst vor Berührungen?« , fragte ich und er schüttelte den Kopf. »Nein. Also nicht, wenn es um dich geht. Aber ich will, dass es etwas Besonderes wird«, erklärte er. »Aber N, mit dir ist es doch immer etwas Besonderes«, meinte ich genervt und er lächelte nur, als er merkte, dass es mich ärgerte, ihn nicht küssen zu dürfen. Mit einem Mal hatte er den Spieß wieder umgedreht und ich war derjenige, der nun um seine Aufmerksamkeit bettelte. Wie zum Darkrai schaffte dieser Typ das nur immer wieder?
 

»Du hast mich ja auch die letzten Tage warten lassen« , erklärte er. »Ich habe tagelang darauf gewartet, endlich wieder mit dir reden zu dürfen. Jetzt bist du an der Reihe.« Oh nein. Das war schon wieder eine völlig neue Seite an N. Der Mann machte mich einfach fertig damit, dass er immer, wenn ich das Gefühl hatte, er wäre mir unterlegen, irgendeine Überraschung parat hatte. Aber ich konnte ja nicht anders, als mich damit abzufinden. Auch wenn ich ihn noch so gerne schüchtern und unsicher vor mir hatte, würde ich diese Seite wohl erst einmal nicht mehr sehen können. Zumindest bis es endlich soweit wäre. Noch spielte N den Starken, doch ich war mir sicher, sobald es zu dem versprochenen Kuss kommen würde, würden auch seine Knie wieder anfangen zu zittern. Da war ich mir sicher. Vielleicht wollte er es deshalb noch ein wenig in die Länge ziehen.
 

»Jetzt, wo ich mir sicher bin, dass du nicht mehr sauer bist, kann ich die Wohnung ja wieder verlassen « , meinte er und lächelte zufrieden. »Ich bin die ganze Zeit nur hiergeblieben, weil ich sowieso nur an dich denken konnte, Touya. Aber jetzt, wo ich weiß, dass du mir ausgeliefert bist, kann ich ja auch wieder nach draußen gehen, ohne mir Sorgen machen zu müssen.« »Was? Du lässt mich jetzt einfach hier sitzen?« Dieser Typ machte mich dermaßen fertig. Mit jedem Tag wurde sein Verhalten merkwürdiger und es verwirrte mich, nicht verstehen zu können, aus welchen Beweggründen er handelte. Wäre nicht jeder andere nach einem so langen Streit glücklich gewesen ein wenig Zeit mit dem Liebsten verbringen zu dürfen? Aber N hatte mal wieder nur Pokémon im Kopf. »Heute Abend bin ich zurück«, meinte er und war drauf und dran, aufzustehen und abzuhauen. Das sollte wohl eine Verabschiedung sein und er wollte mich einfach so sitzen lassen. Als Rache dafür, dass ich ihn ignoriert hatte? Dieser Typ war doch nicht ganz so harmlos, wie ich gerade noch gedacht hatte. Und ich wurde einfach nicht schlau darauf. Aber diese Spielchen würde er mit mir nicht mehr spielen können. Jetzt war ich an der Reihe.
 

In dem Augenblick, in dem er von der Couch aufstand und sich zufrieden umdrehen wollte, sprang ich ebenfalls auf und drückte ihn mit den Händen auf seinen Schultern wieder zurück nach unten. Er erschrak, als er merkte, dass die Sache für mich noch nicht zu Ende war und er sich nicht einfach so aus dem Staub machen konnte. Mit ein wenig Gewalteinfluss brachte ich ihn dazu, sich wieder hinzusetzen und das zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte. »Ich habe doch gesagt, ich werde dir dabei behilflich sein« , meinte ich und genoss es ein wenig, dass ich nun wieder die Oberhand hatte. Nach den furchtbaren letzten zwei Wochen hatte ich mir ein wenig Aufmunterung verdient und er kam mir da gerade recht. »Also warum wollen wir es dann nicht gleich durchziehen?«, fragte ich. »Du kannst also auch ziemlich frech sein«, murmelte N und verdrehte die Augen. »Ich.... Ich habe dir bereits gesagt, dass ich mich anders entschieden habe, Touya. Also nimm deine Hände weg, damit ich aufstehen kann.« N schien zu glauben, dass er so leicht davonkommen würde. Aber so einfach ging das nicht. Ich merkte, dass ich selbst ein wenig aggressiv wurde. Ob das mit den letzten zwei Wochen zusammenhing? Irgendwie hatte ich wohl doch ganz schön viel in mir angestaut. Aber N sah mich noch immer unbeeindruckt an und verlangte noch immer, dass ich ihn loslassen sollte. »Du hast mir einen Kuss versprochen, deshalb fordere ich ihn nun auch ein. Du wolltest doch eine letzte Chance, oder bringe ich da gerade was durcheinander?«, meinte ich und war gespannt darauf, was er jetzt machen würde. Würde er sich dagegen wehren oder würde er wieder in Panik geraten?
 

»Das stimmt, aber... Ich...« Angestrengt suchte N nach einer Ausrede. Aber auch ihm war klar, dass ich irgendwie Recht hatte. Er hatte es mir immerhin wirklich versprochen. Auch wenn ich es nicht so ernst sah und in dem Fall, sollte ich diesen Kuss nun nicht bekommen, nicht böse auf ihm wäre, da ich ihm bereits längst verziehen hatte, wollte ich wissen, was er nun machen würde. Würde er es durchziehen oder sich rausreden? »Du hast ja Recht«, gab er zu. »Irgendwie habe ich es ja versprochen, also hast du in gewissermaßen deinen... « Beschämt sah er zur Seite. »Du hast deinen Anspruch, Touya...« »Du weißt, dass ich gerade nur ein wenig Spaß machen und dich nicht zwingen kann?«, meinte ich, als mir auffiel, dass ich ein wenig zu weit gegangen war. So traurig hatte ich ihn nicht machen wollen. »Nein«, schrie er fast. »Ich mache dieses Mal keinen Rückzieher. Ich werde dir zeigen, dass ich das auch kann. Ich bin ein Mensch und ich habe keine Angst mehr vor sowas.« »Sowas?«, fragte ich und er nickte. »Ja, ich spreche von dem, was du vor einiger Zeit mit mir machen wolltest. Als wir zusammen im Bett waren und du mich angefasst hast«, erklärte er und sah mich wieder mit einem selbstbewussteren Blick an. »Ich habe viel darüber nachgedacht, was du in mir ausgelöst hast, als du mich berührt hast. Das war alles so neu für mich und weil ich nicht wusste, was passieren würde, hatte ich furchtbare Angst davor. Aber jetzt, wo ich weiß, dass du mir niemals wehtun würdest, habe ich keinen Grund mehr, mich davor zu fürchten.«
 

»Ist das wahr, N? Willst du es nochmal versuchen?«, fragte ich und er nickte. »Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich dir gerne gestatte, dass du mich trainieren darfst«, antwortete N rasch. Er spielte nervös an seiner Halskette. »Also, falls du noch immer willst.« »Natürlich will ich das!« Mit so viel Offenheit hatte ich nicht gerechnet. »Aber wenn du nicht mal einen Kuss überstehst, wie willst du dann das schaffen?«, fragte ich, um ihn ein wenig zu necken. An seinem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass er ein wenig zu schmollen begann. »Ich habe dir gerade so ein tolles Angebot gemacht«, meinte er. »Und du denkst immer noch an den Kuss? Wenn dir das so wichtig ist, mach ich es eben!« Ich konnte genau spüren, dass er es eigentlich auch wollte. Als er die Worte ausgesprochen hatte zuckte sein Mundwinkel ein wenig, als würde er ein Grinsen verkneifen wollen. Dass er den Unsicheren spielte und nicht zugeben wollte, was er eigentlich dachte, war inzwischen mehr als deutlich. Auch wenn er sich fürchtete und Berührungen neu waren, war er eben doch ein wenig neugierig und schien inzwischen begriffen zu haben, was Liebe wirklich bedeutete. Es würde Spaß machen, ihm noch mehr neue Sachen beizubringen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  akakodokuro
2014-01-22T10:24:41+00:00 22.01.2014 11:24
Sweet *quitsch*
Von:  Story
2013-09-16T14:36:13+00:00 16.09.2013 16:36
Also ich muss sagen mir gefällt dein Fanfic wirklich gut ^^
N hast du besonders gut hin bekommen, seine Stimmungsschwankungen, man Touya tut mir echt leid. xD
Dein Schreibstil gefällt mir auch sehr gut, freu mich schon auf mehr >.<
Von:  FalonDin
2013-08-26T20:21:02+00:00 26.08.2013 22:21
Ich frage mich echt, warum du noch keine kommentare hast. O-O
Die FF ist wirklich super gut. Du bringst die Gefühle der beiden echt gut rüber. Touyas verzweiflungen gegenüber seinen gefühlen zu Ns. Dein Schreibstil ist schön angenehm und gut zu lesen. Morgen werde ich die restlichen 2 kapitel lesen.
Ich liebe dieses Pairing einfach. *schmacht*


Zurück