Du gehst nicht allein.
Kapitel 3
Man kann einen Menschen nicht ein Leben lang beschützen, nicht einmal sich selbst.
Campino, dt. Rocksänger ("Tote Hosen") , Quelle: Süddt. Zeitung Magazin
Noch ein Tag.
Ich wachte träge auf und fühlte mich wie erschlagen. Ich hatte zu kurz und einfach beschissen geschlafen, am liebsten hätte ich mich einfach umgedreht und weitergedöst, aber ich musste los. Leise grummelte ich vor mich hin, zog die Decke zurück, fuhr mir übers Gesicht.
Stöhnend quälte ich mich aus dem Bett, blickte wie nebenbei auf mein Handy. Nichts.
Nicht, dass ich gehofft hatte, er hätte mir etwas geschrieben.
Doch.
Warum war es mir nicht verdammt nochmal einfach nur egal? Hatte ich nicht mein eigenes Leben?
Warum konnte ich nicht einfach gelassen sein? Ihm die Möglichkeit mit besten Willen geben, ohne diese Stimme, die mir ins Ohr flüsterte. Und ohne das Gefühl ein trotziges Kind zu sein. Und ein Egoist. Und durfte ich das nicht sein? Durfte er es sein?
Und hatte ich mich nicht schon damit abgefunden gehabt, ihm nicht schon gesagt, dass er gehen sollte, dass sich doch andernfalls immer einer von uns fragte: was wäre gewesen, wenn …?
Ich beschloss, dass es mir egal war. Verdammt nochmal egal!
Ich rieb mir meine Augen, machte mich völlig unmotiviert auf zum Bad.
Morgen um diese Uhrzeit, dachte ich plötzlich, ist er nicht mehr hier.
Etwas in mir gefror.
~*~*~*~
Ich hörte zu. Der Prof erzählte und erzählte und ich starrte nach vorne.
Ich malte Kreise auf mein Blatt. Ich zeichnete kleine Hunde. Ich schaute auf die Uhr.
Irgendwann merkte ich, dass ich alles tat, nur nicht zuhörte.
Er hatte sich noch immer nicht gemeldet.
Nicht, dass ich mich nicht melden könnte. Aber den Gedanken schob ich schnell wieder beiseite.
Das wäre ein Zeichen von Schwäche, oder? Ich war doch unabhängig, selbstbestimmt, selbstbewusst; ich brauchte mich nicht bei ihm zu melden, um damit zu zeigen, dass meine Gedanken von ihm beherrscht wurden, dass ich nicht einmal eineinhalb Stunden einer Person zuhören konnte, die wirklich Wichtiges für meine nächste Prüfung erzählte.
Und wie egal mir das doch in diesem Moment war.
Kopfschüttelnd stand ich auf und verließ den Vorlesungssaal.
Ich versuchte ihn anzurufen, kam aber nicht durch. Ach, der konnte mich mal. Verdammt. Zornig machte ich mich auf den Weg nach Hause.
~*~*~*~
Stimmt es, dass man zuerst sich selbst finden muss, bevor man sich ernsthaft auf andere Menschen einlassen kann?
Ich hatte so etwas mal in einer Zeitschrift gelesen – so eine beim Zahnarzt. Wie ich Zahnärzte hasste. Also nicht an und für sich. Aber. Doch. Sicherlich gibt es auch nette Zahnärzte. Leider kannte ich sie nur, wenn sie im weißen Kittel vor mir in meinen Mund schauen wollten. Ich hatte zwar oft eine große Klappe, aber vor Zahnärzten – nicht wirklich.
Wie kam ich denn jetzt um Himmels Willen auf Zahnärzte?!
Schnaubend drehte ich mich um und stapfte zur Bushaltestelle.
~*~*~*~
Ich starrte auf den Fernseher, in dem nur dummes Zeug lief, und dachte daran, dass ich mein Leben genießen sollte, meine Zeit nicht so verschwenden, ich sollte den Fernseher ausmachen, meinen Arsch hochkriegen und etwas Sinnvolles machen.
Ich machte den Fernseher nicht aus.
Als plötzlich mein Handy vibrierte, durchfuhren mich diese eiskalten Wellen, von meinem Bauch hinein in meine Beine. Ich wartete auf keine Nachricht – redete ich mir ein und wusste, dass ich kein guter Lügner war. Nicht einmal mich selbst konnte ich anlügen – vielleicht aber auch gerade mich selbst nicht.
„Joey, man, meld‘ dich mal endlich! Versuchen dich schon seit zwei Tagen erreichen“, stand da. Ich verzog mein Gesicht. Klar, meine Freunde waren immer für mich da, aber ich konnte das Geschwätz momentan nicht ertragen – die Worte, die wahrscheinlich mehr Wahrheit in sich trugen, als ich ertragen konnte. Worte, die sie mir unverblümt entgegen schleudern würden, mich versuchen würden aufzurütteln. Und am Ende steht dieses „Wir haben es dir doch gesagt“ in ihren Augen.
Tat ich ihnen Unrecht? Wollten sie nicht mein Bestes? Ich murrte, antwortete Tristan jedoch nicht.
Seufzend starrte ich wieder auf den Bildschirm. Als mein Handy kurze Zeit später schon wieder vibrierte, stöhnte ich genervt auf. „Oh, Tristan. Lass es doch einfach mal bleiben“, meckerte ich vor mich hin, zog das Handy aus der Tasche und tippte die neueste Nachricht an.
Doch die Nachricht war nicht von ihm.
„Wo bist du? Kommst du nochmal vorbei, bevor wir fliegen?“
Mokuba.
Ich blinzelte, einmal, zweimal. Zorn sammelte sich in meinem Bauch und flüsterte mir gemeine Antworten zu. Ich hatte schon getippt: „Nein, ich komm ni …“ Doch ich konnte nicht anders und ich hasste dieses Gefühl. Diese Zwickmühle, die Abhängigkeit, diese Sehnsucht. Ich hasste es. Ich hasste es so sehr, dass es wehtat.
„Ich mach mich in 15 Minuten auf dem Weg“, sendete ich.
~*~*~*~
Es war hektisch trotz der späten Uhrzeit. Es war schon knapp Mitternacht, doch Seto kruschelte noch immer herum und Mokuba machte ein schweres Gesicht. Er könne nicht all seine Spiele mitnehmen, hatte ihn Seto angewiesen, er solle sich endlich entscheiden.
Ich fühlte mich irgendwie überflüssig, meine Cola in der Hand, meine Beine überkreuzt, mein Blick unruhig umherschweifend.
„Nun ja“, begann ich unsicher, „wann ist der Flug nochmal genau?“
„5:45 Uhr“, antwortete Mokuba prompt, „total ätzend.“ Er warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu.
„Du kannst im Flugzeug schlafen, Mokuba“, erinnerte ihn Seto mit hochgezogenen Brauen, „und hör auf so zu schauen.“ Mokuba setzte daraufhin ein auffällig gekünsteltes Lächeln auf und sein Bruder rollte die Augen. Ich musste grinsen.
„Ich raff es echt nicht. Wir könnten zu jeder Tageszeit fliegen – zu jeder! Wir könnten mit einer privaten Maschine dahin fliegen!“, meckerte Mokuba leise vor sich hin, „Aber nein! Wir müssen“ – hier warf er Seto einen besonders grimmigen Blick zu – „um 5:45 Uhr fliegen.“
Er zog ein paar Konsolen-Spiele aus einem Regal und zog seine Stirn in Falten.
„Wir sind doch reich“, fuhr er schließlich fort.
Seto sah auf.
„Falsch, Mokuba. ICH bin reich und deswegen entscheide auch ICH, dass wir das Geld nicht unnötig zum Fenster herausschmeißen – um noch etwas länger reich zu bleiben. Damit wir das nächste Mal wieder so herrliche Diskussionen führen können – über MEINEN Reichtum und MEINE Entscheidungen.“
Mokuba schnaubte und an Setos Lippen zog ein Grinsen.
Gut eine Stunde und einige grimmige Blicke Mokubas später war das Gepäck verstaut. Eine weitere Stunde später war Mokuba eingeschlafen („Leg dich doch noch eins, zwei Stunden hin, Mokuba. Deine Laune wird sonst unerträglich.“ – „Pff, ich bin kein kleines Kind mehr. Ich brauch‘ jetzt nicht zu schlafen. Ich bin nicht müde.“).
Und so saßen Seto und ich morgens um halb drei auf dem Balkon, starrten in die Dunkelheit hinaus und schwiegen. Unsere Arme berührten sich sanft, wie wir sie über die Brüstung gelegt hatten. Es war kalt, ein sehr frischer Wind wehte. Doch ich wünschte mir auch irgendwie, dass dieser Augenblick sich endlos dehnen würde. Das tat er natürlich nicht.
„Es ist gut, dass Mokuba mitgehen kann“, meinte ich plötzlich leise, „egal, wie cool er auch oft macht und egal wie groß er inzwischen geworden ist. Er braucht dich.“
Seto sah auf, sein Blick schweifte über mich hinüber.
„Da ist er vielleicht nicht der einzige“, erwiderte er und beobachtete mich.
Ich seufzte und starrte trotzig in die Ferne – irgendwohin, wo Seto nicht war.
„Ich brauche dich auch … irgendwie, Idiot“, erwiderte ich dann missmutig, schwieg und fügte dann schulterzuckend hinzu, „aber irgendwann kann man sich nicht mehr von anderen … naja … beschützen lassen. Für Mokuba ist dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen. Ich komm‘ auch ohne dich klar.“
Seto erwiderte still meinen Blick. Ich spürte seine Nähe, wie schon lange nicht mehr. So bewusst und entspannt. Wie seltsam, wie ironisch, so kurz vor seiner Abreise, nach der er so weit entfernt von mir sein wird.
„Hündchen“, flüsterte er und ein leises Grinsen überflog seine Lippen, „ich liebe dich.“
Ich lehnte mich an ihn, vergrub meine Stirn an seiner Brust.
„Ich dich auch, blöder reicher Geldsack, ich dich auch.“
Seine Lippen waren weich, sein Kuss besitzergreifend. Ich dehnte den Augenblick, doch niemand konnte ihn unendlich machen.
~*~*~*~
Nachdem Seto und Mokuba durch den Sicherheitsbereich durchgegangen waren, schritt ich schweigend zu Roland, Setos Chauffeur, zurück, der in höflicher Distanz gewartet hatte. Mokuba hatte darauf bestanden, dass der nicht im Wagen warten, sondern „richtig Tschüss“ sagen sollte. Der Wirbelwind. Ich würde ihn vermissen.
„Nach Hause, Herr Wheeler?“, fragte er, ich nickte automatisch. Tief in Gedanken versunken und unglaublich müde trottete ich neben ihm her.
„Das sollte ich Ihnen jetzt überreichen“, wandte sich Roland plötzlich wieder an mich und gab mir einen Umschlag. Ich sah verwirrt zu ihm auf, doch er zuckte nur die Schultern und drehte sich wieder um, wobei ich glaubte noch ein leises Lächeln gesehen zu haben. Aber im Nachhinein war ich mir ziemlich sicher, dass ich mich geirrt hatte, denn es passte einfach nicht zu dem korrekten, großen, schweigsamen Mann.
Im Auto öffnete ich den Umschlag ungeduldig. Ich zog ein einfach zusammengefaltetes, weißes Papier heraus.
„Jetzt muss das Hündchen selbstständig unser Zuhause beschützen.“
Ich hörte beinahe seine herablassende Stimme und musste unwillkürlich lachen, dachte nur „so ein blöder Idiot!“
Eine Welle der Zuneigung überrollte mich. Und es tat irgendwie zeitgleich weh.
Pff, von wegen Hündchen, dachte ich mit grimmigem Blick, doch ein Lächeln lag auf meinen Lippen, das dort einfach nicht verschwinden wollte.
Aber eines ließ mich stocken. Er schrieb: Unser Zuhause.
Und gleichzeitig fühlte ich mich plötzlich so leer.