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Tag der Engel

Monatsgeschichte September für den Jahreskalender 2012 des Zirkels Feder und Stift
von

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„Weißt du, was heute für ein heute Tag ist?“, die helle Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Mehrere Minuten lang hatte der junge Mann ganz still gestanden und die einzige Bewegung war der Wind gewesen, der mit den dunklen Strähnen seines Haares spielte. Haar, das ein wenig zottig wirkte, zu lang und wirr, um einer Frisur zugeordnet zu werden. Er blickte auf und sah ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das vor ihm stand, strahlend zu ihm empor lächelte, eine Zahnlücke offenbarend.

Die Kleine trug ein blau-weißes Kleidchen und passende Schleifen im blonden Haar, auch ihre Augen leuchteten blau, so wie der Septemberhimmel über ihnen, den heute kaum eine Wolke zierte. Ihr rundes Gesicht war mit Sommersprossen regelrecht übersät und auch ihre Kleidung wies ein paar Flecken auf, als wäre sie beim Spielen nicht vorsichtig gewesen.

Er blinzelte, ganz überrascht, weil ihm zuvor nicht aufgefallen war, dass sich noch jemand an diesem Ort befand und wie die meisten Kinder, war auch die Kleine nicht sehr geduldig, sondern fuhr munter fort, noch ehe er sich eine Antwort überlegen konnte. Wahrscheinlich konnte er ganz froh darüber sein. Er hätte wohl nichts zu sagen gewusst.

„Heute ist Tag der Engel“, erklärte das Mädchen stolz und er blickte sich unauffällig um, ob nicht die Mutter oder der Vater irgendwo zu entdecken wären, aber nein, da war weit und breit niemand zu sehen...

„Aha...“, murmelte der Dunkelhaarige daher notgedrungen und fuhr sich mit einer Hand durch den zerzausten Schopf, weil er nicht recht zu wissen schien, was mit dem Kind anzufangen war. Was suchte sie hier? Sollte er sie einfach fort schicken? Oder sie ignorieren? Ihm war nicht danach, mit jemandem zu sprechen, doch Kinder beachteten solche Stimmungen wohl nicht.

Das Mädchen runzelte die Stirn bei dieser nichtssagenden Reaktion und das Zahnlückenlächeln verblasste.

Doch auf ihrem Gemüt schien die kurze Irritation wie eine Wolke am Himmel zu sein, vom Wind bald wieder fortgeweht, denn sie versuchte es erneut. „Glaubst du denn nicht an Engel?“, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf. Sie war klein, reichte ihm kaum zur Hüfte, aber vielleicht waren das alle Kinder, damit kannte er sich nicht aus. Er fühlte sich unwohl unter ihrem Blick. Scheinbar hatte das Mädchen vor, ihn so lange anzustarren, bis er sich zu einer Antwort erbarmte. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich und schien sie so erneut zu verwirren.

„Wie kann man das nicht wissen?“, erkundigte sich das Mädchen verwundert. „Meine Mama hat gesagt, dass man den September auch Engelmonat nennt, weil am Tag der Engel den Erzengeln gehuldigt wird.“ Sie stolperte ein wenig über das vorletzte Wort des Satzes und er war ziemlich sicher, dass sie keine wirkliche Vorstellung von seiner Bedeutung hatte. Aber das war wohl so unerheblich wie die Information, die sie ihm gab. Nutzloses Wissen, wie Kinder es angeblich liebten.

„Das ist schön“, erklärte er neutral und suchte erneut nach einem Menschen, der ihm helfen könnte. Natürlich hätte er einfach fortgehen können, aber das wollte er nicht. Und er brachte es auch nicht über sich, die Kleine grob zu behandeln, damit sie weglief.

„Wo ist denn deine Mama?“, fragte er schließlich in der Hoffnung es werde irgendwohin führen. Doch das Mädchen zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Sie ist nicht hier, aber sie hat gesagt, dass ich auf sie warten soll. Sie hat mir versprochen, dass ich einen neuen Schal bekomme, für den Winter, einen blauen.“ Wieder dieses Lächeln, sie strahlte mit der Sonne um die Wette, wegen solch einer Kleinigkeit.

Der Mann runzelte die Stirn, wer überließ denn ein Kind in diesem Alter einfach so sich selbst? An so einem Ort? Das schien ihm doch recht unverantwortlich.

„Hat sie auch gesagt, wann sie wiederkommt?“

„Nein. Also ich glaube an Engel. Mama hat gesagt, dass sie oben im Himmel wären und auf die Menschen aufpassen würden und dass sie alle sehr schön seien, mit weißen Gewändern und Federflügeln, so wie Vögel. Aber das glaube ich nicht.“

„Nicht?“, fragte er, weil sie das zu erwarten schien, nicht, weil es ihn interessierte. Sie setzte sich jetzt auf die Kante der Bank, die sich keine zwei Schritte entfernt von der Stelle befand, an der er stand.

Ihre Beine waren so kurz, dass sie den Boden nicht ganz berührten, so ließ das Mädchen sie baumeln und betrachtete wie es schien kurz seine Schuhe. Blaue Schuhe auf Stoff, ebenfalls mit Schleifen. Er fragte sich ob das alles der Jahreszeit wirklich angemessen war. Der Tag war warm, weil die Sonne schien, aber am Abend würde die Kleine sicherlich frieren.

„Nein. Es müsste doch ziemlich langweilig sein, da oben auf den Wolken und mit weißen Kleidern wäre man ständig voller Flecken.“ Sie schüttelte das kleine Köpfchen so heftig, dass die blonden Korkenzieherlocken von einer Seite zur anderen flogen. „Ich glaube, dass Engel gar nicht so viel anders sind, als andere Menschen, deshalb erkennt man sie auch nicht, wenn sie herumlaufen, aber sie sind da und helfen den Leuten, das hat sogar in der Zeitung gestanden.“

„Soso“, murmelte der Mann und hätte doch beinahe gelächelt. Er schüttelte den Kopf. „Wer weiß das schon? Ein paar Engel mehr könnten vermutlich nicht schaden.“

Nun betrachtete die Kleine ihn wieder so, als wollte sie ihm direkt in den Kopf hineinschauen und unbehaglich wandte er den Blick ab und wünschte, er hätte geschwiegen. Er war nicht hierher gekommen, um zu reden...

„Du bist traurig, richtig?“, fragte sie plötzlich und er kam nicht umhin verblüfft aufzublicken, sein Blick eine einzige Frage. Die Augen des Mannes waren braun. Ziemlich dunkel, wie auch sein fast schwarz wirkendes Haar. Sein Gesicht wirkte hager und war mit unregelmäßigen Stoppeln bedeckt. Scheinbar hatte nicht nur seine Frisur ein wenig Pflege nötig.

„Wie kommst du darauf?“ Die Antwort bestand zunächst nur in einem Schulterzucken und die Kleine schaute nach oben zum Himmel, wo die Wolken weiterzogen, dem Horizont entgegen.

„Weil das hier ein Ort für traurige Menschen ist“, erklärte sie dann. „Die kommen her, weil sie traurig sind und werden dann noch trauriger. Ich glaube sie warten auch auf jemanden, nur dass der andere nie kommt. Ich weiß nur nicht, ob das daran liegt, dass sie nicht lange genug warten, oder dass die anderen gar nicht wissen, dass sie warten. Vielleicht haben sie es ja vergessen?“ Erst jetzt traf ihr Blick wieder seinen. „Wartest du auch auf jemanden?“

Der Dunkelhaarige räusperte sich mit einem komischen Gefühl. Vermutlich weil er hier herum stand und sich mit einem Kind unterhielt, dass er nicht kannte. Und weil er nicht wirklich wusste, warum er das tat.

„Nein, ich will nur jemanden besuchen“, murmelte er und schien im nächsten Augenblick selbst erstaunt über die Antwort zu sein. Das Mädchen wirkte verständnislos. „Hier? Wen denn?“, erkundigte sie sich neugierig und nun war sie es, die sich umblickte. Etwas entfernt konnte man jetzt eine ältere Frau mit einer Gießkanne entdecken, sie humpelte leicht beim Gehen, bewegte sich am Rand einer Wiese entlang von ihnen fort.

Das Gras dort wirkte ein wenig kränklich, hatte sich wohl noch nicht von der Hitze des Sommers erholt und es wurde schon von den ersten Blättern des Herbstlaubes bedeckt, die im Sonnenlicht rot, gelb und braun schimmerten, wenn der Wind sie über die Wiese jagte.

„Ja, hier“, sagte er leise und blickte auf den Boden zu seinen Füßen. An dieser Stelle wuchs kein Gras, sondern es zog sich ein heller Sandweg über das Gelände. „Einen sehr guten Freund von mir.“

„Und warum ist er hier?“, fragte sie wiederum. Immerhin war es ein Ort, der Menschen unglücklich machte, da gab es doch sicherlich bessere Treffpunkte, oder nicht?

„Er war sehr krank“, antwortete der Mann leise und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er bemerkte es gar nicht, wie das Mädchen aufstand, aber das musste sie getan haben, denn plötzlich umfassten ihre Hände seine, so gut sie das angesichts der Größenverhältnisse vermochte. Sie stand wieder vor ihm, blickte zu ihm hoch. Scheinbar merkte die Kleine instinktiv, dass es ihm nicht gut ging, sie verstand nur nicht, warum das so war.

„Aber jetzt geht es ihm besser?“, fragte sie arglos.

„Das bleibt wenigstens zu hoffen“, murmelte der Dunkelhaarige und seine Stimme klang ein wenig rauer als zuvor. „Aber so genau kann das wohl keiner sagen.“ Ihr Blick glich einem Fragezeichen, als er eine seiner großen Hände aus ihrer winzigen löste um ihr kurz über den blonden Schopf zu streichen.

„Bestimmt“, bekräftigte sie da und hielt nun seine andere Hand umso fester. „Und dann freut er sich bestimmt auch über Besuch. Es ist langweilig, krank zu sein und dann ist es gut, wenn jemand kommt und einem davon erzählt, was passiert, solange man nicht dabei sein kann. Das ist dann fast so, als wäre man doch da gewesen.“

„Ja“, sagte er leise und musste nun doch lächeln. Es tat irgendwie ein bisschen weh, aber das war ein guter Schmerz, die Art, die man nach einem langen Augenblick der Leere spürt und die die Dinge wieder realer macht, wenn sie wie ein Traum erscheinen. „Das ist wohl so.“

Die Kleine wirkte plötzlich ziemlich zufrieden, als sie das Lächeln erwiderte, inklusive Zahnlücke und Sommersprossen. Dann hob sie den Kopf, als würde sie etwas hören. „Ich glaube, da kommt meine Mama!“, rief sie glücklich und ließ seine Hand los. Er blickte auf, sah sich um, doch konnte er noch immer niemanden entdecken.

Der Friedhof lag ganz still da, die alten Bäume warfen Schatten auf die Grabsteine in all ihren Form- und Farbschattierungen, auf die Blumen und Bilder, die Kreuze und Kränze und all die Gaben, mit denen die Lebenden die Toten näher zu holen suchten.

Er verengte die dunklen Augen ein wenig, weil die Sonne ihn blendete und da entdeckte er doch jemanden. Eine Frau in einem grauen Herbstmantel, die mit langen Schritten den Sandweg entlang eilte. Sie wirkte ein wenig gehetzt, ein wenig bleich. Ihre Stiefel waren staubig, das lange helle Haar zu einem strengen Zopf zurück gebunden. Die Frau war jünger, als er es erwartet hätte, jünger, als er selbst es war, wenngleich nur ein oder zwei Jahre. Und sie vermittelte einen guten Eindruck davon, wie das Mädchen einmal aussehen würde, wenn es erst erwachsen war.

Etwas aber wunderte den Mann. Sie blickte sich gar nicht um - als wüsste sie, wo ihre Tochter zu finden wäre. Was nicht sein konnte, denn sie lief ja zielstrebig an ihm vorbei.

Der Mann wollte etwas sagen und bemerkte plötzlich, dass die Kleine fort war. Sie musste weggelaufen sein, als er nicht mehr auf sie achtete, vielleicht zum Treffpunkt?

Aus keinem besonderen Grund verspürte er den Drang, der Frau zu folgen und deshalb tat er es, auch wenn er sich ein wenig seltsam dabei fühlte. War es doch nicht die Mutter der Kleinen? Er hätte die Ähnlichkeit beschwören können... Aber die schlanke Blondine war an einem Grab stehen geblieben und der Ausdruck tiefen Kummers auf ihrem schmalen Gesicht war ihm vertraut.

Er kannte die Leere, die ein Mensch hinterlassen konnte sehr genau und er hatte selbst gerade erst einen Eindruck davon bekommen, dass man diese Leere vielleicht irgendwann würde füllen können.

Auch hier war das Mädchen nicht zu sehen und etwas durcheinander wollte der Dunkelhaarige sich zurückziehen, damit er nicht störte, als die junge Frau etwas aus ihrer Tasche zog und auf das Grab legte. Der Anblick ließ ihn verwirrt stehen bleiben, denn es handelte sich um einen Schal, einen himmelblauen Schal, der inmitten all der Naturtöne auf dem Grab hell leuchtete.

Er vernahm ein ersticktes Schluchzen aus Richtung der Frau und plötzlich verließ sie beinahe fluchtartig das Grab, eilte an ihm vorbei, so dicht, dass sie ihn fast berührte und schien ihn dabei doch gar nicht wahrzunehmen.

Mit einem ganz seltsamen Gefühl trat er etwas näher an das Grab mit dem Schal. Es war ein Kindergrab, zwischen den bunten Blumen fand sich Spielzeug, der Grabstein war ein Engel aus hellem Marmor und die gefalteten Hände des Himmelswesens bargen ein Bild, das Foto eines kleinen blonden Mädchens, das mit einer Zahnlücke breit in die Kamera grinste, einen Teddybären umklammernd. Ein Mädchen, dass vor ungefähr einem Monat gestorben war.

Er las die Inschrift des Grabes und war dabei doch unfähig, das Ganze zu begreifen. Doch erinnerte er sich daran, dass etwas in der Zeitung gestanden hatte. Sie war in der Fußgängerzone überfahren worden, von einem Betrunkenen, während sie vor einem Laden auf ihre Mutter gewartet hatte... Ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar.

Heute ist Tag der Engel...

Ich glaube, dass Engel gar nicht so viel anders sind, als andere Menschen, deshalb erkennt man sie auch nicht, wenn sie herumlaufen, aber sie sind da und helfen den Leuten...

Einem Impuls folgend, wandte auch er sich ab, lange Schritte trugen ihn von den Reihen der Gräber fort, in die selbe Richtung, in die die Frau gelaufen war.

Sie hatte sich nicht weit entfernt, denn scheinbar war ihre Tasche heruntergefallen und der Inhalt hatte sich verstreut. Der Dunkelhaarige bückte sich, um ihr behilflich zu sein, als er nach einem der Gegenstände griff, berührten sich zuerst ihre Hände, in der nächsten Sekunde ihre Blicke.

Vielleicht gab es tatsächlich so etwas wie Engel... in jedem Fall gab es Menschen. Und manchmal verlor man sie, manchmal fand man sie.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Chimi-mimi
2013-12-03T14:25:55+00:00 03.12.2013 15:25
Aw... das ist so ziemlich mein erster Gedanken.
Ich ahnte ja bereits recht schnell, was die Kleine eigentlich ist, aber der Schluss hat mich jetzt tatsächlich zum Schniefen gebracht und sehr gerührt. Eine wunderschöne Geschichte ♥


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