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Laterna Magica

von

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Ars magna lucis et umbrae

As far as it’s possible

As far as it can be possible

That nothing entirely fades
 

Als sie am nächsten Morgen ihren Arbeitsplatz betrat, war die Hölle los. Nicht nur buchstäblich, wie es schien, denn die vollkommen irrationale herbstliche Hitzewelle erstickte jegliches Bemühen der Klimaanlagen. Die Fernsehmoderatoren und Talkshowgäste stritten sich schon seit Tagen, ob es sich nun um ein Naturphänomen oder nur die viel beredeten Folgen der Klimaerwärmung handelte. Dass alle wie aufgescheuchte Hühner durcheinanderliefen, machte es auch nicht besser.

„Was ist denn hier los?“ immer noch sichtlich verblüfft, stellte sie ihren Kaffee auf den nächstbesten Tisch und schnappte sich ihre Kollegin und Freundin Annabell, die gerade mit einem Aktenstapel in der Hand vorbeihetzen wollte und so darauf bedacht war, nicht zu stolpern, dass sie sie komplett übersah.

„Ist irgendwas explodiert oder was in aller Welt ist hier los?“

Es würde zumindest die Hitze erklären.

Anna strich sich ein paar dunkelbraune Strähnen aus dem gebräunten Gesicht und seufzte.

„Tut mir leid, ich weiß, ich hätte dich anrufen sollen. Es ist nur, du wirktest in letzter Zeit so abwesend und gar nicht wie du selbst seit Akai weg ist und James meinte…“

„Anna!“

„Es gibt einen neuen Serienkiller.“

Das geschäftige Huschen der Mitarbeiter schien genauso schlagartig erstarrt zu sein, wie der dauerhafte hektische Lärm verstummt. Nur die Hitze hing bleiern und schwer über ihnen, wie ein düsterer Vorhang, auf den die pralle Sonne unermüdlich vom Himmel knallte.

„Bitte was?“

„Ich bin nicht für diesen Fall zuständig, weshalb ich nicht sonderlich viel darüber weiß, aber James meinte, er will dich sprechen deswegen.“

„Okay, ich gehe zu ihm.“ Bevor ihre Freundin etwas erwidern konnte, nahm sie ihr die Akte zum Fall aus der Hand, die sie inzwischen mühsam herausgefriemelt hatte und machte sich auf den Weg zu James Blacks Büro, wo sie von seiner Sekretärin, einer freundlich, aber leicht angespannt dreinblickenden jungen Frau, zum Konferenzraum weitergeleitet wurde.

Was war hier nur los? Wie war es möglich, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Serienkiller auf den Plan traten, nachdem die USA jahrelang von solchen Tätern verschont geblieben waren?

Es passiert, wenn es eben passiert. Für manche Dinge gibt es keine Wissenschaft.

Aber wir hassen das.

Menschen hassen es, etwas nicht zu wissen.
 

„Ms. Starling, was für eine freudige Überraschung.“

Ihr Boss klang durchaus freundlich, aber keineswegs restlos begeistert. Eher so, als wäre sie ein Kind, das gerade ein Bild gemalt hatte und er der Vater, der es nur aus Höflichkeit und Zuneigung lobte.

„Wie fühlen Sie sich denn?“

„Großartig.“, lächelte sie schief und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Nur etwas verwirrt.“

„Es tut mir leid, ich wollte Sie erst persönlich sprechen, bevor ich Sie über den Fall informiere.“

Peinliche Stille.

Wieso habe ich nur das Gefühl, dass mich alle anstarren?

Zwar kannte sie alle Anwesenden in diesem Raum nur flüchtig, da viele in anderen Abteilungen tätig waren, aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass alle wussten, wovon Black sprach. Dass man es ihr ansah, wie eine ansteckende Hautkrankheit oder eine riesige, eitertriefende Narbe. Sie wusste selbst, dass sie seit Shuichis Abreise viel an Vertrauen verloren hatte, sie wusste, dass sie sich seltsam verhalten hatte, aber es war doch nur eine Ausnahme gewesen! Sie mussten doch verstehen, wie sehr sie litt? Es war ihr so schwer gefallen, wieder Halt im Leben zu finden, sich sicher zu fühlen und glücklich zu sein und das, was ihr diese Gefühl gegeben hatte, war fortgegangen, weggetaut wie nasskalter, matschiger Schnee im Frühling. Nichts, als eine flüchtige Erinnerung an den Winter.

Durfte sie denn nicht trauern?

Wo ist mein Papa? Ich habe ihm Orangensaft gekauft…

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Natürlich.“ Eilig räusperte sie sich und rückte ihre Brille zurecht. „Es gibt also einen neuen Killer?“, versuchte sie hoffnungsvoll ihre Glaubwürdigkeit mit der einzigen Information zurückzugewinnen, die sie besaß.

„So ist es.“ James Black nickte, wobei er sich die Stirn massierte, was immer ein schlechtes Zeichen war. „Wir wissen allerdings noch nichts Genaues, schon gar nicht, ob der Fall ähnliche Ausmaße wie der des Salamanders annimmt.“

Beim Namen „Salamander“ schienen sofort alle geflüsterten Gespräche, ja selbst die Atemgeräusche auf einen Schlag zu verstummen. Eine erdrückende Stille machte sich breit und Jodie musste erneut an eine schwere, tiefschwarze Decke denken, die Licht und Sauerstoff mit Leichtigkeit auszulöschen vermochte. Salamander. Das war der Name eines Serienkillers, der vor einigen Wochen wie aus dem Nichts aufgetaucht war und erbarmungslos Familien hingerichtet hatte, indem er ihre Häuser angezündet und ihre wehrlosen Körper zu Asche verbrannt hatte. Kinder, Mütter und auch Väter.

Papa, Papa, ich hab dir Orangensaft mitgebracht! Du siehst so müde aus, so durstig…

Alles, was zurückgeblieben war, war ein japanisches Zeichen mit der vielsagenden Bedeutung "Salamander", dem Namen des Mörders. Das und tausend Fragen, tausend schmerzvolle Schreie und die verständnislose Angst einer ganzen Nation, die wie gelähmt den Atem anhielt.

„Könnte eine Verbindung zu Salamander bestehen?“, meldete sich eine dunkelhäutige Frau mit einem strengen schwarzen Dutt zu Wort. Sie musste ungefähr 35 sein und hatte ein markantes, aber durchaus hübsches Gesicht.

„Kein schlechter Ansatz.“ Er bat sie, in der Akte ein paar Seiten weiterzublättern. „Zwar hat der Fall oberflächlich keinerlei Ähnlichkeit, aber ein paar kleine Details deuten sehr wohl darauf hin, dass es sich um eine Hommage an Salamander handeln könnte.“

Auch Jodie schlug jetzt die Akte auf, wobei ihr Blick erst einmal am ungewöhnlichen Titel der Ermittlungen hängen blieb, der ihr bislang überhaupt nicht aufgefallen war.

In großen, schmucklosen Druckbuchstaben stand „LATERNA MAGICA“ auf dem ledernen Einband.
 

Es dauerte fast drei Stunden, bis die Konferenz schließlich zu Ende war. Etwas, was einem bei gefühlten 40 Grad wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Erleichtert, es überstanden zu haben, füllte Jodie einen Pappbecher an einem Wasserspender und trank mit einem Schluck aus. Viele Erkenntnisse hatte es noch nicht gegeben, kein Wunder, immerhin hatten sie den Fall gerade erst aufgenommen. Anscheinend hatte es während der letzten zwei Wochen zwei Morde gegeben. Jeweils an den Wochenenden, einmal am späten Abend und einmal in der Nacht. Beide Male waren die Opfer mit einem Kopfschuss getötet worden, schnell und schmerzlos, eine Spuren von Folter oder Misshandlung. Sie wurden so umgebracht, wie ein Auftragskiller es tun würde, dachte sie schaudernd. Rein geschäftlich.

Das einzig auffällige und das, worauf ihre Kollegin angespielt hatte, war ein Apparat, den man neben beiden Opfern gefunden hatte. Zwei Unterschiedliche Apparate, zwei unterschiedliche Opfer, aber die gleiche Signatur.

Wie bei Salamander.

Dieser Apparat wurde gemeinhin als „Laterna Magica“ bezeichnet, was auch den merkwürdigen Titel schnell erklärt hatte. Hierbei handelte es sich um ein Skioptikon, eine frühe Form eines Filmprojektors, der im 19. Jahrhundert dazu genutzt worden war, um Bilder und sogar erste bewegte Bilder, die in Richtung Kurzfilme gingen, an die Wände zu projizieren.

Was muss das für ein Wunder für die Menschen damals gewesen sein?

Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. Tief drinnen fühlte sie sich verwirrt, besorgt und ängstlich wie nie zu vor, ja beinahe panisch. Denn das alles war nicht wichtig im Vergleich zu dem, was diese Bilder gezeigt hatten, was der Killer ihnen mitgeteilt hatte.

Ars magna lucis et umbrae, die große Kunst von Licht und Schatten. Das hatte in Großbuchstaben auf dem Boden gestanden, geschrieben im Blut der Opfer. Daneben hatte dieser furchtbare und gleichzeitig zauberhafte Apparat gestanden, auf dem unermüdlich die gleiche Bilderfolge ablief, wieder und wieder.

Ein Mädchen verlässt ein brennendes Haus und zerfällt dabei langsam zu Staub.

Papa, ich hab dir…
 

„Hey!“

Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht loszuschreien. „Müssen Sie sich so an mich ranschleichen?“

„Tut mir leid, ich dachte, Sie sehen mich.“ Die Frau aus dem Konferenzraum zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sie sehen blass aus.“ Sie musterte sie mit nachdenklicher Besorgnis.

„Ja… ich, habe das alles erst heute erfahren, das war einfach viel auf einmal.“

„Sollten Sie das als FBI-Agentin nicht gewohnt sein?“

„Ich hatte noch nicht viel mit großen Fällen zu tun, ich war bislang eher für den Papierkram zuständig.“

Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, ich wollte nicht zu direkt werden, das passiert mir immer wieder.“ Eine gepflegte Hand mit creme-weißen Nägeln streckte sich ihr entgegen. „Ich heiße Melinda Parker, nennen Sie mich einfach Mel.“

„Jodie.“ Sie ergriff sie.

„Freut mich. Und das ist also ihr erster großer Fall?“

„Naja, ich helfe ab und zu beim Salamander-Fall, wenn Not am Mann ist, aber offiziell bin ich dort nur Hilfskraft und keine Ermittlerin.“

„Machen Sie sich keinen Kopf, der Fall ist vermutlich auch ein bisschen zu groß für eine Anfängerin.“

Natürlich war er das, daran bestand kein Zweifel. Deshalb versetzte es ihr auch immer einen kleinen Stich, wenn sie daran dachte, wer die Ermittlungen leitete. Sie freute sich für Anna, wie sollte sie auch nicht, sie war ihre beste Freundin. Allerdings beschlich sie manchmal, wenn sie allein war, ein komisches Gefühl. Vielleicht war es Neid, vielleicht Sorge, vielleicht eine seltsame Mischung von allem, eine spitzzüngige Kreatur, die ihr unermüdlich einflüsterte, dass Anna nicht älter war als sie, aber schon so viel erreicht hatte.

Wo stehst du jetzt Jodie? Was willst du mit deinem Leben anfangen? Komm, mach dich nützlich und hol deinem Vater etwas Saft!

„Da haben Sie Recht.“

Mel blickte auf die Uhr und lächelte dann freundlich. Jodie fiel auf, dass ihre Zähne leicht schief waren, aber keineswegs unattraktiv. Es verlieh ihr eher etwas Jugendliches und nahm dem Gesicht seine Strenge.

„Sie sehen aus, als könnten sie einen Eiskaffee oder sonst etwas Kaltes gebrauchen und vielleicht etwas zu essen, damit die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrt. Lust darauf, in ein Café zu gehen? Ich kenne ein nettes ganz in der Nähe und wir haben ja ohnehin Mittagspause.“

„Gerne.“

Sie wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, so sehr hatte sie sich nach ein bisschen Normalität gesehnt, nach etwas, das nicht mit brennenden Häusern oder Leichen zu tun hatte, etwas, das die Stimme in ihrem Kopf, diese gackernde, spottende Stimme endlich verstummen lassen würde.

Hast du…? Hast du…?

Sie folgte ihr nach draußen, wo sie strahlender Sonnenschein erwartete und vergessen ließ, dass der Monat eigentlich für triste Herbsttage reserviert war.
 

Shuichi Akai starrte gedankenverloren auf den Kaffee vor ihm, der ganz und gar nicht schmecken wollte. Es spielte keine Rolle, dass weder Zucker noch Milch darin waren, auch vielleicht auch nicht so sehr, dass er verdächtig klar und flüssig war, wie schmutziges Flusswasser. Das eigentliche Problem lag zweifellos woanders. Er war nun schon seit zwei Wochen Tokio, ohne die geringste Chance gehabt zu haben, die Organisation zu kontaktieren. Immer wieder geriet er an zwielichtige Typen, die behaupteten, sie könnten ihn weiterleiten, aber am Ende blieb nicht einmal mehr der kleinste Rest an Wahrheit übrig. Manche machten sich einen Spaß, andere waren neugierig, erhofften sich Geld oder anderweitig belohnt zu werden, wenn sie einem Idioten dabei halfen, seine eigene Hinrichtung vorzubereiten. Denn das hatten sie ihm ohne Ausnahme ziemlich klar deutlich gemacht.

Wenn sie dir nicht hundertprozentig vertrauen und glauben, dass du für sie durchs Feuer gehen würdest, dann bist du tot. Mausetot und keinen Cent mehr wert.

Nicht, dass er das nicht schon vorher gewusst hatte. Während all seiner Ermittlungen hatte er vor allem eines gelernt: Sie brechen alle Brücken ab. Keinem von ihnen wäre eingefallen, eine Spur zu interlassen oder schlampig zu arbeiten, selbst der kleinste Fehler, ein scheinbar bedeutungsloses Malheur konnte den Tod bedeuten und das wussten sie. Deshalb jagten sie wie Nachtmare durch die Köpfe ihrer Gegner, lautlos und tödlich, während ihre schwarzen Mäntel zumindest vor der Justiz weiß wie Schnee waren.

Aber er würde einen Weg finden, das wusste er. Er würde es irgendwie schaffen, sie zu überlisten oder sich ihr Vertrauen erschleichen, er, Shuichi Akai, dem noch niemals eine Mission missglückt war. Ohne es zu wollen, ließ ihn dieser Gedanke lächeln.

Nein, nicht mit mir.

Als er aufstand und die matschbraune Brühe zahlte, ohne sie getrunken zu haben, ahnte er nicht, dass seine Chance, die Organisation zu erreichen, kaum weiter entfernt war, als der Flügelschlag der Krähe, die sich krächzend vom Dach des kleinen Lokals erhob und seinen Blick für einen kurzen Augenblick von seinem Weg ablenkte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Varlet
2016-01-04T10:32:38+00:00 04.01.2016 11:32
Wieder ein gut geschriebenes Kapitel. Besonders angetan hat es mir die Szene: Sie wusste selbst, dass sie seit Shuichis Abreise viel an Vertrauen verloren hatte, sie wusste, dass sie sich seltsam verhalten hatte, aber es war doch nur eine Ausnahme gewesen! Sie mussten doch verstehen, wie sehr sie litt?
Hier würde mich selbst interessieren, was Jodie "angestellt" hat, dass sie an Vertrauen verloren hat? Ich meine mich zu erinnern, dass du in einem späteren Kapitel geschrieben hast, dass Jodie ihre Beziehung zu Shu heraus posaunte. Das klang für mich so, dass es eigentlich keiner gewusst hat. Wahrscheinlch sind eh Beziehung zwischen FBI Agenten untersagt. Aber unter dem Aspekt verfestigt sich eigentlich mein Gedanke, dass die anderen gerade nicht sehen können, wie sehr sie leidet bzw. das sie wegen ihm leidet.

interessant find ich auch die andere Hälfte des Kapitels und den Teil wie Shu die Organisation infiltrieren kann. Ich finds auch gut, dass es eine Weile dauert, bis er dieser zugehörig ist und es nicht von heuzte auf morgen bzw. schnell passiert.


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