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Der Kuss des Kobolds

von

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ZEHN

Scharfer Wind riss in meinen Träumen an meinem Körper. Ich erwachte stirnrunzelnd und musste feststellen, dass der Wind nicht nachließ. Auf der Seite liegend, öffnete ich verwirrt die Augen und blickte komplett verdutzt in einen tiefen Häuserabgrund. Mein Gehirn ratterte stark, bis es verarbeitet hatte, was es gerade sah. Ich schrie erschrocken auf, kroch vom Rand des Hochhausdaches, auf dem ich so selbstverständlich gelegen und geschlafen hatte, zurück und blickte mich um.

Ich trug meinen leichten Satinpyjama, welchen der Wind unerbittlich aufbauschte. Kies knirschte unter meinen nackten Füßen und ich fiel stolpernd auf meinen Hintern. Wie zu Geier-?

Mein Blick streifte die stahlverstärkte Luke des Daches und ich stürzte zu hin, zerrte an dem Ring, der den einzigen Weg nach unten öffnen sollte, doch die Luke bewegte sich keinen Zentimeter. Scheiße.

Verzweifelt ließ ich mich auf meine Knie sinken. Dann kamen die Tränen. Meine letzte Erinnerung galt Harry. Was war passiert? Wie war ich nur hierher gekommen? Und was noch viel wichtiger war: Wie kam ich wieder hier weg?

Noch ehe ich den Gedanken gänzlich beendet hatte, führten meine Füße mich wieder zum Rand des Gebäudes.

»Hilfe«, schrie, ja kreischte ich fast in die Nacht.

Immer wieder. Bis mir klar wurde, dass es hoffnungslos war. Hunderte Meter über dem Lärm der Großstadt und von Menschen getrennt durch Stahl, Beton und Sicherheitsglas, würde niemand meine Rufe hören. Ein leises Schluchzen stahl sich über meine Lippen. Mir war kalt und ich schlang meine Arme um meine Mitte, fast so, als müsste ich mich selbst daran hindern auseinander zu fallen.

Wir können dir helfen, sagten die Stimmen ganz plötzlich in meinem Kopf, allen voran Eddie. Ich hatte sie noch nie so klar gehört und ich wusste, dass sie recht hatten. Wenn ich ihnen die Kontrolle überließ, würde alles gut werden. Lass dich fallen. Wir werden dich auffangen, schmeichelten sie weiter und ich haderte mit mir selbst. Wir lieben dich und wollen nur helfen.

Tränen schossen in meine Augen, als ich daran dachte, ob Eddie wohl das gleiche gehört hatte, bevor er in Fetzen gerissen wurde. Oh Gott. Mir wurde übel.

»Okay«, hörte ich mich sagen, noch ehe ich richtig wusste warum.

Sofort spürte ich ein Reißen in der Brust und ging stöhnend in die Knie. Es breitete sich aus, war erst ein leichtes Ziehen, dann ein explodierender Schmerz, der mir unter der Haut brannte. Ich schien in Flammen zu stehen. Ich schrie, als es noch schlimmer wurde. Mir wurde schwarz vor Augen und ich bekam kaum mit, wie eine eigenartige Masse aus all meinen Poren heraus kroch, meinen Körper komplett umhüllte und etwas aus mir machte, was es eigentlich nicht geben sollte. Ich wand mich unter schlimmster Agonie und als ich glaubte nicht mehr ertragen zu können, hörte es auf. Der Schmerz war mit einem Mal verpufft. Verschwunden wie eine geplatzte Seifenblase.

Ich öffnete die Augen und nahm meine geweiteten Sinne wahr. Ich hörte alles, sah alles und konnte mir alles erlauben. Die Welt würde mir gehören und jeder würde zu meinen Füßen liegen, wenn ich nur in die Nacht hinaus gehen und tun würde, was ich am besten konnte: töten.

Mein krallenbewerter Fuß stellte sich auf den Fußsprung und ich war zum Sprung bereit.

»Gefunden«, hörte ich eine Stimme hinter mir, bevor etwas Hartes meinen Rücken traf und ich in die Tiefe fiel.

Ich wirbelte brüllend herum und meine nachtsehenden Augen erfassten den verhassten Flieger über mir. Wir hatten noch eine Rechnung zu begleichen. Glitschige Materie schoss aus meinen Fingern und fand Halt an dem Fluggerät meines Gegners. Mein Fall wurde gestoppt und ich katapultierte mich in die Höhe, zog an dem Verbindungsseil und krachte mit dem Flieger zusammen, als dieser in meine Richtung gezogen wurde. Gemeinsam trudelten wir gen Boden und ich schlug auf ihn ein, zerriss seinen Anzug und kassierte ebenfalls Schläge, die jedoch einfach verpufften.

Der Antrieb seines Gleiters gab ein Geräusch von sich, gab einen kräftigen Stoß von sich und schleuderte uns in das noch nicht fertig gestellte Hochhaus gegenüber. Krachend knallte ich, wie beim letzten Kampf mit dem Typen, gegen einen Stützpfeiler und blieb für zwei Sekunden benommen liegen. Sogleich sah ich die Spitze einer Stahlstange auf mich zurasen und duckte mich zur Seite. In schneller Reihenfolge prasselten Schläge auf mich hernieder und ich wurde rasend vor Wut. Meine Linke bekam die Stange zu fassen und meine Rechte packte den Flieger am Kragen. Ich riss an der Stange und schlug den Gleiter mit Schwung beiseite. Meine Krallen rissen den dämlichen Schutz beiseite, den er vor seinem Gesicht trug, welches ich gleich zerfetzen würde. Doch als ich sein Gesicht sah, hielt ich inne. Etwas in mit sträubte sich plötzlich dagegen ihm etwas anzutun. Ich ließ ihn fallen und meine Klauen schlossen sich um meinen Schädel.

Neinneinneinneinnein, hörte ich eine Stimme in mir rufen. Sie schrie lauter, als alle anderen. Ich wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, ich wollte nur, dass es aufhörte.

Plötzlich war der Gleiter wieder da und versetzte mir einen Schlag, der mich rückwärts durch die Luft fallen ließ. Von der Decke hängende Abdeckplanen legten sich über mich. Ich erstarrte, als sich ein einzelner Gedanke in den Vordergrund drängte:

Harry!

Ich wollte sprechen, doch mein Maul bewegte sich nicht. Mein grotesk veränderter Körper tat Dinge, die ich nicht wollte und ich musste dagegen ankämpfen. Ich kam trotzdem wieder auf die Beine und fuhr meine Krallen aus, als Harry sich vor mir aufbaute. Ich nahm alle geistige Stärke zusammen und jubelte innerlich, als meine Hände sich langsam zu meiner Brust bewegten und die Krallen sich dort unter meine rote Haut schoben. Ein schreckliches Reißen erklang, als ich die Haut, die nicht wirklich zu mir gehörte zur Seite riss. In meinem Kopf schrie es, Schmerz versuchte mich zum Aufhören zu zwingen, doch ich zog so lange an der Masse, bis diese auch von meinem Gesicht verschwunden war. Kurze Zeit war ich wieder ich selbst und sah in das geschockte Gesicht meines Freundes. Mein um Hilfe flehender Blick traf seinen. Und ich musste schon wieder heulen.

»Tess«, flüsterte er leise, doch ich hörte es nicht, weil der Symbiont in diesem Moment wieder die Kontrolle gewann und mein Körper unter ihm verschwand.

Eine weitere Stahlstange schoss horizontal auf mich zu. Sie schob mich gegen einen Stahlträger und Harry schlang die Stange mit einem Kraftschrei einfach um mich und den Träger herum. Ich war gefangen. Nicht für immer, aber vielleicht lang genug.

»Ich hole dich da raus«, versicherte mir mein Gegenüber und sah mir dabei tief in die Augen.

Dann packten seine Hände meine ungeliebte Haut. Er stieg auf seinen Gleiter, legte den Rückwärtsgang ein und zog. Ein Ruck ging durch meinen Körper, als sich Millimeter für Millimeter etwas von mir löste. Es tat weh und ich schrie. Harry schrie auch, jedoch vor Anstrengung. Ein langer Faden hatte sich bereits zwischen uns gebildet. Wie eine zähe Masse hing der Symbiont vor uns in der Luft. Von meinem Rücken war er bereits verschwunden, doch er hielt sich hartnäckig an meiner Brust fest. Der Balken hinter mir gab bereits ein protestierendes Geräusch von sich, Die Düsen an Harrys Gleiter schalteten noch eine Stufe höher und mit einem letzten aufgebendem Platschen wurde ich von meiner Last befreit. Harry machte einen Satz nach hinten, als die Gegenkraft verschwunden war. Erschrocken sah ich, dass der Symbiont nun mit einem lauten und beinahe triumphierenden Geräusch auf Harrys Körper traf. Er kroch unter seiner Haut und war vorerst verschwunden. Aber ich wusste, dass es noch nicht vor bei war.

Harry atmete auf, als es still wurde. Nur der Wind pfiff noch durch die unfertige Etage des Gebäudes. Ich erkannte es schmerzlich als das wieder, welches bereits vor ein paar Wochen Schauplatz eines Kampfes geworden war. Harry stellte seinen Gleiter ab und kam zu mir gelaufen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er, zerrte die Stange, die mich noch festhielt, beiseite und legte seine Stirn gegen meine.

Ich nickte, als ich meine Arme seinen Rücken hinauf schob und er seine Arme ebenfalls um mich schlang.

»Er muss in Eddies Wohnung gewesen sein«, versuchte ich zu erklären, wie es kommen konnte, dass der Symbiont von mir Besitz ergreifen konnte. Oh Gott. Ich hatte Menschen getötet. Würde Harry mich nicht halten, wäre ich wohl zusammen gesackt. »Wir müssen einen Weg finden wie-«

»Schon okay«, unterbrach Harry mich und drückte einen Kuss gegen meine Stirn. »Ich weiß, wie ich es machen werde.«

Ich war beruhigt. Ich wusste, dass Harry einen Weg finden würde. Dann umfasste er mein Gesicht mit beiden Händen, sah mich lange an, als würde er sich jeden meiner Gesichtszüge genau einprägen, und küsste mich so, wie er mich noch nie geküsst hatte. Ich jappste nach Atem, als er von mir abließ.

»Ich liebe dich«, sagte er leise doch mit fester Stimme und ging langsam rückwärts.

Ich lächelte, war glücklich, aber nur kurz. »Wenn der Symbiont getötet werden soll, muss der Wirt sterben.«

Wie bitte?

»Was hast du vor?«, fragte ich unnötigerweise, als Harry wieder auf seinen Gleiter stieg und nach ein paar gedrückten Knöpfen eine computergenerierte Stimme verkündete:

»Selbstzerstörung aktiviert.«

»Harry!«, kreischte ich so laut, dass meine Stimme brach. Ich rannte los, als sein Gleiter abhob, sich entfernte und für mich unerreichbar über der Häuserschlucht schwebte. Ich streckte meine Hände aus, als ich an der ungesicherten Kante der Etage anhalten musste. »Harry, bitte. Sei vernünftig. Wir werden einen anderen Weg finden.«

»Das ist der einzige Weg«, rief er mir aus der Ferne zu und ein grauenhaftes Piepen drang an mein Ohr.

Das war ein Countdown. Harry besaß sogar die Frechheit selig zu lächeln, während kalte Angst nach mir griff, mir die Kehle zuschnürte und ich glaubte den Verstand zu verlieren. Das Piepen wurde hastiger.

»Nein, nein, nein«, flehte ich, sah mit schreckensweiten, nassen Augen auf die Szene vor mir. Dann wurde das Piepen zu einem Dauerton. »HARRY!«

Eine Explosion durchriss die Nacht. Die Druckwelle ließ mich nach hinten fallen. Ich blieb dort liegen, wo ich schmerzhaft auf den Rücken knallte und beobachtete, wie brennende Trümmerteile vom Himmel fielen. Ich atmete schwer, meine Augen brannten und irgendwo da wo mein Herz war, zerbrach etwas mit einem lauten Knacken. Trauer brandete wie eine Flut über mich. Ich schrie, tobte und weinte, tat alles, doch der Schmerz war unerträglich und würde mich vermutlich für den Rest meines Lebens umbringen.

»Harry...«

Irgendwann rollte ich mich auf die Seite, zog meine Beine an meinen Körper und schlang die Arme um meine Knie. Meine Wange kratzte über rauen Beton und irgendwann, als am Horizont ein Silberstreifen erschien, schlief ich erschöpft auf kaltem Boden ein.
 

~
 

»Ach du Scheiße«, hörte ich jemanden sagen und schreckte aus dem Schlaf.

Ich hatte gehofft, dass alles nur ein Traum gewesen war, doch der Bauarbeiter, der wie ein Fragezeichen vor mir stand und seinen Werkzeugkasten fallen ließ, überzeugte mich wieder vom Gegenteil.

»Ist mit dir alles in Ordnung, Mädchen? Jungs, kommt mal schnell her.«

Ich gestattete, dass er mir aufhalf, während seine Kollegen auf die Bildfläche traten und mich fassungslos begafften. Ich sah, wie einer sein Handy zückte und fand meine Sprache wieder.

»Nein«, rief ich und in meinem Kopf ratterte es.

»Schon gut«, sagte der, der mich stützte und langsam zum Arbeiteraufzug führte. »Wir wollen doch nur helfen.«

»Officer Blake«, sagte ich, während meine Zähne aufeinander klapperten. »Officer John Blake.«

Die Bauarbeiter sahen sich an, dann nickte der mit dem Telefon und wählte die 911.

»Okay.«

Die Fahrt mit dem blöden Aufzug dauerte ewig. Mir wurden Fragen gestellt, doch ich beantwortete keine einzige. Ich stand unter Schock.

Endlich am Fuß der Hochhausbaustelle angekommen, sah ich ein erlösendes Blaulicht die Einfahrt hinauf fahren. Arbeiter hielten reihenweise in ihrer Arbeit inne und begafften mich von allen Seiten, als ich mich von dem Bauarbeiter, der mich immer noch stützte, los machte und barfuß die sandige Einfahrt entlang stolperte.

John riss die Tür seines Dienstfahrzeuges auf, stieg aus und sah sich gehetzt um. Irgendwie sah er nicht richtig angezogen aus, denn er trug zivil und hatte nur schnell die Winterjacke des Police Departements übergezogen. Als er mich sah, stutzte er kurz, dann fing er an zu laufen.

Ich weinte, als ich mich in seine Arme warf und von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Er legte seine warme Jacke um meine zitternden Schultern und eine Hand beruhigend gegen meinen Hinterkopf.

»Er ist tot«, hörte ich mich irgendwann stotternd sagen und machte es damit irgendwie endgültig.

Meine Tränen durchnässten Johns leichtes Shirt, in welches ich mich Halt suchend krallte, als er eine Hand hinter meine Kniekehlen schob, mich in seine Arme hob und zum wartenden Streifenwagen trug. Er rief den Bauarbeitern Dank zu und drückte sein Kinn beruhigend gegen meinen Kopf, flüsterte mir Dinge zu, welche ich nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Denn im Moment war ich mir sicher, dass nichts je wieder gut werden würde.
 

~ Ende des 10. Kapitels ~



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