Zum Inhalt der Seite

Der Schrein der Zeit

Sawako und die Krieger vom Aokigahara
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Dewa

Erschöpft sackte Sawako in sich zusammen. Sie war Stunden durch den Wald gehetzt, vorbei an Büschen, Sträuchern, Bäumen und Wurzeln. Erst jetzt traute sie sich, zur Ruhe zu kommen. Ihr tat alles unbeschreiblich weh. Sie hatte Schmerzen in Muskeln, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie sie hatte. Doch brannten sie nun vor Protest über das, was Sawako ihnen abverlangt hatte. Die Alternative zu dieser panischen Flucht hätte ihrem schimpfenden Körper sicher noch weniger gefallen. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Die kalte Nachtluft, oder nun eher Morgenluft, brannte noch immer in ihren Lungen. Der Schmerz war ihr egal. Hätte diese betäubende Erschöpfung sie nicht befallen, wäre sie vor Erleichterung wahrscheinlich durch die Luft gesprungen. Sie war entkommen. Sie war tatsächlich entkommen. Aus einer Situation, die sich für ausweglos erklärt hatte. Aus der sie keine Rettung mehr gesehen hatte. Und nun war sie entkommen. Ein erschöpftes Lächeln konnte sie sich nicht verkneifen. Unglaublich, wie sie sich hatte retten können. Sie hätte niemals erwartet, dass sie so viel Geistesgegenwärtigkeit aufbringen konnte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, hielt sie sich doch sonst für eher tollpatschig und ungeschickt. Welch Glück im Unglück, dachte sie, dass dieser schreckliche Zwischenfall nach einer Tagesausflug durch den Wald und nicht bei einem Shoppingtrip stattgefunden hatte. Bei letzterer Option hätte sie High Heels getragen, was sich bei einer Flucht durchaus als hinderlich herausgestellt hätte. Aber dagegen durchaus praktisch, um nach ihrem Angreifer zu treten. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie war unglaublich stolz auf sich, wie sie die Situation gemeistert hatte. Was auch immer in dieser Schatulle war, es hatte ihr den Hals gerettet. Wie gerne hätte sie jetzt mit ihren Freundinnen in ihrer Lieblingsbar gesessen und bei einem Cocktail berichtet, wie genial sie ihren Angreifer hatte abschütteln können. Sie sah sich schon im vertrauten schummerigen Licht der Bar, wild gestikulierend und euphorisch lachend über ihren Erfolg.

Nur eine Frage blieb, und an diese wollte sie jetzt lieber nicht denken. Wie leicht wäre es, nach Tokio zu ihren Freundinnen und ihrem normalen Leben zurückzukehren? Noch immer hatte sie keine Ahnung, was hier vorging. Wenn das eine Fernsehshow war, für die sie jemand angemeldet hatte und der das wohl alles sehr lustig finden würde, oh, derjenige hätte nie wieder etwas zu lachen. So etwas Fieses traute sie keinem zu, aber man konnte ja nie wissen. Ehrlich gesagt wäre ihr diese Möglichkeit doch lieber als das Unaussprechbare. Die völlig absurde, komplett abwegige und absolut lächerliche Science-Fiction Möglichkeit, sie wäre durch ein Raum-Zeit-Loch oder Ähnliches gefallen. Einfach unvorstellbar. Nein, mit so einem Gedanken würde sie sich nicht weiter befassen. Vorerst. Jetzt würde sie einfach eine Polizeistation oder Ähnliches suchen, oder notfalls zu Fuß zurück nach Tokio laufen. Völlig egal, Hauptsache, sie käme bald nach Hause.

Doch obwohl sie bereits stundenlang gelaufen war, hatte sie das Meer aus Bäumen noch nicht verlassen. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich dem Waldrand näherte oder ob sie nur immer tiefer in die Schatten hinein irrte. Mit wenig Optimismus zog sie ihr Handy aus der Tasche. Das Display war schwarz und wollte ihr nichts verraten. Zu gerne hätte sie jemanden angerufen oder mit GPS ihren Standort ermittelt. Aber ihr Telefon blieb stumm, sie hatte kein Netz. Sie seufzte enttäuscht. Sollte sie weiterlaufen, in der Hoffnung, die nächsten Stunden wieder, hoffentlich freundlicher gesinnte Zivilisation zu erreichen? Alles in ihr schrie nach einer Verschnaufpause. Dieser schreckliche Tag war schon viel zu lang und Erschöpfung kroch ihr durch Mark und Bein. Hoffentlich fiel sie nicht tot um, bevor sie ihr Ziel erreichte. Dann wäre die ganze nervenzerreißende Flucht umsonst gewesen. Also siegte die Erschöpfung, sie würde sich erst erholen, bevor es weiterging. Wenn sie Glück hatte, könnte sie vielleicht sogar etwas schlafen. Dann würde sie, wenn sie aufwachte, alles beim Alten wiederfinden und all das hier würde sich als böser Traum entpuppen.

Sawako fand einen besonders großen Baum, dessen Wurzeln eine kleine Höhle formten. Es sah nicht besonders einladen aus. Doch welche Möglichkeit blieb ihr sonst? Den Umhang fest um sich schlingend kroch sie hinein. Erde fiel ihr ins Haar und auf die Kleidung und kleine Wurzelzweige zerrten an ihr. Wie überraschend, dass sie sich hier tatsächlich sicher fühlte. Vor einem Tag noch hätte sie sich niemals wie ein Tier im Dreck versteckt. Sie hätte sich ihre Kleidung ruiniert, ihre Haare hätten ja furchtbar ausgesehen und überhaupt der ganze Schmutz, geschweige denn das Getier, das dort sicher mit ihr hauste. Wenn das Ganze wirklich ein Scherz oder eine Fernsehshow war, dann hatte es aus ihr zumindest einen Überlebenskämpfer gemacht, dachte sie bitter. Es kam ihr so lächerlich vor, wie sie normalerweise gezetert hätte. Sie strich mit ihren Händen durchs Haar. Es war eine Katastrophe. Dann tastete sie ihr Gesicht ab. Geschwollen von dem Schlag, den sie auf dem Boot erfuhr. Eine Beule an der Schläfe vom Kentern. Ihr Gesicht fühlte sich aufgedunsen an, vielleicht von der Zeit im Wasser, von der Erschöpfung, oder allem zusammen. Außerdem musste sie aussehen wie ein Panda. Mascara und Make-up waren nicht wasserfest. Sie konnte es dem unbekannten Shinobi nicht verübeln, dass er sie beleidigt hatte. Sie musste tatsächlich scheußlich aussehen. Aber sie lebte und sie war, von ein paar oberflächlichen Schmerzen abgesehen, unversehrt. Und das an sich kam ihr vor wie unverschämtes Glück im Unglück.

Der Schlaf überkam sie schneller, als sie erwartet hatte. Kaum schloss sie die Augen, verfiel ihr Körper in die Starre, die seit Stunden drohend über ihr geschwebt hatte.

 

Sawako erwachte, als die Sonne durch das dichte Laub in ihre kleine Höhle fiel. Sie murrte verschlafen und wunderte sich, warum es so unbequem war. Etwas krabbelte auf ihrem Gesicht. Wenn die Sonne sie nicht aus dem Schlummer riss, dann war es dieses Unheil verkündende Kabbeln. Sie riss den Arm hoch, um mit der Hand über ihr Gesicht streifen. Doch mit der Bewegung kam der Schmerz, und mit dem Schmerz kam die Erinnerung. Ein entsetztes Stöhnen entkam ihrer rauen Kehle. Sie zog sich aus dem Bau, klopfte ihre Kleidung ab, um Getier und Schmutz abzuschütteln und legte sich einfach auf den mit Gras überzogenen Waldboden, den Blick in die Baumkronen gerichtet. Shit, dachte sie. Ihre Hoffnung, alles wäre nur ein grausiger Traum, war nun endgültig zunichte. Und ihr tat wirklich alles weh. Jede ungewollte Erfahrung des gestrigen Tages steckte ihr noch in den Knochen.

„Verdammt“, fluchte sie vor sich hin. Benommen rappelte sie sich auf. Ihr war nicht wirklich nach Herumsitzen zumute. Sie wollte nach Hause, so sehr. Ihre Familie machte sich sicher schon Sorgen um sie. Ob sie von dem Brand gehört hatten? Ob sie schon jemanden geschickt hatten? Vielleicht durchforstete ein ganzer Rettungstrupp den Aokigahara nach ihr. Sie schloss die Augen und lauschte. Hmm, Hubschrauber waren nicht zu hören. Obwohl eine Suchaktion per Luft über einem Wald wohl wenig Sinn machte. Aber sie hätte sich ja irgendwie bemerkbar machen können. Wäre winkend auf einen Baum geklettert. Dann hätte ein Hubschrauber sie entdeckt, wie im Film ein Seil heruntergelassen und an Bord hätte ihr ein attraktiver, junger Polizist eine heiße Schokolade in die Hand gedrückt und ihr fürsorglich eine Decke um die Schulter gehängt. Sie hätte an seiner starken Schulter ihr Elend beklagt, von ihrer tapferen Flucht erzählt und ihm vielleicht sogar, nach charmanter Anfrage seinerseits, ihre Telefonnummer zugesteckt. Das wäre doch mal ein passendes Happy End. Doch am Himmel war alles still, nur die Geräusche des Waldes hallten durch den Morgen. Sawako war klar, wie lächerlich der Gedanke in dieser Situation war. Doch wer konnte schon etwas für seine Gedanken? Also schlurfte sie über den vom Morgentau feuchten Waldboden und bahnte sich ihren Weg. Nun war es viel anstrengender als zuvor. Die Sträucher und Äste zerrten an ihr und wollten ihr den Weg versperren, ihr die Heimkehr verweigern und sie für immer hier gefangen halten. Sie sah an ihren Armen herab, überall Kratzer und auch ihr T-Shirt hatte es nicht unbeschadet überstanden. Zum Glück hatte das Adrenalin zuvor verhindert, dass sie sich von den grünen Massen hatte aufhalten lassen. So bahnte sie sich mühselig ihren Weg.

 

Kurze Zeit später lichtete sich das Gestrüpp. Sie hoffte, den Waldrand erreicht zu haben, wurde jedoch enttäuscht, als es nur ein Bach war, der leise rauschend seinen Weg suchte. Dennoch war sie dankbar, denn sie konnte ihren drängenden Durst stillen und sich waschen. Das kalte Nass tat ihrem Gesicht und ihren schmerzenden Gliedern gut. Sie fühlte sich wie neu geboren. Schade, dass sie nicht auch über etwas Essbares stolpern konnte. Ihr Hunger war schmerzhaft quälend. Von den wilden Beeren zu essen wagte sie jedoch nicht. Zu wenig wusste sie über die Natur und den Wald. Giftige Beeren in ihrem Magen konnte sie gerade überhaupt nicht gebrauchen.

Sie beschloss, dem kleinen Strom zu folgen. Vielleicht führte er sie aus dem Wald hinaus, und das Dickicht war nahe dem Wasser nicht so dicht, sodass sie sich besser fortbewegen konnte. Also lief sie flussaufwärts weiter und weiter.

Sie lief eine gefühlte Ewigkeit. Ihr Magen knurrte inzwischen so laut, dass es sie wunderte, dass die Vögel nicht jedes Mal vor Schreck davonflatterten. Ihre Umgebung hatte sich noch nicht verändert. Grün, grün, grün und, hatte sie erwähnt, grün? Das Gefühl des Verlorenseins frustrierte sie. Doch welche andere Wahl hatte sie als weiterzulaufen? Also setzte sie ihren Weg, zunehmend geschwächt, fort. Langsam bemerkte sie eine Veränderung in der Umgebung. Der Wald wurde immer lichter und das Flüsschen immer breiter und breiter. Wie weit mag sie schon gelaufen sein? Endlich hatte sie das Gefühl, vorwärtszukommen. Das gab ihr ungemein Hoffnung.

Und plötzlich sah sie es. Erst erkannte sie nicht, was es war, doch da schwamm ein Stück Stoff im Wasser. Sich von dem kühlen Nass nicht stören lassend, ging sie knietief hinein und griff danach. Es sah aus wie ein Obi. Wieso schwamm so etwas hier im Wasser? Ein Zeichen von Zivilisation, oder nicht? Voller Mut und Tatendrang rannte sie stromaufwärts. Sie fand, dass sie nun lange genug umhergeirrt war und sich nun wieder ein bisschen Zivilisation verdient hatte. Eine heiße Dusche, ein weiches Bett, ein Telefon, damit sie ihre Mutter anrufen konnte, die sicher bereits krank vor Sorge war, und dass vollkommen berechtigt. Vielleicht eine Kamera, dann könnte Sawako ein Bild ihres gerade, um es zu zitieren, ‚scheußlichen‘ Anblicks für das Familienalbum machen. Und eine heiße Schokolade. Das wäre ein Traum. Also rannte sie und schwelgte in Fantasien, was sie in der wiedergefundenen Zivilisation alles machen würde.

Dann lichteten sich die Bäume, am Bach sah sie eine kleine, altmodische, hölzerne Mühle. Und eine kleine, altmodische, hölzerne Hütte. Und, ihr wurde schlecht, kleine, altmodische, hölzerne Hütten so weit das Auge reichte. Ein Dorf, wie von vor 500 Jahren, zeigte sich vor ihr. Versteinert blieb sie stehen, erfasst von erneut wachsender Panik. Sie sah viel beschäftigte Dorfbewohner. Mädchen und Frauen in zerlumpten Yukatas. Männer mit Forken bewaffnet, wie Bauern. Kinder trugen Körbe mit allem Möglichen umher. Sollte die nicht in der Schule sein? Ältere schlichen die nicht gepflasterten Wege entlang und wiesen die Jungen an, wie sie ihre Arbeit richtig zu erledigen hatten. Eine Gruppe Kinder spielte hinter einem der Häuser. Doch schnell wurden sie bemerkt und ein älterer Herr scheuchte sie auf. Die ganze Szenerie war … wie aus einem alten Film. Genau wie es schon mit den Soldaten zuvor gewesen war.

„Aaaaah“, hörte sie plötzlich ein Rufen, dicht vor ihr, das sie aus ihrer Trance riss. Ein kleines Mädchen kam auf sie zu, über das ganze Gesicht strahlend.

„Onee-san, du hast den Obi gefunden, du hast den Obi gefunden.“ Sie wirkte erleichtert und das sorglose Gesicht der Kleinen kam ihr gerade unglaublich fehl am Platz vor. Besonders, da Sawako mit zunehmender Angst langsam zu begreifen begann, wie schlimm ihre Situation tatsächlich war.

„Was?“, fragte sie nur verdutzt.

„Der Obi, kann ich ihn wiederhaben, Onee-san?“, bat die Kleine mit ausgestreckten Armen. Sie sah sehr zerlumpt aus. Ihre Hände waren voller Schwielen, wie von sehr harter Arbeit. „Die Herrin wird mir nicht vergeben, wenn ich ihre teuren Stoffe beim Waschen verliere. Aber du hast es für mich gefunden. Du bist die Beste.“

„Ähm, ja, hier“, stammelte Sawako. „Kein Problem.“ Sie fasste sich langsam. „Ich bin durch den Wald geirrt. Hatte mich verlaufen. Sag mal, wo bin ich hier überhaupt?“ Sie würde wenigstens versuchen, ein paar Informationen zu gewinnen.

Die Kleine sah sie verdutzte an und erwiderte: „In Dewa, wo sonst?“ Sie schien Sawakos Frage für völlig absurd zu halten. Als sie ihr den abhandengekommenen Stoff überreichte hatte, zeigte sich die Dankbarkeit auf ihrem Gesicht. Was wäre mit ihr passiert, wenn das gute Stück nicht wieder aufgetaucht wäre?

„Ich bin seit Ewigkeiten unterwegs und ich verhungere. Weißt du, wo ich etwas zu Essen finde? Und wo eine Polizeistation? Und einen Gasthof? Ein Telefon?“, fragte sie verzweifelt.

Der verwirrte Blick, den sie dafür erntete, verhieß nichts Gutes. Hielt das Mädchen sie nun für verrückt? Sie bemerkte, wie sie gemustert wurde. Beim Anblick ihrer lädierten Kleidung runzelte die Kleine verdutzt die Stirn.

„Ein Gasthof ist die Straße rauf. Da gibt’s auch Essen. Das … das andere weiß ich nicht. Und ich muss jetzt auch weiter arbeiten. Danke für den Obi und so. Aber ich muss jetzt los“, und mit diesen Worten lief sie davon. Sie warf Sawako im Rennen noch einen weiteren irritierten Blick zu. Es gefiel ihr gar nicht, von einem kleinen Kind verachtend angesehen zu werden.

Sie blickte in die Richtung, in die das Mädchen gezeigt hatte. Die Straße war sehr belebt. Und wenn sie eines in den letzten Stunden gelernt hatte, dann dass ihre Kleidung für, wo auch immer so war, total unangemessen war. Sie grummelte, denn sie war noch nie in ihrem Leben so sehr unpassend angezogen gewesen. Wäre der Umhang doch nur etwas länger, dann wären wenigstens Jeans und Schuhe verborgen. Wollte sie wirklich die Straße entlang und mit dem Finger auf sich zeigen lassen? Eine andere Option gab es leider nicht, sie konnte ja schlecht zurück in den Wald. Also Augen zu und durch. Ab zum nächsten Geschäft, wo sie sich die einheitliche Dorftracht, zerlumpter Yukata, besorgen konnte. Vorher am besten eine schöne, große Portion Reis. Dann wäre der Tag vielleicht schon gerettet. Sie holte tief Luft und bahnte sich ihren Weg.

Wie zu erwarten war, drehten sich die Menschen nach ihr um, zeigten auf sie und tuschelten schockiert. Sie stach auch wirklich furchtbar aus dem Bild hervor. Sie blickten alle drein, als hätten sie nie Jeans und Sneakers gesehen. Sie fühlte sich furchtbar, nach so viel Aufmerksamkeit war ihr nach alle dem nun wirklich nicht zumute. Daher beschleunigte sie ihren Schritt und hoffte, schnell ihr Ziel zu erreichen. Das Gasthaus, das die Kleine ihr empfohlen hatte, war zum Glück tatsächlich nicht allzu weit. Schnell huschte sie hinein. Erleichtert stellte sie fest, dass es sehr ruhig und kaum besucht war. Zu dieser Tageszeit waren wohl alle Dorfbewohner mit ihrer Arbeit beschäftigt. Entschlossen, sich von keinem komischen Blick mehr irritieren zu lassen, ging sie zum Gastwirt hinüber. Natürlich sah er sie an, wie sie sonst eine besonders große Spinne beäugt hätte.

„Was?“, fragte er wenig freundlich. Erfuhr sie denn nur noch Unfreundlichkeit? Das hatte sie nun wirklich nicht verdient.

„Ich … ich hätte gerne eine warme Mahlzeit“, bat sie vorsichtig. In ihrer Hosentasche kramte sie ein paar Yen zusammen.

„Ich geb dir eine Schale Reis, für 10 Mon“, knurrte er. Hatte er Mon gesagt?

„Ähm …“, stammelte sie und legte ein paar Yen auf den Tisch. „Nehmen sie auch normales Geld?“

Grimmig schlug er mit der Faust auf den Holztisch. Er sah aus, als fühlte er sich übel auf den Arm genommen. Sawako ging es nicht anders.

„Balg, wenn du nichts Besseres zu tun hast, dann geh. Zahl für den Reis oder verwinde. Es ist mir gleich.“ Er sah nicht aus, als wäre es ihm egal. Er blickte drein, als wäre ihm nichts lieber als das Verschwinden der ‚kuriosen‘ Gestalt in seinem Haus. Bei diesem Anblick tat Sawako ihm den Gefallen nur allzu gerne. Der Gedanke, dass sie tatsächlich nicht mehr in ‚ihrer‘ Welt war, ließ sich kaum mehr abschütteln. Ihr stiegen von Hunger, Erschöpfung und Panik wieder Tränen in die Augen. Nein, diesmal würde sie sich zusammenreißen. Sie versuchte es in anderen Geschäften, doch auch hier erging es ihr nicht anders. Sie konnte kein einziges Reiskorn kaufen, geschweige denn angemessenere Kleidung. Die Yen, die sie bei sich trug, schienen hier weniger Wert als Murmeln. Und die ständigen verachtenden Blicke in ihrem Nacken halfen ihr nicht, sich aufzumuntern. Immer noch besser als ihre Situation vor ein paar Stunden, dachte sie sich. Hier schien wenigstens nicht ihr Leben akut in Gefahr zu sein. Jedoch war sie völlig ratlos, was sie hätte tun sollen. Sie fand nirgends eine Telefonzelle. Das verwunderte sie aber weniger als die Tatsache, dass sie nirgends überhaupt irgendetwas fand. Keine Laternen, keine Leute mit Handy am Ohr, keine Fahrräder, keine Strommasten, nicht einmal Beleuchtung. Es war ein Dorf wie vor 500 Jahren, durch und durch. Das ließ wenig Raum für Hoffnung.

Dann bemerkte sie, dass die Menschen um sie herum plötzlich unruhig wurden. Unruhig, während sie auf Sawako deuteten. Das machte ihr ziemlich Sorgen, also lief sie noch schneller durch die Straßen, hielt sich dabei in kleineren Seitengassen. Irgendetwas schien hier zu passieren, und sie schien die Einzige zu sein, die nicht wusste, was vor sich ging. Sie bog in eine weitere Seitenstraße, heraus aus dem Sichtfeld der gaffenden Masse. Dieser kleinere Weg verlief parallel zu dem, was sie für die Hauptstraße hielt, war aber glücklicherweise verlassen. Wahrscheinlich, weil sich alle auf eben dieser Hauptstraße tummelten, für was auch immer jetzt bevorstand. Das Grummeln des Masse wurde lauter.

„Ich hab sie dort drüber gesehen“, hörte sie die aufgeregte Stimme eines Mannes. ‚Sie‘?, dachte Sawako beunruhigt. Hoffentlich nicht sie-Sawako-sie.

„Die Frau, die ihr beschrieben habt?“, hörte sie eine viel ruhigere Stimme. Eine Stimme, die ihr furchtbar bekannt vorkam. „Wann war das?“, fragte der Mann. Sawako hatte das dumpfe Gefühl, das es nichts Gutes heißen konnte, in ihrer Situation eine bekannte Stimme zu hören. Wo hatte sie diesen Mann gehört? Ihr war, als wäre ihr die Stimme in einem Albtraum begegnet.

„Beruhigt euch, wir sehen nach.“ Und nun erkannte sie ihn. Wieso hatte sie so lange gebraucht? Es war die Stimme des Mannes, der gestern in das Zelt eingebrochen war, wo man sie gefangen gehalten hatte. Der erst versprach, sie zu befreien, dann aber im Kampfesgetümmel verschwand. Es war der Shinobi, dem sie zugesagt hatte, auf ihn zu warten. Und er suchte nun hier nach ihr. Sie sah schon, wie sich die Situation vom Vortag erneut heraufbeschwor. Sie gefangen, weil diese Irren sie für jemanden hielten, der sie nicht war und sie keinen Beweis für das Gegenteil hatte. Wieder gefangen, nur an einem anderen Ort und von einem anderen Mann. Nein, das würde sie sicher nicht riskieren. Sofort machte sie kehrt und wollte durch die Gassen fliehen. Doch kaum hatte sie sich zum Lossprinten umgedreht, stieß sie mit einer unnachgiebigen Wand zusammen. Moment, zuvor war hier keine Wand. Sie öffnete die Augen, die sie vor Schreck geschlossen hatte und sah vor sich eine Rüstung auf Augenhöhe. Das Schlimmste ahnend und die Realität kaum greifen könnend blickte sie hinauf, in das Gesicht des Mannes, gegen den sie gerade gelaufen war und der ihr nun den Weg versperrte. Er sah gelassen auf sie herab, nicht verwirrt oder angewidert wie die Menschen im Dorf. Sein Blick ließ nicht erahnen, dass ihm gerade ein Freak vor die Füße gelaufen war. Er trug eine schwere Rüstung, also ein weiterer Soldat, kam es ihr in den Sinn. Mit seiner rechten Hand hielt er einen Speer mit einer ziemlich bedrohlich aussehenden Klinge an der Spitze. Auch wenn die Waffe nicht auf sie gerichtet war, wirkte sie nicht minder bedrohlich. Dann zeichnete sich ein gelassenes Lächeln auf dem Gesicht des Mannes ab.

„Haben wir dich also gefunden.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Enyxis
2013-08-23T21:42:01+00:00 23.08.2013 23:42
Na... wem ist sie da wohl in die Arme gelaufen? Sicher Yorinagas Schergen... o__o Der ist sicherlich mordssauer. Bin gespannt, wann der nette Shinobi-san wieder auftaucht ^^ Tolles Kapitel!
Von: abgemeldet
2012-11-18T21:34:54+00:00 18.11.2012 22:34
die arme, jetzt möchte ich wirklich nicht mit ihr tauschen
aber ... *vor spannung ganz hibbelig ist* ... wem ist sie da jetzt in die arme gelaufen?
Von:  AshtrayHeart
2012-09-09T16:10:53+00:00 09.09.2012 18:10
» Sie hätte niemals erwartet, dass sie so viel Geistesgegenwärtigkeit aufbringen konnte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, hielt sie sich doch sonst für eher tollpatschig und ungeschickt. «
In Gefahrensituationen wächst man eben über sich hinaus ^^

» Welch Glück im Unglück, dachte sie, dass dieser schreckliche Zwischenfall nach einer Bootsfahrt und nicht bei einem Shoppingtrip stattgefunden hatte. Bei letzterer Option hätte sie High Heels getragen, was sich bei einer Flucht durch den Wald durchaus als hinderlich herausgestellt hätte. «
Jaja, den Humor hat sie zum Glück immer noch nicht verloren ^^

» Was auch immer in dieser Schatulle war, es hatte ihr den Hals gerettet. «
Ist sie gar nicht neugierig, was drin war? Ich würde wohl schon bisschen drüber grübeln, nachdem sich meine Freunde über die gelungene Flucht gelegt hätte.

» Wenn das eine Fernsehshow war, für die sie jemand angemeldet hatte und der das wohl alles sehr lustig finden würde, oh, derjenige hätte nie wieder etwas zu lachen. «
Die Person könnte sich erstmal auf eine saftige Klatsche einstellen, wenn ich an Sawakos Stelle wäre.

» Zu gerne hätte sie jemanden angerufen oder mit GPS ihren Standort ermittelt. «
Klappt ohne Telefonnetz nur leider nicht |D

» Hoffentlich fiel sie nicht tot um, bevor sie ihr Ziel erreichte. Dann wäre die ganze nervenzerreißende Flucht umsonst gewesen. «
Zumindest wäre tot umfallen sicher weniger schlimm gewesen als geköpft zu werden oder wie immer man sie sonst hingerichtet hätte.

» [...]geschweige denn das Getier, das dort sicher mit ihr hauste. «
Durch die Exkursion letzten Monat kann ich nur bestätigen, dass da dutzende Insekten rumkrabbeln werden :’D

» Sie zog sich aus dem Bau, klopfte ihre Kleidung ab, um Getier und Schmutz abzuschütteln [...] «
Irgendwie hätte ich gedacht, sie würde durchdrehen, wenn eine Spinne oder ein Käfer über sie krabbelt, auch wenn im Moment andere Dinge wichtiger sind.

» Dennoch war sie dankbar, sie konnte ihren drängenden Durst stillen und sich waschen. «
Panda-Gesicht ade! :D

» Eine heiße Dusche, ein weiches Bett, ein Telefon, damit sie ihre Mutter anrufen konnte, die sicher bereits krank vor Sorge war, und dass vollkommen berechtigt. «
Sie scheint zwischendurch immer wieder zu vergessen, dass sich die Zeitreisen-Theorie schon immer weiter verdichtet hat, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich ja zuletzt.

» Sie blickten alle drein, als hätten sie nie Jeans und Sneakers gesehen. «
Hatte sie nicht noch vorhin einen Umhang dabei? Den hatte sie doch extra nicht abgelegt, weil es sie bei der Flucht evt. wertvolle Sekunden gekostet hätte. Kann sie sich darin nicht irgendwie einwickeln, dass sie unauffälliger aussieht?
____________________

Ich muss zugeben, dass es ein wenig langweilig/langatmig war, jetzt wo sie so einsam durch den Wald wandert. Allerdings ist mir auch klar, dass man somit ihre hoffnungslose Situation am besten beschreiben kann und es doof wäre, wenn sie mit 3 Schritten im rettenden Dorf angekommen wäre.
Und es gibt da eine Frage, die mir schon etwas länger unter den Nägeln brennt: Wieso versteht sie die Menschen aus der damaligen Zeit? Hat sich die Sprache die Jahrhunderte über nicht verändert? Wäre nicht zumindest ein mehr oder weniger unverständlicher Akzent zu hören?
Ansonsten bin ich gespannt, auf wen sie da gestoßen ist und was ihr jetzt blüht ^^


Zurück