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Die Jagd

von

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Die Jagd

Alles um mich herum war still. Totenstill. Kennen Sie das Gefühl vollkommener Stille? Wenn Sie das wirklich behaupten, haben sie keine Ahnung. Stille ist nicht, wenn man abends im Bett liegt und die Sekunden zählt, bis das nächste Motorrad vorbeifährt. Stille ist nicht, wenn man seinem Herzschlag und dem sanften Pochen in seinen Ohren lauscht, welche verzweifelt nach Geräuschen streben, um das gedankenschwere Gehirn zu entlasten. Stille ist, wenn es nichts gibt. Keinen Klang, keinen Puls, kein Leben. Alles ist zu Eis erstarrt.

Ich sah mich um. Behäbig. Eine sanfte Gänsehaut strich über meine Glieder und weckte neue Anspannung. Ich lauschte wie ein Tier, schnupperte, duckte mich. Was erwartete ich? Einen Jäger? War ich etwa ein Rehkitz? Ich lachte trocken ohne jeden Humor. Das Lachen, das einem Nervenzusammenbruch vorangeht. Und das, das Wahnsinnige lachen.

Langsam und vorsichtig ging ich ein paar Schritte nach vorne, nur um schockiert stehen zu bleiben und fassungslos auf den Boden zu starren, den es nicht gab. Dort war nichts. Nichts außer gähnender Leere, die mich wie durch ein Wunder tragen konnte. Gerade, als ich diesen Gedanken bewusst realisierte, veränderte sich die Leere und wurde zu schwarzem Wasser, das mein blasses Gesicht mit den großen, angstgeweiteten Augen spiegelte. Meine eben noch ruhigen und bedächtigen Schritte wurden etwas schneller. Ich begann zu laufen. Sieh dich nicht um, dachte ich. Sieh dich nicht um, sprach die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf. Auf einmal klang sie bedrohlich. Ein kurzes Blinzeln verwandelte ihr imaginäres Gesicht in eine scheußlich verunstaltete dämonische Fratze, dann war sie wieder die Alte. Und dann verschwunden.

Ich begann zu laufen.

Ich wusste nicht, was hinter mir war. Beinahe war der Gedanke lächerlich einfach zu laufen. Was sollte dort schon sein? Alles war dunkel und in der Dunkelheit musste man doch keine Angst haben, oder? Das sind nur irgendwelche Urinstinkte, die wir uns behalten haben. Die Welt ist in der Dunkelheit doch immer noch die gleiche. Beinahe. Ich rannte.
 

„Hey du, wie ist dein Name?“

„Shiho Miyano.“, flüsterte ich und lächelte unsicher. Wo war mein ganzes Selbstbewusstsein hin? Auf einmal fühlte ich mich schrecklich allein und schwach, so unglaublich schwach und verwundbar. Normalerweise tat ich in dieser Welt alles, um meine wahre Natur zu verbergen – das musste man hier. Ich spielte die Starke, die, die nichts aufhalten, nichts brechen kann. Doch dieser Mann sah hinter die Fassade, er erkannte den Zaubertrick, entlarvte den doppelten Boden und zeigte mir in seinem Spiegel, was ich wirklich war.

„Wie läuft das Projekt?“ Nur eine beiläufige Frage, doch mir gefror das Blut in den Adern. Was steckte dahinter? Wollte er sehen, ob ich überhaupt dazu in der Lage war, hier zu forschen? War es ein Test? Eine Drohung. Schweiß lief über meine Stirn und tropfte von meinem Kinn. Ich zitterte ein wenig. Was war los mit mir? Wie konnte ich so schnell die Fassung verlieren? Das war unmöglich…

„Bist du stumm?“ Er zündete sich eine Zigarette an und musterte mich wie eine Schlange wohl ein Kaninchen anschaut, oder ein hungriger Wolf ein Rehkitz.

„Äh…nein.“ Ich schluckte und versuchte mich wieder zu sammeln. „Das Projekt läuft bislang sehr erfolgreich. Natürlich war es nicht einfach für mich bestehende Ergebnisse neu aufzunehmen und die Versuche weiterzuführen, doch nachdem ich mich eingearbeitet hatte…“

„Gut“ Seine Stimme erinnerte an raues Schleifpapier, das einem über die Haut rieb, bis das rohe Fleisch zum Vorschein kam. „Ich möchte, dass du mich regelmäßig über die Fortschritte unterrichtest.“ Seine kalten grünen Augen blickten mich prüfend an. Was erwartete er von mir? Ich wusste, dass ich normalerweise niemanden außerhalb der Forschungsabteilung informieren durfte. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren streng geheim. Und dennoch – Der Mann strahlte auf so eine sonderbare Weise Autorität aus, wenn er mir eröffnet hätte, er wäre der ominöse Anokata, ich hätte mich wohl nicht einmal gewundert. Genauso stellte ich mir den Boss einer Verbrecherorganisation dieses Ausmaßes vor. Kalt. Berechnend. Tödlich. Ein hungriger Wolf mit blutigen Reißzähnen, der vollkommen unerkannt durch den Wald streift und dann zuschlägt, wenn man es am wenigsten erwartet. Ein meisterhafter Jäger.
 

„Was gibt es heute zu erzählen?“

Die Stimme jagte jäh wie ein Pfeil durch den leeren, unendlichen Raum. Auf einmal war ich wieder das kleine, verschüchterte Mädchen im Labor, das dem Mann seine Forderung nicht abschlagen konnte, obwohl sie wusste, dass es falsch war. Warum?

„Was? Antworte!“

Sehnlichst wünschte ich mir die Stille zurück. Bis auf die bedrohlich geflüsterten Sätze war es immer noch still, aber nicht absolut still. Es war diese verlogene, trügerische Stille, die Ruhe vor dem Sturm, das erste Knistern in der Flammehölle, das die Tiere aus dem Wald scheucht. Er war hinter mir. Ich konnte es deutlich spüren. Er war da, mit seinem hechelnden, rauen Atem, seiner grausig falschen Begierde, seinen funkelnden Augen und seinem besessenen Blick. Er lief, genau wie ich, aber er lief nicht davon. Er war hinter mir. Ich versuchte schneller zu laufen, doch meine Beine wurden langsam müde. Ich war schon zu lange gerannt. Weggelaufen vor einer Gefahr, die noch nicht einmal da war. Jetzt schon. Was für eine Ironie. Ich lächelte. Hinter mir ertönten Schritte in der hohlen Finsternis wie Regentropfen, die auf Fensterglas prasseln. Tap. Tap. Tap. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte und lief schneller. Tap. Tap. Was spielen wir hier? Verstecken? Fangen? Ja, das war es. Ein Spiel für Kinder. Wie passend, wo ich doch ein Kind war. Klein und flink. Oder war ich schon wieder eine Frau? Oder ein Rehkitz? Aber letztendlich blieb es gleich. Denn er war ein Wolf. Ein Wolf, der seine Beute jagte.
 

Seine Hand strich sanft über meine Wange, während seine Augen mich fixierten. So nah wirkte das Grün noch härter und erinnerte ein wenig an Moos, das in einem Eisblock eingefroren war. Erstarrt. Ich hätte am liebsten weggesehen, doch ich konnte nicht. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr bewegen, fast so, als hätte er mich hypnotisiert und einen dunklen Bann auf mich gelegt, den nur ein Zauberwort brechen konnte.

„Das hast du gut gemacht, Shiho.“ Er küsste mich. Entgeistert riss ich die Augen auf. Hätte ich es geahnt, hätte ich vielleicht weglaufen können, doch der Schock und die Überraschung lähmten meine Glieder und machten mich vollkommen wehrlos, als er mich packte und gegen die Wand des Labors drängte.

„Du bist ein braves Mädchen.“ Seine Hand umfasste ungeniert meine linke Brust und glitt dann weiter nach unten.

„Bitte, hören Sie auf!“

Er lachte. Lachte einfach nur, während mir die Tränen kamen und ich das Gefühl hatte, gleich zusammenzubrechen. Ein heiserer Schrei entwand sich meiner Kehle. Nanu? Wo war meine verdammte Stimme hin? Doch da war nichts. Rauer Husten, Winseln aber keine Stimme. Das, was man braucht, lässt einen doch immer im falschen Moment im Stich, dachte ich bitter, als er seine widerliche Zunge erneut in meinen Hals steckte und mich langsam an der Wand nach unten zog. Als ich seine Hand am Schritt meiner Hose fühlte, hatte ich das Bedürfnis, mich zu übergeben. Doch meine Kehle war zu trocken. Mein Magen war trocken. Keine Säure, keine halbverdauten Nahrungsmittel. Wann hatte ich das letzte Mal gegessen? Meine Luftröhre schnürte sich zu und begann zu brennen, so kam es mir zumindest vor, während mein Herz in einem grausigen Staccato um sein Leben rannte. Rennen. Laufen. Freiheit. Ein Rehkitz im Wald. Wo ist die Mutter? Der Wolf setzt zum Sprung an. Direkt hinter ihr.

„NEIN!“

„Schnauze.“ Er schlug mir ins Gesicht und nebulöse, von bitterer Gleichgültigkeit triefende Stille umfing mich.
 

Ich schrie. Mein eigener Schrei hörte sich seltsam fern an. So, als wäre ich ein Geist und hätte meinen Körper längst verlassen. Panik ergriff mich. Auf einmal lief ich nicht mehr, ich stolperte, ich rutschte, schlitterte, schnitt mir die Beine und Arme an herumliegenden Zweigen und Dornenbüschen auf. Ich war auf einmal im Wald, aber ich hörte keine Vögel. Keine Tiere. Es war still. Totenstill.

„Nein!“, schrie ich wieder. Bitte nicht.
 

Das Rehkitz hetzte weiter durch den Wald. Mama? Mama wo bist du? MAMA! Aber im Wald hörte es niemand schreien. Niemand hört dich, wenn er dich nicht hören will. Der Wolf grinste siegesgewiss, als er das scheue Tier erblickte. Bald schon, so bald…
 

Auf einmal sah ich einen hellen Schimmer am Horizont. Licht? Eine Waldlichtung? Konnte das möglich sein? Es musste so sein. Natürlich war der Gedanke, dass diese mich retten konnte vollkommen irrational, doch es war der einzige Gedanke, der mir blieb, der einzige, der mich am Leben erhielt. Zumindest solange, bis ich stolperte und der Länge nach hin viel, den heißen Atem des Jägers im Nacken.
 

Die kleinen Hufe des Kitzes verloren die Bodenhaftung. Es knickte ein und fiel hin. Da lag es nun, ein Bein unnatürlich abgeknickt und mit blutigen Striemen übersehen. Seine Ohren drehten sich hektisch und seine Nase witterte. Leichte Beute, durchzuckte es ihn. Ein leichtes Spiel. Mit einem wölfischen Grinsen auf den Lippen setzte er zum Sprung an.
 

„NEIN!“
 

„Gut gemacht, meine Kleine.“

Benommenheit umfängt mich.

„Du wirst es niemandem erzählen.“

Seine Augen fixieren mich.

„Sonst bist du tot.“

Tot.
 

Das Rehkitz saß da und starrte zitternd in die Augen des heranschleichenden Wolfes. Dieser duckte sich mit einer geschmeidigen Bewegung und setzte zum Sprung an. Dann war er auf einmal da. Seinen geöffneten Kiefer zierte ein wissendes Lächeln.

„Hab ich dich, kleine Shiho.“

Dann biss er ihm den Kopf ab. Seine kräftigen Zehne zermalmten das kleine Gesicht, zerquetschten die Augen und ließen sie platzen wie reife Früchte. Blut spritze aus dem leblosen Kadaver und benetzte den Waldboden, wo es ein trauriges Rinnsal bildete. Gierig begann der erfolgreiche Jäger zu fressen. Heute erwartete ihn ein Festmahl.
 

Erneut in einem lauten Schrei gefangen, wachte ich auf und rieb mir den schmerzenden Kopf. Ich zitterte am ganzen Körper und begann in schluchzender, abgehackter, panischer Verzweiflung zu weinen. Sieh dich nicht um.
 

„Erzähl niemanden davon.“

„Natürlich nicht.“

Ich hatte keine Stimme mehr. Es war nicht mehr meine Stimme. Ich war eine Fremde geworden. Bin ich tot?

Als ich das Labor verließ, umfing mich nichts als höhnische Stille.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  shironeko4869
2012-09-07T21:10:49+00:00 07.09.2012 23:10
Liebe Night_Baroness herzlichen Glückwunsch zum dritten Platz unseres WB's! :D

Die Story ist wirklich gut. Der Inhalt passt super zur Überschrift und dein Ausdruck ist ebenfalls sehr gelungen. :)
Das Bildnis vom Reh und vom Wolf passen hier sehr gut auf Gin und Sherry.

Der Aufbau ist gut leserlich. Beim Lesen ist alles etwas undurchsichtig, verworren. Shiho träumt anfangs und allgemein ist alles andere, das passiert etwas "verschwommen". Das ist hier aber gerade das, was die ganze Story lesenswert macht. Man merkt, dass Shiho geistig neben der Spur ist, wo ihr ja auch etwas Schreckliches geschieht.

Der Schlussatz kommt wieder auf den Anfang zurück. Endlich herrscht wieder Stille...


liebe Grüße
NoitaFlameQueen & shironeko4869
Von:  Night_Baroness
2012-06-20T21:27:47+00:00 20.06.2012 23:27
Okay, schon geschafft. :D
Dankeschön für den Hinweis. ;)

LG
Von:  Night_Baroness
2012-06-20T21:26:11+00:00 20.06.2012 23:26
Hey, dankeschön für den Kommentar! :D
Freut mich, dass der OS dir gefallen hat. ^^
Öhm...ja, klar, gerne. Wie mach ich da mit? (Hab noch nie bei einem teilgenommen :'D xDDD)

Danke <3

LG
Von:  Malerin
2012-06-20T12:15:36+00:00 20.06.2012 14:15
Hi!
Mir gefällt deine FF wirklich super gut. Ich hab noch immer eine Gänsehaut. Wirklich sehr gut gelungen mit der Metapher vom Rehkitz und der Stille als Motiv. :-)
Puh, das war wirklich eine Darkfic, aber sehr geschickt erzählt. Ich muss dir glaub ich nicht sagen, dass du die Atmosphäre einmalig und die Gefühle erstklassig rüber bringst.
Man kann nur Mitleid mit Shiho haben :-(

Willst du eigentlich mit deiner FF an dem Wettbewerb "The relation in black" teilnehmen? Passt nämlich ins Thema des Wettbewerbs^^

Viel Spaß und Glück bei weiteren Schreiben! Ich hoffe auf noch gaaanz viel von dir!

lg die Malerin


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