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Lügen strafen

von

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Midgard


 

Midgard.

Von allen Welten, in denen er hätte landen können, musste es ausgerechnet wieder Midgard sein. Er hatte dieses Reich unterbewusst schon mit dem ersten Atemzug erkannt: Es war durchtränkt von einem ganz bestimmten Geruch, ein Hauch von unnatürlichem Verfall in allen Dingen. Irgendetwas war in der Luft, das sich mit der Zeit auf seine Haut legen und das Bedürfnis erregen würde, sich alle paar Augenblicke das Gesicht zu waschen.
 

Das Glück, ansonsten sein treuer Begleiter, hatte ihn wohl einmal mehr verlassen.
 

Er stand auf und klopfte sich den Staub von dem kläglichen Rest, der von seiner Rüstung übrig geblieben war: Der schwere Ledermantel, nun abgewetzt und zerrissen, aber zumindest war seine Kleidung darunter heil geblieben. Noch einmal ließ er den Blick schweifen. Nirgends war auch nur das kleinste Anzeichen von Zivilisation zu sehen. Die Einöde, in der er gelandet war, erstreckte sich soweit das Auge reichte. Der Boden war mit trockenem Gras und kleinen, harten Büschen bedeckt. Ein scharfer, kühler Wind wehte stetig aus Norden. Und am Horizont die dunkle Linie, wo der Wald begann.
 

Die Schatulle. Sie lag einige Schritt weit von ihm entfernt, hatte sich seitlich in den Boden gegraben. Mit ein paar Handgriffen hatte Loki sie von Erde befreit und betrachtete sie nachdenklich, beobachtete ihr träges Pulsieren. Er konnte die magische Energie spüren, die von ihr ausging, aber es fiel ihm viel schwerer als sonst, sie zu greifen. Es war, als wollte er ein Stück nasse Seife festhalten.
 

Das sind die Grundprinzipien des magischen Wirkens: Erkenne die Energie, halte sie fest, forme sie nach deinem Gutdünken.

Ersteres war Lokis angeborene Fähigkeit. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, die sanften Wellen und das Vibrieren der Magie in der Luft nicht zu spüren. Doch von Thor wusste er, dass er diese Sensibilität erst entwickelt hatte, als er Mjölnir erhielt.

Der folgende Schritt war Loki auch immer sehr leicht gefallen. Seine Lehrmeister hatte er regelmäßig ins Erstaunen versetzt, indem er schneller lernte, als man blinzeln konnte.
 

Aber nun schienen seine Kräfte auf eine erschreckende Art und Weise nachgelassen zu haben.
 

Er ließ sich auf den Boden zurückfallen, setzte sich im Schneidersitz hin und betrachtete die Schatulle. Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihre Energie für ihn nutzbar zu machen und zumindest seine Stimme wiederzuerlangen, zumal er diese Energie doch gerade eben noch gebraucht hatte! Doch so oft er es auch versuchte, die Magie entglitt ihm wie ein Aal, und so gab er fürs erste auf und dachte nach.
 

Es war eine Strafe nach Odins Geschmack. Er liebte es, seinen Untertanen eine Lehre zu erteilen, anstatt ihnen wahllos Glieder vom Rumpf abzutrennen. Bei Thor war es dasselbe gewesen: Odin hatte ihn verbannt und ihm einen Teil seiner Macht genommen.

Loki wünschte sich plötzlich, der Allvater hätte ihm einen Arm abgehackt. Es wäre erträglicher als das hier. Magie um sich zu spüren und sie nicht nutzen zu können war eine bloße Qual. Natürlich wusste er, dass er die stärksten Zauber mit Hilfe seiner Stimme wirkte; es war ihm nur nie aufgefallen, wie abhängig er wirklich von ihr war. Vielleicht, wenn er einen Gegenstand fand, durch den er die Energie der Schatulle kanalisieren und somit verstärken konnte… vielleicht würde das ausreichen, um den Bann des Allvaters zu brechen, der ja auch nichts anderes war, als Magie. Schließlich hatte Loki sich schon aus einigen dieser Banne befreien können. Nur gab es in Midgard, soviel er wusste, nicht annähernd so viele magische Requisiten wie in anderen Welten. Hier lebte man von dem „Wunder der Technik“ und Menschen wie Tony Stark oder Bruce Banner erlangten einen ähnlichen Rang wie Magier. Loki war nie tief in deren Wissen eingetaucht, er hatte Selvig für sich arbeiten lassen, als Technik erforderlich war…

Selbst wenn es also möglich war, die midgardische Technik zu nutzen, um asgardische Magie wirken zu lassen, würde er ein paar Leute für seine Zwecke manipulieren müssen. Ohne die Silberzunge.
 

Loki rieb sich die Stirn. So kam er definitiv nicht weiter.
 

Nun, da er vorerst nichts tun konnte, um seinen körperlichen Zustand zu verbessern, rückte eine andere Frage in den Vordergrund: Wo genau in Midgard war er gelandet? Er erinnerte sich nicht, während seines letzten Besuches hier gewesen zu sein. Wenn er ehrlich war, so hatte er in Midgard noch nie einen Ort gesehen, der so menschenleer war. Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse. Er musste einen Plan machen, so…ganz spontan. Thor hätte damit kein Problem gehabt. Er dachte niemals nach, bevor er mit dem Hammer irgendwo draufschlug, und Loki fragte sich schon beinahe sein ganzes Leben lang, wie er damit durchkam. Vermutlich war es der Charme.

Ein düsteres Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken. Er war nicht Thor. Er konnte nicht einfach irgendwas machen und damit davonkommen. Schon gar nicht in Midgard. Aber wie planen, wenn er noch nicht einmal wusste, wo er war? Er seufzte ungehalten. Vermutlich musste er einfach in eine beliebige Richtung gehen. Soweit er sich erinnerte, war Midgard rund, also würde er irgendwann schon irgendwo ankommen. Das war zwar der schlechteste Plan, den er in den letzten Jahrhunderten ausgearbeitet hatte, aber besser als gar nichts.
 

Loki griff nach der Schatulle, und siehe, auf einen Gedanken hin verkleinerte sie sich erneut. Zumindest das war ihm noch möglich, aber wahrscheinlich lag das eher an seinem Jötun-Blut als an seinen Fähigkeiten als Magier.

Er setzte sich in Bewegung und merkte schon wenige Augenblicke später, dass er ebenfalls noch die Kondition eines Gottes besaß. Viel schneller, als es einem Menschen möglich wäre, durchquerte er die Ebene, und der Wald rückte stetig näher.

Dann stieß er auf eine Straße. Schlitternd kam er zum Stehen und wirbelte dabei eine kleine Staubwolke auf. Tatsächlich, eine Straße, die schnurgerade die Ebene durchschnitt. Eine Schicht Sand lag auf dem Asphalt und nichts wies darauf hin, dass in letzter Zeit irgendein Lebewesen auf diesem Weg verkehrt war.

Loki verzog den Mund und blickte unschlüssig erst nach rechts und dann nach links, als hoffte er, in der Ferne einen Wegweiser zu sehen. Es war vermutlich schon sehr lang her, dass jemand auf diesem Weg reiste. Die tiefen Löcher, durch die man Kopfsteine und bloße Erde erkennen konnte, sowie das Gras in den Rissen, sprachen für sich.
 

Doch erneut: Was blieb ihm übrig? Loki hatte seinen Weg nicht steuern wollen, es war ihm zum ersten Mal egal gewesen, wo er landete. Nur weg, weg aus Asgard, weg aus Odins Fängen. Was hatte er sich erhofft? Einen Unterschlupf zu finden, in dem er ausharren konnte, bis die Asen und die Chitauri ihn vergessen hatten? Oder gar ein kleines Reich, das er für sich erobern konnte, um seinen ewigen Drang nach Königtum zu stillen? Schließlich war er ein Gott. Durchtränkt mit dem Wissen und den Kräften Asgards. Und hatte der Allvater nicht gesagt, dass sie beide, Thor und er, Könige sein würden? Nun, Thor hatte es leicht. Aber wo war Lokis Thron? Wo gehörte er jetzt hin? Im Grunde hatte er gewusst, dass er überflüssig geworden war, sobald Odin Thor zu seinem Nachfolger erklärte. Er war zu mächtig, um lediglich ein Zierelement an der Seite seines Bruders zu sein. Doch in dem ganzen Weltengewirr war er vermutlich schwach.

Er hatte sich nie töricht genannt, doch jetzt war er kurz davor.
 

Langsam trottete er weiter, folgte der Straße. Die Einöde würde ihm noch etwas Zeit geben, um über seine nächsten Schritte nachzusinnen. Unzufrieden kniff er die Lippen zusammen und trat nach einem Kiesel, der in eine Grasnarbe kullerte. Als er danach wieder aufblickte, sah er die Staubwolke. Fahrzeuge auf der Straße. Nur zwei Minuten später drang auch das Geräusch der Motoren an seine scharfen Ohren.

Lokis Augenbrauen bewegten sich ein Stück aufeinander zu und zwischen ihnen entstand eine steile Falte. Dann blickte er, von einer plötzlichen Eingebung beseelt, noch einmal zu der Stelle zurück, wo er gelandet war. Dort zeichnete sich ein kleiner Krater vom ebenen Boden ab.

Natürlich war seine Ankunft nicht unbemerkt geblieben, schon gar nicht von denjenigen, die wussten, wonach sie suchen mussten.
 

Loki schob die Hände in die Taschen und wartete.
 

In den Minuten, die vergingen, wurde das Motorengeräusch immer lauter. Es waren alte Wagen, nicht die schicken schwarzen Jeeps, mit denen SHIELD-Agenten sonst immer unterwegs waren. Sie schlingerten und klapperten, während sie näher kamen. Skeptisch hob er eine Augenbraue: wo musste er bloß gelandet sein, wenn nicht einmal die beste Geheimorganisation dieser Welt seine Agenten an diesem Ort angemessen ausstattete?

Das erste Fahrzeug hielt vor ihm, das zweite schräg daneben. Alle Fenster waren staubverschmiert, doch hinter den Schlieren erkannte er entsetzt dreinblickende Fahrer, die die Hände wie Schraubstöcke um ihre Lenkräder schlossen. Am liebsten hätte er ihnen ein lautes „Kniet nieder!“ entgegengeschleudert, nur, um zu testen, ob das immer noch so gut funktionierte. Aber das ging natürlich nicht.

Die Beifahrertür des ersten Wagens ging auf und ein Agent trat heraus. Als Loki bei diesem Anblick die Erkenntnis traf, verdrehte er resigniert die Augen zum Himmel und stieß scharf die Luft zwischen den Zähnen aus.

Schwarzer Catsuit. Rotes Haar. Dunkle Mandelaugen.

„Na sieh mal einer an“, sagte Black Widow und hatte schon das Handy am Ohr. „Clint? Kommt her, alle. Wir haben göttlichen Besuch.“
 


 

„Warum redet er nicht?“

Hawkeye hielt eine Waffe in der Hand und war peinlich darauf bedacht, dass Loki stets in ihre Mündung sehen konnte. Seine Gereiztheit konnte man fast riechen. Er war mit einem Helikopter gekommen, in den er und die Spinne Loki mit nicht ganz so sanfter Gewalt bugsiert hatten. Nachdem sie ihn…verschnürt hatten. Wie immer setzte Loki sich nicht zur Wehr. Warum auch? SHIELD war doch ein ganz guter Ausgangspunkt für weitere Handlungen. Soweit er wusste, gab es keine Verbindung zwischen der Organisation und Asgard,schon gar nicht ohne den Tesserakt, also würde trotz allem niemand dort oben auf den Plan gerufen werden.

Und außerdem war es amüsant, zu beobachten, wie Hawkeye mit jedem Wort, das er nicht sprach, wütender wurde.
 

„Im Ernst, Tascha“, sagte er jetzt zur Spinne, „Was haben sie da oben mit seiner Silberzunge wohl gemacht, hm? Dran ist sie ja noch, nicht wahr?! Das könnte man allerdings ändern, wenn ich’s mir so recht überlege…“

Zatknis, Clint“, unterbrach Black Widow ihn, „Wir halten uns an die Vorschriften. Pass auf, Reindeer Games“, sagte sie zu Loki und tauchte dann in seinem Blickfeld auf, um sich neben Hawkeye auf die andere Seite des Laderaums zu setzen. „Versuch erst gar nicht, uns irgendwie reinzulegen. Dank Thor wissen wir so ziemlich alles über dich, und glaub mir, seit du in New York deine Pubertät ausgelebt hast, haben wir ein paar Spielzeuge entwickelt, die Typen wie dich zumindest eine Zeitlang in Schach halten.“

Loki schenkte ihr ein süffisantes Lächeln. Wenn Thor ihre einzige Quelle war, kannte sie vielleicht einen Haufen peinlicher Kindheitsgeschichten über ihn, wusste ansonsten aber nichts Wichtiges. Als Romanoff erkannte, dass er wirklich nichts sagen würde, hob sie eine Augenbraue und zog ebenfalls eine ihrer vielen Waffen.
 

Eine ganze Weile später verloren sie endlich an Höhe. Der Flug war ereignislos verlaufen; Loki hatte sich gezwungenermaßen in Schweigen geübt, währen die beiden Agenten regelmäßig versucht hatten, ihn aus der Reserve zu locken. Er musste sich erneut eingestehen, dass es durchaus unterhaltsam war, einfach nichts zu erwidern. Wobei er ihre ungeduldigen Redeflüsse selbstverständlich auch mit wenigen, spitzfindigen Worten hätte versiegen lassen, wäre es ihm möglich gewesen.
 

Als die Laderampe nach unten fuhr und Hawkeye und Black Widow ihn flankierten, damit er ja nicht auf dumme Gedanken kam, erblickte er als erstes ein weites Landefeld und ein paar kümmerliche Gebäude an dessen Rand. Rissiger Asphalt, bröckelnder Beton, grauer Putz. Wieder kein Erkennen. Er war definitiv noch nie hier gewesen.
 

„Willkommen in Kapustin Jar“, sagte die Spinne.



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