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Warum lächelst du nicht?

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Warum lächelst du nicht?

Was hat die Liebe in unserer Gesellschaft noch für eine Bedeutung? In einer Gesellschaft, in der jeder austauschbar ist? Willenlos, Teil einer großen Schafsherde, die nur einen Hirten braucht, um sofort wieder gefügig zu werden, wenn man es von ihr verlangt. In einer Welt voller solcher Menschen, die glauben, einzigartig zu sein, indem sie ihre Individualität aus dem Geschmack der Massen beziehen. Die Liebe jedoch war ein eigenes Spiel und vielleicht die schönste Lügen von allen…
 

„Hey Ichikawa, was guckst du schon wieder so verträumt vor dich hin, hast du dich etwa doch endlich in mich verliebt?“ Hiroyuki Ichikawa hob überrascht den Kopf. Er war so vertieft in seine Gedanken gewesen, dass ihm ihr Auftauchen völlig entgangen war und er nicht einmal sagen konnte, wie lange sie schon vor ihm stand und ihn spitzbübisch angrinste.

„Akako.“

„Wow, du kennst meinen Namen!“ Jetzt lachte sie ihr melodisches Lachen, dass einem hell klingenden Glockenspiel glich. Er hätte ihr Lächeln gerne erwidert, vielleicht nur mit einem kleinen Schmunzeln, aber er konnte es nicht. Er wusste selbst nicht warum, womöglich hatte er es einfach verlernt, sofern das überhaupt möglich war. Ichikawa mochte Akako, er mochte sie sogar sehr und das nicht nur, weil sie hübsch war, mit ihren langen Beinen, den schwarzen Locken und den braunen Rehaugen, oder weil sie so elfenhaft lachte, sondern weil sie immer wieder versuchte, mit ihm zu sprechen, weil sie ihn wie einen normalen Menschen behandelte und nicht wie jemanden, der eine ansteckende Krankheit hatte. Dennoch konnte er sie nicht anlächeln. Als sie seinen gleichbleibenden, grimmigen Gesichtsausdruck sah, seufzte sie. „Spielverderber.“ Für einen kurzen Moment sah sie geknickt aus, beinahe traurig und auch ein wenig trotzig, wie ein zurückgewiesenes Kind. Er hätte sie gern in den Arm genommen und ihr gesagt, dass es nicht ihre Schuld war, doch in diesem Moment betrat ein weiterer Kollege den Raum, ein stämmiger Mittzwanziger namens Haramura, mit stacheligem schwarzen Haar und gebräunter Haut, die deutlich verkündete, dass er aus dem Süden Japans stammte, und piekte Akako von hinten in die Seite. Diese quiekte und drehte sich lachend um. Dann küsste sie ihn. Ichikawa verzog keine Miene, aber innerlich fragte er sich, wie zum Teufel die beiden zueinander gefunden hatten. Akako war doch gerade mal eine Woche Single gewesen. Oder war sie es überhaupt gewesen? Er konnte sich nicht recht erinnern.

„Na Ichikawa, Lust mit uns was Trinken zu gehen? Nach Dienstschluss sollten wir uns auch ein bisschen Spaß gönnen!“ Er lachte laut. Ichikawa antwortete nicht. Nach Dienstschluss sollte man ein bisschen feiern gehen, sich entspannen… Das hatte er auch gedacht. Aber das Verbrechen kannte keine Dienstzeiten, ebenso wenig, wie es sich um Urlaub oder Mittagspausen scherte. Es war kein lieber Chef, den man höflich darum bitten konnte, so frei zu bekommen, dass man mit seinen kleinen Kindern ans Meer fahren konnte, es war das gottverdammte Arschloch mit der Zigarre in der Hand, das die Falltür mit den Krokodilen für dich öffnet, wenn du nicht spurst. Er war damals auch feiern gegangen, wollte sich mit Freunden entspannen, damals als er noch lachen konnte, bevor sein Wohnzimmer über und über mit den Spritzern ihres Blutes und klebrigen Fetzen ihres Gehirns übersät gewesen war, bevor er nachts schreiend aufgewacht war, bevor…

„Nein, ich…“ Aber er hätte sich die Antwort sparen können, sie waren längst gegangen.
 

„Papa! Schau mal, ich kann fliegen.“ Mit ausgebreiteten Armen lief seine kleine Tochter durch den Garten.

„Nein, kannst du nicht, aber jetzt!“Er hob das Mädchen, das kaum mehr zu wiegen schien als eine Feder, lachend hoch und ließ sie in der Luft herumwirbeln.

„Ich bin ein Hubschrauuuuuuuuuuber!“

„Ich will auch Hubschrauber spielen!“ Ihr Bruder kam mit einem typisch trotzigen Gesichtsausdruck angelaufen und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust, als er sie erreicht hatte.

„Immer darf Chiyo zuerst fliegen, du bist gemein, Papa!“ Immer noch lachend setzte er sie ab, worauf sie sich im Gras rumwälzte und so ihr zartes, weißes Kleid mit grünen Flecken versah. Ihre Mutter, die gerade über die Wiese zu ihnen ging, seufzte gnädig und wartete geduldig, bis auch sein Jüngster eine ausgiebige Flugstunde bekommen hatte. Dann kam sie zu ihm und küsste ihn auf die Lippen.

„Ich liebe es, wenn du so lächelst, dann siehst du viel jünger aus und nicht wie dieser grimmige alte Polizist, in den du dich langsam verwandelst.“ Sie streckte ihm die Zunge raus und half Chiyo auf, die immer noch im Gras lag und nun dazu übergangen war, zusammen mit ihren kleinen Bruder Wolken zu beobachten, die über den kristallklaren Himmel zogen, wie kleine, weiße Schiffe.
 

Als er an diesem Morgen aufwachte, hatte er Tränen in den Augen. Das überraschte ihn, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Er hatte sogar bezweifelt, überhaupt noch Tränen zu besitzen, aber anscheinend war das ein Trugschluss gewesen. Er schluckte schwer und fuhr sich mit den rauen Händen über Gesicht und die bereits viel zu früh ergrauten Haare. Jedem wären bei diesem Anblick die Haare grau geworden, selbst einem hartgesottenen Polizisten, hatte der Arzt gesagt. Immer noch müde stand er auf, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, wo ihm ein faltiger Zombie mit schiefer Brille – er hatte wohl vergessen, sie abzunehmen – und Hakennase entgegenblickte und ging dann in die kleine Küche, um sich einen Tee zu machen. Diese Träume waren weitaus schlimmer als die Alpträume, in denen er wieder und wieder ihre zerfetzten Körper sah, ihr verzerrtes Lachen und ihre leeren Gesichter, die nun nie wieder strahlen würde. Diese Kadaver, diese brutal hingerichteten Fleischklumpen waren nicht seine Familie gewesen, sie hatten keine Ähnlichkeit mehr mit ihnen gehabt, waren lediglich schlechte Nachbildungen, fratzenartige Skulpturen. Aber diese Träume zeigten sie, wie sie wirklich waren, sie zeigten die Menschen, die er niemals zu missen aufhören würde, solange er lebte. Er zeigte die Menschen, die er bereitwillig für seinen Dienstschluss geopfert hatte, diejenigen, die von Kugeln durchlöchert worden waren, als er betrunken in einer Kneipe gehangen und vermutlich noch eine fremde Frau begrabscht hatte. Er begann erneut zu weinen.
 

Obwohl er lange hin und her überlegt hatte, war er schließlich doch ins Polizeipräsidium gefahren. Es spielte keine Rolle, wo er litt, ob hier, oder zuhause. Das versuchte er sich zumindest einzureden. Hier kannte ihn jeder, jeder starrte ihn an, jeder bemitleidete ihn. Er verabscheute dieses Gefühl mehr als alles andere auf der Welt und wünschte sich von ganzem Herzen, er könnte zuhause sein – allein – oder irgendwo in Tokyo zwischen lauter Menschen, die ihn nicht kannten und niemals kennen würden. Menschen, die alle gleich waren, austauschbar, Menschen, die keine Fragen stellten und dasselbe hohle Grinsen und die leeren Augen hatten wie die Klumpen, die er einst Familie nannte. Dennoch hatte er sich entschieden, zur Arbeit zu gehen, vielleicht weil er es liebte sich, selbst zu belügen. Die meisten Menschen taten das. Nun saß er gelangweilt an seinem Schreibtisch, tippte Akten ab und hoffte inständig, er könnte für die Augen der anderen genauso unsichtbar sein wie sonst. Sein Wunsch wurde natürlich nicht erhört. Akako betrat den Raum und ging auf ihn zu. Sie wirkte ganz anders als sonst, blass und abgespannt.

„Was ist los?“ Verblüfft starrte sie ihn an. Sie hatte kein bisschen damit gerechnet, dass ich sie ansprechen würde, ich selbst hatte ja nicht damit gerechnet, weshalb ich mich erst mal räuspern musste und die Frage wiederholen. Sie setze sich zu mir und sah mich mit matten Augen an.

„Ach, ich hab gestern mit Kichiro Schluss gemacht und irgendwie hat er es nicht so gut verkraftet. Er hat geweint.“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich weiß, ich bin keine Heilige, ich habe schon mit viele Beziehungen beendet, weil sie nur ein Abenteuer für mich waren oder mich langweilten. Die meisten Männer waren wütend, haben mich angeschrien, Dinge nach mir geworfen, mich sogar geschlagen.“ Sie machte eine kurze, wirkungsvolle Pause. „Er jedoch war ganz still und hat nur geweint, das hat mir Angst gemacht. Ich glaube, ihre Wut wollte mich nicht sehen lassen, wie grausam ich war, ich habe sie genossen und nie dafür bezahlt.“ Sie lächelte schwach. „Er hat mich wohl wirklich geliebt und ich habe es nicht erwidert. Ich habe nicht einmal richtig nachgedacht, als ich ihn verlassen habe.“ Sie schluckte. Auf einmal sah sie wieder aus, wie ein kleines Mädchen. Meine arme kleine Chiyo. „Bin ich ein schlechter Mensch?“ Er wollte gerade den Kopf schütteln und ihr gut zureden, als die Tür aufging und Haramura hereinkam. Dann passierte alles innerhalb von Sekundenbruchteilen.
 

Bevor auch nur einer seiner Kollegen realisieren konnte, was los war, hatte Haramura seine Dienstwaffe schon erhoben und feuerte. Akako, die ihn eben noch so reuevoll angesehen hatte, fiel auf den Tisch. Blut und Gehirn spritzten aus ihrer zertrümmerten Schädeldecke, während sich eine rote Lache langsam aber sicher auf seinem Schreibtisch ausbreitete und züngelnde Fäden zog. Er schrie nicht oder zuckte zurück, als es passierte, er starrte sie nur an, während das Blut auf seine dunkelgraue Hose tropfte und sah seine Familie vor sich – nicht die lachende auf der Sommerwiese. Sein Kopf war nicht in der Lage, das Gesehene zu begreifen, dieses Mädchen, die wundervolle Akako, die ihn nicht bemitleidet hatte, die ihn behandelt hatte, wie jeden anderen, sie war tot. Mit zitternden Fingen strich er ihr eine blutbefleckte, verklebte Locke aus der eingerissenen Stirn und küsste sie sanft. Lebe wohl, meine kleine Chiyo. Dann richtete er seinen Blick auf den Mörder, Haramura, der immer noch mit erhobener Waffe vor ihm stand. Die Augen weit aufgerissen, als könne er seine eigene Tat nicht begreifen, die Lippen bebend verzerrt.

„Du bist es, oder?“ Er lachte hysterisch. „Du bist der andere!“ Er feuerte wieder, doch Ichikawa war darauf vorbereitet und ging blitzschnell hinter seinem Schreibtisch in Deckung. Seine schnellen Reflexe waren schon immer seine Stärke gewesen und er hatte sie auch jetzt nicht verlernt. Platschend schlug die Kugel in Akakos Körper ein, nach dem Klang zu urteilen dürfte sie wohl ihren Rücken getroffen haben. Er ballte die Hände zu Fäusten. Ein kurzer Blick in den Raum genügte, um zu wissen, dass keiner der anderen handeln würde. Außer ihm waren noch zwei jüngere Polizisten und eine Frau da, die allesamt wie hypnotisierte Kaninchen gelähmt auf den Mann mit der Waffe starrten, der soeben ein junges Mädchen vor ihren Augen hingerichtet hatte.

Am liebsten hätte er laut gelacht. Was war das doch für eine idiotische Welt! Was war er doch für ein Idiot gewesen. Es spielte keine Rolle, wo man war, oder was man tat. Es konnte immer passieren, es konnte immer dieses eine Schaf geben, das aus der Reihe fiel, diesen Wolf im Schafspelz, der anfing, die Herde zu infiltrieren. Diese Wölfe würde es immer geben, die Gleichschaltung hatte den Menschen noch lange nicht berechenbar gemacht. Manchmal brachten sie Gutes, bewegten etwas, veränderten etwas zum besseren und manchmal lösten sie eine Katastrophe aus, die man nicht verhindern konnte, ganz egal, auf welcher Seite des Zauns man stand. Dieser Gedanke ließ ihn einen Moment lang innehalten. Vielleicht war das die Antwort, nach der er die ganze Zeit gesucht hatte. Seine Familie wäre so oder so gestorben, das stand außer Frage. Sie war von einer ganzen Gruppe ermordet worden – niemand wusste warum – schwer bewaffnet, lautlos und grausam. Er hätte keine Chance gehabt, das hatte er immer gewusst, aber nicht wahrhaben können, oder wollen. Er hätte sie nicht beschützen können, das einzige, was ihm geblieben wäre, wäre mit ihnen zu sterben. Aber wenn er darüber nachdachte, wollte er nicht sterben, er wollte kein kleines Lamm sein, das gerissen und zerfleischt wurde, bevor es laufen konnte. Er wollte der Wolf sein. Seine Hand schloss sich um den Griff seiner Dienstwaffe, den Daumen bereit am Abzug. Und er wollte jagen.
 

„Warum lächelst du nicht?“ Chianti musterte ihn nachdenklich. „Du siehst immer so ernst aus, Korn!“ Er seufzte.

„Weißt du Chianti, ein Lächeln ist kostbar, das verschwendet man nicht einfach, es ist das, was uns von den Schafen unterscheidet. Wenn Schafe lachen, zeigen sie nur leere Fratzen.“

„Häh?“ Sie sah ihn verständnislos an.

„Schon gut.“ Als er seinen Arm aus dem Auto lehnte und zum blauen Himmel hinaufblickte, zeigte er ein wölfisches Grinsen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Night_Baroness
2012-06-09T21:34:42+00:00 09.06.2012 23:34
Vielen Dank. :)

LG
Von:  HyakuyaMikaela
2012-06-09T02:28:47+00:00 09.06.2012 04:28
Eine wirklich interessante Geschichte zu Korn. (:
Der Schreibstil ist herrlich erfrischend und angenehm zu lesen.


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