#233 Porygon2
PORYGON2
"Sieh mal, jemand hat mir dieses Programm geschickt, es heißt Porygon."
"Sei lieber vorsichtig, es könnte ein Virus sein. Sieht jedenfalls nicht sehr vertrauenswürdig aus. Was steht da, 'bitte kümmere dich um es'? Wer verschickt denn so etwas?"
"Ich weiß es nicht. Aber öffnen wir es einfach, was soll schon passieren?", neckte ich einen meiner Kollegen und klickte auf die Datei, die mir nur wenige Minuten zuvor geschickt worden war. Ein neues Fenster bildete sich auf dem großen Monitor ab, zeigte ein rund poliertes Wesen, welches aufgeregt von einem Ende des Fensters zum anderen sprang. Ab und zu wurde diese Animation von einer Art Kopfnuss unterbrochen, nur um anschließend wieder fortgesetzt zu werden. Ein kleines Menü tat sich am unteren Ende des Fensters auf, in dem ein paar Worte geschrieben standen.
"Tackle, Umwandlung, Umwandlung2, Einigler...", las ich aus dem Menü vor. "Das sind Attacken von Pokémon, nicht wahr?" Ich drehte mich fragend zu meinem Kollegen um, der mich mit einem ebenso ratlosen Blick ansah.
"Ich habe gehört, dass irgend so ein Verrückter ein virtuelles Pokémon entwickelt hat und es seitdem an Computergenies aus aller Welt schickt, damit diese es ständig verbessern können. Sozusagen Training und Entwicklung durch Tausch, wenn man es denn wirklich wie ein Pokémon behandeln will", erklärte er mit einem nachdenklichen Blick im Gesicht. "Aber ich hätte nie gedacht, dass so etwas wirklich existiert."
Er rückte näher an meinen Bildschirm heran und musterte das Wesen, welches noch immer abwechselnd aufgeregt über den Bildschirm wuselte und dann eine Attacke ausführte. Ein virtuelles Wesen, das man nach seinem Belieben formen konnte, hatte schon etwas sehr Interessantes an sich, das musste ich zugeben. Ich beobachtete ebenfalls die hektischen Bewegungen der Kreatur und glaubte, ab und an sogar ein Zwinkern oder ein mildes Lächeln erkennen zu können.
Plötzlich richtete sich mein Kollege auf, klatschte dabei in die Hände. "Also", sagte er und räusperte sich, "wollen wir es nun verbessern oder nicht?"
"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Es sieht doch schon ganz ordentlich aus, oder?", antwortete ich zögernd, einerseits wollte ich wirklich testen, zu was so ein Wesen fähig sein kann, allerdings mochte ich den Rahmen einer künstlichen Intelligenz auch nicht ausreizen. Was ist, wenn sich hinter diesen tausenden Zeilen von Code wirklich so etwas wie eine Persönlichkeit verbarg?
"Wie du willst, aber dann lass es mich wenigstens einmal versuchen", bettelte mein Kollege und ich willigte ein, versuchte dabei, mein schlechtes Gewissen zu verdrängen. Ich tauschte mit meinem Kollegen den Platz und sah ihm über die Schulter, während er jede neue Möglichkeit austestete, die ihm gegeben war. Nach einer Weile ließ er wütend die Fäuste auf den Tisch knallen, stand ruckartig auf und lief mit einem leisen Murmeln auf den Lippen im Raum umher.
"Was ist denn los?", rief ich ihm verdutzt hinter her, sein plötzlicher Wutausbruch hatte mich vollkommen kalt erwischt.
"Lösch' es, schick' es meinetwegen auch ins Weltall, ich will damit nichts mehr zu tun haben!", nuschelte er, bevor er sichtlich wütend aus dem Büro stampfte.
Ich blinzelte verwundert und sah wieder zurück auf den Bildschirm, das Programm mit dem Wesen war bereits geschlossen. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an die Kreatur zu verschwenden, schickte ich das nur wenig merklich veränderte Programm unter dem Namen Porygon2 wieder zurück an den Absender, löschte es daraufhin von meinem eigenen Computer und damit auch mein schlechtes Gewissen.
Doch ich war mir sicher, dass ich mir den friedlichen Blick in den Augen des Wesens nicht nur eingebildet hatte.
Pokédex-Einträge von Porygon2:
Gold: "Diese verbesserte Porygon-Version, wurde für den Einsatz im Weltall gebaut. Es kann aber nicht fliegen."
Silber: "Seine Fähigkeiten wurden verbessert. Es zeigt manchmal sogar Handlungen, die nicht einprogrammiert sind."
Rubin/Saphir: "PORYGON2 wurde in einem wissenschaftlichen Experiment von Menschen erzeugt. Es verfügt über künstliche Intelligenz, wodurch es selbstständig neue Gesten und Gefühle erlernen kann."
