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Die Kunst des wahren Hassens
von

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Donnerschlag

Das Raichu rannte so schnell es konnte durch den komplett in tiefstes Schwarz getauchten Wald. Die Dunkelheit war gnadenlos an diesem Tag, sie umfing die Bäume von den Wurzeln bis zum letzten Blatt. Es stand kein Mond am Himmel, der das Leid des Weibchens beleuchtet hätte. Sie blutete. Die Angst hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein Parasit. Sie konnte kaum klar denken, so sehr plagten sie die Sorgen. Ihr orangenes Fell stand in Büscheln von ihrem gedrungenen Körper ab und ihr langer Schweif, der in einer gezackten Blitzform endete, schliff beinahe über den Waldboden, weil ihr die Kraft fehlte, ihn in die Höhe zu halten.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Kind gebar und bisher hatte sie sich immer in den geschützten Wald zurückgezogen, da sie die neugierigen Blicke und die Geräusche der Schritte der anderen Pikachu vor ihrem Nest nervös machten. Doch dieses Mal, so schwante ihr, war das ihr größter Fehler gewesen. Die Schmerzen waren plötzlich aufgetreten und kamen der Wirkung eines Faustschlags in ihre Magengrube gleich. Sie wusste, dass sie zurück zu ihrem Stamm musste. Diese Geburt konnte sie nicht alleine überstehen, sie musste sich helfen lassen. Denn sie wollte den nächsten Morgen noch erleben, die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spüren. Zusammen mit ihrem Ei. Bei dem Gedanken daran, dass es auch anders ausgehen könnte, breitete sich ein bedrückendes Gefühl der Übelkeit in ihrer Magengegend aus und sie war sich nicht sicher, ob dieses Gefühl nicht noch unangenehmer war, als der unbändige Schmerz.

Eine weitere Welle des Schmerzes erfasste sie und stoppte ihren Lauf abrupt. Es fühlte sich an, als schnüre jemand ihren Unterleib mit einer Ranke ab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ sich das Raichu auf den Boden fallen und rollte sich auf den Rücken, um seinen Bauch nicht unnötig zu belasten. Ihr Atem ging schwer und stoßweise und kalter Schweiß bedeckte ihren wild zuckenden Körper. Doch sie konnte nicht aufgeben. Ihrem Kind zuliebe. Die Mutterliebe in ihr brannte heißer als jedes Feuer.

Unter größter Anstrengung richtete sie sich wieder auf. Egal wie dunkel es auch war, die Welt um sie herum war lebendig. Lebendig und bedrohlich. Immer wieder zuckten die großen, nach hinten gerichteten Ohren des Raichu, wenn ein Geräusch ihr Trommelfell erreichte. Die Kramurx, die durch ihr tiefschwarzes Gefieder und ihre scharf gekrümmten Schnäbel wie Diener der Dunkelheit selbst wirkten, kreischten höhnisch in den Baumwipfeln, als wollten sie die werdende Mutter verspotten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein Grypheldis, dass sie schon seid einiger Zeit verfolgte, angelockt von dem Duft ihres Blutes und auf leichte, doppelte Beute hoffend. Es saß auf einem dicken Ast und hatte den federlosen Kopf neugierig schief gelegt. Augeregt klackerte es mit seinem breiten, grauen Schnabel und breitete seine großen Schwingen aus, die von kurzen braunen und langen grauen Federn bedeckt waren. Mit einem markerschütternden Kreischen erhob es sich in die Lüfte, die rötlichen Puppilen starr auf das geschwächte Raichu gerichtet.

Doch sie hatte nicht vor, diesem Aasgeier ihr Kind zu überlassen. Das Weibchen war bereit, sich mit Händen und Füßen, Krallen und Zähnen, Funken und Blitzen gegen das Flugpokémon zu verteidigen. Trotzdem hoffte sie inständig, dass es nicht so weit kommen würde. Ihr Herz machte große Sätze und pumpte einen unaufhörlichen Strom aus Adrenalin durch ihre Adern. Ihr Körper hatte alle Hände voll zu tun, um die negativen Gefühle ihrer Seele auszugleichen. Das Raichu fühlte sich so unglaublich erschöpft, dass es am liebsten verzweifelt aufgeschrien und geweint hätte. Seine Beine brannten wie Feuer und waren schwer wie Blei, seine Gedanken benebelt. Wäre nicht das ungeborene Kind in ihrem Leib gewesen, das Weibchen hätte sich vielleicht den Schmerzen ergeben, sich auf den Boden fallen lassen und dem Grypheldis eine gute Mahlzeit ermöglicht. Doch sie durfte nicht aufgeben. Es war nicht mehr weit, bis zu dem Höhlenkomplex, in dem ihr Stamm seid Generationen lebte. Ihr Kleines würde dazugehören. Es würde ein wunderbares Exemplar der neuen Generation sein. Sie sah es schon vor sich, das kleine Wesen, und die Vorstellung zauberte ihr schon jetzt ein stolzes Lächeln auf die Lippen. Eine Zukunft für sie und ihr Kind. Das war es, wofür das Weibchen in diesem Moment kämpfte. Sie musste nach Hause und diesen Räuber abschütteln. Überleben. Das war alles, voran sie denken konnte. Das Adrenalin schoß heiß durch ihre Blutbahnen und verdrängte das Gefühl für den Schmerz irgendwo in die hinterste Ecke ihres Gehirns. Ihre Gefühle zwang sie selbst hinunter in ihr Unterbewusstsein, denn sie wusste, dass sie all ihre Konzentration brauchte, um lebendig ihr Ziel zu erreichen.

Sie rannte wieder, das Grypheldis schwebte drohend über ihr in der stickigen, schweren Luft. Irgendwo in der Ferne war ein lautes Donnergrollen zu hören. Ein Geräusch, das das Raichu beruhigte wie ein Schlaflied. Es klang nach Heimat und nach den starken Kämpfern ihres Stammes. Sie wünschte die dunklen Wolken zu sich, als ihr Schutzschild und als einen Ansporn: Ihr ungeborenes Kind würde niemals das sanfte Grollen der Wolken vernehmen, würde sie hier sterben. Das konnte sie nicht zulassen. Soetwas konnte keine Mutter ihrem Kind antun. Ihr Stolz und ihre Liebe verboten es ihr.

Scheinbar nur Sekunden später, war das Gewitter direkt über ihr. Große, tiefgraue Wolkenwände verdunkelten die Nacht noch weiter, nur um sie immer wieder für Sekunden von kräftigen Blitzen, die über den Himmel zuckten, erhellen zu lassen. Die gefährliche Wucht der Elektrizität zwang das Grypheldis zum Rückzug. Aufgebracht schlug es mit den Flügeln, frustriert kreischend, bevor es Zuflucht in der Ferne suchte.

Das Raichu dankte den Göttern, an die es nie geglaubt hatte, für die Rettung. Sie würde es schaffen. Ihr Kind würde unter den gutmütigen und aufmerksamen Augen ihres Stammes auf die Welt kommen und sie würde es wärmen, bis es schlüpfte und das erste Mal die Welt mit den eigenen, großen Augen sehen würde. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie die große Eiche entdeckte, die die Grenze des Reviers ihres Stammes markierte. Nur noch ein paar Meter. Sie war gerettet. Ihr Herz schlug schneller und ein wohliges Gefühl von Wärme machte sich in ihrem Leib breit. Sie wollte ihr Kind streicheln, es liebkosen. Sie wusste jetzt, was es bedeutete, zu leben. Und sie würde dieses Geschenk wertschätzen, wie nicht anderes auf der Welt. Dankbar lächelnd blickte sie zu den großen Wolken hinauf, die von Wind getrieben schnell über Himmel zogen, als wollten sie sie sicher nach Hause geleiten.

Dann explodierte die Welt um sie herum. Die Dunkelheit wurde durch gleißendes, tödlich helles Licht ersetzt, das das Raichu komplett umfing. Sie klappte wild zuckend zusammen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, ihre Muskeln tanzten einen wilden Tanz des Todes, der ihr alle Kraft raubte. Die Hitze brachte das Blut in ihren Adern zum Kochen. Niemals hätte sie gedacht, dass es ein Blitz sein würde, der sie auf ihre letzte Reise schicken würde. Ihre Gedanken schienen sich aufzulösen, sie verloren ihre Konsistenz, wurden zu Fetzen, die kaum noch Sinn ergaben. Trotz allem spürte das Raichu noch, wie das zweite Leben, das in ihr hauste, sie ebenfalls verließ. Doch anders als ihr eigenes Leben, das sich nicht nur von ihr selbst, sondern auch von der Welt verabschiedete, begrüßte dieses seine Umwelt mit einem lauten, seltsam verzerrten Schrei der Unbeholfenheit. Es war kein Ei. Es war schon von Kopf bis Fuß komplett wach und lebendig. Von den spitzen Ohren, über den blitzförmige Schweif bis hin zu den letzten Federn seiner Flügel. Dem Raichu war ganz schwindelig. Die Welt drehte sich. Sie wurde immer tiefer in eine Spirale hineingesaugt, die mit jedem Blinzeln dunkler und dunkler wurde. Sie musste träumen. Sie musste doch träumen! Und in ihrem letzten, erstaunlich klaren Augenblick fragte sie sich, was für einen Spaß sich diese Götter wohl erlaubten, an die sie eigentlich gar nicht glaubte.

Monster

„Bleib stehen, du dreckiges Monster!“

Die Stimmen der jungen Pikachu hallten durch den lebendigen Sommerwald. Die Strahlen der hoch am Himmel stehenden Mittagssonne drangen bündelweise durch das dichte Geäst der eng und unangeordnet stehenden Bäume, die ihre Äste dem wärmenden Licht entgegen streckten. Weit unter ihren schützenden Wipfeln, am Waldboden, war es angenehm kühl und alles was kreuchte und fleuchte genoss das traumhafte Wetter in vollen Zügen und mit unsagbarer Freude.

Das Klackern von Steinen, die auf den Boden fielen, störte die angenehme Atmosphäre und überdeckte den wunderbar klingenden Gesang der Fasasnobs, die an Tagen wie diesen stets voller Tatendrang den Nacken in den Kopf warfen und dem Himmel selbst ein Loblied sangen. Ein Rattfratz verschwand blitzschnell in seinem Loch, als ein Stein, fast halb so groß wie es selbst, seinen eingerollten Schweif nur knapp verfehlte und weit über den von Moos bedeckten Waldboden rollte.

Wo die Pikachu liefen, hinterließen sie eine Spur aus kaum sichtbaren, knisternden Funken in der Luft, die vor lauter Aufregung aus ihren roten Wangen rieselten. Ein paar sehr junge Pichu hatten sich der Gruppe ebenfalls angeschlossen und versuchten mit den größeren Schritten der Älteren mitzuhalten. Einmal stolperte eines von ihnen über einen der zuvor geworfenen Steine und fand sich mit dem Gesicht auf dem Waldboden wieder. Es begann zu weinen, mehr wegen des Schocks, als wegen des Schmerzes, doch niemand achtete auf es. Alle hatten ihre Augen nur auf ein Ziel gerichtet: Ein ebenfalls junges Pikachu, dass unbeholfen über Wurzeln und seine eigenen, scheinbar viel zu großen Füße stolperte. Sein Name war nicht Monster, sondern Fulgor, auch wenn vor allem die sehr jungen Pichu diesen schon lange nicht mehr mit ihm assoziierten. Fulgor versuchte verzweifelt, noch schneller zu laufen, doch seine Beine hinderten ihn schmerzlich daran. Er wünschte sich, wie fast jede Sekunde seines Lebens, ein normales Pikachu zu sein. Fulgor hätte lieber keine Beine gehabt, als diese knöchernen, dünnen Gestelle die in großen, vierzehigen Vögelfüßen endeten. Sie waren nutzlos und störten ihn nicht nur beim Laufen. Es war ihm kaum möglich, sich zu bücken und einen Stein aufzuheben, wie es die anderen Pikachu taten. Sonst hätte er sich vielleicht gewehrt. Zumindest hätte er vielleicht daran gedacht. So jedoch, fühlte er sich der Gruppe aus rund zehn Pikachu und vier Pichu vollkommen unterlegen und suchte sein Heil in einer völlig auswegslosen Flucht.

Die anderen Pokémon waren um einiges besser zu Fuß, als Fulgor. Erschwerend kam hinzu, dass er immer wieder Probleme hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Er wusste, dass es einen Weg gab, wenigstens diese Schwäche auszugleichen, aber diese Blöße würde er sich nicht noch einmal geben. Nicht so wie das letzte Mal. Das hatte er sich geschworen.

Die anderen Pikachu kamen immer näher. Felias, der Anführer der Truppe und Fulgors größter Feind, zielte genau und warf einen großen Stein, der den Hybriden direkt am Rücken traf. Von dem plötzlichen Schmerz einen Moment benommen, stolperte er vorwärts und breitete instinktiv seine großen Schwingen aus um zu verhindern, dass er fiel.

„Ja, Vögelchen, flieg!“ ertönte es prompt hinter ihm und die Scham zuckte wie ein Blitz durch Fulgors Körper.

Der Wunsch, sich zu verteidigen wurde unermesslich groß und in einem kurzen Anflug von Mut wandte er seinen Kopf in die Richtung der Meute und brüllte: „ Ich kann überhaupt nicht fliegen!“

Noch im selben Moment bereute er seine Reaktion, denn Felias schoss mit einem Ruckzuckhieb nach vorne und warf Fulgor auf den Rücken.

„Na los, macht schon!“ sagte das überhebliche Pikachu befehlend zu den anderen und nickte in die Richtung der noch immer ausgebreiteten Schwingen des Hybriden.

Sie legten einige Steine auf die langen, roten Federn und nagelten Fulgor so am harten Waldboden fest, während Felias eiskalt grinsend einen Fuß auf seinen Bauch stellte.

„Du solltest den Mund halten, Monster. Sonst wächst dir vielleicht auch noch ein Schnabel.“

Die anderen lachten leise und einer von ihnen klopfte Felias zustimmend auf die Schulter.

„ Lasst mich gehen!“, schrie Fulgor aufgebracht und warf verzweifelt den Kopf hin und her. „ Ich habe euch doch gar nichts getan! Was soll das? Das tut weh!“

Doch das Grinsen des anderen Pikachu wurde nur noch breiter.

„Tut mir Leid, wenn es dir weh tut. Aber das können wir leider nicht nachvollziehen. Weißt du, ich verrate dir ein Geheimnis.“, Felias beugte sich zu dem vollkommen verängstigten Pokémon hinunter, bis sein ungewöhnlich langes, zerzaustes Fell in Fulgors Augen stach und flüsterte, laut genug, dass die anderen es ebenfalls hören konnten: „Nicht jeder von uns hat Flügel.“

Die Gruppe brach in wildes Gelächter aus, das weit in den Himmel hinaufstieg und einen vorbeiziehenden Schwarm Taubsi dazu bewegte, schneller über diesen unangenehm klingenden Wald hinweg zu fliegen. Unter ihnen strampelte Fulgor inzwischen verzweifelt mit den Füßen und wand sich unter dem Gewicht, dass Felias auf ihn ausübte.

„Es sind nicht meine Flügel!“, brüllte er, das Gesicht vor Wut und Furcht vollkommen verzerrt. „Mein Bauch tut weh, wenn du dich mit deinem stinkenden Fuß darauf stellst!“

Augenblicklich wandelte sich das Grinsen in dem Gesicht des heißblütigen Pikachu in hasserfüllte Wut.

„ Willst du diesen Fuß einmal in deinem Gesicht haben, Monster?“, fragte Felias leise. „ Sollen wir dich wieder verprügeln, so wie das letzte Mal?“

Die pure Panik schoß in kalten Wellen durch Fulgors Adern. Seine Augen rissen weit auf und verzweifelt drehte er den Kopf nach links und rechts, um einen Ausweg zu finden. Er spannte die Muskeln in seinen Flügeln an und versuchte mit ganzer Kraft, die Steine abzuschütteln, die ihn gnadenlos am Boden hielten. Vergebens. Kalter Schweiß bildete sich auf Fulgors Stirn und er begann, noch wilder mit den Beinen zu strampeln. Er spürte, wie die hinteren Zehen seiner Füße den Boden aufschürften, während dir vorderen die Luft zu zerreißen schienen. Das Pikachu wollte einfach nur noch weg, weit hinein in den schützenden Wald rennen und immer weiter und weiter, bis ans Ende der Welt. Es streckte die Beine so weit es konnte und strampelte und zerrte mit seinen Flügeln an den Steinen und versuchte mit seinen Händen Felias zu erreichen, um ihn von sich zu stoßen. Blitze schossen aus seinen Wangen, doch das konnte den anderen Elektropokémon kaum etwas anhaben.

„Danke für die Massage.“, lachte Felias amüsiert und sagte dann in sehr ernstem Tonfall: „Du bist fällig!“

Noch einmal trat Fulgor verzweifelt nach der Luft und vernahm kurz darauf einen erschreckten Schrei. Eines der Pikachu war ihm zu nah gekommen, und seine Krallen hatten dem Arm des jungen Mauspokémon einen tiefen Kratzer zugefügt. Entsetzt wandten alle ihre Gesichter zunächst dem Verletzten und dann wieder Fulgor zu. Es wurde plötzlich sehr still. So still, dass das Lied der Fasasnob wieder zu hören war und die Szene geradezu gespenstisch untermalte.

Felias durchdrang die Stille.

„Du Monster!“, sagte er voller Abscheu. „Das werden wir den Erwachsenen erzählen. Dann wirst du endlich verbannt!“

Mit diesen Worten drehte er sich um, nahm das verletzte Pikachu bei der Hand und lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach und nach folgten ihm die anderen, die wenigen Pichu weinten verängstigt. Sie ließen Fulgor hilflos zurück.

Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihnen zu sagen, dass sie ihn befreien sollten. Das hätte sowieso niemand von ihnen getan. Erschöpft und zutiefst verletzt, legte das junge Pokémon den Kopf auf die Seite und starrte die kleinen Kieselsteine und die Insekten an, die über den dunklen Waldboden krabbelten. Ein Raupy schien Fulgors Blick zu erwidern, doch dann entdeckte es seine Vogelfüße und kroch schnell in den nächstgelegenen Busch. Er seufzte tief und es klang zittrig. Aber er würde nicht schon wieder weinen. Er durfte keine Schwäche mehr zeigen, auch nicht vor sich selbst. Noch einen kurzen Moment lang blieb er liegen und lauschte den Geräuschen des Waldes: Dem Rascheln von gefallenen Blättern und dem Knacken kleiner Stöcke, wenn sich ein Rattfratz oder ein Nagelotz seinen Weg bahnte, dem Rauschen des Windes, wenn er durch die Bäume pfiff. Der Gesang verschiedenster Vogelpokémon klang wie ein göttlicher Chor und erfüllte die Luft. Irgendwo in der Ferne war ein Heulen und lautes Bellen zu hören, vermutlich ein Rudel Magnayen auf der Jagd. Auf eine Begegnung mit diesen konnte Fulgor verzichten. Jetzt, wo das Gewicht Felias nicht mehr auf seinem Bauch lastete, konnte er sich etwas aufrichten und mit ganzer Kraft seine Flügel unter den Steinen hervorziehen. Stöhnend warf er einen kurzen Blick auf die zerzausten Federn und legte die Schwingen dann schnell wieder an seinen Körper an.

Wie er diese anderen Pikachu hasste! Er wünschte, sie würden sich einfach um ihre eigenen Dinge kümmern und sich ein anderes Mittel gegen ihre Langweile suchen, anstatt ihn ständig zu schikanieren.

Niedergeschlagen schlurfte Fulgor tiefer in den Wald hinein. Er wollte nicht nach Hause gehen. Die Erwachsenen würden ihm die Hölle heiß machen, weil er dieses Pikachu verletzt hatte.

„Aber das war doch keine Absicht.“ flüsterte er leise zu sich selbst und spürte, wie seine Augen nass wurden.

Wütend warf er den Kopf hin und her, als er könnte er so die Tränen abschütteln. Doch ihr Gewicht schien untragbar und so flossen sie bald in kleinen Rinnsalen aus Fulgors großen, braunen Augen. Verzweifelt begann er zu rennen so schnell er konnte, obwohl er von der vorangegangenen Verfolgungsjagd noch vollkommen erschöpft war. Er stolperte über Steine und Wurzeln, riss sich die Haut an Ästen und Dornen auf, an denen kleine Büschel seines Fells hängenblieben. Doch egal wie weit und schnell Fulgor auch rannte, vor sich selbst konnte er nicht fliehen.

Erst als seine Beine schwer wie Blei waren, sein Atem unregelmäßig und stoßweise ging und sich die Übelkeit in seiner Kehle festgesetzt hatte, blieb Fulgor stehen. Am ganzen Leib zitternd ließ er sich auf den Boden fallen. Nur langsam nahm er seine Umgebung war und bemerkte, dass er weit in den Wald vorgedrungen war und sich nun auf einer, von der Sonne hell erleuchteten, Lichtung befand. Der Boden war mit frisch duftendem Gras bedeckt. Nur hier und da ragte eine bunte Blume aus dem Grün hervor. Mohn, Nelken und Angelonien bildeten ein kontrastreiches Bild. Fulgor war froh, endlich etwas anderes als kalten Waldboden unter sich zu spüren und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf seine Haut fielen. Er blickte blinzelnd in den strahlend blauen Himmel und sah große Schäfchenwolken vorüberziehen. In seiner Fantasie nahmen sie die verschiedensten Formen an, sahen aus wie Raichus, Pikachus und Pichus. Eine der Wolken ähnelte stark einem Panzaeron. Sofort wandte Fulgor den Blick ab und knurrte leise in sich hinein. Er war schon viel zu lange hier geblieben. Wenn er wenigstens etwas glaubwürdig erscheinen wollte, musste er jetzt zurückgehen und den Erwachsenen versuchen zu erklären, was passiert war. Das junge Pikachu sprang auf die Füße und bewegte sich in Richtung der Bäume, die einen dichten Ring um die Lichtung zogen, wie riesige Wächter dieses wunderschönen Platzes. Aus dem Augenwinkel bemerkte Fulgor einen kleinen Bach, der aus dem Wald heraus auf die Lichtung floss, nur um dann wieder zwischen den Bäumen in der Dunkelheit zu verschwinden. Das leise Plätschern des Wassers, das ihm zuvor überhaupt nicht aufgefallen war, ließ ihn gewahr werden, wie durstig er war. Kurzerhand änderte er seine Laufrichtung und ließ sich vor dem Bach in die Hocke nieder, um etwas zu trinken. Das Wasser war, trotz des strahlenden Sonnenscheins, angenehm kühl. Fulgor nahm sich Zeit, um seinen Durst zu stillen und genoss das kühle Nass auf seiner Zunge und in seiner Kehle. Nachdem er genug getrunken hatte, stand er auf und warf noch einen Blick zurück in das Wasser. Durch den leichten Strom war sein Spielbild verzerrt, aber doch erkennbar. Zögerlich öffnete Fulgor seine Flügel. Kummer zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er konnte es den anderen wirklich nicht verübelten, dass sie ihn so schlecht behandelten. Wenn er einer von ihnen und normal wäre, würde er wohl das Selbe tun. Felias hatte Recht. Es fehlte wirklich nur noch ein Schnabel, um sein Erscheinungsbild endgültig zu entstellen. Wie war er selbst überhaupt zustande gekommen? Wie konnte so ein Monster wie er überhaupt existieren?

Fulgor legte die Schwingen an, senkte den Kopf und schloss die Augen. Wenn er sich doch nur in Luft auflösen konnte! Er wünschte, er könnte einfach von dieser Welt verschwinden und noch einmal wiedergeboren werden. Ob als Raupy, als Pichu oder als Taubsi war vollkommen egal. Einfach nur normal. Er wollte doch einfach nur normal sein! Wieder rannen die Tränen aus seinen Augen und tropften in den Bach. Die Strahlen der Sonne schienen ihn nicht mehr zu erreichen, denn er fror am ganzen Körper. Fulgor sehnte sich nach Liebe und Wärme und wandte sich bebend wieder dem Wald zu. Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem er beides finden konnte und genau dort wollte er jetzt sofort hin. Auch wenn er, um diese Oase des Glücks zu erreichen, erst eine Wüste aus Hass durchqueren musste.



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