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Die Kunst des wahren Hassens
von

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Donnerschlag

Das Raichu rannte so schnell es konnte durch den komplett in tiefstes Schwarz getauchten Wald. Die Dunkelheit war gnadenlos an diesem Tag, sie umfing die Bäume von den Wurzeln bis zum letzten Blatt. Es stand kein Mond am Himmel, der das Leid des Weibchens beleuchtet hätte. Sie blutete. Die Angst hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein Parasit. Sie konnte kaum klar denken, so sehr plagten sie die Sorgen. Ihr orangenes Fell stand in Büscheln von ihrem gedrungenen Körper ab und ihr langer Schweif, der in einer gezackten Blitzform endete, schliff beinahe über den Waldboden, weil ihr die Kraft fehlte, ihn in die Höhe zu halten.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Kind gebar und bisher hatte sie sich immer in den geschützten Wald zurückgezogen, da sie die neugierigen Blicke und die Geräusche der Schritte der anderen Pikachu vor ihrem Nest nervös machten. Doch dieses Mal, so schwante ihr, war das ihr größter Fehler gewesen. Die Schmerzen waren plötzlich aufgetreten und kamen der Wirkung eines Faustschlags in ihre Magengrube gleich. Sie wusste, dass sie zurück zu ihrem Stamm musste. Diese Geburt konnte sie nicht alleine überstehen, sie musste sich helfen lassen. Denn sie wollte den nächsten Morgen noch erleben, die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spüren. Zusammen mit ihrem Ei. Bei dem Gedanken daran, dass es auch anders ausgehen könnte, breitete sich ein bedrückendes Gefühl der Übelkeit in ihrer Magengegend aus und sie war sich nicht sicher, ob dieses Gefühl nicht noch unangenehmer war, als der unbändige Schmerz.

Eine weitere Welle des Schmerzes erfasste sie und stoppte ihren Lauf abrupt. Es fühlte sich an, als schnüre jemand ihren Unterleib mit einer Ranke ab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ sich das Raichu auf den Boden fallen und rollte sich auf den Rücken, um seinen Bauch nicht unnötig zu belasten. Ihr Atem ging schwer und stoßweise und kalter Schweiß bedeckte ihren wild zuckenden Körper. Doch sie konnte nicht aufgeben. Ihrem Kind zuliebe. Die Mutterliebe in ihr brannte heißer als jedes Feuer.

Unter größter Anstrengung richtete sie sich wieder auf. Egal wie dunkel es auch war, die Welt um sie herum war lebendig. Lebendig und bedrohlich. Immer wieder zuckten die großen, nach hinten gerichteten Ohren des Raichu, wenn ein Geräusch ihr Trommelfell erreichte. Die Kramurx, die durch ihr tiefschwarzes Gefieder und ihre scharf gekrümmten Schnäbel wie Diener der Dunkelheit selbst wirkten, kreischten höhnisch in den Baumwipfeln, als wollten sie die werdende Mutter verspotten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein Grypheldis, dass sie schon seid einiger Zeit verfolgte, angelockt von dem Duft ihres Blutes und auf leichte, doppelte Beute hoffend. Es saß auf einem dicken Ast und hatte den federlosen Kopf neugierig schief gelegt. Augeregt klackerte es mit seinem breiten, grauen Schnabel und breitete seine großen Schwingen aus, die von kurzen braunen und langen grauen Federn bedeckt waren. Mit einem markerschütternden Kreischen erhob es sich in die Lüfte, die rötlichen Puppilen starr auf das geschwächte Raichu gerichtet.

Doch sie hatte nicht vor, diesem Aasgeier ihr Kind zu überlassen. Das Weibchen war bereit, sich mit Händen und Füßen, Krallen und Zähnen, Funken und Blitzen gegen das Flugpokémon zu verteidigen. Trotzdem hoffte sie inständig, dass es nicht so weit kommen würde. Ihr Herz machte große Sätze und pumpte einen unaufhörlichen Strom aus Adrenalin durch ihre Adern. Ihr Körper hatte alle Hände voll zu tun, um die negativen Gefühle ihrer Seele auszugleichen. Das Raichu fühlte sich so unglaublich erschöpft, dass es am liebsten verzweifelt aufgeschrien und geweint hätte. Seine Beine brannten wie Feuer und waren schwer wie Blei, seine Gedanken benebelt. Wäre nicht das ungeborene Kind in ihrem Leib gewesen, das Weibchen hätte sich vielleicht den Schmerzen ergeben, sich auf den Boden fallen lassen und dem Grypheldis eine gute Mahlzeit ermöglicht. Doch sie durfte nicht aufgeben. Es war nicht mehr weit, bis zu dem Höhlenkomplex, in dem ihr Stamm seid Generationen lebte. Ihr Kleines würde dazugehören. Es würde ein wunderbares Exemplar der neuen Generation sein. Sie sah es schon vor sich, das kleine Wesen, und die Vorstellung zauberte ihr schon jetzt ein stolzes Lächeln auf die Lippen. Eine Zukunft für sie und ihr Kind. Das war es, wofür das Weibchen in diesem Moment kämpfte. Sie musste nach Hause und diesen Räuber abschütteln. Überleben. Das war alles, voran sie denken konnte. Das Adrenalin schoß heiß durch ihre Blutbahnen und verdrängte das Gefühl für den Schmerz irgendwo in die hinterste Ecke ihres Gehirns. Ihre Gefühle zwang sie selbst hinunter in ihr Unterbewusstsein, denn sie wusste, dass sie all ihre Konzentration brauchte, um lebendig ihr Ziel zu erreichen.

Sie rannte wieder, das Grypheldis schwebte drohend über ihr in der stickigen, schweren Luft. Irgendwo in der Ferne war ein lautes Donnergrollen zu hören. Ein Geräusch, das das Raichu beruhigte wie ein Schlaflied. Es klang nach Heimat und nach den starken Kämpfern ihres Stammes. Sie wünschte die dunklen Wolken zu sich, als ihr Schutzschild und als einen Ansporn: Ihr ungeborenes Kind würde niemals das sanfte Grollen der Wolken vernehmen, würde sie hier sterben. Das konnte sie nicht zulassen. Soetwas konnte keine Mutter ihrem Kind antun. Ihr Stolz und ihre Liebe verboten es ihr.

Scheinbar nur Sekunden später, war das Gewitter direkt über ihr. Große, tiefgraue Wolkenwände verdunkelten die Nacht noch weiter, nur um sie immer wieder für Sekunden von kräftigen Blitzen, die über den Himmel zuckten, erhellen zu lassen. Die gefährliche Wucht der Elektrizität zwang das Grypheldis zum Rückzug. Aufgebracht schlug es mit den Flügeln, frustriert kreischend, bevor es Zuflucht in der Ferne suchte.

Das Raichu dankte den Göttern, an die es nie geglaubt hatte, für die Rettung. Sie würde es schaffen. Ihr Kind würde unter den gutmütigen und aufmerksamen Augen ihres Stammes auf die Welt kommen und sie würde es wärmen, bis es schlüpfte und das erste Mal die Welt mit den eigenen, großen Augen sehen würde. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie die große Eiche entdeckte, die die Grenze des Reviers ihres Stammes markierte. Nur noch ein paar Meter. Sie war gerettet. Ihr Herz schlug schneller und ein wohliges Gefühl von Wärme machte sich in ihrem Leib breit. Sie wollte ihr Kind streicheln, es liebkosen. Sie wusste jetzt, was es bedeutete, zu leben. Und sie würde dieses Geschenk wertschätzen, wie nicht anderes auf der Welt. Dankbar lächelnd blickte sie zu den großen Wolken hinauf, die von Wind getrieben schnell über Himmel zogen, als wollten sie sie sicher nach Hause geleiten.

Dann explodierte die Welt um sie herum. Die Dunkelheit wurde durch gleißendes, tödlich helles Licht ersetzt, das das Raichu komplett umfing. Sie klappte wild zuckend zusammen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, ihre Muskeln tanzten einen wilden Tanz des Todes, der ihr alle Kraft raubte. Die Hitze brachte das Blut in ihren Adern zum Kochen. Niemals hätte sie gedacht, dass es ein Blitz sein würde, der sie auf ihre letzte Reise schicken würde. Ihre Gedanken schienen sich aufzulösen, sie verloren ihre Konsistenz, wurden zu Fetzen, die kaum noch Sinn ergaben. Trotz allem spürte das Raichu noch, wie das zweite Leben, das in ihr hauste, sie ebenfalls verließ. Doch anders als ihr eigenes Leben, das sich nicht nur von ihr selbst, sondern auch von der Welt verabschiedete, begrüßte dieses seine Umwelt mit einem lauten, seltsam verzerrten Schrei der Unbeholfenheit. Es war kein Ei. Es war schon von Kopf bis Fuß komplett wach und lebendig. Von den spitzen Ohren, über den blitzförmige Schweif bis hin zu den letzten Federn seiner Flügel. Dem Raichu war ganz schwindelig. Die Welt drehte sich. Sie wurde immer tiefer in eine Spirale hineingesaugt, die mit jedem Blinzeln dunkler und dunkler wurde. Sie musste träumen. Sie musste doch träumen! Und in ihrem letzten, erstaunlich klaren Augenblick fragte sie sich, was für einen Spaß sich diese Götter wohl erlaubten, an die sie eigentlich gar nicht glaubte.



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