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Die Geflügelte Schlange - Schatten

* * make love, not war * * - Teil 2
von

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12. Briefe

Merat umfaßte das Hawat-Amulett vor ihrer Brust, streichelte mit den Fingerkuppen über das Relief der Flügel. 'Hawat, beschütz' ihn', erflehte sie stumm für ihren Mann und hoffte, daß es noch nicht zu spät war. Nun übernachteten sie die dritte Nacht am Rande der Handelsstraße zwischen Hannai und Tetraos, diesmal erstmals in der Nähe eines Dorfes. Am vergangenen Tag hatten sie auf der Straße von den Söldnern der Hannaiim erzählen gehört, die nach der ersten schweren Schlacht gegen die Tetraosi von ihrem Feldherrn verlassen worden waren und deswegen noch immer vor Tetraos lagen. Viele Tote hätten die Hannaiim verbrennen müssen und fast alle davon seien Söldner gewesen. Und heute hatten sie auf dem Markt, auf dem sie ihre Vorräte ergänzt hatten, erfahren, daß die Tetraosi die Reste dieser Söldnertruppe, die zunächst auf Seiten der Hannaiim gekämpft hatte, nun in ihren Dienst genommen hatten. Merat steckte das Amulett wieder zwischen ihre Brüste und zog den Brief ihres Mannes aus ihrem Brustband, den sie vor dreiundzwanzig Tagen erhalten hatte. "Geliebte Merat", stand dort, "ich wurde von Stammeslosen auf dem Weg nach Hannai gefangen genommen. Sie fordern ein Lösegeld von einhundert Tar für meine Freilassung. Ich vermisse dich, Amemna."
 

Natürlich hatte Merats leiblicher Vater, der zugleich Amemnas Ziehvater war, verboten, daß Merat das Lösegeld zahlte. Er hatte Amemna dafür verflucht, daß er nicht bei seiner Schmiede, bei seiner Frau und seiner Tochter geblieben, sondern heimlich nach Hannai aufgebrochen war, um dort nach seinen leiblichen Eltern zu suchen. Wer so unvernünftig war, sich allein auf eine solche Reise zu begeben, mußte sich nicht wundern, wenn er Räubern in die Hände fiel, war Murhans abschließende Bemerkung zu diesem Thema gewesen. "Oh ihr Götter, warum mußtet ihr gerade mich mit so ungehorsamen Söhnen strafen?" hatte er noch geseufzt, als Merat schon aufgestanden war, um das Zelt ihres Vaters zu verlassen. Merat hatte schon als Kind in Ma'ouwat gewußt, daß ihre Mutter nicht Murhans erste Frau gewesen und früh gestorben war. Aber nie zuvor hatte sie gehört, daß Murhan, abgesehen von seinem Ziehsohn Amemna, einen oder mehrere leibliche Söhne gehabt hatte, denn seine Südländerfrau hatte ihm zwei Töchter geboren. Also war Merat zu ihrer Tante, der Schwester ihrer leiblichen Mutter gegangen, die sich über ihre Nichte und deren Kind freute wie über eine eigene Tochter und ein eigenes Enkelkind, und Merat hatte sie gefragt, welche Söhne Murhan außer Amemna gehabt hatte.
 

Ihre Tante hatte darauf begonnen, zu weinen. Merat hatte versucht, sie zu trösten, doch es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Und endlich sagte sie: "Du sollst erfahren, wie deine Mutter gestorben ist und wieso Murhan die Zelte wieder verließ und nach Ma'ouwat zog. Du weißt, daß Murhan als Söldner diente bei den Städtern", und Merat nickte. "Doch nach vielen Jahren kehrte er mit seinem halb erwachsenen Erstgeborenen, seinem Sohn Nefut, zurück und heiratete meine Schwester. Sie waren sehr glücklich, es war das erste Mal, daß ich Murhan nach dem Tode seiner ersten Frau so glücklich gesehen hatte und sie bekamen eine Tochter, eine kleine Merat." Merats Tante lächelte in Erinnerung, streichelte ihrer kleinen Großnichte auf ihrem Schoß die schwarzen Locken und küßte sie auf die so weichen Wangen. "Du warst ein so wunderschönes Kind wie deine eigene Tochter, Merat. Sie sieht dir sehr ähnlich, bis auf die Augenfarbe." Amati, die Tochter von Amemna und Merat, hatte bunt gescheckte Augen, fast wie eine Wildkatze, als habe sich das Schwarz der Augen ihrer Mutter und das Grau der Augen ihres Vaters nicht recht gemischt. Tupfer von grau und schwarz, dunkelbraun und hellbraun, das fast wie Gold aussah, hatten sich in Amatis noch vor kurzem ganz gewöhnlich babygrauen, aber von Anfang an wunderschön großen Augen gebildet.
 

"Und wie starb meiner Mutter?" fragte Merat nach, die bis dahin nur gewußt hatte, daß ihr Vater mit seiner kleinen Tochter nach dem frühen Tod seiner zweiten Frau nach Ma'ouwat gezogen war, doch nie mehr erfahren hatte.
 

Wieder liefen die Tränen aus den Augen von Merats Tante. "Meine Schwester wurde als Ehebrecherin verurteilt. Murhans Erstgeborener hat sie im Bad verführt, an dem Tag, als sie sich dort nach ihrer Wöchnerinnenzeit reinigte. Und Murhan selbst hat beide gerichtet, sie ausgepeitscht, bis seine Frau tot war und sein Sohn halbtot. Er verstieß Nefut aus dem Stamm und sprach nie wieder von ihm. Und nun hat sich sein zweiter Sohn von ihm abgewendet, hat Murhan nicht gehorcht sondern seinen eigenen Kopf durchgesetzt, als er sich aufmachte nach Hannai. Murhan muß das Gefühl haben, die Götter hätten ihn verflucht, da sie ihm drei Frauen und zwei Söhne genommen haben."
 

Der Tod ihrer eigenen Mutter war seltsam weit weg, berührte Merat weniger als die Ermordung von Murhans dritter Frau, in deren Obhut sie aufgewachsen war, deren Tod durch die Hand der aufständischen Ma'ouwati vor zwei Jahren sie hatte miterleben müssen. Und trotzdem spürte sie Zorn gegen jenen unbekannten Bruder, der ihr die Mutter genommen hatte. In dem Moment schwor sie sich, den Tod ihrer Mutter zu rächen, sollte sie jemals die Gelegenheit dazu bekommen. Und ebenso war sie auf ihren Vater zornig gewesen, der sich weigerte, ihren Ehemann aus der Gefangenschaft auszulösen. Sie verstand Amemnas Beweggründe, nach seinen leiblichen Eltern zu suchen, sehr gut. Er wollte wissen, warum er so anders war, zugleich Mann und Frau, und Merat hatte ihm zugeredet, der Spur, die nach Hannai zu führen schien, zu folgen. Doch Amemna war gegen Merats Rat ohne Murhans Erlaubnis aufgebrochen und nach der Gefangennahme wußten allein die Götter, ob sie ihren Mann, ob Amati ihren Vater jemals wiedersehen würde.
 

Wie erleichtert war sie gewesen, als sie den zweiten Brief aus Amemnas Feder erhielt, vor nunmehr sechs Tagen. Aus Nemis hatte er ihr geschrieben, in der Schrift und Sprache der Südländer, die er viel besser beherrschte, als die der Oshey, doch das, was er ihr geschrieben hatte, hatte sie fast zur Verzweiflung gebracht. Es war ein Scheidebrief gewesen. Er hatte sie aus ihrem Ehegelöbnisentlassen, da er nicht wisse, wann jener Kriegszug nach Tetraos, dem er sich als Wanack habe anschließen müssen, zuende sei. Wütend hatte sie den Brief zerrissen und ins Feuer geworfen. Sie war wahrhaft zornig auf Amemna gewesen. "Er kann mich nicht einfach ablegen, wie einen alten Mantel!" hatte sie geschrien, und ihre kleine Tochter hatte erschrocken vom Schoß ihrer Amme zu ihr gesehen, da sie einen solchen Ausbruch von ihrer Mutter nicht gewohnt war. "Ich werde ihm sagen, daß ich diesen Scheidebrief nicht annehme! Ich werde ihm nachreisen!" Durch ihr Geschrei hatte sie es tatsächlich geschafft, die kleine Amati zum Weinen zu bringen, und Tabit mußte mit ihr hinausgehen, weil Merat so aufgebracht war und nicht zur Ruhe kommen konnte. Nun lebte ihr Mann also noch, war nicht von den Banditen getötet worden, obwohl sie kein Lösegeld erhalten hatten, und Amemna hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich von Merat zu scheiden. Als er aufbrach nach Hannai hatte er ihr noch unverbrüchliche Liebe geschworen, ihr als Liebespfand sein Hawatamulett überlassen, das er seit seiner Kindheit getragen hatte, und nun das. Allein durch die Erinnerung kochte ihr Zorn wieder hoch.
 

Merat hatte sich nicht damit aufgehalten, ihren Vater um Erlaubnis zu fragen, sie suchte direkt beim Fürsten um eine Audienz nach, erhielt sie überraschenderweise sofort und kniete sich vor ihrem Großonkel auf die dicken Teppiche seines Zeltes.
 

"Merat, Balsam meiner alten Augen, was wünscht du?" hatte der Fürst freundlich gefragt.
 

"Mein Mann hat mir einen Scheidebrief geschickt, den ich nicht akzeptieren will", hatte Merat erklärt.
 

"Womit hat er seinen Entschluß begründet?" hatte der Fürst wissen wollen.
 

"Mit dem Hinweis darauf, daß er als Söldner der Hannaiim dienen müsse und nicht wisse, wann der Kriegszug beendet sei. Ich will ihm nachreisen und an seine Pflichten mir gegenüber erinnern", hatte sie zornig geantwortet.
 

Der Fürst hatte milde gelächelt. "Ja, ich merke, in dir brodelt die Leidenschaft der Jugend, Merat, du brauchst deinen Mann. Dann reise Amemna mit meinem Segen hinterher und sag ihm, daß du die Scheidung nicht akzeptierst. Aber du nimmst fünf von meinen Wachen mit dir." Gegen den Beschluß des Fürsten konnte selbst Murhan nichts einwenden, also hatte auch er seiner Tochter seinen Segen gegeben. Und früh am nächsten Morgen war Merat aufgebrochen, in für eine Prinzessin angemessener Weise mit ihrer Tochter und deren Amme Tabit, ihrer eigenen Dienerin Losat und fünf fürstlichen Wachen auf nach Tetraos. Das war nun fünf Tage her, die Reise in der Kamelsänfte war unbequem gewesen, aber dafür hatten sie nun schon fast die Ebene vor Tetraos erreicht.
 

Merat faltete Amemnas Brief aus seiner Gefangenschaft bei den Stammeslosen wieder zusammen, steckte ihn zurück in ihr Brustband und betrachtete die schlafende Amati in ihrer Wiege. Hoffentlich lebte Amemna überhaupt noch. Erst morgen zur Mittagszeit würde sie Genaueres wissen, dann hätten sie das Heerlager der ehemaligen Söldner der Hannaiim erreicht. Und Merat zog sich den niedrigen Tisch heran, legte sich den am Tage gekauften Papyrus, Tinte und Feder zurecht und schrieb einen Brief an ihren vielleicht schon längst getöteten Mann.
 

"Mein überaus geliebter Amemna,
 

ich war sehr erleichtert zu lesen, daß du der Gefangenschaft der Stammeslosen entkommen bist. Ich sehne mich so sehr nach deinen Berührungen, nach deiner Liebe, und es darf doch nicht sein, daß Amati ohne einen Bruder bleibt, der sie beschützen kann, wenn wir einmal nicht mehr sind.
 

Ich bin dir nachgereist und erreiche wohl zur morgigen Mittagsstunde das Heerlager, in dem sich die ehemaligen Söldner der Hannaiim befinden sollen. Ich teile dir hierdurch auch mit, daß ich nicht gedenke, deinen Scheidebrief zu akzeptieren. Schließlich bin ich keine rechtlose Städterin, die soetwas von ihrem Ehemann hinnehmen müßte. Ich bin ungeduldig, dich wieder in meine Arme zu schließen und mit dir endlich wieder der Göttin zu huldigen. Es war ein sehr einsamer Mond für mich.
 

In Liebe, Merat."
 

Sie faltete den Papyrus zusammen, legte eines der filigranen Ohrgehänge, die Amemna ihr zur Geburt Amatis gemacht hatte, in den Brief hinein, band einen Faden kreuzweise um das Schreiben und versiegelte den Brief mit ein paar Tropfen Wachs, auf die sie ihren Daumen preßte. "An den Wanack Amemna Darashy", schrieb sie daneben.
 

"Patris!" rief sie dann aus ihrem Zelt und der Anführer der fürstlichen Wächter, die sie begleiteten, kam zu ihr.
 

"Was wünscht ihr, Herrin?" fragte er mit einer leichten Verbeugung.
 

"Bitte sucht im Dorf einen Boten, der diesen Brief bis morgen früh in das ehemalige Heerlager der Hannaiim bringt. Bezahlt ihn gut", befahl Merat und reichte dem Wächter den Brief.
 

Der Mann nahm ihn entgegen. "Ich erledige es sofort, Herrin", versprach er und zog sich zurück. Und Merat legte sich schlafen.
 

*
 

Als die Sonne die fernen Berge, an deren Fuß Tetraos lag, endlich erreichte, hatte Merat nach einer unruhigen Nacht schon wieder Platz in ihrer Sänfte genommen, und die Durchschüttelei über die Handelsstraße ging weiter. Amati hatte mit ihrer Amme eine eigene Sänfte, und sie schien das Geschaukel auf dem Kamel zu genießen, wenn sie nicht selig schlief, war sie auf der Reise stets guter Laune gewesen. Doch Merat wurde immer nervöser, je näher sie der Ebene vor Tetraos kamen, je weiter sie sich der möglichen Nachricht von Amemnas Tod näherten. Sie wußte, wie stark ihr Mann war, wußte ebenso, daß er ein guter Schwertkämpfer war, doch der Krieg war immerhin etwas ganz anderes als Übungen mit Murhan. Einen unerfreulichen Einblick hatte sie während des hautnah miterlebten Bürgerkrieges in Ma'ouwat erhalten. Und wer wußte, ob Amemna die Schlangenklinge Murhans noch sein eigen nannte? Vielleicht war er aus der Gefangenschaft der Stammeslosen geflohen, mit nichts als der Kleidung am Leibe und hatte sich im Kampf mit einem schlechteren Schwert verteidigen müssen.
 

"Herrin, man kann das Heerlager schon sehen", rief Patris plötzlich.
 

Merat schob den Vorhang beiseite. Tatsächlich, da war eine wie auf einem Spielplan aufgestellte Ansammlung von bunten Zelten, umgeben von einem Erdwall und einem hölzernen Zaun in der großen Senke vor ihnen, ein ganz anderer Anblick, als ihn die gewöhnlich in Kreisen umeinander angeordneten einheitlich braunen Zelte eines Stammes bildeten. Dahinter erstreckte sich eine graugrüne Ebene bis zu den Bergen. Sie würden nicht einmal bis zur Mittagsstunde brauchen, dieses Heerlager zu erreichen. Noch etwa zwanzig Pferdelängen bis zu seinem Eingang, vielleicht bis zu der Nachricht, daß auch Amemna zu den vielen Toten der Schlacht gehört hatte. Merat spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte und hatte das Gefühl, daß ihr die Luft wegblieb. Mit großer Anstrengung konzentrierte sie sich darauf, weiter zu atmen, bis ihre Kehle sich nicht mehr wie zugeschnürt anfühlte und die Panik nachließ. Wenn Amemna tatsächlich tot war, würde sie Zeit genug haben darüber nachzudenken, was weiter geschehen sollte.
 

Wieder schob sie den Vorhang beiseite, sah die Zelte des Heerlagers schon viel dichter, erkannte Tierpferche, sogar einzelne Osheyzelte in dem Heerlager. In einem von denen würde Amemna doch wohl sein. Er durfte einfach nicht tot sein. Wer sollte sie denn trösten, falls sie erfuhr, daß sie Witwe geworden war? Sie flehte alle guten Götter an, daß es Amemna gut gehen möge, daß er sie bereits ungeduldig erwartete, nachdem er ihren Brief ja bereits am Morgen erhalten haben mußte. Vielleicht eilte er ihr auch gerade entgegen, weil er ihre Kamelsänfte am Horizont gesehen hatte. Er mußte doch wissen, daß nur sie es sein konnte, denn welche Städterin würde wohl auf diese Weise reisen? Noch ein Blick auf die Ebene. Dort waren tatsächlich Reiter unterwegs, zwischen dem Heerlager und der großen Stadt am fernen Ende der Ebene, die aus dem Stein des Gebirges gehauen zu sein schien. Und große, bedrohlich wirkende Wolkengebirge hingen darüber im Himmel.
 

Ihnen kam niemand entgegen. Die ersten Menschen, die sie trafen, waren die zwei Wächter am Eingang des Heerlagers. Merat hielt den Vorhang nur einen winzigen Spalt geöffnet und überließ Patris das Reden. "Wir sind auf der Suche nach dem Wanack Amemna Darashy", sagte der fürstliche Wächer.
 

Die zwei Mann starke Lagerwache musterte mit unverholener Herablassung die beiden Kamelsänften, das Lastenkamel mit ihren Zelten und dem Gepäck, die fünf Männer und die Frau auf ihren Pferden. "Fragt im Zelt des Zweiten der Birh-Mellim, wo dieser Wanack sich aufhält, Oshey."
 

Doch als Patris den Eingang passiert hatte, die anderen ihm folgen wollten, kreuzten die Wachen ihre Speere. "Ihr geht allein. Wenn der Zweite der Birh-Mellim einverstanden ist, könnt ihr die anderen nachholen."
 

Patris blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. "Ich bin so schnell wie möglich zurück, Herrin", sagte er zu Merat hinauf, dann eilte er den Weg zwischen den Zelten entlang, den die Lagerwache ihm gewiesen hatte.
 

Die anderen fürstlichen Wächter saßen ab, halfen auch Losat vom Pferd. Die Kamele durften sich niederlassen, aber Merat hielt den Vorhang der Sänfte geschlossen, ebenso wie die Amme, in deren Armen Amati vermutlich schlief, denn Merat konnte nichts von dem gewöhnlich lauten Schmatzen und Schnaufen ihrer Tochter hören, wenn sie gestillt wurde.
 

"Wünscht ihr irgend etwas, Herrin?" fragte Merats Dienerin vor der Sänfte leise.
 

"Nein, Losat", antwortete Merat ebenso leise. Immerhin hatte die Lagerwache nicht gesagt, daß der Wanack Amemna Darashy längst tot und verbrannt war. Nach einer Ewigkeit, die den anderen fürstlichen Wachen jedoch gerade genügt hatte, ein paar Schluck aus ihren Wasserschläuchen zu trinken, kam Patris zurück, zusammen mit einem vornehm aussehenden Städter, vor dem sich die Lagerwachen sofort verbeugten.
 

"Laßt die Oshey passieren", verlangte der Mann mit einer befehlsgewohnten kurzen Handbewegung und die Lagerwachen machten tatsächlich den Weg frei.
 

Der Städter verbeugte sich vor Merats Sänfte. "Ich bin Wanack Perdinim, der Zweite des Birh-Melack. Laßt mich euch zu den Zelten eures Gatten führen, Herrin."
 

Merat wollte nicht unhöflich erscheinen. Sie zog ihren Schleier wieder über die Haare und öffnete den Vorhang der Sänfte, um sich zu zeigen. "Ich danke euch, Wanack Perdinim... Es klingt... als sei mein Gatte... nicht zugegen", brachte Merat dann ihre Beunruhigung zögernd in sprachliche Form.
 

"Er ist, denke ich, bei den Kriegsplanungen in Tetraos, im königlichen Palast. Bitte folgt mir zu seinen Zelten, damit ihr euch nach der langen Reise erfrischen könnt, dann lasse ich euch nach Tetraos zu eurem Gatten bringen."
 

Merat nickte zustimmend und reichte ihrer Dienerin die Hand, damit sie ihr beim Aussteigen aus der Sänfte helfen konnte. Sie ließ sich von Wanack Perdinim durch das geschäftige Heerlager geleiten. Losat und die Wächter führten die Pferde und Kamele am Zügel, Tabit aber blieb auf Merats Wink mit Amati in ihrer Sänfte. Im Vorbeigehen wies der Wanack den fürstlichen Wachen den Weg zu den Tierpferchen, zu seinem Zelt und den Zelten der Götter im Zentrum des Lagers. Und endlich erreichten sie zwei Osheyzelte, ein kleines und ein größeres, zwischen denen gerade zwei Männer und ein Junge, nur in ihre Untergewändern gekleidet, Waffenübungen machten. Der größere der beiden Oshey, mit auffälligerweise kahl rasiertem Kopf, half dem Städterknaben, korrigierte seine Schläge, während der etwas kleinere, sehr schmächtige Mann unbeirrt mit seinen Übungen fortfuhr. Das Oberteil seines Untergewandes hatte er ausgezogen und es hing locker um seine Hüften, der Rest wurde von einem braunen Gürtel gehalten. Die sich unter der schwitzenden Haut deutlich abzeichnenden Rücken-, Brust- und Bauchmuskeln dieses Mannes, einzelne, während der Bewegung hervortretende Adern, seine trotz seiner fehlenden Körpergröße so ausgeprägt männliche Statur machten Merat nervös, so daß sie ihren Blick abwenden mußte. Niemals hatte sie sich wirklich klar gemacht, daß jeder Mann, nicht nur ihr Vater, genau so aussah, und gewöhnlich keine Brüste hatte, wie Amemna sie aufwies.
 

Der Wanack sprach den schmächtigen Mann an, der sofort die Übungen unterbrach und zu ihnen kam. Im Gehen steckte er die Arme wieder in die Ärmel seines Untergewandes, verschloß rasch ein paar Knöpfe, so daß es geschlossen blieb, als er sich vor Merat verneigte. "Welche Ehre, Herrin, in euch die dritte aus dem Fürstengeschlecht der Darashy in der Birh-Mellim begrüßen zu dürfen. Ich bin der Zweite von Birh-Melack Darashys Wannim. Ich habe den Boten mit eurem Brief in den Palast geschickt. Ich denke, euer Gatte wird euch dort erwarten", begrüßte er sie mit erstaunlich voller Stimme.
 

Amemna war der Birh-Melack der Söldner? Und wer mochte neben Amemna und ihr selbst der dritte Verwandte des Fürsten der Darashy sein, von dem der Zweite der Wannim sprach? Es konnte niemand sein, den Merat kannte, doch bis auf ihren verstoßenen Halbbruder kannte sie die ganze fürstliche Familie. Aber sie fragte nicht nach, sondern neigte nur freundlich den Kopf. "Ich danke für eure Begrüßung, Zweiter der Wannim. Bedeuten eure Worte, daß ich im Palast wohnen soll?"
 

Der Mann zog die Augenbrauen wie besorgt aneinander. "Das sollte besser euer Gatte entscheiden, Herrin. Zunächst ist wohl zu empfehlen, daß ihr eure Zelte hier bei denen eures Mannes aufstellen laßt, wenn ihr nicht vorzieht, in dem Teil des Lagers zu wohnen, in dem der Troß liegt."
 

"Schickt einen eurer Männer zu mir, wenn ihr nach Tetraos geleitet werden wollt, Herrin", verabschiedete sich Wanack Perdinim, nahm Merats Dank mit einer stummen Verbeugung entgegen und ging.
 

Und Merat nahm mit ihrem Gefolge die Einladung des Zweiten der Wannim zu einem Begrüßungstee an.
 

*
 

Der herbe Geruch des Tees, die Gespräche der benachbarten Männerrunde, all das war halb vertraut und daher beruhigend, obwohl sie sich von Amemnas Wohlbefinden bisher nicht hatte überzeugen können. Merat saß mit Losat und Tabit, bei der die wieder erwachte Amati auf dem Schoß saß, etwas abseits, nippte an dem heißen Tee. Merat beschloß bei sich, den fürstlichen Wachen zu befehlen, die Zelte zu errichten, wenn sie diese Schale Tee geleert hatte. Sie selbst würde den Zweiten der Birh-Mellim bitten, sie zu ihrem Gatten zu bringen. Dann endlich würde sie wieder von Amemnas starken Armen umfangen werden, durfte sich seinen Küssen hingeben, ihrem gemeinsamen Begehren.
 

Ein sehr großer Mann hatte das Zelt betreten, aber breiter, viel männlicher als Amemna sah er aus, eine wahrhaft fürstliche Erscheinung, dessen Präsenz sich auch auf die Männerrunde auswirkte. Selbst der Zweite der Wannim sprang sofort auf, als er ihn sah, eilte zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Der große Mann nahm den Tarra'kt ab, löste den Knoten mit dem er seine langen Haare gebändigt hatte, so daß sie ihm über die Schultern fielen. Wie sehr Merat dieser Anblick an Amemna erinnerte, der in Ma'ouwat seine wunderbaren Haare auf die gleiche Weise unter dem Fischerturban getragen hatte, als sie ihm noch bis zu seiner Taille gereicht hatten, bevor ihm Murhan  auf der Flucht zurück zu den Stämmen den Schädel rasiert hatte, um aus seinem Ziehsohn einen Oshey nach seinem Bilde zu machen.
 

Nach dem, was der Ankömmling sagte, kam er gerade aus dem Palast von Tetraos, in dem sich doch Amemna aufhalten sollte. Merat erhob sich und ging zu ihm, hielt einen sittsamen Abstand, und trotzdem raubte ihr sein Anblick von nahem fast den Atem. Er hatte einen Körper, wie ihn vielleicht ihr Vater in der Blüte seiner Jahre gehabt haben mochte, wohlgestaltet und voller Energie. Sein edles Gesicht wirkte etwas nachdenklich, sein vornehm gestutzter Bart umgab einen schön geschwungenen Mund, bei dessen vollen Lippen sich Merat unwillkührlich fragte, wie es wohl sein würde, von ihnen geküßt zu werden. Und sie stand hier in ihrer unansehnlichen Reisekleidung, noch mit dem Staub der Straße an Gesicht und Haaren.
 

"Habt ihr Nachricht von meinem Mann?" fragte Merat, als sie sich wieder gesammelt hatte.
 

Er antwortet, aber Merat nahm nur wahr, wie seine wundervollen Lippen sich bewegten, achtete nicht auf die Worte. Sie fragte noch etwas und noch etwas, nur um zu sehen, wie diese Lippen sich teilten, die weißen Zähne dahinter kurz aufblitzten, die Zunge. Und die Lippen schlossen sich wieder. Immerhin sickerte endlich die Erkenntnis zu Merat durch, daß das Heer wohl kurz vor dem Aufbruch stand. Ein Besuch im Palast war überflüssig geworden, sie konnte Amemna ebenso gut hier erwarten. Und dieser Mann stand in Amemnas Diensten.
 

Sollte sie Amemnas Scheidebrief doch annehmen? Das war ein frevelhafter Gedanke. Wie konnte sie nur dieser wundervollen Lippen wegen, wegen des Anblicks eines bärtigen Kinns und breiter Schultern den Vater ihrer Tochter plötzlich vergessen? Doch sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um den Blick von diesem Mann abzuwenden, die Augen auf den Teppich unter ihren Füßen zu richten. "Ich danke euch", hauchte sie und ging rasch zurück zu ihren Frauen und Amati, zu ihrer Teeschale, die noch halb gefüllt war, mit inzwischen kalt gewordenem Tee.
 

* * *
 



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