Offene Fragen
...Er hatte doch keinen Hüter umgebracht! Der letzte Hüter... Elenor DeFleur! Das war doch der Name seiner Mutter!
Seine Mutter, die im Kindbett gestorben war...
Seine Mutter, die er als Säugling umgebracht hatte...
Seine Mutter, eine Frau die er im Grunde gar nicht kannte.
Rufus klappte Betrayal zu und legte es neben sich aufs Bett, jedoch ohne den Blick davon zu lassen. „Wenn man den vorherigen Hüter tötet…“, wiederholte er leise. Er hatte seine Mutter durch seine Geburt das Leben gekostet… und seine Mutter, wie kam sie zu Betrayal? War Elenor DeFleur eine Mörderin? Wo war das Buch die letzten 20 Jahre und wie konnte so ein begehrtes Objekt so lange verschwunden sein?
Er starrte auf den Einband und hoffte, dass sich das Buch ihm offenbaren würde, ihm erzählen würde, was er wissen wollte; doch die Schwarzen Linien tanzten nur provokativ auf dem Leder, ohne irgendwas preiszugeben. Als wollte es sagen, dass wüsstet du wohl gerne.
Doch da kam ihm eine Idee! „Ich brauche was zum Schreiben!“, sagte er aufgeregt und wandte seinen Blick zu Helena.
„So versessen das Buch auszuprobieren? Junger Mann, das nimmt kein gutes Ende“, sagte sie und es lag ein strenger Ausdruck in ihren eisig blauen Augen, die ihn nun unterkühlt musterten und auch der Rabe Lonán gab ein abfälliges Krächzen von sich, „Hier in der Bibliothek wirst du keinen Strich in dieses Buch schreiben!“
Offenbar hatte Rufus damit ein prekäres Thema angesprochen. „Verzeihung“, bat er leise, „Ich wusste ja nicht, dass die Benutzung der Bücher hier unerwünscht ist.“
Helena rollte mit den Augen. „Gerade die Benutzung dieser Bücher ist das, was wir verhindern wollen!“, sagte sie, „Kein Mensch sollte so in den empfindsamen Zeitfluss eingreifen können. Kein Mensch und auch kein anderes Wesen. Einfach niemand!“
„Ich verstehe… ich… wollte nur… naja“, sagte er herumdrucksend… da war er nun Hüter eines solchen Buches und er durfte es nicht benutzen. Einerseits war er neugierig, auch wenn ihm der Gedanke an das Können des Buches unheimlich war.
Andererseits, hätte ihm sein Einfall auch sicher weitergeholfen. „Ich wollte Betrayal dazu bringen, dass es mir etwas über seine Zeit mit meiner Mutter und der Zeit seines Verschwindens erzählt.“
Helena seufzte hörbar. „Ich verstehe… doch das hätte ohnehin nicht geklappt. Du kannst mit Betrayal weder Struggle oder Loss und auch nicht es selbst zu irgendetwas ‚bringen‘. Das ist eine der Regeln, nach denen die Bücher funktionieren. Kein Buch kann Einfluss auf das ‚Verhalten’ der anderen nehmen.“
„Dann werde ich wohl darauf warten müssen, dass mein Stiefvater aufwacht, wenn ich etwas erfahren möchte“, schlussfolgerte Rufus, dessen Blick nun wieder auf Betrayal fiel.
Geduld ist eine Tugend… stand da nun auf dem Einband.
Helena nickte knapp. „So sieht es aus“, sagte sie, doch kein Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Sie schien eine harte junge Frau zu sein. Mochte sie womöglich nicht viel älter sein als er, sagen konnte er es ja nicht bestimmt, so war sie dennoch viel erwachsener und reifer als er selbst mit seinen 15 Jahren.
„Ich lasse dir etwas zu essen und zu trinken bringen“, sagte sie noch ehe sie sich, ohne sich zu verabschieden, entfernte und auch Lonán flatterte ihr hinterher, so dass er nun alleine mit dem Buch war.
So viel zu seiner tollen Idee. Es blieb zu hoffen, dass sich sein Stiefvater gesprächsbereiter zeigte als in den letzten Jahren. Wann auch immer das Wort auf seine leiblichen Eltern, seine Mutter im besonderen, zu sprechen kam, war er immer noch garstiger und verhärteter geworden, als es ohnehin schon der Fall gewesen war. Hoffentlich würde ihm Helena sofort bescheid geben, wenn sein Stiefvater bereit war mit ihm zu reden und auch mit ihr selbst wollte er sich nochmals unterhalten.
Seine Glieder und sein Kopf schmerzten immer noch und er legte sich wieder auf seine Liegestätte. Betrayal lag an seiner Seite. Er nahm es wieder zur Hand. Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Doch höchstwahrscheinlich würde Helena ihn bald wieder an sich nehmen. Wahrscheinlich hatte sie es jetzt nur vergessen, weil er sie verärgert hatte. Auch wenn er nicht glaubte, dass sie jemand war, der so wichtige Dinge üblicherweise vergas.
Er nahm das Buch wieder zur Hand. Immer noch verlautete der Einband, Geduld sei eine Tugend. „Geduld, Geduld, Geduld… kaum warst du aufgetaucht, musste ich in aller Hektik aufbrechen… da war keine Zeit sich zu gedulden, aber ich soll nun schmoren, wie?“, giftete er und war versucht das Buch, aufgewühlt und verwirrt wie er war, in die Ecke zu pfeffern. Da hielt er inne.
Betrayal zeigte die Zukunft… vielleicht hatte es das Gespräch mit seinem Stiefvater schon aufgezeichnet? Er war versucht den Schlüssel umzudrehen, doch dann beschloss er es zu lassen. Darin zu lesen war ihm vielleicht gestattet, aber wenn es schon verboten war es zu benützen, war es zu lesen wohl ebenso wenig gern gesehen.
Er wollte seine Gastgeber nicht unnötig verärgern.
Außerdem schmerzte sein Kopf immer noch, und sich auf seine Krakelschrift zu konzentrieren würde ziemlich anstrengend sein – wieso hatte er nicht auf seinen Lehrmeister gehört, als er ihn dazu anhielt sich in Schönschrift zu üben?
„Dann warte ich halt“, murrte Rufus.
Guter Junge… teilte ihm das Buch mit.
„Blödes Buch“, erwiderte Rufus und steckte Betrayal und dessen Schüssel unter sein Kissen. Er ging in Gedanken noch mal die letzten Ereignisse durch. Das Auftauchen des Buches; die Truppe von Männern, die gemeinsam versuchte das Buch aus der Villa zu entwenden und über deren Identität ihm noch nichts weiteres zugetragen wurde.
Vielleicht waren sie ein Geheimbund oder so? Eine Truppe mörderischer Gesellen, die nun hinter dem Buch und damit auch hinter ihm als dessen Hüter herwaren; die überstützte Flucht, die ihm sein Stiefvater Sir Vacé ermöglicht hatte und schließlich seine Rettung durch Helena und die Bibliothek der schwarzen Vögel.
Neben seinen schmerzenden Gliedern machte sich nun auch sein Magen bemerkbar und er hoffte, dass sein Essen bald kommen würde.