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Die Geflügelte Schlange - Aufstieg

* * make love, not war * * - Teil 1
von

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20. Erb-Lasten (jugendfrei)

Amemna hatte bei seinem plötzlichen Aufbruch zum Melack sein Ma'ouwati-Tuch liegen gelassen. Als Amemna nach seiner späten Rückkehr seinen Zweiten zur Besprechung des nächsten Tages herauswinkte, wollte Hamarem Nefut das Tuch in die Hand drücken, aber der war schon aus dem Zelt gelaufen, bevor Hamarem von seiner Arbeit aufgesprungen war. Also nahm Hamarem das Tuch selbst und folgte Amemna und Nefut. Der Zelteingang war verschlossen, aber noch in Bewegung, als Hamarem das Wanackzelt erreichte, den festen Stoff ein Stück beiseite zog und bei dem Anblick, der sich ihm bot, erstarrte. Gerade in diesem Moment küßten Amemna und Nefut sich leidenschaftlich und hatten glücklicherweise für nichts anderes Augen als für den jeweils anderen. Betroffen ließ Hamarem die Zeltklappe wieder sinken, Amemnas Kopftuch noch in den Händen. Aber er hörte, wie beide Männer begehrlich stöhnten und schließlich ganz offensichtlich sogar begannen, sich zu begatten. Da erwachte Hamarem aus seiner Erstarrung und ging langsam in das Mawatizelt zurück.
 

Irgendwann wurde ihm bewußt, daß er neben dem bereits schlafenden Derhan auf seinem eigenen Lager saß, noch immer voll bekleidet, noch immer Amemnas zusammengelegtes Kopftuch in den Händen. Er konnte nicht einschätzen, wie lange er schon so dasaß, ohne jeden Gedanken, noch immer viel zu erschüttert von dem Gesehenen, das ihm wie eingebrannt vor den Augen stand: Amemna und Nefut, einer in den Armen des anderen, die Gesichter durch den Kuß wie miteinander verschmolzen, als wüchse Amemna Nefuts schwarzer Bart im eigenen Gesicht. Wie hatte er so blind sein können zu glauben, daß Nefuts offensichtliche Zuneigung zu Amemna darauf zurückzuführen war, daß Nefut in seinem Wanack eine Art jüngeren Bruder sah, den er anleiten und dem er mit seiner Erfahrung zur Seite stehen konnte?
 

Mechanisch legte Hamarem schließlich Mantel und Gürtel ab und legte sich zwischen seine Decken. Dann griff er nach dem Kopftuch seines Wanack, das noch neben seinem Lager lag. Amemnas zarter Duft entströmte ihm und Hamarem legte es unter seinen Kopf, senkte seine Nase in den weichen Stoff und stellte sich vor, er wäre an Nefuts Stelle im Wanackzelt. Und plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen. Wieso blieb ihm die Erfüllung durch die Vereinigung zweier Körper versagt? Nun war es also zu spät, sich Amemna zu offenbaren. Sein Wanack hatte sich für Hamarems Herrn Nefut entschieden, einen Mann, bei dem zumindest Hamarem überzeugt gewesen war, er würde in geschlechtlichen Dingen niemals vom Wahren Weg abweichen. Und Hamarem blieb nun nicht einmal mehr die vage Hoffnung, eines Tages die wahrhaftige Erfüllung seiner geheimen Wünsche zu erleben. Ihm blieb nur, seinen unirdischen Wanack heimlich zu verehren und weiterhin von der Erfüllung seiner Liebe zu träumen.
 

*
 

Hamarem wachte auf, als ihm eine Hand sanft über die Stirn und den Bart strich. Er brauchte gar nicht die Augen zu öffnen, um zu wissen, daß es Amemna war, denn der Duft des Unirdischen hing wie ein schweres Parfum in der Luft. Trotzdem öffnete Hamarem die Augen und sah dem weißhaarigen Jüngling ins Gesicht, der neben seinem Lager saß. "Hamarrem, schenkst du mirr deine Lust?" fragte Amemna flüsternd, strich dabei über Hamarems Ohrmuschel, den Hals entlang und in den Ausschnitt des Untergewandes.
 

Hamarem erschauderte vor Erwartung. Er war zu keinem Wort fähig, aber er nickte, denn er war nur zu bereit, seinem Wanack in jeder Hinsicht zu dienen.
 

Amemna beugte sich tiefer über Hamarem, küßte ihn auf den Mund, zupfte mit den Lippen an Hamarems Kinnbart und erreichte schließlich die Kehle, so daß Hamarem die Augen schloß und vor Lust aufstöhnte. Doch das eigene Stöhnen zu hören erinnerte ihn plötzlich an die Geräusche, die aus dem Wanackzelt zu ihm gedrungen waren: das tierhafte, rhythmische Stöhnen aus zwei Männerkehlen, das nun erneut in seinem Schädel widerhallte. "Wie könnt ihr zu mir kommen, Herr, wenn ihr doch Nefut erwählt habt?" fragte Hamarem leise.
 

Amemna hielt inne mit seinen Liebkosungen und als Hamarem die Augen wieder öffnete, um seinem Wanack bei der Antwort auf die Frage in die Augen zu sehen, war dort nichts, nur das vom Mondlicht leicht erhellte Zeltdach.
 

Hamarem hatte wieder geträumt. Ein weiterer dieser unheimlich wirklichen Träume, die seine Gefühle kontrollierten, mehr als das Hamarem Kontrolle darüber gehabt hätte. Doch wie konnte das sein? Bisher waren diese Träume nur aufgetreten, wenn es zu einer Berührung zwischen Amemna und ihm gekommen war. Das Ma'ouwati-Tuch des Wanack Darashy lag zerknautscht neben Hamarems Kopf, Amemnas Duft entstöhmte ihm noch immer. Ob es allein dieser normalerweise wohl nur unterschwellig wirkender Duft war, der die Träume hervorrief? Der verführerische Duft der Unirdischen, der Amemnas ganzem Körper anhaftete und der mit einer Berührung wohl auch für kurze Zeit auf den Berührten überging? War Nefut Amemnas unirdischen Zauber erlegen? Wie anders war zu erklären, daß er gegen die Gebote der Weisen und Heiligen mit einem Mann das Lager teilte? Und was war mit Derhan? Oremar zumindest würde dagegen gefeit sein, da er ja beständig einen Bogen um den Wanack machte. Bisher hatte Hamarem angenommen, daß kein anderer der Mawati ähnlich wie er selbst auf Amemnas Gegenwart reagierten. Und wie konnte er sie dazu befragen? Das war kein Thema, über das ein Mann mit einem anderen sprach. Richtiger: es war kein Thema, über das Nefut sprechen würde, Derhan vielleicht schon.
 

Wie sehr Hamarem sich nach einer tatsächlichen Berührung Amemnas sehnte! Wieso hatte er Amemna im Traum nur abgewiesen? Aber ganz bewußt für eine Fortsetzung des Traumes zu sorgen, indem er Amemnas Kopftuch erneut als Kopfkissen nahm, brachte Hamarem nicht über sich. Das wäre wie ein Verrat an Nefut gewesen. Also nahm Hamarem das Kopftuch, schüttelte es aus, legte es wieder zusammen und brachte es dann nahe an den Zeltausgang, so weit weg von den Schlafstätten der Mawati, wie es eben ging. Bei einem Blick hinaus stellte er fest, daß die Nacht schon fast vorbei war. Es würde bald anfangen zu dämmern. Nefut atmete tief und ruhig, auch von Oremar war nur ein leises Schnarchen zu hören, aber Derhan wälzte sich unruhig auf seinem Lager. Hamarem legte sich wieder hin, sah hinauf zum Zeltdach. Wie konnte er nur die Zerrissenheit überwinden, die durch seine Sehnsucht nach Amemna und seinen unbedingten Gehorsam gegenüber Nefut sein Herz schmerzen ließ?
 

*
 

Hamarem erwachte von dem Morgenruf aus dem Melack-Zelt. Er beeilte sich, ein Frühstück für die anderen zu kochen, nachdem Nefut erklärt hatte, daß sie vor Tagesanbruch zu einem Angriff aufbrechen würden. Wenig später waren Amemna und die drei Mawati verschwunden, und Hamarem blieb allein zurück, ohne auch nur seiner Hoffnung Ausdruck gegeben zu haben, alle mögen gesund zurückkehren. Vielleicht fand er beim Bohnenspiel mit Nefut dem Kind Vergessen von dem Gefühl der Verzweiflung, das bei jedem Gedanken an Amemna und Nefut in ihm aufstieg.
 

Doch bevor er zum Lagerplatz des Trosses aufbrechen konnte, kam ein Bote des Feldherrn zum Zelt der Mawati. "Ist dein Herr der Wanack Darashy?" fragte der Mann knapp.
 

Hamarem nickte. "Mein Herr ist der Wanack Amemna Darashy", bestätigte er mit einer Verbeugung.
 

"Dann habe ich eine Nachricht für Deinen Herrn. Händige sie aus, sobald er wieder im Lager ist", befahl der Bote, reichte ein Holztäfelchen an Hamarem und ging wieder davon.
 

Das aus zwei Teilen verbundene Holztäfelchen war nicht versiegelt und so hatte Hamarem auch kein schlechtes Gewissen, als er es aufklappte, um die mit Kohle geschriebene Botschaft zu lesen: "An den Wanack Amemna Darashy. Die Nachforschungen aufgrund Eurer Nachfrage nach dem Mawar Adarach um-Anasku haben ergeben, daß er nicht zu den Hilfstruppen der Hannaiim gehörte oder gehört. Im Auftrag des Oberschreibers seiner Exzellenz Prinz Nesfat von Berresh, Heerführer Hannais."
 

Adarach um-Anasku klang nach einem Ostlernamen. Wieso suchte Amemna einen Mawar, einen Befehlshaber von hundert Mann zu Fuß? War er vielleicht ein Verwandter? Die riesig gewordene geflügelte Schlange aus seinem Traum vor drei Nächten fiel Hamarem wieder ein. Sie hatte bis in den Osten gereicht. Hatte das etwas mit Amemnas Nachfrage zu tun? War es wirklich ein nahezu weltumspannender Heerzug, den Hamarem in dem Traum von der geflügelten Schlange vorhersah? Das war kein angenehmer Gedanke, nicht einmal, wenn Hamarem vergönnt sein sollte, Amemna und Nefut weiterhin als Wirtschafter folgen zu können. Ursprünglich war das Söldnerdasein doch als ein vorübergehender Zustand gedacht gewesen, für die Dauer des Feldzuges des Königs von Hannai, also bis zur Einnahme der zur Zeit belagerten Stadt Tetraos. Nach der Auszahlung ihres Lohns würden sie in eine der großen Städte ziehen können, um dort friedlich zu leben - das zumindest hatte Hamarem bisher gehofft, auch wenn sich angesichts Amemnas Interesse an Hannai abzeichnete, daß es eben Hannai sein würde, wo sie sich niederließen. Und mit Hannai verband Hamarem viele unschöne Erinnerungen.
 

Hamarem war in das Wanackzelt gegangen und legte den Brief aus der Schreibstube des Feldherrn zusammengeklappt auf das niedrige Tischchen das zwischen den Sitzkissen stand. Er verharrte angesichts des Sichtschutzes um Amemnas Lager einen Moment. Er war tatsächlich in Versuchung, sich hinter diesen Vorhang zu begeben, sich auf Amemnas Schlafstatt zu legen, Amemnas in den Decken gefangenen Duft einzuatmen. Amemnas Duft, der aber wohl mit dem von Nefut gemischt sein würde, nach dem, was er am Vorabend gehört hatte. Bevor er der Versuchung nachgeben konnte, verließ Hamarem das Zelt schnell wieder und machte sich nun endlich auf zu dem prächtigen Zelt, in dem er so glückliche Stunden beim Bohnenspiel verbracht hatte.
 

*
 

Als Hamarem das Zelt erreichte, war Nefut das Kind tatsächlich zugegen. Er saß im Schatten des Zeltes und würfelte lustlos mit zwei Würfeln. Er sah müde und etwas traurig aus, das änderte sich jedoch schlagartig, als er Hamarem erblickte. "Spielen wir wieder?" fragte er hoffnungsvoll und Hamarem konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Junge am Vortag aus eigener Erfahrung gesprochen hatte, als er sagte, daß Bohnenspiel vertreibe düstere Gedanken.
 

"Ich würde mich freuen, wenn du Zeit für mich hättest", entgegnete Hamarem.
 

In Windeseile holte Nefut die Bohnen und den Spielplan und sie begannen das Spiel. Und schon nach wenigen Zügen kreisten Hamarems Gedanken allein um die Übernahme der Stellungen seines Gegners und die Verteidigung seiner eigenen Bohnen, und auch Nefut war sichtlich aufgemuntert. Doch die Partie wurde unterbrochen, weil ein Junge, der wohl etwa in Nefuts Alter war, das Zelt betrat. Er war wie ein vornehmer städischer Erwachsener in ein besticktes Untergewand und einen mittelblauen, gegürteten Mantel gekleidet. Er trug einen edelsteingeschmückten Turban und hatte sogar Sandalen an den Füßen.
 

Nefut erhob sich sofort und verneigte sich tief, und sein zuvor entspanntes, fröhliches Gesicht war auffällig ausdruckslos geworden. "Guten Morgen, mein Prinz", begrüßte er den Jungen.
 

Der Prinz nickte nur gnädig und befahl mit einem Blick auf das Bohnenspiel zu seinen Füßen: "Pack das weg, du mußt mir beim Umkleiden helfen."
 

Nefut warf Hamarem einen bedauernden Blick zu. Hamarem verstand, erhob sich und verneigte sich ebenfalls vor dem Prinzen. Wie Hamarem wußte Nefut, wo sein Platz war und würde seinem Herrn gehorchen, wie Hamarem den seinen. Und natürlich mußte Hamarem jetzt gehen. Er verabschiedete sich und machte sich langsam auf den Weg zurück zum Mawatizelt, dessen Wirtschafter er nun war, weil seine Herren es so beschlossen hatten - seine Herren, die eine Verbindung miteinander eingegangen waren, über die Hamarem lieber nicht weiter nachdachte.
 

Plötzlich wurde Hamarem bewußt, daß ihm Frauen mit großen Körben entgegenkamen. Richtig, die Händlerkarren sollten heute wieder im Lager sein. Über die ganze Aufregung in seinem Gefühlsleben, hatte Hamarem versäumt, beim Frühstück von Nefut oder Amemna Geld für die dringend notwendigen Lebensmittel einzufordern. Nein, er hatte nur an sich und an seine enttäuschten Hoffnungen gedacht, anstatt an seine Aufgaben als Wirtschafter. Ob der Rest seines eigenen Anteils am Banditenschatz und das Handgeld der Hannaiim ausreichte, um Lebensmittel für die nächsten fünf oder sechs Tage zu kaufen, bis wieder ein Markt abgehalten wurde? Und was wäre, wenn nicht? Wie würden seine Herren reagieren, wenn sie in ihm nicht nur einen Feigling sahen, sondern er außerdem bereits am zweiten Tag als Wirtschafter offensichtlich versagte? Hamarem hatte den Eindruck, auf unsicheren Boden geraten zu sein und wie in Treibsand zu versinken. Er brauchte Halt, Hilfe, eine Stütze... Er beschleunigte seinen Schritt, schlug nicht den Weg zu den Marktständen ein, sondern lief weiter bis zur Mitte des Heerlagers, dorthin, wo die den Göttern geweihten Zelte standen.
 

Als Hamarem sein Ziel erreichte, lief sofort einer der unbewaffneten Tempelwächter Orems auf ihn zu. "Was habt ihr hier zu suchen?" blaffte der breit gebaute Mann ihn an, die Fäuste herausfordernd in die Seiten gestemmt.
 

Damit hatte Hamarem nicht gerechnet. Und bis ihm bewußt wurde, daß er aus alter Gewohnheit in den Orem geweihten Bereich getreten war, anstatt, wie jeder andere Mann, davor zu warten, bis ihn einer der Priester bemerkte und zu ihm kam, vergingen ein paar Augenblicke, die den Tempelwächter nur ungehaltener werden ließen. Endlich neigte Hamarem demütig den Kopf, trat die drei Schritte aus dem der Priesterschaft und ihren Wächtern vorbehaltenen Bereich zurück und murmelte: "Ich bitte um Vergebung, Herr."
 

Der Wächter zog sich brummend zurück und Hamarem glaubte, etwas wie 'ungebildeter Kameltreiber' in dem Wortbrei zu hören.
 

Aber was wollte er tatsächlich hier? Wollte er wirklich seine geheimsten Gedanken vor einem fremden Menschen - und sei es ein Priester Orems - ausbreiten, um dann zu hören, daß dies aber nicht im Einklang mit den Geboten der Weisen und Heiligen sei? Das diese Art von Träumen sicher nicht von Orem, dem Nächtlichen Träumer, gesandt sondern wahrscheinlich dämonischen Ursprungs wären? Es war, wie das Betreten des heiligen Bezirkes, Gewohnheit gewesen, sich bei einem unlösbar scheinenden Problem dorthin zu wenden, wo er stets Halt und Unterstützung gefunden hatte - als er selbst noch Priester im Oremheiligtum gewesen war. Vielleicht sollte er sich eher an Derhan wenden, der in seiner unbequemen Art dennoch immer ein echtes Interesse am Wohlbefinden seiner Gefährten gezeigt hatte. Hamarem wollte sich schon zum Gehen wenden, als ein sehr alter Priester, auf einen Stock gestützt und mit einem langen, weißen Bart, auf ihn zu kam. Die Aufmerksamkeit eines so ehrwürdigen Vaters auszuschlagen konnte Hamarem nicht über sich bringen. Also verneigte er sich tief. "Vater, ich brauche Euren Rat", begann er langsam, während er fieberhaft überlegte, was er vorbringen konnte, ohne sich ganz zu entblößen.
 

"Laß uns in den Schatten gehen, mein Sohn", antwortete der alte Priester aber nur und ging voran zu einem Unterstand am Rande des heiligen Bezirkes. Er ließ sich mithilfe seines Stocks langsam auf den Teppich nieder, bat einen der müßig herumstehenden Wächter, Tee zu bringen und lud Hamarem freundlich ein, sich ebenfalls zu setzen.
 

Sie tranken die ersten paar Schluck schweigend, bis der Priester fragte: "Worin kann ich dir raten, mein Sohn?" Er sah Hamarem aufmerksam an und seine dunklen Augen wirkten viel lebendiger, als der Rest von ihm.
 

Hamarem seufzte, weil er noch immer keine gute Idee hatte, wie er um sein Problem herumreden konnte. Der alte Mann wirkte vertrauenswürdig, die Kräfte um ihn waren in einer Weise verflochten, wie Hamarem es nur von den Meistern des Heiligtums und dem Orakelpriester selbst kannte. Dieser Mann hatte offensichtlich die Fähigkeit, die Kräfte zu verstehen. Und vielleicht konnte er Hamarem wirklich helfen.
 

"Dein Herz ist in Aufruhr", stellte der alte Priester leise fest. "Ist das der Grund für dein Hiersein?" Über den Rand seiner Teetasse musterte er Hamarem während des Trinkens. "Du willst mir nicht sagen, was diesen Aufruhr verursacht. Und du hast Träume... hast du jemals mit einem Orempriester über deine Vorhersichten gesprochen?"
 

Da sich das Gespräch unverhofft in eine weniger verfängliche Richtung entwickelte, nickte Hamarem erleichtert. Obwohl er Schweigen gelobt hatte, sagte er: "Ich war sogar ein paar Jahre in der Orakelstätte von Harna."
 

"Oh!", entwich es dem alten Mann und er hob wissend die Augenbrauen. "Du bist wohl der junge Priester, der sich weigerte, seine Ausbildung abzuschließen und statt dessen das Heiligtum verließ." Der alte Mann sprach im Flüsterton.
 

Hamarem nickte, aber fragte nicht, woher der Priester das wußte. Vermutlich sprach sich solche jugendliche Unverschämtheit, trotz der Aussicht auf einen Meisterposten das Heiligtum zu verlassen, unter den Orempriestern herum.
 

"Darf ich fragen, warum du die Orakelstätte verlassen hast?" wollte der Priester nun wissen.
 

"Meine Träume haben mich dazu getrieben", antwortete Hamarem knapp.
 

"Unheilvolle Vorahnungen über deine spätere Zeit im Heiligtum oder weniger persönliche Träume?"
 

"Weniger persönliche Träume, obwohl ich mich durch sie immer direkt angesprochen fühlte."
 

Der Alte nickte verstehend.
 

Es fiel Hamarem nicht leicht, die Empfindungen, die mit den Träumen von der geflügelten Schlange verbunden waren, auch nur gedanklich in Worte zu fassen. Es war nie mehr als ein Gefühl gewesen, daß er sich im Heiligtum am falschen Ort befand. Aber deswegen hatte er es verlassen. Und ein ebensolches Gefühl verband die Träume nun mit Amemna. Der Gedanke an Amemna schnürte ihm erneut das Herz zusammen. "Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen und versuchen, die Träume genauer zu verstehen, anstatt ihnen zu folgen", sagte Hamarem leise.
 

"Vielleicht hättest du das tun sollen. Mit deiner Gabe wärst du wohl einer der herausragendsten Orakelpriester dieser Zeit geworden. Das sagten jedenfalls deine Lehrer, nachdem du die Orakelstätte verlassen hattest."
 

Hamarem war verwirrt. Wieso hatten seine Lehrer mit diesem alten Priester über ihn gesprochen? "Sie haben mir immer gesagt, ich müsse noch viel lernen, aber meine Anlagen seien ordentlich, und ich hätte die Möglichkeit, in den Kreis der Meister aufzusteigen."
 

"Wenn er nicht selbst um sein Erbteil weiß, ist es auch nicht üblich, es einem jungen Priester auf die Nase zu binden, um seinen Eifer wach zu halten", sagte der Alte dozierend.
 

Genau diese Art von kryptischen Bemerkungen verband Hamarem mit fast allen Erinnerungen an seine Studienzeit in der Orakelstätte. Niemand hatte ihm gegenüber je erwähnt, er sei auch nur im entferntesten dazu geeignet, in die Fußstapfen des Orakelpriesters zu treten. Gewöhnlich hatten nur Männer mit unirdischem Blut die Fähigkeit und... dann wurde Hamarem plötzlich klar, was der alte Priester da gesagt hatte. Er hatte unterstellt, Hamarem hätte unirdisches Blut in den Adern, ohne davon zu wissen. Hamarem schluckte trocken und stellte vorsichtig die noch halb gefüllte Teeschale auf dem niedrigen Tischchen ab.
 

"Deine Augen verraten es", erklärte der alte Priester nun mit einem sanften Lächeln, das sich durch sein ganzes runzliges Gesicht ausbreitete.
 

"Ihre fleckige Farbe?" vergewisserte Hamarem sich.
 

"Die gelben Sprenkel darin. Die kannst du nur einem unirdischen Ahn verdanken."
 

Für einen Moment fühlte sich Hamarem um seine Zukunft betrogen, dann jedoch eher um seine Vergangenheit. Sein Vater und dessen Eltern hatten ihn aufgezogen, seine Mutter war früh gestorben - so hatte es jedenfalls geheißen. Und die Familie seines Vaters hatte nicht einen Hauch des Unirdischen an sich gehabt. Hätte Hamarem irgendeinen Verdacht gehabt, als der Orempriester so darauf drängte, daß er nach Harna in die Schule ging, hätte er mit den richtigen Fragen an seinen Vater vielleicht auch einige Antworten erhalten.
 

"Sei froh, daß du die Zeichen so versteckt trägst, denn ein unirdisches Erbe ist eine wahrhaftige Bürde."
 

"Woher wollt ihr das wissen, Herr?" fragte Hamarem herausfordernd. Amemna hätte soetwas sagen dürfen, der seinen erwachenden Fähigkeiten selbst mit Verwirrung und einem gewissen Unbehagen gegenüberstand.
 

"Zieh den Sonnenschutz beiseite", verlangte der Alte, und gehorsam stand Hamarem auf und zog den dichten Zeltstoff des Unterstandes beiseite. Als das Sonnenlicht in das Gesicht des alten Mannes schien, sah man, daß seine Augen keinesweg so einheitlich schwarz waren, wie Hamarem vermutet hatte, sondern das auch sie gelbe Tupfen aufwiesen. Hamarem legte die Plane zurück an ihren Platz und setzte sich schweigend wieder.
 

"Manche unserer Sinne sind empfänglicher, als die anderer Menschen. Gelegentlich meinen wir sogar, die Gedanken und Gefühle unseres Gegenüber zu teilen." Der alte Priester lächelte wieder, als Hamarem bei diesen Worten selbstvergessen nickte. "Die Worte auszusprechen, die einem anderen auf der Zunge liegen, ist noch unverdächtig. Aber wie du bestimmt selbst weißt, sind mit dem Teilen der Gefühle eines anderen eine Menge weiterer Probleme verbunden."
 

"Oh ja", flüsterte Hamarem aus tiefstem Herzen. Er würde nie den Todeskampf des Mannes vergessen, den er vor so langer Zeit als stolzer Temhalykrieger erschlagen hatte. Hamarem hatte den Todeskampf am eigenen Leibe miterlebt und Wochen gebraucht, sich davon zu überzeugen, das er nicht tatsächlich selbst gestorben war.
 

"Aber dafür gibt es auch Stunden, in denen du gerade dank deines unirdischen Erbteils hochstes Entzücken genießen und schenken kannst."
 

Hamarem brauchte einen Moment um zu verstehen, das der Alte wohl auf die Vereinigung mit einem anderen Menschen anspielte. Seine Unwissenheit mußte sich auf seinem Gesicht wohl deutlich abgezeichnet haben, denn der alte Priester ergänzte freundlich: "Du wirst es erleben", und trieb Hamarem damit die Schamesröte ins Gesicht.
 

"Bisher hat sich nie die Gelegenheit ergeben", nuschelte Hamarem.
 

"Die Gelegenheit wird sicher noch kommen", versprach der Priester.
 

Hamarem dachte an das Ziel seiner Begierden und bezweifelte, daß sich die Gelegenheit in nächster Zeit ergeben würde. "Kanntet ihr euer unirdisches Elternteil?" fragte Hamarem um sich abzulenken.
 

"Mein Vater hatte das Blut der Unirdischen in sich. Er war kein Unirdischer, mein Sohn." Nachsichtig lächelte der alte Mann. "Ja, ich wußte von Anfang an um mein unirdisches Erbe."
 

"Seid ihr je einem Menschen begegnet, der tatsächlich ein unirdisches Elternteil hatte - oder gar einem Unirdischen in Person?" wollte Hamarem nun mutiger geworden wissen.
 

Der Alte schüttelte den Kopf. "Nein, das bin ich niemals. Und ich denke auch, daß ein wahrhafter Unirdischer wahrhaft fürchterlich ist. Sie mögen vielleicht aussehen wie Menschen, aber es sind keine. Nach allem, was ich aus Erzählungen und den Schriften weiß, denke ich, daß sie keinen menschlichen Regungen folgen."
 

"Auch nicht, wenn sie sich einem Menschen in Liebe nähern?"
 

"Es ist wohl eher so etwas wie Begierde oder Lust, die die Unirdischen zu den Menschen hinzieht, also Eigenschaften, die wir eher einem Dämon zuschreiben würden, als einem freundlichen Wesen. Kennst du auch nur eine Erzählung von Begegnungen zwischen Menschen und Unirdischen, bei denen es nicht zu einer Vereinigung kam? Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Unirdischen die Sterblichen mit ihrem unwiderstehlichen Duft verführen und sich während der Begattung an den Lustgefühlen der Sterblichen berauschen."
 

Erschüttert hörte Hamarem diesen ernsthaft vorgetragenen Überlegungen zu. Wieso hatte er gedacht, hier Hilfe zu bekommen? Die Worte des alten Priesters bestätigten nur seine eigenen Überlegungen zum Duft der Unsterblichen, deren Wirkung er am eigenen Leibe erfahren hatte, genauso wie wohl auch Nefut. Und die Verzweiflung über die Verbindung seiner Herren schlug plötzlich wieder über Hamarem zusammen.
 

Der alte Priester berührte mitfühlend Hamarems Hand. "Entschuldige, daß ich Schmerz in dir geweckt habe."
 

Vor aufsteigenden Tränen zu keinem Wort fähig, entzog Hamarem dem Alten seine Hand, verneigte sich stumm und eilte zum Mawatizelt zurück.
 

* * *
 



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