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Das Panopticon

von

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Teil III

K. gieng straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.

Franz Kafka: der Proceß
 

Rose trat, ihre Tasche in der Hand, aus dem Sicherheitsraum hinaus in den Gang. Hinter diesem befand sich ein Raum, aus dem drei Türen führten, die sie allerdings mit ihrer Karte nicht öffnen konnte. Angestellte hatten keinen Zutritt zum Erdgeschoss. Sie nahm daher wie immer den Aufzug und fuhr nach oben. Als sie jedoch in der Kabine stand, drückte sie nicht auf den Knopf für den zweiten Stock, wo ihr Zimmer lag, sondern ließ sich in den ersten Stock fahren. Ehe sie es richtig realisierte, stand sie vor dem Badezimmer in dem Alexander gestorben war. Das war jetzt genau eine Woche her. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Vielleicht hätte sie nicht kommen sollen. Anders als bei den Büroräumen, war es in den Wohnbereichen nicht untersagt, andere Stockwerke zu betreten, aber man tat es eigentlich nicht. Wenn man sich mit anderen treffen wollte, tat man das in den allen zugänglichen Gemeinschaftsräumen.

Sie legte ihre Hand auf die Klinke der Tür und stieß sie auf. Mit einem schmatzenden Geräusch schwang die Tür nach innen.

Das erste was Rose auffiel war der Geruch. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte es steril und künstlich gerochen. Doch jetzt stieg ihr ein metallenes, rostiges Aroma in die Nase, das sie zuerst nicht deuten konnte. Dann sah sie das Blut.

In einer plötzlichen, ruckartigen Bewegung machte sie einen Satz von der Tür weg und stolperte einige Schritte nach hinten. Dabei ließ sie die Tasche los. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Rose zwang sich, ruhig zu atmen. Ihre Gedanken rasten. Sie presste ihren Rücken an die gegenüberliegende Wand, um möglichst viel Abstand zwischen sich und das Bad zu bringen.

Es ist wieder passiert, dachte sie. Es ist wieder passiert. Wieder wieder wieder wieder wieder.

In ihrer Brust hämmerte ihr Herz panisch gegen ihren Brustkorb.

Was immer passiert war, es musste ein Gemetzel gewesen sein. Das Blut war praktisch überall gewesen. Den eigentlichen Körper hatte sie nur für einen winzigen Augenblick sehen können, aber das Bild hatte gereicht, um sich ihr tief ins Gedächtnis zu graben. Das Schlimme war, dass sie trotz der vielen Stichwunden gesehen hatte, um wen es sich handelte.

Das war Susan, dachte sie, am ganzen Körper zitternd. Susan.

Sie hatte etwa zur selben Zeit mit ihr angefangen, bei Pantop zu arbeiten. Sie hatten ähnliche Aufgaben gehabt. Wer konnte das getan haben?

Zittrig fuhr sie sich über das Gesicht. Irgendwer musste davon erfahren. Nur wer? Wem gab man über so etwas Bescheid?

Zuerst musste sie sich sicher sein. Am besten sie warf noch einmal einen Blick auf das Geschehen, nur einen winzig kleinen. Unsicher löste sie sich von der Wand, und machte einen Schritt auf die Tür zu, nur um sofort wieder zurückzuweichen. Sie konnte es einfach nicht.

Sie war zu schwach. Was jetzt?

Jemand fasste sie an der Schulter. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Es war Dagobert Marley. Sie erinnerte sich, wie er letzte Woche über Alexander gesprochen hatte. Er musste auch gerade erst gekommen sein, denn er trug noch immer eine Jacke und hielt seinen Zimmerschlüssel in der Hand.

„Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen. Und ich glaube Sie sind im falschen Stockwerk.“ Er lachte kurz über seinen Scherz. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Anstelle einer Antwort streckte Rose nur stumm den Finger aus und deutete auf die Tür. Augenblicklich verdunkelte das Gesicht des älteren Mannes sich. „Sie haben wohl immer noch mit Herrn Rosevilles Tod zu kämpfen, was?“

Rose schüttelte den Kopf. „Da ... Susan ist da drin“, brachte sie mühsam hervor.

Marley runzelte die Stirn. „Susan? Aber ...“ Er sah ihren Gesichtsausdruck. „Am besten sehe ich mal nach.“

Hinterher war Rose dankbar, dass er die Tür nicht komplett geöffnet hatte, und ihr der Anblick erspart blieb. Das einzige was sie sah war, wie sein Gesicht von Unglauben zu Entsetzen wechselte, als er erkannte, was passiert war. Er ertrug den Anblick einige Augenblicke länger als sie, dann wandte er sich zu ihr um. Sein Gesicht war unter dem Bart kreidebleich geworden.

„Ich fürchte wir haben ein Problem.“
 

Am Montagmorgen klingelte Liebermanns Bürotelefon, noch ehe Fanny die Post hereinbringen konnte. Er hob ab und meldete sich.

„Joseph Liebermann.“

„Guten Tag Herr Liebermann. Wir sind betrübt über Ihr Verhalten.“

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. „Mit wem spreche ich bitte?“

„Sie wissen sehr wohl, für wen ich spreche. Mein Name ist unwichtig“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Sie sind am Freitag nicht zu Ihrem Termin erschienen.“

Ein Mitarbeiter der BID, natürlich. Aber Liebermann würde sich nicht von seinen unhöflichen Verhalten einschüchtern lassen. „Ich habe den Namen Ihrer sogenannten Behörde recherchiert. Die gibt es gar nicht“, verteidigte er sich, während er nervös mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte. „Ich muss mir von Ihnen nichts befehlen lassen.“

„Sie finden nichts zu uns im Internet, weil wir einen Organisation sind, bei der Diskretion das oberste Gebot ist“, erwiderte der Anrufer. Er hatte eine dunkle, krächzende Stimme, die verzerrt und unecht klang. „Aber wenn man sich uns widersetzt sind wir gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.“

„Was für eine Befugnis haben Sie dazu?“

„Versuchen Sie nicht, gegen uns vorzugehen. Das ist sinnlos. Sie sind auserwählt worden, folgen Sie dem Ruf.“

Auserwählt, wie das klang. Liebermann war kurz davor, den Hörer einfach auf die Gabel zu knallen und diese unselige Sache zu vergessen.

Als hätte die Person am anderen Ende der Leitung gewusst, was er vorhatte, sagte sie: „Wenn Sie jetzt auflegen, schaden Sie sich nur.“

„Was wollt ihr von mir?“

„Ich werde Ihnen das bestimmt nicht am Telefon erläutern. Mitarbeiter unserer Behörde werden bei Gelegenheit auf Sie zukommen, und Ihnen Instruktionen geben. Ich warne Sie: machen Sie keine Dummheiten.“

„Wie könnt ihr-?“

„Auf Wiedersehen.“ Ein Klicken erklang, dann war die Leitung tot.

Liebermann schaute auf den Display seines Telefons, doch die Nummer, von der aus angerufen worden war, konnte nicht angezeigt werden.

Konsequenzen, dachte er. Die sollten ihn schon kennenlernen. Er war nicht so hilflos, wie die vermutlich dachten. Er würde sich Unterstützung holen, schließlich war er ein freier Bürger und hatte das Recht, sich zu wehren. Und er hatte auch schon eine Idee.
 

Einmal im Monat pflegte Liebermann zu einem Stammtisch zu gehen, bei dem er sich mit Kollegen, die ebenfalls bei der Stadt angestellt waren, austauschte. Dies waren Mitarbeiter von Kultureinrichtungen, Direktoren und auch Anwälte. Auch wenn der Großteil der Teilnehmer eher einem niederen Stand angehörte, wie Liebermann selber, waren doch einige höherrangige Beschäftigte vertreten.

Persönlich kannte Liebermann einige der dort regelmäßig anwesenden Gäste, was ihn mit einem gewissen Stolz erfüllte. Es waren zwar allesamt Personen, die sich das eine oder andere Mal nach seinem Rat einen Kunsteinkauf betreffend erkundigt hatten, aber nichtsdestotrotz zählte er sie zu seinen sozialen Kontakten, von denen er ohnedies schon wenige hatte. Eine dieser Personen, mit der er an einem verregneten Montagabend ein ausführliches Gespräch geführt hatte, war leitender Staatsanwalt beim Landgericht. Er hatte damals viel über seine Tätigkeit gesprochen und im Ganzen einen fähigen Eindruck vermittelt, was selbstverständlich durch seine berufliche Position ebenfalls deutlich wurde. Liebermann war sich sicher, dass dieser Anwalt ihm bereitwillig in einigen Fragen bezüglich seines Problems mit der Behörde aushelfen würde. Nach einigem Suchen fand er in seinem Notizbuch sogar seine Karte, die ihn als Dr. Heinrich Böcher auswies.

Als es also Abend wurde, packte Liebermann seine Tasche, setzte den Hut auf und verließ gegen sieben das Büro. Das Restaurant „Prager Dom“, in dem sich die Gesellschaft regelmäßig einfand, war mit dem Auto keine fünf Minuten von Liebermanns Büro entfernt. Da die anderen Teilnehmer aber frühestens ab halb acht dort erscheinen würden und Liebermann weder für ein paar Minuten nachhause gehen, noch eine halbe Stunde alleine an einem leeren Tisch sitzen wollte, beschloss er, die Strecke zu laufen.

Der Abend war feucht und kühl, der Wind raschelte in den Blättern und der Himmel war bedeckt, sodass weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Die Feuchtigkeit in der Luft schien sich durch den Nebel, der unmerklich durch die Gassen der Altstadt zog, zu manifestieren und schränkte Liebermanns Sichtweite zusätzlich ein. Passanten huschten im matten Schein der Straßenlaternen aneinander vorbei, lediglich als Schatten erkennbar. Da Liebermann jedoch den ganzen Tag im Büro verbracht hatte, war ihm die Bewegung an der frischen Luft angenehm und wohltuend, sodass er sogar einen Umweg wählte, der ihn am alten Schlosskino vorbeiführte, in dem er, wie ihm im Vorbeigehen auffiel, eine Ewigkeit nicht mehr gewesen war.

Der „Prager Dom“ lag in der Altstadt, in einer Seitengasse, die man nicht ohne weiteres fand. Zuvor überquerte man den Marktplatz, an dem der Dom stand von dem das Lokal seinen Namen hatte. Als Liebermann den Platz überquerte und in die Gasse einbog, die rechts des Domes in den Platz mündete, lösten sich auf einmal zwei Gestalten aus dem dichter werdenden Nebel, und kamen auf ihn zu. Ihn erfasste ein ungutes Gefühl und er wich, einen Bogen um die beiden schlagend, zur Seite aus. Die Enge der Gasse ließ ihm jedoch nur wenig Spielraum, und ehe er auch nur einige Schritte getan hatte, waren die beiden Gestalten bis auf einige Meter zu ihm herangekommen.

Liebermann blieb stehen, rückte seinen Hut zurecht und versuchte sein Selbstbewusstsein zu sammeln, um den beiden Personen entgegenzutreten. Er ahnte bereits, um was es sich handeln könnte, schwor sich aber, nicht klein beizugeben. Schließlich hatte er seine Rechte.

„Joseph Liebermann?“, wurde er von der Person, die näher bei ihm stand, angesprochen. Es war eine Frau, das konnte er an ihrer Stimme erkennen. Ihr Äußeres hätte unauffälliger nicht sein können. Ihrem Gesicht fehlte jegliches individuelles Erkennungsmerkmal, ihre Kleidung war gewöhnlich. Das einzig auffällige an ihr war ein breiter Ledergürtel, an dem ein Halfter befestigt war, das eine Waffe enthalten musste.

„Was wollen Sie?“

„Wir werden Sie zu Ihrem Termin begleiten.“

Bei diesen Worten bewegten sich die beiden Personen in einer Art Klammerbewegung auf ihn zu, wie zwei Löwen, die eine Gazelle jagen. In unheimlicher Synchronität hakte sich der Mann rechts, die Frau links bei ihm ein. Ihre Arme waren hart und muskulös. Ein metallischer Geruch ging von ihren Körpern aus, der Liebermann an eine geölte Maschine erinnerte. Er merkte, dass er unweigerlich zu zittern begonnen hatte. Ohne Proteste seinerseits setzte sich das Dreiergespann im Gleichschritt in Bewegung. Sie liefen eine Weile durch Straßen, die Liebermann völlig unbekannt vorkamen, obwohl er sein halbes Leben in der Stadt verbracht hatte. Er wollte seine Entführer fragen, wo sie ihn hinbrachten, ließ es aber bleiben. Manchmal wollte er nach Hilfe rufen, aber er konnte niemanden sehen, der ihm hätte helfen können. Die Schatten der Passanten waren zwischen den Nebelschwaden verborgen.

Irgendwann blieben sie vor einer Haustür stehen, die der Mann aufstieß. Liebermann war sich auf einmal sicher, dass er hier schon einmal gewesen war, aber seine Gedanken waren so verwirrt, dass er nicht sagen konnte, wann und warum. Sie stiegen eine hölzerne Stiege hinauf, Liebermann vorne und hinten von den beiden Wächtern kontrolliert.

Das Haus war von verschiedenen Parteien bewohnt, an jedem Treppenabsatz befand sich eine Haustür, doch das Treppenhaus war zu dunkel, um die Schilder zu erkennen. Im vierten Stock schließlich betraten sie durch eine schmucklose Tür eine der Wohnungen.

Da erkannte Liebermann, dass die Wächter ihn in sein eigenes Heim geführt hatten.

„Was soll das?“, fragte er. „Wie kommen Sie hier herein? Warum waren die Türen offen?“

„Bitte setzen Sie Ihren Hut ab und hängen Sie den Mantel auf, bevor sie mit dem Vorsitzenden sprechen“, war die einzige Antwort, die er von der Wächterin bekam. Obwohl er es eigentlich nicht wollte, folgte er der Aufforderung und hängte seine Kleider sorgfältig an den Hutständer, der im Flur stand.

„Folgen Sie mir bitte“, sagte die Frau dann emotionslos und trat durch eine Tür, die in sein Wohnzimmer führte.

Von hinten durch den zweiten Wächter angestoßen, folgte Liebermann.
 

„Was hast du auch morgens in diesem Bad gemacht?“, regte sich Carter auf, als sie ihm alles erzählt hatte. Obwohl die ganze Firma vor Entsetzen wie gelähmt war, war es doch für alle selbstverständlich, dass die Arbeit vor ging. Die Arbeit hatte immer Vorrang. Jetzt, beim Mittagessen, lag ein gedrücktes Schweigen über der Kantine. An jedem nagte das Wissen über den Mord.

„Dir hätte etwas passieren können!“ Carter war wütend, wahrscheinlich weil sie sich seiner Meinung nach in Gefahr gebracht hatte, aber glücklicherweise hielt er seine Stimme gesenkt. „Du weißt doch ...“

„Ja, ich weiß!“, fauchte sie ebenso leise. Manchmal fragte sie sich, ob er sich nicht zu viele Sorgen um sie machte. Es war, als würde sie davon erdrückt. Ich empfinde nur deshalb so, weil ich noch nie einen richtigen Freund hatte, dachte sie dann und ignorierte ihre bedenken. Sie hatte sich zwar gefreut, ihn nach dem Wochenende wiederzusehen – sie hatte ihn mehr vermisst, als sie sich eingestehen wollte – aber sie konnte jetzt einfach keine Vorwürfe hören.

„Es ist ja nicht so, als ob hier alles ungefährlich wäre!“, fügte sie hinzu. „Der Mörder kann nur jemand aus der Belegschaft sein, wir wissen nur nicht, wer. Und wir wissen nicht, wer sein nächstes Opfer ist!“

„Du klingst fast so, als wolltest du anfangen zu ermitteln!“

„Vielleicht will ich das auch!“

„Das solltest du der Verwaltung überlassen. Das geht uns nichts an“, erwiderte er.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass die sich darum kümmern.“

„Es wird ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, schließlich sind wir ihre Arbeiter.“

„Aber ich verstehe trotzdem nicht -“

„Wir sollten uns da raus halten!“, schnitt er ihr das Wort ab. „Es ist zu gefährlich.“

Mit einem Ruck stand sie auf. Etliche Leute sahen auf, als sie das Scharren ihres Stuhles auf dem Linoleumboden hörten.

„Ich kann mich da ganz sicher nicht raushalten!“

Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Saal.

Fast automatisch lenkten ihre Schritte sie wieder zu dem Badezimmer im ersten Stock. Irgendwer hatte den Putzleuten Bescheid gegeben und diese hatten den Morgen über die Sauerei aufgeräumt. Zumindest musste es so gewesen sein, denn die Tür stand offen und es roch so ähnlich, wie nach dem ersten Mordfall. Um ihre Arbeit beneiden tat Rose diese Leute nicht.

Als sie beinahe an der Tür angekommen war, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie musste daran denken, wie Susans Leiche ausgesehen hatte und fragte sich unwillkürlich, wie Alexander wohl dagelegen haben mochte. Laut Karla war er nur mit einem einzigen Stich getötet worden, dagegen hatte man Susans Körper geradezu verstümmelt. Wenn sie es sich genau überlegte, wollte sie den Raum, der für sie so mit dem Tod behaftet war, eigentlich gar nicht sehen. Gerade wollte sie sich wieder umdrehen, als sie ein Geräusch hörte. Es kam eindeutig aus dem Badezimmer. Sie erstarrte. Was, wenn der Mörder da drin war?

Wider besseren Wissens machte sie ein paar Schritte auf die offene Tür zu. Ein Mörder würde wohl kaum bei offener Tür auf sein Opfer warten. Mit angehaltenem Atem lugte sie um die Ecke.

Auf dem Boden saß jemand. Ein Mann mit breiten Schultern und hellblonden Haaren. Seine auffällige Körperform verriet ihn fast sofort als Steve Jockland. Wäre Pantops eine High-School, wäre er wohl der Kapitän des Footballteams. Rose vermutete stark, dass das auch genau seine Beschäftigung während seiner Schulzeit gewesen war. Er gehörte nicht zu den Hellsten, war aber auch nicht merklich dümmer, als ein durchschnittlicher Erwachsener. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er für irgendwelche praktischen Arbeiten zuständig, zumindest schloss Rose dies von seiner körperlichen Veranlagung. Jedenfalls war sein gewöhnliches Auftreten derart selbstbewusst, dass es sie zutiefst wunderte, ihn zusammengesunken auf dem Boden kauern zu sehen. Weinte er? Plötzlich stemmte er sich jedoch in die Hocke, sodass Rose mit einer hastigen Bewegung zurückzuckte. Er stand bestimmt gleich auf. Besorgt sah sie sich nach einem möglichen Versteck um, als sie in dem Raum etwas über den Boden kratzen hörte. Ihre Neugier übermannte sie, und sie spickte wieder um den Türrahmen herum in den Raum. Steve saß jetzt vornübergebeugt da und fuhr mit seinem Fingernagel durch die Lücken zwischen den Bodenkacheln. Er hatte sich jetzt halb zur Tür gedreht und Rose konnte sein Gesicht sehen. Seine Augen waren stark gerötet, seine Haare zerzaust, seine Züge eine Maske des Schreckens.

Er sucht etwas!, schoss es Rose durch den Kopf! Vielleicht Beweise oder etwas, das er hier verloren hat. Vielleicht war er es!

Bei diesem Gedanken hätte sie die Panik beinahe wieder überrollt, doch sie zügelte sich und zwang sich, ruhig zu atmen. Völlig unmöglich, dass er sie gesehen hatte. Außerdem war er so vertieft in was auch immer er da tat, dass er es wahrscheinlich nicht hören würde, wenn sie sich davonschlich. Wahrscheinlich. Sie musste ihre Hoffnung darauf setzten. Langsam, ganz langsam, tastete sie sich an der Wand entlang von der Tür weg.

Sie hatte bereits einige Meter zwischen sich und Steve gebracht, als sich auf einmal die Aufzugtür mit einem Zischen öffnete und der füllige Körper von Dagobert Marley erschien. Er trat aus dem Fahrstuhl und machte sich mit schwerfälligen Schritten ebenfalls Richtung Bad auf. Als er sie erblickte lächelte er:. „Die Kleine von heute morgen! Rose, wenn ich mich recht erinnere. Freut mich, Sie zu sehen!“

„Guten Tag, Herr Marley.“ Rose wäre am liebsten zum Aufzug gesprintet und nach oben gefahren, doch die Tür schloss sich, bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte. Außerdem wäre das extrem unhöflich gewesen.

„Geht es Ihnen besser?“

„Ja, etwas.“

Ihr Flüstern musste ihm aufgefallen sein, denn auch er senkte seine Stimme. „Sie sahen vorhin sehr mitgenommen aus.“

„Das war ich auch.“

„Es muss ein Schock für Sie gewesen sein. Aber trotzdem komme ich nicht umhin zu bemerken, dass Sie hierher zurückgekommen sind.“

„Ja, ich weiß auch ...“

Rose hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Steve verließ den Raum. Er sah sehr erschöpft aus; wieder fielen ihr seine rot geränderten Augen auf. Er sah kurz zu ihnen hinüber, schüttelte dann den Kopf als wollte er sagen „Ihr versteht das sowieso nicht“, und ging dann in die andere Richtung des Ganges davon, Kopf gesenkt, Schulter herabhängend. Als sie ihn so geknickt sah, tat er Rose fast leid. Vielleicht hatte er nur getrauert, so wie sie um Alexander getrauert hatte. Dass er am Tatort erschienen war, musste nichts heißen.

„Wenn Sie mich fragen, dann ist er mein Verdächtiger Nummer Eins“, sagte Marley plötzlich.

Erstaunt sah Rose ihn an. Obwohl sie noch wenige Augenblicke zuvor derselben Meinung gewesen war, spürte sie jetzt das Bedürfnis, Steve zu verteidigen. „Nur weil er zufällig hier ist? Sie sind das doch auch.“

„Genauso wie Sie, wenn ich das anmerken darf. Aber wir sollten uns nicht gegenseitig beschuldigen. Es geht nur darum, dass er auf Alexander Roseville nicht besonders gut zu sprechen war.“

Das war Rose neu. „Warum denn nicht?“

Marley warf einen Blick zur Seite. „Vielleicht sollten wir das nicht unbedingt hier besprechen.“

Auch Rose schaute sich um, allerdings richtete sie ihre Augen eher nervös nach oben zu den Kameras. „Hier wird man sowieso überall beobachtet“, meinte sie schulterzuckend.

„Nun, Steve war in Susan verliebt. Und Alexander auch. Das ist alles. Ein Motiv für beide Morde.“

„Alexander war in Susan verliebt?“

„Ja, schon seit längerem. Das wussten Sie nicht? Ich dachte er sei mit Ihnen befreundet gewesen?“

„Das war er auch, aber ...“ Rose merkte auf einmal, dass sie wohl nicht so viel über Alexander wusste, wie sie sich eingebildet hatte. Erst erfuhr sie von seiner Familie, jetzt von seinem Schwarm ... gut, sie waren keine besonders engen Freunde gewesen, aber er war Rose sehr wichtig gewesen. Vielleicht weil er der einzige Freund gewesen war, den sie je gehabt hatte. Alexander selber hatte viele weitere Freunde gehabt.

„Woher wissen Sie das?“, fragte sie leise.

„Sie müssen lernen Augen und Ohren offenzuhalten, Mädchen. Das ist die einzige Art wie man hier überlebt. Ich weiß eine ganze Menge Dinge über eine ganze Menge Leute, weil ich weiß wie man den Mund hält und die Ohren aufsperrt, auch wenn man mir das manchmal nicht unbedingt anmerkt.“ Er lachte in einem tiefen Bass und legte seinen breiten Kopf schief. „Ich bin nicht umsonst der älteste Mitarbeiter hier.“

„Vermutlich haben Sie Recht“, stimmte Rose ihm zu.

„Ich werde auf jeden Fall weiter ermitteln“, erklärte Marley bestimmt. „Falls Sie mir helfen möchten ... Hilfe ist jederzeit willkommen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte noch einmal den Tatort untersuchen.“

Er watschelte schwerfällig davon.
 

Das Wohnzimmer, in das Liebermann geführt wurde, erkannte er als sein eigenes, auch wenn es wie ein schlechter Nachbau aussah. Da war sein Bücherregal zur Linken mit der kleinen Holzleiter, durch die man auch die Bände auf den obersten Brettern erreichen konnte. Da war sein Sofa mit dem Liegesessel und der Leselampe zu seiner Rechten. Sein Fernseher war da und das moderne Kunstwerk, das gerahmt an der Wand hing und nichts weiter, als einen grünen Farbstrich zeigte. Wie ein Splitter in einer blutenden Wunde prangte jedoch der etwa 30 Zentimeter hohe Teetisch in der Mitte des Raumes. Normalerweise stand er zwischen Sofa und Fernseher, um Platz für die regelmäßig beim Fernsehen eingenommenen Mahlzeiten zu bieten. Jetzt war er in die Mitte des Raumes verschoben worden, dahinter stand Liebermanns großer, schwarzer Ledersessel, der sonst neben dem Bücherregal seinen Platz hatte. Die Kombination des niedrigen Tisches mit dem voluminösen Sessel bildete bereits ein offensichtlich unpassendes Ensemble. Das ganze wurde jedoch abgerundet durch den Mann, der in seinem Sessel Platz genommen hatte, und ihn jetzt mit ernstem Gesicht empfing.

„Was machen Sie in meinem Wohnzimmer?“, hätte Liebermann gerne gefragt, als er des Anblicks gewahr wurde, stattdessen aber blieb er stumm und wartete darauf, dass das Wort an ihn gerichtet wurde.

„Joseph Liebermann?“, fragte der Mann im Sessel. Eine überflüssige Frage, denn er musste ja wohl davon ausgehen, dass seine beiden Spürhunde ihm den Richtigen gebracht hatten.

„Das bin ich. Wer sind Sie?“

„Ich bin der Vorsitzende der hiesigen Zweigstelle der Behörde für Innovation und Datenübermittlung.“

In diesem Moment nahm Liebermann aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Als er sich daraufhin umsah, erblickte er drei junge Männer, die vor seinem Bücherregal standen und sich seine Sammlung besahen. Einer von ihnen kam ihm bekannt vor, vermutlich hatte er ihn das eine oder andere Mal im Büro gesehen. Er richtete seinen Blick wieder auf den Vorsitzenden.

„Warum haben Sie mich rufen lassen?“

„Um Ihnen Ihre Aufgabe bei uns zu erklären. Setzen Sie sich.“

Liebermann sah sich um, doch es war kein Stuhl für ihn bereitgestellt worden, auf dem er sich hätte niederlassen können. Einzig das Sofa und der Liegesessel kamen in Frage, doch die waren zu weit von dem Vorsitzenden entfernt und lagen außerdem im Dunkeln, denn der Raum wurde lediglich durch die Lampe erhellt, die sonst auf Liebermanns Nachttisch stand und die jetzt zentral auf dem niedrigen Teetisch stand, zwischen einer Mappe und einem Stapel Papiere.

„Ich stehe lieber.“

„Wie Sie wünschen.“ Der Vorsitzende griff scheinbar wahllos ein Papier aus dem Stapel und sah es sich an.

„Ihr Name ist also Joseph Liebermann?“

„Das sagte ich bereits.“ Beide Wächter warfen ihm ob dieser Unhöflichkeit einen warnenden Blick zu.

„Ihr Familienstand ist ledig. Sie Arbeiten als Gutachter im städtischen Museum für Kunst und Kultur.“

„Das ist richtig.“

Liebermann kam sich vor wie bei einem Prozess. War er angeklagt worden?

„Verdienen Sie gut?“

„Ich kann davon leben.“

„Wie geht es Ihrer Mutter?“

„Gut.“

„Sehr schön. Dann wenden wir uns der eigentlichen Angelegenheit zu.“

Der Vorsitzende legte das Papier weg und hob den Kopf um Liebermann zu mustern, als sähe er ihn zum ersten Mal. Links von seiner Nase befand sich ein rötlich verfärbtes Muttermal. Es war so auffällig, dass Liebermann sich wunderte, dass er es nicht schon früher bemerkt hatte. Er musste sich zusammenreißen, um es nicht unverwandt anzustarren.

„Wie Sie wissen gehöre ich – gehören wir alle hier – zur Behörde für Innovation und Datenübermittlung, kurz BID.“

„Das wurde mir bereits mehrfach mitgeteilt, auch wenn ich noch nie von dieser Behörde-“

„Diese Diskussion werden wir jetzt nicht mit Ihnen führen“, unterbrach ihn der Vorsitzende, wobei sein Muttermal zu wackeln schien. „Sie müssen diese Tatsache jetzt akzeptieren oder Sie werden nicht weit kommen.“

Er beugte sich zu den Papieren auf dem Tisch hinunter, eine Geste, die durch die Verbeugung, die sein Körper unweigerlich vollzog, entwürdigend wirkte. Er suchte zwischen den Papieren nach etwas, das er allerdings nicht zu finden schien, sodass er sich schließlich wieder aufrichtete.

„Wir werden Sie als Beamten bei uns einstellen, genauer als Fahndungsbeamten.“

„Wie bitte?“

„Vor kurzem ist einer unserer Beamten verschwunden.“

„Ich soll ihn ersetzen?“

„Keineswegs. Sie werden ihn suchen und zur Strecke bringen.“

Liebermann hielt sich davon ab, noch einmal ‘wie bitte’ zu fragen, und hob stattdessen verwundert die Augenbraue. „Und wie soll ich ihn finden?“

„Jegliche Informationen über den Deserteur finden Sie in diesem Ordner.“

Er deutete auf den Ordner, der auf der anderen Seite des Tisches lag.

„Und wenn ich das nicht will?“

„Sie haben kein Mitspracherecht in dieser Sache. Entweder Sie tun es, oder wir werden auch Sie beseitigen müssen, denn Sie wissen bereits zu viel.“

„Ich wollte nie etwas über Sie und Ihre Behörde erfahren!“, ereiferte sich Liebermann. „Was kann ich dafür, wenn Sie mich mit diesen Informationen geradezu überrollen?“

„Nicht Sie suchen die Behörde aus, die Behörde sucht Sie aus.“

„Ich habe also keine Wahl?“

„Sie haben immer eine Wahl.“

Liebermann fand, dass diese Aussage in einem starken Gegensatz zu allem stand, was er bisher erfahren hatte. Wie konnten die denn behaupten er habe eine Wahl, wenn sie ihm einige Sätze zuvor deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass er ‘beseitigt’ werden würde, sollte er sich ihnen widersetzen?

„Wie soll ich vorgehen?“, fragte er.

„Sie sammeln Information über die betreffende Person. Alles was wir über sie wissen, befindet sich in diesem Ordner. Alles weiter müssen Sie bewerkstelligen.“

„Und wenn ich sie gefunden habe?“

„Wir werden mit Ihnen in Kontakt bleiben und uns über Ihre Fortschritte informieren. Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Der Vorsitzende sammelte die Blätter auf dem Stapel ein und erhob sich. „Ihre Arbeit beginnt morgen. Viel Erfolg.“

Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete er seinem Gefolge, mit ihm den Raum zu verlassen. Die drei Begleiter, die am Regal gestanden hatten, schoben Tisch und Sessel wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Einer nahm die Lampe mit hinaus. Liebermann, der die ganze Zeit unbeweglich im Zimmer gestanden hatte, hörte das Schloss der Tür einrasten, als das Komitee verschwand.
 

Rose traf Marley am Dienstagmorgen im Gang an, wo er in einem winzigen Reklamheft las. Offenbar schien er auf jemanden zu warten. Sie grüßte freundlich und er sah auf.

„Guten Morgen, Rose“, rief er. „Schön, dass ich Sie hier antreffe, könnten wir uns kurz unterhalten?“

Prüfend sah Rose auf ihre Uhr. „Es ist gleich acht. In ein paar Minuten fängt unsere Schicht an.“

Marley zuckte die Achseln. „Eigentlich schon, aber ich denke ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen ... wenn Sie sich immer noch für die beiden Mordfälle interessieren.“

„Natürlich tue ich das“, erklärte Rose. „Aber in der Mittagspause hätten wir doch sicherlich mehr Zeit?“

„Okey-dokey. Dann sehen wir uns später.“

Während sie ihre morgendliche Arbeit erledigte, überlegte sie, was Marley ihr wohl so Wichtiges mitzuteilen hatte. Und warum er gerade sie als Komplizin ausgewählt hatte. Sie war nicht besonders neugierig oder spekulativ veranlagt. Eigentlich interessierte sie sich nur für bewiesene Fakten, von denen sie Dinge ableiten konnte. Außerdem hatte sie sich noch nie sonderlich um ihr Kollegium gekümmert. Es stimmte, was Marley gesagt hatte: Sie war meistens viel zu sehr mit sich selber beschäftigt gewesen, um viel über die anderen herauszufinden. Und sie war furchtbar schüchtern. Vielleicht war das auch der Grund, warum nie jemand ihre Nähe gesucht hatte. Abgesehen von Carter, natürlich. Sie lächelte.

Er hatte in der Cafeteria wie immer einen Platz für sie reserviert, als sie sich suchend mit ihrem Tablett in der Hand umsah. Sie ließ sich neben ihm nieder.

„Und, wie geht’s?“

„Gut, denke ich. Tut mir Leid, dass wir uns gestern Abend nicht mehr sehen konnten.“

„Ach, das ist kein Problem.“ Sein Lächeln wurde noch breiter. „Was hast du gemacht?“

Irritiert schaute sie auf, weil diese Frage etwas Drängendes gehabt hatte, das sie nicht von ihm kannte. „Ich habe über diese Mordgeschichte nachgedacht. Es gibt da jemanden, den ich irgendwie verdächtige.“ Aus dem Augenwinkel sah sie die massige Gestalt von Marley den Saal betreten und sie drehte sich um, um ihm zu winken. Zur Antwort hob er den Daumen, um dann zur Essensausgabe zu gehen.

Carters Gesicht verdunkelte sich. „Du hast ihn zu uns eingeladen?“

„Er hatte eine Idee wegen des Mordfalls.“

„Du betätigst dich jetzt also als Hobbydetektivin?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wäre dir nicht auch wohler, wenn wir wüssten, wer der Mörder ist?“

„Das ist aber nicht unsere Aufgabe.“ Er holte Luft um weiterzusprechen, verstummte dann aber, denn Marley zog sich gerade einen Stuhl zu ihrem Tisch und stellte sein Tablett vor sich ab. Sein Teller sah aus, als ob er gleich überquellen würde.

„Hallo Rose!“, begrüßte er sie freudig. „Und Sie sind wohl Carter Roberts, richtig?“

„Und Sie sind wohl hungrig“, erwiderte Carter ein wenig patzig.

Marley schaute auf seinen Teller. „Ganz offensichtlich, mein Junge. Dieser Körper braucht Pflege.“ Er schlug sich auf den Bauch. „Und mein Gehirn auch, wenn es richtig denken soll.“

Mit einem geheimnisvollen Ausdruck beugte er sich zu Rose hinüber. „Vertrauen Sie ihm? Ich möchte mein Wissen nämlich nicht mit jedem teilen.“

„Ich vertraue ihm.“

„Gut. Es geht um Steve. Oder eher: es geht um Alexander.“

„Was für ein Problem haben Sie denn mit Steve?“, fragte Carter, dessen Gesichtsausdruck immer noch sehr säuerlich war. Offenbar schien es ihm nicht zu gefallen, dass ein Fremder an ihrem Tisch saß.

„Rose und ich gehen davon aus, dass er der Mörder ist.“

Spöttisch hob Carter eine Augenbraue. „Und wie kommen Sie auf diesen überaus genialen Rückschluss?“

„Es gibt verschiedene Indizien. Aber wir sollten nicht ihn allein ins Auge fassen.“ Da er von Carter nur abwertende Blicke bekam, wandte Marley sich an Rose. „Es hätten noch andere sein können.“

„Ach ja?“ Rose spürte, wie die Sache ihr entglitt. Mit Steve als einzigem Tatverdächtigen, war der Fall einfach und eindeutig. Aber mit einem weiteren Kandidaten? Solche Gedankenspiele waren zu kompliziert für sie.

„Naja, Alexander war mit einigen Leuten gut befreundet. Vielleicht war es einer von denen.“

„Und warum?“

Marley wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch Carter unterbrach ihn. „Das ist doch völlig absurd. Rose war zufällig auch mit Alexander befreundet. Wollen Sie jetzt etwa behaupten, dass sie ihn umgebracht hat? Ihre seltsamen Anschuldigungen sind völlig aus der Luft gegriffen. Es ist nicht unsere Aufgabe, in diesem Fall zu ermitteln; wir sollten es daher sein lassen.“

Den Kopf in die linke Hand gestützt, schaute Marley die beiden jungen Leute an. „Was denken Sie, Rose?“

Hilflos zuckte sie die Schultern. „Ich bin kein Detektiv, Herr Marley. Aber ich glaube selbst wenn wir den Täter haben, wird es schwer zu beweisen, dass er – oder sie – es war. Ein bloßes Motiv genügt nicht.

Bei diesem Satz schien die gute Laune wieder in Marley zurückzukehren. „Sie haben natürlich vollkommen Recht, meine Liebe. Wir brauchen Beweise. Und genau darum werde ich mich jetzt kümmern.“ Er nahm sein Tablett (das zu Rose’ Erstaunen bereits völlig leer war) und stand auf. „Sie entschuldigen mich? Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.“ Damit ging er.

Carter schaute ihm mit wütendem Gesichtsausdruck hinterher. „Ich traue ihm nicht“, erklärte er.

„Er ist ein netter, älterer Mann.“ Rose war nicht in der Stimmung für Diskussionen über Marleys Vertrauenswürdigkeit. Er hatte ja sie als Verbündete ausgesucht, nicht sie ihn. „Außerdem ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand versucht, etwas über die Morde herauszufinden.“

„Und warum glaubst du tut er das?“, fragte Carter, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Warum interessiert er sich so für diese Sache? Vielleicht ist er selber der Täter.“

„Jeder könnte es sein.“

Carter lächelte. „Außer dir.“

Überrascht sah sie ihn an. „Warum außer mir? Das kannst du doch nicht wissen.“

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Doch. Du bist eine viel zu gute Person, um jemandem weh zu tun.“

Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.
 

Am Mittwochmorgen wartete wieder jemand vor der Tür auf sie, aber es war nicht Marley. Carter hatte sich an die Wand vor ihrer Tür gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, den Blick auf seine Füße gerichtet. Als er die Tür hörte, sah er auf. Rose wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise war Carter eine gutgelaunte Person mit eine breiten Grinsen, den man schnell zum Lachen bringen konnte. Jetzt sah er anders aus als sonst. Seine Augen schienen auf eine seltsame Art zu funkeln, auch wenn sein Gesichtsausdruck Trauer ausdrückte.

„Hey Carter, alles okay?“, fragte sie ein wenig besorgt. „Warum wartest du hier auf mich?“

„Hör zu, Rose“, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. „Vielleicht solltest du dich besser hinsetzen, bevor ich dir das jetzt erzähle.“

Da saß ihr die Angst wie ein Raubtier im Nacken. Sie ahnte bereits, was er sagen würde.

„Es ist schon wieder passiert?“, fragte sie leise.

Wortlos nickte er.

„Wer?“

Er wandte sich ab und schaute den Gang hinunter, fuhr sich mit einer Hand offenbar nervös durch die Haare.

„Sag’s mir, Carter, ich werde es ohnehin rausfinden.“

„Marley.“

Seltsamerweise war sie nicht sonderlich überrascht. Ihr war als hätte sie schon die ganze Zeit gewusst, dass das passieren würde. Es war doch so vorhersehbar gewesen. Ihre Beine knickten ein und sie sank auf den Boden. Carter rief ihren Namen und kniete sich neben sie, wollte ihr helfen. Dankbar nahm sie seine Hand und ließ sich wieder auf die Beine ziehen.

„Wo wurde er umgebracht? Bitte nicht wieder in diesem schrecklichen Badezimmer.“

Carter schaute zur Seite. „In seinem Büro.“

„Er muss den Mörder gefunden haben, sonst hätte er wohl kaum sterben müssen“, flüsterte sie.

„Vielleicht war er aber auch einfach nur der nächste auf der Liste“, erwiderte Carter, als schien er zu wissen, welche Schlussfolgerung ihr Verstand bereits gezogen hatte. „Er war bestimmt einigen ein Dorn im Auge.“

„Ich habe auch Untersuchungen angestellt. Zumindest muss es für den Mörder so ausgesehen haben.“

„Du hast dich mit Marley unterhalten. Na und? Viele haben das getan.“ Er zog sie mit einer Bewegung an sich, vordergründig um ihr Sicherheit zu geben.

„Es war Steve“, sagte sie leise. „Er hat uns beide unten am Badezimmer gesehen. Er muss sich gedacht haben, dass wir ihn verdächtigen.“

„Steve – wenn er es denn war – wird dir nichts tun können. Dafür werde ich sorgen. Versprochen.“

Sie lehnte sich an ihn, auf einmal heilfroh jemanden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Eine Weile standen sie so beieinander und Rose versuchte, sich zu beruhigen. Der Gang leerte sich, bis schließlich das Signal ertönte. Rose zuckte zusammen und löste sich von ihm. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie. Ihre Stimme klang rau und belegt. „Arbeit...“

„Soll ich dich zu deinem Büro begleiten?“, bot er an.

„Nein, das ist verboten. Ich muss los.“

Hastig ging sie davon. Er wandte sich ab und ging in die andere Richtung. Auf halbem Weg drehte er sich um und sah den mittlerweile völlig leeren Gang hinunter.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Futuhiro
2012-06-17T15:10:50+00:00 17.06.2012 17:10
Oh man, die BID ist so fies. Ich hoffe, daß das mal gut geht. Das grenzt ja fast an nationalsozialistische Methoden, hey. Hoffentlich wird in der FF bald erklärt, was das nun so richtig für Typen sind. Der Handlungszweig hat Potenzial, das wird sicher noch eine richtig heiße Story. ^^

Der Schreibstil ist auch weiterhin so wundervoll bildgewaltig. Gefällt mir.


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