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Word Forward

Sherlock/John (Sherlock BBC)
von

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Act IV

Avt IV
 

Der Wind rauschte in den Ohren. Sand peitschte ihm ins Gesicht. 
 

Er konnte es hören. Jede Explosion war wie ein Erdbeben, brachte den Boden zum Erzittern. In der Ferne hörte er Schreie. Doch alles, was er sehen konnte, war das Blut. So viel Blut und Sand.
 

Er hätte bei seiner Einheit bleiben müssen. Sich nicht abhängen lassen dürfen. Sie brauchten ihn. Standen unter schwerem Beschuss. Er war Militärarzt, verflucht nochmal!
 

Sein Atem ging in schnellen, unregelmäßigen Schüben. Seine Hand zitterte nicht. Nur der Griff um seine Waffe hielt ihn noch aufrecht.
 

„John!“

Afghanistan verschwand. Die Realität war wie ein Schlag ins Gesicht.
 

John Watson stand auf einem Dach in London, die Pistole auf seinen Mitbewohner Sherlock Holmes gerichtet.
 

∼*∼
 

14 Stunden vorher

„Was war das?“ John verließ die Küche, eine Schachtel Teebeutel in der Hand. Sherlock stand am Fenster und drehte ihn dem Rücken zu.
 

„Eine Nachricht.“
 

Etwas in seiner Stimme ließ John stutzen. Er trat neben ihn und erhaschte einen Blick auf das Telefon, ehe Sherlock es aus seinem Sichtfeld bringen konnte. Alles in ihm verspannte sich.
 

„Moriarty.“
 

„Moriarty“, bestätigte Sherlock. Er strich mit dem Daumen über das Display. Dann hielt er John den Gegenstand entgegen. 
 

Mir ist langweilig. Lust, zu Spielen?

„Nicht antworten“, entwich es John, noch ehe er über seine Worte nachdenken konnte. Sherlock taxierte ihn herablassend und zog den Arm zurück.
 

„Natürlich reagiere ich nicht auf seine Provokation, John.“
 

John hätte ihm gerne gesagt, dass es so natürlich nicht wahr und dass er das Zucken von Sherlocks Mundwinkel ganz genau registriert hatte. Es musste ihm in den Fingern jucken, Moriary zu antworten, um seine Reaktion zu lesen.
 

Eine neue Nachricht erhellte den Bildschirm. John beugte sich vor und las mit.
 

Natürlich hast du das. Du hast Post, Darling.

John war aus dem Appartement, ehe Sherlock ihn daran hintern konnte. Er nahm drei Stufen auf einmal und riss die Eingangstür auf. Ein Blick nach links und rechts zeigte keine verdächtige Gestalt, schon gar nicht Moriarty. Er hatte zwar nicht wirklich damit gerechnet, war aber dennoch enttäuscht. Wie sehr er sich wünschte, seine Finger um den Hals des wahnsinnigen -
 

Sherlock stand hinter ihm. Doch er beachtete John nicht, stattdessen griff er nach einem Päckchen, dass auf der Stufe ihrer Eingangstür stand. John folgte ihm zurück ins Haus, wo Sherlock mit einer raschen Handbewegung sämtliche Zettel und Bücher vom Küchentisch fegte (John war einen Moment froh darüber, dass kein Experiment auf dem Tisch gestanden hatte, denn die Scherben hätte er ganz bestimmt nicht aufgefegt) und anschließend das Paket mitten auf die Holzplatte stellte.
 

Dann legte er die Fingerspitzen unterhalb seines Kinns aneinander.
 

John starrte ihn von der Tür aus an. Er ließ eine Minute ereignislos verstreichen und durchquerte schließlich den Raum. Er zog die Vorhänge beiseite und blickte auf die Straße hinab. Keine Person, die vor dem Gebäude herumlungerte. Ihm war bewusst, dass seine Paranoia zwar nicht unangebracht, die Methoden seiner Überprüfung jedoch regelrecht kindisch waren. 
 

Nur wenn Moriarty es wollte, würde man seine Überwachung mitbekommen.
 

„Willst du nicht Lestrade anrufen?“, fragte er über die Schulter, nachdem weitere fünf Minuten ohne eine Reaktion des Detektivs verstrichen waren.
 

Sherlock schwieg und als John sich wieder umdrehte, stand er noch immer vor dem Küchentisch. John ließ den Vorhang los. „Sherlock, hörst du mir zu? Ruf die Polizei. Wer weiß, was in dem Päckchen-“
 

Erst jetzt fiel ihm sein eigener Fehler auf. Seine Blindheit.
 

Sherlock!“, er stürmte durch den Raum, packte den Consulting Detective am Arm und wirbelte ihn herum, sodass er zwischen Sherlock und dem Tisch stand. Dann presste er ihn hinter dem Sofa in Deckung. Erst als er sich sicher war, dass auch Sherlocks Kopf hinter dem Möbelstück mehr oder weniger geschützt war, ging er in die Hocke.
 

Sein Herz schlug bis zum Hals und Adrenalin machte seine Sicht messerscharf. Wie hatte er das vergessen können? Moriarty, der Pool, die Weste. Eine Bombe! Sherlock hätte schon dreimal tot sein können, während John einfach aus dem Fenster gestarrt hatte!
 

Sherlock machte Anstalten, aufzustehen und John zog ihn an seinem Ärmel zurück. Er ignorierte den brüskierten Blick. „Bist du wahnsinnig?“, zischte er. „Wir rufen jetzt Lestrade an und der schickt gefälligst eine Spezialeinheit, die-“
 

„Es ist keine Bombe.“
 

„Wie willst du das wissen?“
 

Sherlock schenkte ihm seinen Es-ist-offensichtlich-John-du-müsstest-nur-hinsehen-um-es-zu-wissen-Blick und John biss die Zähne aufeinander, weil es ihn ärgerte, dass er diesen Blick auch noch erkannt hatte. 
 

Sherlock begann, die Fakten aufzuzählen:
 

„Das Päckchen ist zu leicht, um Sprengstoff zu enthalten. Bei den meisten Paketbomben sieht man auf der Unterseite eine Erhebung durch den Zündmechanismus, hier nicht. Die  Beschaffenheit weißt auf Styropor im Inneren und ein etwa zehn Zentimeter großes quadratisches Behältnis hin. Dabei handelt es sich nicht um Sprengstoff. Auch nicht um Nitroglycerin. Eine Delle an der Seite. Das Paket wurde vor dem Platzieren zu nachlässig behandelt. Das Packpapier hat millimetergroße Feuchtigkeitspartikel auf der Oberfläche. Eindeutig geschmolzene Eissplitter. Das Paket enthält also eine Box mit Eis. Warum Eis? Es ist ein Hinweis von Moriarty. Zehn Zentimeter zum Quadrat. Zu klein für einen Kopf oder eine andere Extremität. Groß genug für einen Finger, ein Ohr oder ein Auge.“
 

John schüttelte den Kopf und versuchte, die Worte zu verarbeiten. „Keine Bombe?“, wiederholte er, um ganz sicher zu gehen.
 

„Offenkundig. Wenn du nur hin-“
 

Keine Bombe. Hundertprozentig?“
 

„Was hätte Moriarty davon?“
 

Das klang tatsächlich plausibel. Moriarty hatte sie schon einmal nicht in die Luft gejagt. Widerwillig ließ er Sherlocks Oberarm los und beobachtete, wie er sich aufrichtete.
 

„Hast du das ermittelt, während du das Päckchen minutenlang angestarrt hast?“
 

„Natürlich nicht.“ Sherlock stand nun wieder am Tisch und strich mit einer Hand über das Papier. Er trug bereits weiße Einweghandschuhe. „Das wusste ich schon vor der Tür.“
 

John war sich nicht ganz einig, ob er Sherlock brillant oder einen Angeber schimpfen sollte. Er stützte sich von der Sofalehne ab, als er aufstand. „Und du fandest es nicht erwähnenswert-“
 

„Es war so offensichtlich, dass selbst du es nicht übersehen konntest.“
 

John schnaubte. Schließlich bemerkte er, dass Sherlock wieder begonnen hatte, zu starren. „Und was hast du jetzt vor?“
 

Er erhielt keine Antwort und fand darin Bestätigung genug. 
 

Darüber hast du vorhin minutenlang nachgedacht.“ Er verschränkte die Arme. „Wenn du es nicht öffnest, handelst du gegen seine Erwartung und wärest ihm gewissermaßen überlegen. Öffnest du es, hättest du jedoch einen interessanten Fall. Du würdest vielleicht auch Menschenleben retten, aber das ist zweitrangig. Er ist ein Consulting Criminal und du ein Consulting Detective. Die einzigen eurer Art und gleichzeitig die besten.“ 
 

Er schaffte es nicht, die Bitterkeit ganz aus seiner Stimme zu verdrängen. Vielleicht gab er sich auch einfach nicht genug Mühe und wollte sogar, dass Sherlock sie hörte.
 

„Hat dir der Pool nicht gereicht, Sherlock?“, fragte er und sprach damit zum ersten Mal seit Monaten über etwas, das sie thematisch immer vermieden hatten. Höchstwahrscheinlich ein Fehler. (Manchmal wachte John mitten in der Nacht auf - nicht verfolgt von Afghanistan, sondern von roten Punkten auf Sherlocks Stirn, die nicht verschwanden und eine Semtexweste, die sich als echt entpuppte.)
 

John sprach gegen eine Wand. Was sollte er auch sagen, das interessanter war als ein Paket von Moriarty?
 

Seufzend drehte er sich um. „Mach was du willst.“ Er verließ das Wohnzimmer, obwohl sämtliche Intuition ihn davor warnte, Sherlock allein mit Moriartys neuestem Plan zu lassen. Aber er hatte nicht die Kraft. Nicht noch einmal. 
 

Auf halber Höhe der Treppe wurden seine Schritte langsamer. Er blieb schließlich ganz stehen.
 

Sherlock hatte ihn schon einmal gehen lassen. Das hatte ihnen beiden beinahe das Leben gekostet.
 

Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück nach unten. In der Küche griff er nach einem weiteren Paar Handschuhe und schob Sherlock mit der Schulter beiseite. „Lass mich das machen.“
 

„Ich glaube nicht, dass -“
 

„Und ich halte all das für absolut verantwortungslos, aber ich lass dich das nicht alleine tun, klar?“, fauchte John und rieb die Hände aneinander. „Also, was soll ich machen?“
 

Sherlock betrachtete ihn von der Seite. Einen Moment lang fühlte John sich wie eines seiner Experimente, analysiert und zerlegt, dann änderte sich etwas an Sherlocks Ausdruck. Er wirkte buchstäblich zufrieden. Wahrscheinlich hatte John es geschafft, ihn zu überraschen. (Er ignorierte das warme Gefühl in seiner Magengegend und das lächerliche Kribbeln in seinem Nacken bei dieser Erkenntnis.)
 

„Während die Wahrscheinlichkeit für eine Bombe bei etwa sieben Prozent liegt“, begann Sherlock, „ist es nicht ausgeschlossen, dass er sich anderer ... Methoden bedient.“ Er bemerkte, dass John in streng ansah. „Was?“
 

„Sieben Prozent?“ 
 

Sherlock verdrehte die Augen. „Warum klammerst du dich an die irrelevanten Zahlen, John? Die Wahrscheinlichkeit für Bleipulver liegt bei zweiundzwanzig Prozent.“
 

„Soll mich das jetzt beruhigen? Wir werden nicht zerfetzt, aber atmen stattdessen ein giftiges Pulver ein. Soll ich mich darüber freuen?“
 

„Wieder übersiehst du, dass einundsiebzig Prozent verbleiben.“ Sherlock versuchte, ihn weg zu drücken, doch John blieb standfest. Er legte die Hände um das Paket und zog es zu sich. „Versuch es erst gar nicht. Also, was soll ich machen?“
 

Sherlock stutzte. Das irritierte sogar John. „Was? Was hab ich jetzt wieder gesagt?“
 

„Willst du nicht wissen, was die übrigen einundsiebzig Prozent beinhalten?“
 

„Lass mich raten: Zehn Prozent für eine Gasfalle. Einundzwanzig für einen Finger. Vierzig für ein Glas Marmelade? Sag mir einfach, was ich machen soll.“
 

„Öffne es“, sagte Sherlock.
 

John zögerte keinen Moment. Mit ruhigen Handbewegungen löste er das Tesafilm und wickelte das Paket aus dem Papier. Anschließend schlug er den Deckel des Kartons auf.
 

„Bemerkenswert“, murmelte Sherlock neben ihm und als John den Kopf wandte, lag dessen Blick nicht auf dem Inhalt der Box, sondern auf John. Es dauerte, bis er begriff, was so bemerkenswert war. Er hatte Sherlocks Aufforderung nicht hinterfragt. Obwohl aus seiner Sicht eine mehr als fünfzigprozentige Chance für tödliche Vorrichtungen verschiedenster Art bestanden hatte. Natürlich hätte Sherlock es ihn andernfalls nicht einfach so öffnen lassen, das war John klar und dennoch ...
 

Dann war der Moment vorbei und Sherlock griff nach der quadratischen Box. Sie war versiegelt und er öffnete die Verschlussklappen. John sammelte die Verpackung zusammen. Er würde sie aufbewahren und Lestrade geben. (Auch wenn er wusste, dass es keinen Sinn machte, nach DNA oder Fingerabdrücken zu suchen.)
 

„Wie ich vermutet hatte.“ Sherlock hielt den Behälter ins Licht. John beugte sich vor und verzog den Mund. Sherlock ermittelte bereits die Fakten:
 

„Es gehört zu einem Mann zwischen fünfzig und sechzig. Ein Meter siebenundsiebzig groß, hagere Statur, schütteres, graues Haar.“ Er drehte die Box. „Spielt Polo und Bridge. Ist pensioniert. Arbeitete immer im Büro, betreibt heute Gartenarbeit, obwohl er sich problemlos einen Gärtner leisten könnte. Ist das clever? Warum sollte es das sein? Der Gärtner war es? Zu einfach, Moriarty, zu einfach.“
 

John begann, einige der Bücher vom Boden aufzusammeln und legte sie wieder auf den Tisch. Der Totenschädel stand neben der Spüle. John stellte ihn zurück auf den Kaminsims. Die ganze Zeit begleiteten ihn Sherlocks Worte.
 

„Saubere Schnitte, mit einem Skalpell durchgeführt. An den Rändern sind Einrisse auszumachen. Das Opfer war noch am Leben und hat sich gewehrt. Der Vorgang war blutig, die zurück gelassene Wunde kritisch, aber nicht lebensgefährlich. Bei den Schnitten wurde nur das Nötigste mit akkurater Präzision geschnitten. Es geht nicht darum, zu töten. Das ist eine Demonstration. Es wurde Desinfektionsmittel benutzt.“
 

Er drehte sich rechtzeitig um, um zu sehen, wie Sherlock an dem Ohr roch.
 

„Das Opfer ist noch am Leben. Er wird es nicht töten, solange er es braucht. Aber warum? Das Ohr wurde nicht zögerliche abgetrennt. Es bereitet ihm Vergnügen.“
 

„Kranker Bastard“, murmelte John, während ein kalter Schauer seinen Rücken hinab jagte.  Er konnte wohl froh sein, dass seine erste und einzige Begegnung mit Moriarty ihm nur eine falsche Sprengstoffweste und einen ordentlichen Schrecken beschert hatte. 
 

„John.“
 

„Hm?“
 

„Handy.“
 

John warf einen Blick um sich, doch das Telefon war nicht in Sichtweite. Er straffte die Schultern und fragte: „Jacke?“
 

Sherlock treckte eine Hand aus und deutete hinter John, ohne ihn anzusehen. „Schlafzimmer.“
 

„Ah.“ Er wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder nicht. Es wäre eine Ausrede gewesen, Sherlock anzufassen (schrecklich, wie tief er gesunken war!), andererseits machte das die frustrierende Situation zwischen Sherlock und ihm nicht einfacher. Er schüttelte den Kopf und kam der Aufforderung nach.
 

Sherlocks Zimmer war alles Andere als das Chaos, das er am Anfang ihres gemeinsamen Zusammenwohnens erwartet hatte. Er war überaus ordentlich und enthielt einen einzigartigen Kleiderschrank voller faszinierender Verkleidungen (Sherlock nannte sie „Ermittlungsausrüstung“).
 

Er entdeckte das Telefon auf dem Nachttisch und nahm es an sich. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf Sherlocks Bett und ihm stockte der Atem. Fuck.

„Scherlock“, rief er ins Wohnzimmer und hörte einen frustrierten Laut.
 

„Auf dem Tisch neben meinem Bett. Wirklich John, wenn ich dir nicht einmal diese Aufgabe-“
 

„Sherlock, das hier ist kein Scherz.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wir stecken in der Scheiße! Diesmal meint er es Ernst! Verdammt, wie ist das möglich?!
 

Etwas in seiner Stimme musste ihn verraten haben, denn es folgte kein Protest. Dann stand Sherlock an der Tür zu seinem Zimmer und ließ seinen Blick analytisch über das Bett gleiten. Sein Gesichtsausdruck blieb der gleiche, während er anschließend das offen stehende Fenster und die nassen Fußabdrücke auf dem Boden aufnahm.
 

John entsperrte Sherlocks Telefon (er fragte nicht einmal um Erlaubnis, immerhin tat Sherlock das auch nie bei seinem Computer) und wählte Lestrades Handynummer.
 

Während des folgenden, angespannten Gesprächs wanderte sein Blick immer wieder zurück zu den vier gleich großen Paketen auf Sherlocks Bett.
 

∼*∼
 

„Niemand hat etwas gesehen oder gehört.“ Lestrade blätterte durch sein Notizbuch. „Keiner eurer Nachbarn hat eine verdächtige Gestalt beobachtet. Das ist allerdings nicht wirklich überraschend - immerhin wart ihr in der Wohnung und habt auch nichts mitbekommen.“
 

Sherlock erweckte nicht den Eindruck, als würde er zuhören. Er schritt mit dramatisch wehendem Mantel vor dem Detective Inspector auf und ab. John saß auf einem Stuhl und versuchte, die Ereignisse irgendwie zu sortieren.
 

Sally Donovan betrat den Besprechungsraum und übergab Lestrade einen Zettel. Er überflog die Zeilen und seine Züge verhärteten sich. Sherlock blieb stehen.
 

„Bisher konnte festgestellt werden, dass die Körperteile zu fünf verschiedenen Opfern gehören. Es ist uns noch nicht gelungen, alle zu identifizieren, aber aufgrund der Blut- und DNA-Proben, die wir haben, ließen sich wenigstens zwei Namen ermitteln. Ein Medizinstudent, Brian Henning. In unserer Kartei, weil er vor zwei Jahren mit Drogen erwischt worden ist. Der zweite ist Captain Henry Thompson, bis vor zwei Monaten in Deutschland stationiert. Er hatte das Wochenende frei, meldete sich jedoch nicht zurück.“
 

Sherlock machte einen Schritt auf Lestrade zu, doch als John ihn ansah, blieb er stehen. 
 

„Wie lange wird es dauern, bis Sie die anderen identifizieren können?“, fragte John stattdessen.
 

Lestrade ließ den Zettel sinken. „Das können wir jetzt noch nicht sagen. Wir müssen die Daten, die wir haben, mit den Vermisstenanzeigen der vergangenen Wochen abgleichen, vielleicht wurden die Personen aber noch gar nicht als vermisst gemeldet. Dass wir zwei Namen bereits jetzt kennen, ist bloßer Zufall. Außerdem müssen wir die Vorgesetzten von Thompson informieren und sie werden ihre eigenen Ermittler schicken. Das erleichtert unsere Arbeit nicht unbedingt.“
 

„Hoch lebe die königliche Polizei“, bemerkte Sherlock und ignorierte die gereizten Blicke, die ihn trafen. „Wenn man mich ließe, könnte ich das Feld einschränken. Zehn Sekunden haben mir mehr über das Ohr verraten, als das Scotland Yard in drei Stunden herausgefunden hätte.“
 

„Das wäre gegen die Vorschriften“, warf Sally dazwischen, doch Lestrade schien die Option bereits abzuwägen. 
 

„Wie sehr könntest du das Feld einschränken?“ 
 

Sherlocks Mundwinkel zuckten. „Alter, Geschlecht und Aussehen verstehen sich von selbst. Eine viertel Stunde mit den Körperteilen und ich kann Beruf, Hobbys und Familienstand auflisten.“
 

Lestrade nickte. „Einverstanden. Eine viertel Stunde.“
 

„Aber Inspektor“, begann Sally, „wie wollen Sie das dem Polizeidirektor-“
 

„Er wird es erfahren, wenn es nötig ist. Bis dahin behandeln wir das ganze mit Diskretion.“ Er sah John entschuldigend an. „Das bedeutet, dass ich Sie nicht mit ihm gehen lassen kann, John.“
 

Wenn er ganz ehrlich war, bedauerte er das nicht einmal sehr. „Das verstehe ich“, antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. „Passen Sie einfach nur auf, dass er es nicht übertreibt.“ Er nickte in Sherlocks Richtung.
 

„Also ob ich ständige Überwachung bräuchte“, entgegnete der Detektiv und wandte sich ab. Lestrade beeilte sich, ihm zu folgen. 
 

Sally Donovan warf John einen letzten Blick zu, dann ging auch sie. Er war schon oft genug hier gewesen, um den Ausgang zu finden. Bevor er ging, fiel sein Blick auf den Zettel, den Lestrade auf den Tisch gelegt hatte. Er überflog die Fakten.
 

Brian Henning, geboren am 13.02.1989 in Cardiff,

Medizinstudent an der Universität von London, 3. Semester

Vorstrafe: 6 Monate Bewährung und Geldstrafe von 200£ wegen geringfügigen Besitzes von Drogen der Klasse C

Henry S. Thompson, geboren am 04.07.1982 in Manchester,

Ausbildung in der British Army, Abschluss der Ausbildung mit herausragenden Leistungen

Sationierungen: 

2001-2002: Afghanistan, Kabul

2003-2011: Deutschland, Münster

Rückkehr nach London bedingt durch Abzug der übrigen britischen Truppen aus Deutschland.
 

John stutzte, als sein Blick Afghanistan hängen blieb. Doch das war vor Jahren und die Chance, das Opfer zu kennen, lag bei null. Ein anderer Soldat, mehr war er für John nicht.
 

Er verließ das Büro und hielt vor dem Gebäude von Schottland Yard ein Taxi an. Zurück in der Baker Street, stieß er im Eingangsbereich der Wohnung beinahe mit Mrs Hudson zusammen.
 

„Oh John, gut, dass Sie da sind. Ich habe hier einen Brief für Sie. Er lag in meiner Post."
 

John lächelte und nahm den Umschlag entgegen. „Danke Mrs Hudson." 
 

„Sie sollten bei sich in der Wohnung vielleicht einmal den Kühlschrank überprüfen, John. Er riecht ganz furchtbar."
 

„Werde ich." Er unterdrückte ein Schaudern, denn er wusste ganz genau, was so bestialisch stank.
 

Mit einem letzten Gruß verabschiedete er sich von ihrer Vermieterin und erklomm die Treppe zum Appartement. Die Tür stand offen und nasse Fußabdrücke zeichneten sich auf dem Boden ab. Lestrade und seine Einheit hatten die ganze Wohnung noch einmal durchsucht, nachdem sie die Boxen sicher gestellt hatten und das Chaos, das mittlerweile Teil ihres gemeinsamen Wohnens war, hatte nichts Wohnliches mehr. Jetzt war es einfach nur störend.
 

Seufzend schloss John die Tür hinter sich. Er legte den Brief auf den Wohnzimmertisch, zog sich die Jacke aus und machte sich an die Arbeit, wieder Struktur in die Unordnung zu bringen. Erst zwei Stunden später, als er sich erschöpft in seinen Sessel fallen ließ, erinnerte er sich wieder an den Brief. Er suchte nach einem Absender, doch es war keiner vermerkt. Er öffnete den Brief und zog eine Karte heraus.
 

Mit den allerbesten Wünschen.
 

Er klappte sie auf und sein Magen machte einen Satz.
 

Lieber John, 

Rosen sind rot, Veilchen sind blau … Nutze den Tag, verschwende keine (An dieser Stelle war ein Wort bis zur Unleserlichkeit durchgestrichen worden) Gelegenheit. Genieße jeden Tag, denn er könnte dein letzter sein. Wenn die Kirchturmuhr 12 schlägt, dann verwandelt sich die Kutsche zurück in einen Kürbis. Hoch soll er leben, der treue, gute Doktor Watson (bei seinem Namen hatte sich die Schrift geändert und wirkte nun aggressiv).
 

Auf dass noch weitere Jahre kommen.

Nicht.

xoxo

Jim

Er ließ die Hand sinken und starrte an die gegenüberliegende Wand. Der Smiley mit Einschusslöchern schien zu feixen.
 

Er wusste nicht, wie lange er dort saß. Das Vibrieren seines Handys riss ihn aus den Gedanken.
 

Wo bist du? SH

Brillante Frage. Baker Street, antwortete er. Wo auch sonst? Seine Nachricht war keine drei Sekunden verschickt:
 

Ein Streifenwagen wird dich abholen. Ärztliche Meinung vonnöten. SH

„Hm", machte John und betrachtete abwesend den Brief. Sollte er Sherlock schreiben, dass Moriarty nicht locker ließ? Dass es verdammt ernst war und er nicht einschätzen konnte, wie weit Moriarty dieses Mal gehen würde? Er entschied sich dagegen. Er würde den Brief mit zurück zur Wache nehmen.
 

Er hatte ein ganz mieses Gefühl bei alldem.
 

∼*∼
 

Es war vier Uhr nachmittags und John wünschte sich eine Tasse Tee. Oder einen Kaffee. Irgendetwas.
 

Sherlock hatte die Karte von Moriarty auseinander genommen und im Labor eingehend untersucht (Lestrades Proteste ignorierend, doch der Inspektor war viel zu sehr mit den fünf Körperteilen und den Ermittlern der britischen Armee beschäftigt, die ihre Ankunft androhten), doch sie hatte ihm keinen Hinweis gegeben. Auch die Verpackung der Pakete war frei von DNA oder sonstigen Aufschluss gebenden Hinweisen. Im Moment konnten sie nur darauf warten, dass die anderen Opfer identifiziert wurden. 
 

John hatte vorgeschlagen, die Familie des Medizinstudenten zu besuchen, um Sherlock abzulenken (der Soldat hatte keine Angehörigen und fiel somit weg), doch seine Worte waren nur auf Ablehnung gestoßen.
 

„Irrelevant", hatte Sherlock gesagt. „Wenn er keine Spuren hinterlassene will, wird man nichts finden. Das wäre Zeitverschwendung."
 

John empfand das Warten nicht wirklich als etwas Anderes, aber das brauchte er Sherlock nicht zu sagen. Er hatte ihm beim Auflisten sämtlicher möglichen Verbindungen der bereits bekannten Opfer zugehört. Er wusste, es war nur noch eine Zeit, bis Sherlock sich in seinen Gedankenpalast zurückziehen würde.
 

Lestrade erschien in ihrem Blickfeld, einige Mappen in Händen. „In den Akten der Vermissten aus der vergangenen Woche gab es im Großraum London zwei Anwälte und einen Arzt. Dazu drei vermissten Rentner." Er reichte Sherlock die Unterlagen.
 

John beobachtete, wie die Augen des Detektivs die Fakten überflogen und analysierte. Schließlich ließ er vier Akten neben sich auf den Tisch fallen und behielt zwei zurück. „John Finnigan, Veterinärmediziner. Vermisst seit dem fünfundzwanzigsten. Zu ihm gehört das Auge. Albert Browning, pensionierter Lehrer. Biologie und Mathe. Es war sein Finger in der vierten Box."
 

Sally Donovan konnte ihren Ekel nur schlecht verbergen.
 

Lestrade trat neben Sherlock und studierte die beiden Akten. Dann schrieb er sich etwas in sein Notizbuch. „Ein Student, ein Soldat, ein Arzt und ein pensionierter Lehrer. Wo liegt die Verbindung?"
 

„Moriarty", sagte John und sah, wie Sherlock die Augen verdrehte. „Vielleicht haben sie alle seine … Dienste in Anspruch genommen. Auftragsverbrechen, meine ich“, fügte er hinzu, um nicht ganz ignorant da zu stehen.
 

„Unwahrscheinlich", entgegnete Sherlock. „Warum sie dann entführen, aber am Leben lassen und uns gleichzeitig davon wissen lassen? Moriarty will uns demonstrieren, dass er fünf Personen entführen kann, ohne daran gehindert zu werden. Die Körperteile sind nicht mehr als ein Köder. Er macht sich lustig über die Polizei, die kein Gegner für ihn ist." Lestrade wirkte, als wolle er protestieren, schien es sich dann jedoch noch einmal zu überlegen.
 

„Aber was will er damit sagen?" Sherlock beachtete sie schon längst nicht mehr. Er murmelte etwas. Seine Augen waren geschlossen und auf seinem Gesicht lag äußerste Konzentration. In seiner Jackentasche vibrierte das pinke Handy.
 

Alle im Raum hielten die Luft an. Sherlock hielt es einige Momente in der Hand. Schließlich nahm er den Anruf an. „Die Vermissten sind in London, sie sind am Leben und sie sollen nicht sterben", begann er sofort zu sprechen. „Es geht nicht darum, sie zu töten, sie sollen etwas beweisen. Aber ich bin nicht die Polizei, ich lasse mich nicht ablenken."
 

Er lauschte einige Sekunden und verzog frustriert den Mund. „Natürlich sehe ich es." Er schwieg. „Sie sind wahllos gewählt es geht nicht darum, wer sie sind, sondern darum, wofür die stehen."
 

Die nächste Antwort schien ihn zu verärgern. „Ich liege nicht falsch. Umgekehrte Psychologie wird bei mir nicht funktionieren." Dann ließ er die Hand mit dem Telefon sinken. Moriarty schien aufgelegt zu haben.
 

„Londoner Hafen. Auf der Lagoon. Drittes Frachtdeck." John stellte sich etwas gerader hin. Sherlocks Haltung war alles andere als triumphierend.
 

„Was ist dort?", fragte Sally. 
 

„Eines der Opfer. Ermordet."
 

John schloss die Augen.
 

∼*∼

Sie fanden John Finnigan eine halbe Stunde später genau dort, wo Moriarty es Sherlock mitgeteilt hatte. Die gefesselten Hände waren über seinem Kopf mit einer Kette an einem Rohr in der Decke befestigt. Sein Gesicht war blutverschmiert und niemand musste genau hinsehen, um zu erkennen, dass ihm ein Auge fehlte.
 

John hielt sich zurück, während Sherlock den Frachtraum auf und abschritt, anschließen das Opfer zu umkreisen begann und schlussendlich den Leichnam aus nächster Nähe inspizierte.
 

„Präzisionsarbeit. Wer auch immer das Messer geführt hat, wusste, was er tat“, hörte er Sherlock sagen und wünschte sich, er würde nicht verstehen, was das bedeutete. Er wollte sich nicht vorstellen, welche Schmerzen Finnigan gehabt hatte. Seine blutigen Handgelenke sprachen Bände. Er hatte es nicht kampflos zugelassen.
 

„Irgendetwas Brauchbares?“, fragte Lestrade, als er in den Raum trat. Er hatte zuvor ein etwas hitziges Gespräch geführt. Vermutlich mit seinem Vorgesetzten. Höchstwahrscheinlich ging es um den entführten Soldaten.
 

Sherlock sah nicht auf. „Oh, eine ganze Menge. Sergeant Donovan hat wieder mit dem Rauchen angefangen, aber das habe ich schon im Scotland Yard gewusst. Man sieht es an der Art, wie sie ihren Kaffee trinkt. Darüber hinaus hat sie ihre Zähne in den letzten Tagen überdurchschnittlich oft geputzt und ihr Kostüm mit Weichspüler gewaschen, um den Geruch des Rauchs zu überdecken.“ Sally hatte den Mund geöffnet. Lestrade gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, nicht weiter darauf zu reagieren.
 

Sherlock sprach bereits weiter: „Aber das war nicht gemeint, oder Lestrade? Es geht darum, dass derjenige, der diese Arbeit ausgeführt hat, im Töten ausgebildet worden ist. Ein Mann über dreißig, Militärausbildung, hat einer ruhigen Hand. Scharfschütze. Vertraut im Umgang mit Messern. Vermutlich durch selbst gemacht Erfahrung. Die Klinge war gut gepflegt und sauber, desinfiziert.“
 

„Ein Soldat?“ In Johns Stimme lag Schärfe.
 

Sherlock drehte sich zu ihm um und musterte ihn einige Momente, dann sprach er weiter. „Ein Ex-Soldat. Unehrenhaft entlassen. Ein Abtrünniger, der sich eine Nebenbeschäftigung gesucht hat und Moriartys Drecksarbeit erledigt.“
 

„Stationierung?“, fragte John und etwas in Sherlocks Blick erhellte sich. Er hatte gemerkt, dass John nicht irgendwelche Fragen stellte, sondern auf etwas hinaus wollte.
 

„Nach dem Typ Messer, das er verwendet hat: Mittlerer Osten. Afghanistan oder Irak“, sprach er die Worte aus, die ihn und John vor einige Monaten aufeinander aufmerksam gemacht hatten. „Irgendwelche Vorschläge, Doktor Watson?“
 

Johns Blick wanderte kurz zum Opfer und zurück zu Sherlock. Er hatte die Lippen aufeinander gepresst und die letzten Momente fieberhaft versucht, sich zu erinnern. Als er noch bei seiner Einheit gewesen war, hatte er von einem Mann gehört, auf den all das zutraf. Zufall? Meisterschütze einer Sondereinheit im Norden Afghanistans. Er hatte angeblich einen menschenfressenden Tiger erlegt. John erinnerte sich daran, wie seine Kammeraden Witze gerissen hatten, als sie davon Wind bekamen.
 

Etwa ein halbes Jahr vor Johns Rückkehr nach London wurde die Nachricht verbreitet, die Einheit sei in einen Hinterhalt geraten und gefangen genommen worden. Gerüchte machten die Runde, sie seinen alle gefoltert und getötet worden. Dass einige Soldaten sich das Leben genommen hatten, um weiteren Verhören und einem qualvollen Tod zu entgehen. Schließlich hieß es, einer hätte überlebt, doch er sei nicht mehr bei Sinnen. Nach einer Auszeit hatte man ihn zurück in den Kampf geschickt, doch mehrere selbstmörderische Entscheidungen, die anderen Soldaten beinahe das Leben kosteten, führten zunächst zur Anklage und letztendlich zu einer unehrenhaften Entlassung. Wie war der Name des Mannes gewesen? Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet er jetzt für Moriarty arbeitete?
 

John wollte Sherlock das alles erklären. Allerdings kam er nicht einmal dazu, den ersten Satz zu beenden, da unterbrach man ihn bereits.
 

„Natürlich. Oh, das ist clever.“ Er wirbelte herum und begann, die Taschen des Opfers abzutasten. 
 

„Willst du denn gar nicht wissen-“, setzte John an und Sherlock fiel ihm erneut ins Wort.
 

„Ich weiß es längst John. Es ist offensichtlich, dass du dich an den Mann erinnerst, den ich beschrieben habe. Dafür musstest du mir noch nicht einmal deinen Gedankengang darlegen, denn ein Blick in dein Gesicht hat gezeigt, dass du nicht mehr weißt, wie er heißt. Und wieder wird meine Auffassungsgabe unterschätzt. Ein unehrenhaft entlassener Scharfschütze aus Afghanistan. Ein Handlanger Moriartys, vielleicht sogar sein wichtigster. Er genießt es, das ist sicher. Aber er würde es nicht einfach dabei belassen, er will uns etwas beweisen. Oh.“
 

Er zog die Hand zurück. Darin hielt er einen kurzen Zeitungsartikel. Er hielt ihn Lestrade entgegen. „Sebastian Moran.“
 

„Moran?“, wiederholte der Inspektor und las den Artikel. Sherlock betrachtete mittlerweile eingehend den Kragen des Toten. „Wir werden einen Fahndungsbefehl herausgeben wenn er es tatsächlich war.“
 

„Er war es. Am Opfer werden DNA-Spuren von ihm sein. Es geht nicht darum, den Täter zu verschleiern. Er wird weiter morden und weitere Beweise hinterlassen.“
 

„Damit erleichtert er uns die Arbeit.“ Lestrade winkte Anderson mit seiner Ausrüstung näher.
 

Sherlock trat missbilligend zurück, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen wandte er sich ab und verließ den Raum. John folgte ihm.
 

Vor dem Frachter am Dock blieb Sherlock stehen und begann auf seinem Handy zu tippen. John warf einen Blick zurück auf das Schiff.
 

„Macht er es der Polizei wirklich absichtlich leicht?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Umso überraschter war er, als Sherlock reagierte.
 

„Nein. Er setzt das Scotland Yard damit unter Druck. Wie werden sie wohl in den Medien dastehen, wenn sie es nicht schaffen, einen Mörder zu überführen, dessen Identität bekannt ist?“
 

„Ah.“
 

Sekunden verstrichen schweigend. Beamte eilten an ihnen vorbei, befestigten das Sicherheitsband für den Tatort und vom Hafenpersonal hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden, die mit höflichen, aber bestimmten Worten zum Zurücktreten aufgefordert wurden.
 

„Ruf uns ein Taxi“, sagte Sherlock.
 

John seufzte. Damit hatte er gerechnet.
 

∼*∼
 

Zurück in der Baker Street setzte er Wasser für einen Tee auf. Draußen war es mittlerweile ganz dunkel und die ersten Menschengruppen setzten sich unten auf der Straße in Bewegung, um den alljährlichen Silvesterfeiern beizuwohnen.
 

John spürte nicht den geringsten Neid auf sie. Obwohl er sich angenehmere Umstände für das neue Jahr vorstellen konnte, würde er es doch, wenn er ganz sicher war, mit niemand anderem als mit Sherlock verbringen wollen.
 

Im Wohnzimmer polterte es. 
 

John ließ den Kessel auf dem Herd und beugte sich nach hinten, um zu sehen, was dieses Mal umgefallen war. Sherlock hatte die vergangenen Minuten damit verbracht, forschen Schrittes im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, ohne dabei auf die eigens aufgerichteten Bücherstapel zu achten, die ihr letzter Fall zurückgelassen hatte.
 

„Ich werde das ganz bestimmt nicht aufräumen“, eröffnete er der Luft vor sich. Sie schwieg. 
 

Stattdessen begann Sherlock, mit angespannter Stimme zu reden: „Was genau bezweckt er damit? Es ist eindeutiges Imponierverhalten. Und jetzt benutzt er seinen Lakaien, um sich der Geiseln zu entledigen. Warum sie zunächst am Leben lassen? Und warum sie nicht alle auf einmal töten?“ Ein Scheppern. „Ein Student, ein Lehrer, ein Tierarzt und ein Soldat. Das ist wahllos. Warum behauptet er das Gegenteil? Was verbindet die Opfer?“
 

Er hörte Papier rascheln, während er das kochende Wasser in zwei Tassen goss. Als er sie ins Wohnzimmer trug, sah er, wie Sherlock durch die Akten blätterte, die er mit Sicherheit ohne Lestrades Erlaubnis mitgenommen hatte. „Ist das nicht eigentlich eine Straftat?“, fragte er stichelnd, erhielt jedoch keine Beachtung.
 

Sherlock ließ die Akten fallen und warf sich aufs Sofa. Er presste die Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen. „Ein Student, ein Lehrer, ein Tierarzt und ein Soldat. Es muss eine Verbindung geben ich kenne die Verbindung. Ich weiß, dass ich sie kenne, die Information ist da, aber wo? Wo?“ Stille. Dann: „John, ich muss in in meinen Gedankenpalast.“
 

„Tu dir keinen Zwang an. Vergiss aber deinen Tee nicht.“
 

„Langweilig.“
 

Wieder Schweigen. John verlagerte sein Gewicht auf dem Sessel und fühlte sich auf einmal wie ein Störfaktor. „Soll ich gehen?“
 

Sherlock hatte bereits die Augen geschlossen. „Unnötig. Ob du hier bist oder in deinem Zimmer macht keinen Unterschied.“
 

Jeder andere wäre beleidigt gewesen, doch John verstand die unausgesprochene Wahrheit und schmunzelte.
 

Sei nicht albern, John. Natürlich kannst du bleiben.

Also lehnte er sich zurück und beobachtete das wohl faszinierendste Schauspiel, das ein anderer Mensch ihm jemals ohne irgendwelche Worte bieten konnte. Nicht zum ersten Mal praktizierte Sherlock diese besondere Art, sich an etwas zu erinnern, doch jedes Mal zog es John in seinen Bann. Außerdem hatte er dadurch die Gelegenheit, Sherlock minutenlang ohne Unterbrechung beobachten zu können. 
 

Er stellte die Tasse leise vor sich ab und verschränkte die Arme. Sherlocks Hände zeichneten kryptische Muster in die Luft vor sich, ruckartige Bewegungen gingen in fließende Gesten über und John spürte eine gerade zu hypnotische Wirkung dieses Anblicks.
 

Irgendwann musste er weggenickt sein.
 

Ein Schnappen nach Luft weckte ihn auf und er setzte kerzengerade hin. Sherlock stand vor dem Sofa und starrte in an. In seinem Blick lag etwas, das John zuletzt am Abend des Weihnachtsessens auf der Gästetoilette bei ihm gesehen hatte und ein heißes Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus. 
 

Dann riss der Detektiv sich los und griff nach Schal und Mantel. John beeilte sich, aufzustehen, doch Sherlocks scharfer Befehl ließ ihn erstarren. „Stopp.“

„Was?“
 

Sherlock knöpfte sich den Mantel zu und öffnete die Tür. „Ich muss noch einmal zum Scotland Yard und mir die Körperteile ansehen. Ich muss etwas übersehen haben.“
 

Sherlock log. Er log und nahm an, John würde es ihm abnehmen.
 

Kalte Wut schnürte ihm einige Augenblicke lang die Kehle zu, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Und aus welchem Grund soll ich dich nicht begleiten?“, fragte er stattdessen.
 

„Weil ich allein schneller arbeite. Weil du müde bist und weil dein Bein heute wieder schmerzt. Du bist dadurch langsamer und hältst mich auf.“
 

John zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen. „Und wir beide wissen, dass Sherlock Holmes sich nicht aufhalten lässt.“
 

Er setzte sich wieder hin. Eine untypische Anspannung zeichnete sich auf Sherlocks Rücken ab. Es war eine kleine Genugtuung, dass er John offensichtlich nicht gerne anlog. „Dann geh. Melde dich, falls du mich brauchst.“ John ging sicher, dass Sherlock mitbekam, was er meinte.
 

Glaub nicht, dass ich dich noch einmal alleine gehen lasse.

Sherlock antwortete nicht und verließ das Appartement. John verstand ihn auch so.
 

[tbc]



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  minyard
2012-03-06T12:40:18+00:00 06.03.2012 13:40
Halli Hallo :)
Ich muss gestehen, dass ich bei Fanfictionsuche bei diesem Fandom (besonders auf Animexx) nicht sehr optimistisch war und nun bin ich doch positiv überrascht etwas derartiges gefunden zu haben.
Man merkt, dass du dir unglaubliche Mühe gibst den Charakteren gerecht zu werden, was vor allem in Sherlocks (und Moriartys) Fall meiner Meinung nach nicht ganz einfach ist - aber dir gelingt es ziemlich gut. Außerdem hast du ziemlich gut recherchiert (was man bei FFs nur sehr selten mitbekommt, leider) oder ein unglaublich ausgeprägtes Allgemeinwissen. :')
Bis auf die slashigeren Szenen könnte es sich auch um weitere Sherlock-Folgen handeln (ich muss dabei sagen, dass ich die zweite Staffel noch nicht angeschaut habe). Ergo: Dir ist das Gesamtpaket ziemlich gut gelungen. Ich find' den Slashanteil jetzt auch nicht übertrieben, oder ähnliches - allgemein sehr niedlich. <3 (Ist die Milch ein versteckter Hinweis? X'D Du erwähnst sie ziemlich oft, zumindest in den ersten beiden Kapiteln~ *lach*)
Was ich hingegen schade finde ist, dass sich bei dir einige Tippfehler eingeschlichen haben, wohingegen deine Grammatik und dein Stil ansonsten einwandfrei sind. (Also vielleicht einfach mal einen Beta anschaffen? ;D)
Ist jetzt zwar nicht so tragisch, aber ich dachte, ich mach dich mal drauf aufmerksam und es stört das Schriftbild und den Lesefluss halt ein wenig. :/
Was den Inhalt betrifft, so fand' ich die Fälle alle ziemlich gut. Wie bereits erwähnt, gut recherchiert und so. <3 Das Abendessen bei Sherlocks Familie war auch ziemlich gelungen. Ich weiß ja nicht, inwieweit du dir da alles selbst ausgedacht hast (wie gesagt, ich kenne bisher nur die erste Staffel). Aber meiner Meinung nach passt das alles ziemlich gut.
So, viel mehr habe ich nicht zu sagen. Die FF landet dann wohl in meinen Favos und ich fiebere mal dem nächsten Kapitel entgegen, auch, wenn ich nicht so der Moriarty-Fan bin. *lach*

Lieben Gruß,
minyard
Von:  jibrillchan
2012-02-24T21:29:21+00:00 24.02.2012 22:29
Ein tolles Kapitel. Ich fiebere regelrecht mit. Und auch wenn man es eigentlich nicht mehr erwähnen müsste. Ich liebe die Art wie du die Charaktere darstellst und sie immer so gut triffst. Eigentlich könntest du doch auch selber ein paar Folgen schreiben. Biete das der BBC doch mal an. ;-)
Ich bin sehr gespannt wie sich dieser Fall noch entwickelt und auch wie es zwischen John und Sherlock weitergeht.
Ich hoffe du lässt uns alle nicht zu lange auf das nächste Kapitel warten.

Von:  Spielzeugkaiser
2012-02-23T23:00:25+00:00 24.02.2012 00:00
Gott, ich kann mich nur bei jedem Kapitel wiederholen: Du triffst die Charaktere so wahnsinnig gut!

Dein Sherlock ist einfach genial und ich liebe deinen John :)
Nach jedem Kapitel habe ich Lust auf mehr.

... Außerdem machst du es uns so wahnsinnig spannend! Mensch, wie soll ich da warten? Der Einstieg war schon so ein Leckerbissen und Moriarty ist so wundervoll durchgeknallt das es nur noch besser werden kann *~*

Ich könnte dich ewig mit Lob überschütten und würde nichts zu bemängeln haben. Ich liebe diese FF einfach =)


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