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Unseen

Die Vergessenen
von

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Beginning

Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, welche wir nicht verstehen. Und noch mehr, die wir nicht sehen. Zumindest die meisten Menschen. Es gibt sehr wenige Ausnahmen, die mit einer Gabe geboren wurden, hinter die Fassade der Welt zu blicken, das zu sehen, was anderen Verborgen bleibt.

Kinder haben fast immer einen Bezug zu allem Übersinnlichen, sehen Geister, Gespenster, Erscheinungen oder wie auch immer man es nennen will. Doch fast alle verlieren diese Gabe, je älter sie werden. Wenige bleiben auch im Erwachsenenalter empfindlich gegenüber spirituellen Geschehnissen. Oftmals gelten sie als Medium, verdienen damit ihr Geld. Oder sie verdrängen es, um ein normales Leben unter normalen Menschen zu führen.

Mein Bruder und ich gehören zu keiner dieser Gruppen. Bei uns verschwand die Fähigkeit, Geister oder der gleichen zu sehen, nicht. Im Gegenteil, je älter wir wurden, desto deutlicher wurden die Erscheinungen, nahmen mehr Gestalt an. Wir waren nicht einmal zehn Jahre alt, da begann der erste Geist, mit uns zu reden.

Es war auf der Beerdigung unserer Großmutter. Sie war vom Stuhl gefallen und hatte sich das Genick gebrochen, als sie Gardinen zum Waschen abhängen wollte. Meine Tante hatte bitterlich geweint, als sie sie gefunden hatte. Mich und meinen Bruder wies sie an, in die Küche zu gehen. Es wäre kein Anblick für uns, sagte sie. Sie würde gleich nachkommen. Wir sollten einfach nur warten und still sein.

Doch wir wussten, was passiert war. Es war nicht das erste Mal, dass wir den Geist eines frisch Verstorbenen sahen. Bei unseren Eltern war es nicht anders gewesen. Während mein Bruder sich umdrehte und nach draußen rannte, blieb ich wie angewurzelt stehen, sah hinauf zu der Gestalt, welche noch auf der Leiter stand und hinab starrte auf den leblosen Körper. Sonnenlicht fiel durch das Fenster, durchlöcherte den Geist meiner Großmutter.

„Grandma“, sagte ich leise und sie sah zu mir, öffnete den Mund und sprach stumm. „Es ist okay. Du kannst gehen, weißt du? Wir kommen schon zurecht.“ Etwas traf mich ins Gesicht, ein Klatschen hallte durch den Flur und meine Wange brannte. Tränen stiegen mir in die Augen und meine Tante schrie. Sie schrie und schüttelte mich, bis ich mich losriss und nach draußen zu meinem Bruder rannte. Doch er sah mich nur an, schwieg. „Du bist selbst schuld“, sagte sein Blick, ehe er sich von mir Weg drehte. Damals verstand ich nicht, warum sie so wütend wurde.
 

Ein paar Tage später war dann ihre Beerdigung. Meine Tante hatte seit dem Vorfall kaum ein Wort mit mir oder meinem Bruder gesprochen. Er strafte mich ebenfalls mit Schweigen dafür. Ich wusste schon damals, wie er zu den Dingen stand, die wir sehen konnten. Er hasste es. Er wollte normal sein, wie all die anderen Kinder in unserer Nachbarschaft oder der Schule. Ohne Geister, ohne Übersinnliches oder unsichtbare Freunde. Er wollte einfach nur ein normales Kind sein.

Es war trüb und regnerisch, was die eh schon bedrückende Stimmung nur noch schlimmer machte. Der Pfarrer hielt seine Rede, doch ich hörte nicht zu. Was er erzählte, verstand ich so wieso nicht. Mein Blick schweifte ab, blieb auf einer Gestalt hängen, welche leicht vorne übergebeugt auf einer naheliegenden Bank saß. Rasch sah ich zu meiner Tante, die gerade in ein Gebet vertieft war, und stahl mich davon.

Der alte Mann sah auf, als ich zu ihm kam, mich auf die Bank neben ihm setzte. Doch er sagte nichts und blickte wieder zu dem Grab vor ihm.

„Du bist tot, oder?“, fragte ich. Es dauerte etwas, ehe er sich rührte, zu mir sah.

„Du kannst mich sehen?“, fragte er. Seine Stimme klang alt, aber auch sanft und warm, ein wenig rauchig. Kurz war ich verwundert, dass ich seine Worte verstand, nickte dann aber.

„Ja, das kann ich. Mein Bruder auch. Aber er mag es nicht. Ich bin Jim. Coel steht dahinten. Neben meiner Tante. Aber er wird nicht herkommen. Und wenn meine Tante sieht, dass ich mit dir rede, wird sie böse. Sie kann keine toten Menschen sehen und mag es nicht, wenn ich mit ihnen rede. Sie sagt, dass kann niemand und ich bilde es mir nur ein.“

„Du bist aber ein sehr gesprächiger kleiner Mann“, sagte der Alte, lachte kurz. „Ich habe noch niemanden getroffen, der mich sehen kann, seit ...“

„Seit du tot bist?“

„Genau“, nickte er. „Und es wird sehr, sehr einsam, wenn man niemanden zum Reden hat. Aber hast du denn keine Angst vor Geistern?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Sollte ich denn? Ich habe noch nie einen bösen Geist getroffen. Also habe ich auch keine Angst.“

„So ist das also.“ Der alte Mann lächelte mich warm an, beugte sich dann zu mir hinunter und sprach leise weiter, als würde er mir ein Geheimnis erzählen. „Sag, magst du einem alten Mann einen Gefallen tun? Du würdest mir damit wirklich sehr helfen. Denn weißt du, ich kann hier nicht weg. Und es gibt da etwas, dass ganz wichtig ist. Wenn du das für mich tust, dann kann ich gehen.“

„Gehen? Wohin?“, fragte ich nach, neigte den Kopf ein wenig.

„Weißt du, ich sitze schon sehr lange hier. Irgendwann kommt einmal die Zeit, da möchte man gehen, etwas anderes sehen. Aber ich muss noch etwas erledigen, bevor ich es kann, verstehst du?“ Langsam nicke ich, fragte, was ich für ihn tun soll. Er erklärte mir, dass ich zu seinem alten Haus gehen solle. Als er noch dort lebte, wuchs ein Baum vor dem Haus. Das, was er brauchte, sei unter dem Baum, zwischen den Wurzeln begraben und er bat mich, es für ihn zu holen.

„Was ist es denn?“, fragte ich neugierig nach, doch der alte Mann schüttelte den Kopf.

„Das musst du nicht wissen, Junge. Es ist eingewickelt in ein Tuch. Wenn es noch dort ist, dann, sei so gut und vergrabe es zwischen den Blumen.“ Er deutete auf das Grab, welches er angesehen hatte, als ich mich zu ihr setzte. „Es sollte ein Geschenk sein, für meine Frau. Doch ich verlor es und konnte es ihr nicht mehr geben, bevor sie starb. Als ich es wieder gefunden habe, begrub ich es unter dem Baum. Darunter saßen wir oft, musst du wissen. Aber es hat mich immer traurig gemacht, dass ich es ihr nicht mehr geben konnte.“ Ich hörte ihm zu, neigte den Kopf, nickte nur ab und an, während er weiter erzählte. Seine Stimme wurde traurig und der alte Mann seufzte schwer. „Weißt du? Wenn ihr Geschenk hier liegt, dann kann ich vielleicht gehen.“

Der Ruf meiner Tante schallte über den Friedhof und ich sah zu ihr, stand von der Bank auf. „Ich werde es holen, versprochen“, sagte ich noch zu ihm, ehe ich mich abwandte und zu meiner Tante rannte. Als ich noch einmal zurücksah, war der alte Mann verschwunden.
 

Es sollte ein paar Tage dauern, ehe es mir gelang, mich ungesehen von meinem Bruder und meiner Tante davon zu schleichen. In Strömen fiel der Regen vom Himmel, dennoch schob ich mein Fahrrad aus der Garage und machte mich auf den Weg. Bis ich das Haus fand, war ich bereits bis auf die Haut durchnässt und fror, doch ich hatte es dem alten Mann versprochen. Zu meiner Erleichterung stand der Baum noch und auch das Geschenk lag genau dort vergraben, wo er es mir beschrieben hatte.

Der Stoff war dreckig und fühlte sich alt an. Kurz überlegte ich, ob ich nicht doch nachsah, was sich darin befand, doch er hatte gesagt, dass es nicht wichtig sei, also schob ich das Bündel in meine Jackentasche und fuhr weiter.

Als ich auf dem Friedhof ankam, ließ ich mein Fahrrad vor dem Tor einfach achtlos fallen und rannte hinein. Ich versuchte mich zu erinnern, wo das Grab gewesen war oder zumindest, welcher Name auf dem Stein gestanden hatte.

„Hey, alter Mann“, rief ich, nachdem ich ziellos und frierend durch einige Reihen gelaufen war. „Ich habe es gefunden.“ Etwas von mir entfernt saß jemand auf einer Bank und winkte mir zu. Ich lief zu ihm, zog das Geschenk aus meiner Tasche. „Hier“, sagte ich, während ich es ihm stolz zeigte. „Es war gar nicht schwer. Es lag genau da, wo du gesagt hattest.“ Der alte Mann lächelt, zeigte auf das Grab. Ich kniete mich hin, grub mit meinen Händen ein Loch in die aufgeweichte Erde, legte das Geschenk hinein und füllte das Loch wieder mit Erde.

„Danke“, sagte der alte Mann, als ich aufstand und zu ihm sah. Er lächelte noch immer. Es war ein warmes, glückliches Lächeln. „Danke, mein Junge. Du hast mir wirklich sehr geholfen.“ Ich nickte und wollte noch etwas sagen, doch die Gestalt des alten Mannes verlor an Kontur, ehe sie kurz aufleuchtete und verschwand, als hätte dort nie jemand gestanden.

Ich hatte nicht viel Zeit, nach ihm zu rufen oder mich, um zu sehen, denn der Friedhofswärter kam auf mich zu, schimpfte darüber, dass ich mein Fahrrad so achtlos hatte fallen lassen. Mitten im Weg! Das wäre ja eine Unverschämtheit, schimpfte er, schickte mich nach Hause und sagte noch, dass ich froh sein sollte, dass er nicht meine Eltern anrufen würde. Der Ärger machte mir nichts aus. Denn als ich wieder auf mein Fahrrad stieg und nach Hause fuhr, fühlte ich mich gut. Ich wusste, dass ich das richtige getan hatte, in dem ich dem alten Mann geholfen hatte. Auch die zwei Wochen, die ich danach krank im Bett lag konnten, daran nichts ändern. Meinem Bruder und meiner Tante erzählte ich es nicht. Sie würde es mir sowieso nicht glauben und Coel … Coel hätte es nicht verstanden.



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