Die Kraniche des Ibykus
Die Sonne wärmte unser Gefieder, doch wir ließen uns nicht beirren und folgten demselben Weg, den schon unsere Eltern, Großeltern und alle weiteren Vorfahren gen Süden genommen hatten. Täler und Berge wechselten sich unter unseren Körpern ab, die wir mit unseren Flügeln durch die Luft trugen. Als wäre es ein Kunststück, ein zauberhafter Tanz, der uns jedoch nur in eine Richtung führte, immer weiter, so lebten wir.
Mein ältester Bruder führte uns an, wir folgten ihm zu beiden Seiten und nutzten den Windschatten unseres Vordermanns, sodass die Gruppe den Einzelnen stark machte. Es war kein schweres Unterfangen, denn das Fliegen lag uns im Blut, es war uns angeboren und die Götter waren uns stets wohlgesonnen gewesen. Sie betrachteten uns und erfreuten sich, wann immer sie uns erblickten.
So freuten auch wir uns, als die zauberhaften Klänge einer melodischen Männerstimme zu uns schwebten und wir unser Tempo verlangsamten, um unseren Freund Ibykus durch unsere Anwesenheit zu grüßen. Seine Stimme hatte ihm einst Apollo geschenkt und nie war mir in meinem ganzen Leben etwas Wohlklingenderes zu Ohren gekommen. Auch an Menschen konnten die Götter sich erfreuen und schenkten ihnen dann und wann besondere Gaben.
"Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren,
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
Mein Los, es ist dem euren gleich.
Von fernher kommen wir gezogen
Und flehen um ein wirtlich Dach.
Sei uns der Gastliche gewogen,
Der von dem Fremdling wehrt die Schmach!"
Unser gemeinsamer Weg – Ibykus zu Fuß mit seinem Wanderstock und wir in luftiger Höhe über ihm – führte uns von den Berghängen zum Wald. Doch nein – oh weh! Was mussten wir sehen? Mörder kreuzten seinen Weg, grausame Banditen!
Wir schrieen und weinten, beklagten sein Leid. Was konnten wir tun, was sollten wir machen?
"Von euch, ihr Kraniche dort oben,
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!“
Unsere Herzen versprachen es ihm und so zogen wir weiter, doch niemals durfte diese Tat ungesühnt bleiben. Auf leisen Schwingen eilten wir so schnell wir konnten nach Korinth. Besinnungsraubend, herzbetörend schallte der Erinnyen Gesang, als wir eintrafen. Die Meute unter unseren Schwingen schaute auf und Raunen ging durch die Körper. Immer mehr und mehr Brüder und Schwestern stießen zu uns, bis wir den Himmel bedeckten und über dem Theater flogen.
Und eines Mannes Stimme zerriss die Stille.
"Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!"
Die Mörder wurden blass und bleich, Angst stand in ihrem Gesicht. Wir sahen sie und ließen sie nicht mehr aus den Augen, zogen unbarmherzig unsere Kreise, so wie auch sie unbarmherzig uns unseren Freund genommen hatten. Sie verrieten sich selbst, die Menge ergriff sie und führte sie zum Richter. Ibykus Rache hatte sie getroffen, denn die Götter wachten über ihre Schützlinge.
So kam es uns wir zogen weiter, immer weiter, weiter fort; mit Ibykus für immer an unserer Seite.