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Idomanulum

von

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Burn Like The Sun

Burn Like The Sun
 

Die Luft über den Straßen stank noch erbärmlicher als in ihnen. Alle möglichen Gase und Ausdünstungen stiegen mit der immerwährenden Hitze nach oben und färbten den von Schwefelwolken und anderen Rauchfahnen geprägten Himmel schwarz grün und gelb.

Veith lächelte kurz.

Ein Himmel in der Hölle hatte wohl keine anderen Farben verdient.

Wie Saron vorgeschlagen hatte, waren sie auf eines der Dächer geklettert, um von dort aus zusehen zu können. Er blickte über die schmutzigen Schindeln und tausende Köpfe anderer Dämonen, die hier dicht gedrängt nebeneinander saßen, hinweg auf einen Platz der ebenso brechend voll war.

Überall standen und saßen Dämonen aller Art, um dem seltenen Spektakel beizuwohnen.
 

Es gab nur einen einzigen Platz in Sesso, der groß genug war, um dermaßen vielen Zuschauern Raum zu bieten – genau genommen gab es sogar nur diesen einen Platz, der gern als Public Orgy Place bezeichnet wurde. Der Rest der Straßen beschränkte sich auf enge Gassen. Die an den Platz angrenzenden Gebäude waren größtenteils große Clubs, Puffs und sonstige Vergnügungszentren, die sich mit dem gewinnbringenden Medium Sex beschäftigten. Genau dieser Platz, das Zentrum der Lustfindung in ganz Sesso würde für den Engel der Ort werden, der über sein weiteres Leben entschied.

In der Mitte des Platzes klaffte eine Lücke.

Ein hölzernes Podest war in aller Eile errichtet worden, einige Meter lang. Das Holz war dunkel und abgewetzt, teilweise von den tausenden Dämonen, die sich daran drückten, kratzten und schabten, um so nahe wie möglich am Engel sein zu können. Von ihrem Platz auf den Dächern konnten Veith und Saron sehen, dass in der Mitte des Podiums eine Falltür war, die wohl als unterirdischer Aufgang dienen sollte. Den Engel durch eine Schneise in der Menge zu führen würde an Selbstmord grenzen.

Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und nur noch wenige Sonnen leuchteten in den Straßen. Veith und Saron warteten bereits zwei Stunden auf dem Dach und waren damit schon spät dran gewesen. Sie hatten sich mit Schlägen und Hieben durch die Masse der Zuschauer auf den Dächern und neben den Gebäuden kämpfen müssen, was in einer Situation beinahe in eine Schlägerei ausgeartet wäre.

Andere Dämonen hatten weniger Glück gehabt. Der Incubus hatte beobachtet, wie irgendein Zornländler einen anderen Dämon verdroschen und dann auseinander gerissen hatte, weil dieser ihm im Weg gestanden hatte. Andere prügelten sich immer noch blutig um die besten Plätze.

Es war unglaublich, wie wild sie alle auf diesen einen Engel waren. Er hatte aufgehört zu zählen, wie viele gefragt hatten ob er Drogen oder Viagra kaufen wollte, damit er die Vorstellung besser genießen konnte.

Abgesehen davon, dass er davon ausging, dass die meisten Drogen, die ihm angeboten worden waren, ohnehin nur billige Mehlpillen waren, hatte der Schwarzhaarige auch nicht vor, seinen Verstand durch irgendein Mittel zu trüben.

Er wollte diesen Engel sehen, genauso wie er war.
 

„Ich hab gehört, sie soll weiblich sein.“, sagte Saron neben ihm, „Weißt du, wie viel ein weiblicher Engel wert ist?“

„Sag’s mir.“

„Ich hab keine Ahnung. Aber wahrscheinlich hundertmal so viel Geld, wie ich in meinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen werde. Der Typ da vorne hat eben gesagt, dass die Jäger jetzt schon über tausend Anfragen haben, von überall her. Was glaubst du, was die Ärsche für Gesichter ziehen werden, wenn sie die Prüfung besteht.“

Der Dämon lachte schadenfroh und Veith lächelte ebenfalls kurz.

Jedem Wesen des Himmels, das in die Hölle verbannt wurde, standen zwei Möglichkeiten zu, wie es sich entscheiden konnte.

Die eine Möglichkeit war, sich zu ergeben – gleichzusetzen mit einem Todesurteil, weil man die Engel dann sich selbst überließ, und damit der tobenden, geilen Menge um sie herum. Die andere Möglichkeit war der Kampf gegen einen Dämon, meist ein Incubus, weil dessen Illusionen das Spektakel noch sehenswerter machten. Verlor ein Engel diesen Kampf, würde er für teures Geld als Trophäe an irgendeinen reichen Sack verkauft werden. Gewann er, wurde er frei gelassen und durfte in der Hölle leben – aber diese Freiheit war ebenso gut, wie das Leben als Sklave, denn obwohl das Himmelswesen mit der Zeit alles Strahlende und Heilige an und in sich verlor, würde er doch niemals genauso sein, wie ein Dämon. Er fragte sich kurz, ob es anders herum genauso wäre – wen ein Dämon in den Himmel eindrang.

Aber wie sollte so etwas schon möglich sein?

Dann wurde der Gedanke verscheucht und sein Herzschlag schien sich zu verdoppeln, als der Lärm in der Menge anschwoll. Etwas tat sich auf der hölzernen Bühne. Schwerfällig wurde die Falltür angehoben und dann mit einem Ruck nach hinten gekippt, sodass die Öffnung frei wurde. Heraus kamen zwei Gestalten.

„Ancarus!“, keuchte der Schwarzhaarige. „Scheiße, was ist das für ein Engel?“

Ein Dämon in dunkelgrünen, langen Gewändern hatte die Bühne betreten und seine Arme ausgebreitet, um den Applaus zu empfangen.
 

Sein Haar war pechschwarz, wie die von Veith und kurz geschnitten, sodass man deutlich zwei dunkle spitze Hörner an beiden Seiten herausragen sah. Sein Gesicht war jedem bekannt. Selbstsichere und unnahbare Züge zeugten von dem großen Können, was in seinem Verstand lauerte.

Ancarus war ein Incubus ersten Ranges, ein Meister seiner Klasse. Er machte die Träume der Fürsten und er kümmerte sich um den Horror für die Gefangenen höchster Priorität – und für diesen Engel.

Veith schluckte hart.

Einmal will ich mit ihm auf solch einer Bühne stehen, einmal gegen ihn antreten – selbst wenn ich verliere.

Ein Dämon merkte sich nicht viel, aber jeder kannte diesen Meister der Illusionen von Duellen mit anderen Incubi, die zur Belustigung reicher Dämonen ausgetragen wurden.

Er hatte von keinem Duell gehört, welches Ancarus je verloren hatte. Ausschließlich Siege, haushoch und spektakulär.

Der Incubus würde dieses einmalige Erlebnis unverwechselbar machen.

Und unvergesslich. Da war der Schwarzhaarige sich sicher.
 

Mit nur einer Handbewegung brachte er die tosende Menge zum Schweigen und wartete. Ein weiterer Dämon stand neben ihm auf der Bühne.

Der Kopf der Jäger, eine Person von hagerer und linkischer Gestalt, verbeugte sich – wenn auch nicht sehr tief – vor dem Incubus und wandte sich dann der Menge zu.

Das Gesicht dieses Dämons war haarig und pelzig, lange Tasthaare wuchsen aus seinen Wangen und schlitzartige Pupillen beobachteten das Geschehen. Seine Hände hatten scharfe Krallen, ebenso die Füße und an seinem Rücken wedelte ein langer, dünner Katzenschwanz hin und her.

Nahezu jeder Jäger war ein Katzendämon – einer der wenigen Tierdämonen, die nicht in die äußeren Slums verbannt wurden – das war fast wie ein ungeschriebenes Gesetz. Diese Art von Dämonen hatten ein unvergleichlich gutes Gehör, ein unübertroffen scharfes Auge und manche meinten, sie würden schneller reagieren, als man überhaupt agieren könne.

Was diese ausgemagerte, alte Straßenkatze zum Anführer einer so unbändigen wie grausamen Instanz wie den Jägern machte, war allerdings sicherlich nicht seine Stärke, sondern vielmehr seine rasiermesserscharfen Augen und seine samtweichen Katzenpfoten, mit denen er es nur zu gut verstehen musste, sich Sympathien bei den Reichen und Mächtigen zu verschaffen.
 

„Heute“, begann der Katzendämon, „ist ein besonderer Tag für einen jeden Jäger in dieser Stadt. Heute haben wir einen Engel gefangen.“

Tosender Applaus und Jubel aus der Menge. Der Katzendämon hatte wesentlich mehr Mühe, wieder Gehör zu finden, als Ancarus vor ihm.

„Es ist das erste Mal, dass uns in Sesso ein Wesen aus dem Himmel ins Netz gegangen ist und nicht nur deshalb ist dies ein denkwürdiger Tag. Meine Damen und Herren...“, der Dämon setzte ein selbstsichereres Lächeln auf. „…dieser Engel wird Ihre kühnsten Träume übersteigen. Ihre Reinheit und Eleganz ist atemberaubend, ihre Schönheit unübertroffen. Ohne Zweifel wird sie ein Prunkstück in jeder Sammlung sein. Ich heiße unseren heutigen Star des Abends willkommen – Lyria!“

Lüsterne Schreie, Jubel, Gier und Applaus überschlugen sich, als zwei Katzendämonen, der eine mit braunen, der andere mit grauen Fell, mit den Engel durch die Falltür die Bühne betraten.
 

Sie war das Schönste, was Veith jemals gesehen hatte.

Ihre weißen, knöchellangen Gewänder, ohne Zweifel aus einem edlen Stoff gefertigt, waren schmutzig und verdreckt, hingen wie tote Tiere von ihrem Körper herab und das dunkle, schulterlange Haar wirkte stumpf und war verfilzt. Doch abgesehen von diesen Nebensächlichkeiten fehlte ihr nichts. Kein Kratzer war zu sehen, keine gebrochenen Gliedmaßen und kein Makel ihrer Schönheit.

Ihre Haut war so hell, dass Veith glaubte, sie müsse aus weißem Papier bestehen, ihr Gesicht war schmal und edel, die Nase klein, die Augen grün.

Und die Flügel.

Zur Hölle, er hatte nie etwas Schöneres als diese Flügel gesehen. Weiße Federn, glänzend im unwirklichen Licht der Unterwelt. Er stellte sich vor, wie sich diese Flügel anfühlten – weich, warm und wunderschön. Er empfand ein Gefühl und wusste nicht, wie er es nennen sollte. Aber es erinnerte ihn an einen schönen Tag, mit einem Bittersirup auf dem Dach zu sitzen, in der Ferne den roten Fluss mit seinem zähflüssigen, rostroten Gewässern zu sehen, das Treiben der Passanten zu beobachten und zuzusehen, wie sich die farbigen Gaswolken im Himmel bekämpften, veränderten, vereinten.

Die Jäger brachten sie an den Rand der Bühne und der Schwarzhaarige sah, wie etliche Dämonen versuchten, ihre Knöchel zu umfassen und sie herunter zu zerren. Die beiden Katzendämonen an ihrer Seite blickten mit ihren scharfen Augen in die Menge und der Incubus war sich sicher, dass sie keine Sekunde zögern würden, eine Hand oder einen Kopf abzuschlagen, sollte dieser dem Engel zu nahe kommen.

Besonders der graue Dämon hatte etwas in seinem Blick, was Veith stocken ließ – als würde er mit seinem über den Boden streifenden Katzenschwanz nur darauf warten, dass ein Zuschauer sich in seine Schusslinie begab.

Lyria selbst sah so aus, als ob das alles an ihr vorüberging. Ihr Kopf hing hinunter, das wirre Haar verdeckte einen Großteil ihres Gesichts und den Blick ihrer Augen.

Veith wusste nicht, was ein Jäger mit einem Engel machte, wenn er ihn gefangen hatte – er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie man einen Engel fangen sollte. Er fragte Saron, dieser zuckte ebenfalls mit den Schultern.

Ein Dämon hinter ihnen antwortete.

„Die Engel kommen durch die Regenfelder ganz im Süden hierher, sagt man. Dort regnet es nicht Asche, sondern Wasser und wenn der Regen farbig wird, wissen die Dämonen, was Sache ist. Dann verfolgen sie die Süßen, bis sie sie in die Finger kriegen und brauchen nicht mehr zu tun, als ihren Rosenkranz abzuschneiden. Ohne den sind sie vollkommen wehrlos, das ist das Zentrum ihrer Kraft. Und welche Stadt ihn bekommt, darf den Engel auch vorführen.“, sagte er wissend. Der junge Incubus hatte von den Regenfeldern gehört, aber war selbst nie da gewesen – er hatte auch noch nie eine Erinnerung in den Köpfen seiner Kunden gesehen, die von dort stammte und konnte sich deshalb nur vage vorstellen, was der Fremde ihm beschrieben hatte.

Ein Regenfeld mit farbigen Regen, als würde jemand Blut, Wein und andere bunte Säfte darüber ausschütten. Er fragte sich, wie es sich anfühlte, diese Tropfen auf der Haut zu spüren. Sicherlich vollkommen anders, als das Gefühl von Ascheregen, der auf den Kopf niederging.
 

„Bei Luzifer.“, sagte Saron. „Sie ist unglaublich.“ Veith sah, dass der Dämon mit dem hellen Haar Lust hatte, genau vor der Bühne zu stehen, um mit den anderen zu versuchen ihre Knöchel und ihre Füße zu berühren, nur ein ganz kleiner Fleck Haut – bevor sie für immer in den Fängen eines schwabbeligen, gierigen Fürsten landen würde, der ganze Ländereien für dieses einzigartige Wesen gezahlt hatte. Gierig glänzten seine roten Augen.

Der Anführer der Jäger wartete ab, bis sich die Menge einigermaßen sattgesehen hatte, dann fuhr er fort.

Er schritt auf den Engel zu, brauchte selbst einige Momente, bis er mit der schwindelerregenden Ausstrahlung ihrer Schönheit fertig wurde.

„Nun, mein süßes, kleines Mädchen…erzähle uns: Wie bist du zu uns gelangt?“, fragte er, gerade laut genug, damit es alle hören konnten, die auf dem Platz unter ihnen waren.

„Was hat er gesagt?“, fragte Saron über den Lärm weg, der erneut ausbrach, weil die Dämonen ihre ganz eigene Version ihres Falls hören wollten.

Der Schwarzhaarige wiederholte die Worte für ihn, froh darüber, dass seine Ohren als Incubus so erstaunlich gut waren – nicht so gut, wie die der Katzendämonen, aber besser als das Gehör der meisten anderen.

Ancarus brachte die Menge mit einer Handbewegung zum Schweigen, damit die Vorstellung weiter laufen konnte. Veith erkannte, dass der Meister-Incubus ungeduldig wie ein kleiner Welpe darauf wartete, sich in die Gehirnwinden dieses Engels einzugraben, um ihr ein ausgemachtes Stück Wahnsinn zu präsentieren. Er fragte sich, ob Ancarus ebenfalls zum ersten Mal einem Engel gegenüberstand.

Lyria sagte etwas, aber so leise, dass Veith lediglich die sich bewegenden Lippen erkannte.

Fick dich.

Der Katzendämon lachte. „Nun ich bin mir sicher, dass viele der Anwesenden das liebend gern mit dir tun würden.“, sagte er und fügte leise noch etwas hinzu, was der Schwarzhaarige wieder von den Lippen ablesen musste.

Und das werden sie. Aber ich werde der Erste sein.

Unwillkürlich überkam Veith ein Brechreiz. Er versuchte sich zu beherrschen und die ekelerregenden Vorstellungen, die sich in seinen Gedanken ausbreiteten, zu vertreiben.

„Die Regeln schreiben vor, dass du zwei Möglichkeiten hast, dich zu entscheiden.“, fuhr der Vorsteher der Jäger wieder dem Publikum zugewandt fort, „Wenn du aufgibst, wirst du ohne weiteres der Menge überlassen.“ Die Dämonen johlten und Veiths Herz schlug schneller.

„Oder du entscheidest dich, zu kämpfen. Wenn du gewinnst, wirst du die Möglichkeit haben als vollwertiger Dämon unter uns zu leben. Wenn du verlierst…werden wir viel Geld an dir verdienen.“

Die Menge wurde erneut laut, sie riefen Lyria alles Mögliche zu, das meiste beschränkte sich darauf, sie eine geile Nutte, Drecksstück, kleine Hure, Fotzenengel zu nennen.
 

Der Schwarzhaarige spürte einen Stich im Herzen.

Dieses reine Wesen, dieses hilflose reine Wesen. Sie würde untergehen in der Masse der Dämonen, die sie alle begehrten. Es erschien ihm plötzlich falsch, überladen, völlig verdreht. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und bevor er länger darüber nachdenken konnte, brachte Ancarus die Menge erneut zum Schweigen.

Der Engel hatte etwas gesagt. Der Anführer der Jäger beugte sich zu ihr hinunter und lächelte dann sehr zufrieden.

„Sie wird kämpfen!“, rief er. Wiederholtes Getöse.

Während jedes Lebewesen um ihn herum außer sich war vor Freude über das bevorstehende Spektakel, blieb Veith ruhig sitzen. Er beobachtete, wie Lyria dem Incubus gegenübergestellt wurde, verspürte den unnatürlichen und ihm unerklärlichen Drang sie zu warnen und ihr zu sagen, dass alles, was sie sehen würde, niemals echt sein würde.

Aber das konnte er nicht. Sie hätte ihn ohnehin nicht hören können. Ancarus sah unglaublich zufrieden aus, während er seinen grünen Umhang ablegte.

Er ist ein Meister der Illusionen und er weiß sehr genau, wie man diese Illusionen inszenieren muss.

Unter dem schweren grünen Stoff trug er eine schwarze Jeans, ein nahezu vulgär weißes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren.

Der Jäger mit dem grauen Fell und den scharfen Augen, der zuvor Lyria festgehalten hatte, legte ihr nun etwas um. Ihr Rosenkranz.

Veith sah, wie die Augen des Engels unverhofft vor Energie aufleuchteten. Sie nahm eine aufrechte Haltung ein und er erkannte, dass sie nicht nur schön sondern unglaublich erhaben und zugleich stolz war. Zumindest für diesen Moment.

Im nächsten Moment begann Ancarus seinen ersten Zug, indem er aus der Luft zahllose Kreaturen formte, die grauenhafter als alles waren, was Veith erwartet hatte. Grässliche Monster mit herausgerissenen Armen und Beinen. Die Haut hing ihnen wie fettige Lappen vom Leib hinunter, halb abgewetzt und faulig. Einige trugen tausende Augen an ganzen Körper, die alle wild umher blickten und in ihren gespenstigen Höhlen kreisten. Andere besaßen überhaupt keine Augen, sondern bestanden nur aus Mündern und Zähnen, von denen bleicher, stinkender Schleim tropfte. Taumelnd, grunzend und jammernd bewegten sich diese Kreaturen auf sie zu und bleiche Hände griffen nach dem Engel.
 

Lyria schrie entsetzt – und das Publikum war begeistert. Dann setzte sie sich zur Wehr, nutzte die Kraft ihres Rosenkranzes, um die Kreaturen mit ihrem eigenen, strahlenden Selbst zu vertreiben.

Wie eine einzige, körperliche Sonne leuchtete sie über den Platz und Veith hielt die Hand vor die Augen, so grell war diese Energie.

Die Illusionen verblassten, doch Ancarus verzog keine Miene. Er konzentrierte sich auf seinen nächsten Angriff, ein Meer von Flammen züngelte auf der Bühne und verschlang die Energie, die der Engel verschleuderte, um sich selbst zu kühlen und die Flammen zu vernichten. Veith sah, wie die Gestalt in der Hitze schwankte und flirrte.
 

Es ist nur eine Illusion.

Die Hitze, die Schmerzen, die Brandblasen, alles ist nur eine Illusion.

Es ist nicht da, es ist alles nicht da!
 

Der Schwarzhaarige musste sich immer stärker beherrschen um ihr das nicht entgegen zu schreien, eine Wut herrschte in ihm wie eine plötzliche Krankheit, von der er nicht wusste, wie und wo er sie sich zugezogen hatte.

Doch im nächsten Moment erstarben die Flammen. Er sah, wie Lyria nach Luft schnappte und ihre Beine einknickten.

„Du bist schwach, Engel.“, sagte Ancarus. Seine Stimme klang tief und nach wie vor konzentriert. „Schwächer als jeder Dämon, gegen den ich jemals angetreten bin. Du bist sogar schwächer als ein Menschenkind.“

Veiths Hände ballten sich zu Fäusten und seine Fingernägel bohrten sich ins eigene Fleisch.

„Der Kerl ist unglaublich.“, sagte Saron, „Er bringt sie im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand!“ Einige Dämonen um ihn herum lachten.

„Halt den Mund, Saron.“, zischte der Incubus. Sein Gegenüber sah ihn stirnrunzelnd an.

„Musst du kacken oder was ist los?“, fragte der Vampir irritiert, aber er erhielt keine Antwort.
 

Beruhige dich.

Scheiße, beruhige dich, was du hier tust ist nicht normal!
 

Er atmete mehrere Male tief ein und wieder aus – mit wenig Erfolg. In ihm tobte immer noch Wut, aber immerhin konnte er sie nun verbergen.

Lyria richtete sich auf, doch ihr ganzer Körper zitterte. Sie sah ihren Peiniger an, ohne Worte. Aber ihr Blick war unmissverständlich.
 

Ich zeige dir meine Stärke. Ich gebe mich nicht geschlagen!
 

Ancarus lächelte unbeeindruckt und scheinbar äußerst zufrieden, als ein Schwarm riesenhafter Kreaturen, die aussahen wie eine Mutation aus den knochigen, schwarzen Höllengeiern und den schuppigen, federleichten Schwebeschlangen, sich auf den Engel stürzten, rissen ihre scharfkantigen Schnäbel aus und schrieen bestialisch. Sie wurden in Flammen gesetzt und verschwanden. Lyria stand aufrecht.

Ein Raunen ging durch die Menge und der Schwarzhaarige war sich sicher, dass ihr Verkaufspreis angesichts dieser Willenstärke noch einmal um das Doppelte gestiegen war. Der Meister-Incubus allerdings war unberührt, erschuf sogleich eine weitere, wesentlich größere Illusion.

Dunkelheit senkte sich über den Platz, für einen Moment erlosch das Licht der wenigen Sonnen, die noch umherschwebten, um dann – noch diffuser und dunkler als zuvor – erneut zu erleuchten.

Ancarus hatte die gesamte Szenerie verwandelt. Der komplette Platz befand sich nun in einer Art Untergrundgewölbe, gemauert aus schweren, schwarzen Steinen und ohne eine Öffnung. Vier oder fünf größere Sonnen waren mit in dieser Illusion gefangen und strahlten ihr buntes, unwirkliches Licht an die alten Mauersteine, ließen sie gespenstig tanzen und glänzen. Veith glaubte, dass er sogar Geruch wahrnehmen konnte und er wünschte sich im gleichen Moment, es sei nicht so.

Es stank nach Verwesung, nach Schwefel, Blut und Gift. Und es war furchtbar kalt. Sofort schlang er seine Arme um sich und rückte etwas näher an Saron, der ebenfalls ob der ungewohnten Kälte zu zittern begann.

„Wie fühlst du dich jetzt, Engel? Wie fühlst du dich, wenn du den Himmel nicht mehr sehen kannst?“, fragte der Meister-Incubus laut, seine Stimme hallte von den Illusionswänden wider. „Hast du Heimweh nach Papa Gott?“

Wütende Blitze zuckten in den Augen Lyrias, und doch verlor sie ihre Beherrschung nicht. Vorerst nicht.

Um das Bild zu vervollständigen, erschuf Ancarus hunderte von Untoten, die mit unwirklichen, langsamen Bewegungen auf sie zukrochen.

Veith grub seine Fingernägel in die Hand. Schmerz zuckte auf und er biss sich auf die Zähne.

„Verfluchter Mistkerl.“, knurrte er. „Du verfluchtes Arschloch.“

„Sind das Lieblose?“, fragte Saron, und seine Stimme schwappte über vor Begeisterung. „Heilige Scheiße, der Typ hat’s echt drauf!“ Sein Atem stieg in Kondenswölkchen auf.

Lyria blieb stehen, nicht recht wissend was sie tun sollte. Sie schoss einen Strahl Energie auf eine Gruppe der Lieblosen, aber er glitt durch. Veith erkannte an ihren Bewegungen, dass sich Unsicherheit in ihr breit machte, sie wich zurück ohne dass es ihr etwas nützen würde. Die Untoten hatten sie eingekesselt.

Im nächsten Moment schnellten sie auf den Engel zu, zu plötzlich als dass sie irgendetwas hätte tun können.

Veith kniff die Augen zusammen, die Menge hingegen grölte. Er musste nicht sehen, was die Lieblosen taten, er kannte ihr Wesen.
 

Und sollte es einen Gipfel der Verzweiflung geben, so sind es die Lieblosen.

Nicht imstande eine Leidenschaft zu empfinden, ein Wort zu formen, einen Gedanken zu besitzen gieren sie nach all dem, was sie niemals besitzen können und sie werden nicht eher ruhen, bis all dein Fleisch und Blut, dein ganzes Inneres an ihren Körpern klebt und unter ihren Fingernägeln klemmt und von ihrer Haut tropft.
 

Kristallern klar hörte er die Schreie Lyrias über die Menge hinweggellen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Beruhige dich, verflucht. Du bist ein Dämon. Ein Dämon.

Benimm dich wie ein Dämon!

Ein Schrei der Wut röhrte in seiner Kehle und bevor er weiter darüber nachdenken konnte, sprang Veith auf. Er konnte Lyria nicht sehen, bezweifelte ebenfalls, dass sie ihn hören konnte. Die Menge um ihn herum johlte vor Begeisterung und sie war vergraben unter den Händen und Fingern der Lieblosen, die sie überall berührten, in all ihre Löcher und Poren hineingriffen, mit ihren Nägeln an ihrer Haut kratzten, sie von innen aufschabten.

Es sind Illusionen! Nichts weiter als Illusionen! Sie sind nicht da, niemand ist hier, sie berühren dich nicht!“

Er schrie ihr entgegen, schrie mit seiner Stimme und seinen Gedanken und wurde doch übertönt.

Saron zog ihn zurück auf seinen Platz und verpasste ihm eine Backpfeife.

„Bist du wahnsinnig?!“; fragte er laut. „Was ist denn in dich gefahren, willst du dass die Leute dich zerreißen?“ Wieder antwortete er ihm nicht, fühlte sich außer Atem, während seine Wange brannte. Seine Wut verflog, machte einem ungewohnten Gefühl der Ausweglosigkeit Platz.

Was zum Teufel passiert mit mir?

Lyria würde zugrunde gehen. Sie würde schwach werden, den Kampf verlieren. Ihr Leben würde als Hure enden, bei einem reichen Sack, der sie in Ekstase erschlagen würde. Er wusste es.

Sie war ein Engel, der sein Leben lang Dämonen gefürchtet und verabscheut hatte, wie sollte sie auch nur eine Sekunde im Kampf gegen einen bestehen können?

Gegen den Besten unter ihnen, der sie mit einem Horror konfrontiert, den sie wahrscheinlich nicht mal im Entferntesten erahnt hätte.
 

Das alles hat mit mir nichts zu tun. Es geht mich nichts an, ich sitze nur hier. Ich sitze hier und sehe zu, wie ihre Schönheit zerstört wird, und es geht mich nichts an.

Und dennoch…
 

„Du kannst fliegen.“, flüsterte er tonlos, „Es sind nichts als Alpträume, und Träume enden, wann immer du willst. Du musst nur aufwachen. Wach auf. Wach auf!“
 

Alles was er sehen konnte, waren grün leuchtende Augen und in den wenigen Sekunden, in denen er sie sah, glaubte er, dass sie ihn anschauten. Erkenntnis.

Im nächsten Moment schoss ein weißer Pfeil aus dem Gewühl aus Händen, Mündern und Leibern der Lieblosen. Schneller als alles andere, was der Dämon je gesehen hatte, beobachtete Veith, wie Lyria floh, die Flügel ausgebreitet.

Sie schoss geradezu durch die Decke, unaufhaltsam und hell.

Das Gewölbe verschwand augenblicklich, Ancarus formte schwarze Geier, die ihr nachhetzten, aber sie waren zu langsam. Er schickte Drachen hinterher, doch auch sie konnten die weiße Gestalt in der Ferne nicht mehr erreichen.

Seine Illusionen lösten sich wie Asche im Wind auf.

„Scheiße, das kann nicht wahr sein!“, rief Saron neben ihm, „Sie fliegt! Sie fliegt davon!“ Entsetzen breitete sich über dem Publikum aus, breitete sich in Ancarus Gesicht aus, breitete sich in den Gesichtern aller Jäger aus und rollte unaufhaltsam über die Masse hinweg.

Doch auf Veiths Gesicht zeichnete sich ein kleines, fasziniertes Lächeln ab.



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