You're my fate.
Mit leicht zitternden Händen griff Hyde nach seinem Handy. Er tippte eine Nummer, die er bis auf die letzte Ziffer auswendig konnte – besser, als seine eigene. So oft hatte er sie in den letzten Jahren gewählt, eigentlich täglich. Täglich hatte er mit Tetsuya, seinem besten Freund, gesprochen. Er hatte ihm mehr erzählt als seiner eigenen Frau – Tetsuya kannte Hyde besser als jeder andere Mensch auf dieser Welt.
Aber heute wollte er Tetsuya nicht erzählen, was für neue Ideen er für Lieder hatte. Der kleine Sänger hatte eine schwere Entscheidung getroffen, die er schon seit mehreren Jahren vor sich hin geschoben hatte. Immer hatte er gehofft, sein Problem würde sich einfach in Luft auflösen oder irgendwie von selbst lösen. Aber das war natürlich nicht so. L’arc en ciel war erfolgreich wie nie und eigentlich hätte Hideto Takarai darüber glücklich sein müssen. Aber seine Situation verhinderte das.
„Hey, Hai-chan, was gibt’s?“, meldete sich Tetsuyas vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.
Sofort schlug Hydes Herz wieder höher.
„Tet-chan… Ich müsste dringend mit dir reden. Können wir uns treffen?“, fragte er leise und spielte mit einer Strähne seines langen, leicht gewellten Haares.
Es war ein kurzes Blättern zu hören. Wahrscheinlich warf Tetsu gerade einen Blick in seinen Terminkalender. „Ich hab‘ heute nichts mehr vor. Wollen wir uns nachher gleich bei dir treffen?“, fragte der Bassist. Hyde runzelte die Stirn. „Es wäre mir lieber, ich könnte zu dir kommen. Wäre das okay?“ Diesmal überlegte Tetsu nicht lange. „Klar. Ich hab‘ aber nicht aufgeräumt.“ Ein leichtes Schmunzeln war in Tetsuya Stimme zu hören, was Hyde sanft lächeln ließ. „Schön. Ich bin in einer halben Stunde bei dir.“
Nach ihrem Telefonat zog der Sänger sich um. Wie immer wusste er nicht, was er tragen sollte und schalt sich dann selbst. Er traf sich nur mit seinem besten Freund! Das war doch kein Date!
Leider…
Heftig schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen. Heute war es sowieso egal, was er trug. Es war kein erfreulicher Anlass, wegen dem er Tetsuya aufsuchte. Also schlüpfte er nur schnell in eine Jeans und einen etwas zu weiten Pullover, zog Mantel und Stiefel an, griff sich seine Auto- und Wohnungsschlüssel und machte sich auf den Weg.
Als er sich dem Wohnblock näherte, in dem Tetsuya schon vor Jahren eine Wohnung gekauft hatte, raste Hydes Herz. Am liebsten würde er umdrehen. Weit wegfahren. Auswandern. Oder so ähnlich. Aber noch länger wegzulaufen würde die Situation wohl nur noch schlimmer machen, also fasste er sich ein Herz, parkte neben Tetsuyas Wagen, stieg aus und schloss seinen eigenen ab. Mit Sonnenbrille und langem, schwarzen Mantel lief er zur Tür, ein wenig Schnee wurde durch seine Schritte aufgewirbelt. Es war Anfang November und sehr kalt geworden in Tokyo, der erste Schnee war vor zwei Tagen gefallen. Sonst liebte Hyde Schnee und Winter – und vor allem die Weihnachtszeit – aber jetzt hatte er ganz andere Sachen im Kopf.
Naja, gut, nur eine Sache. Und ebendiese Sache öffnete ihm die Tür und wartete schon im Hausflur auf den Sänger.
„Hey. Irgendwie klangst du so bedrückt. Alles okay?“, fragte Tetsuya sofort und umarmte Hyde, der die Treppen hinauf gelaufen kam. Leicht schluckte der Kleinere. „Naja. Ich muss mit dir reden. Lass uns reingehen.“, gab Hideto zurück. Sein bester Freund runzelte besorgt die Stirn und sie betraten seine Wohnung. Eigentlich hatte Hyde nur schnell etwas loswerden und dann wieder gehen wollen, aber schlussendlich zog er doch die Schuhe und seinen Mantel aus. Wäre irgendwie seltsam gewesen, wenn er komplett angezogen in Tetsuyas Wohnzimmer gesessen hätte.
Dort angekommen, sah er auch schon, was Tetsu mit ‚nicht aufgeräumt‘ gemeint hatte. Überall lagen Notenblätter herum. Auf dem Boden, auf dem Couchtisch, auf der Couch selbst. Wenn der Leader von L’arc en ciel mal eine Idee hatte, achtete er nicht auf Ordentlichkeit. Er schrieb einfach darauf los. Und an diesem Tag schien er ganz besonders produktiv gewesen zu sein. Dieser Anblick ließ Hyde traurig lächeln. Vielleicht war das das letzte Mal, dass er Tetsuyas Wohnung betreten würde.
„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte der Bassist dann und riss Hideto damit aus den Gedanken. Er blickte zu seinem Freund auf und schüttelte den Kopf. „Nein. Lass uns… lass uns reden.“ Er setzte sich auf Tetsuyas dunkle Couch und der Bassist tat es ihm gleich, setzte sich ihm gegenüber. Er verschränkte die Hände erwartend auf dem Schoß und blickte Hyde an. „Worum geht es? Scheint ja ernst zu sein.“, sagte er.
Langsam nickte Hyde.
„Ich… ich werde nicht mehr für L’arc en ciel singen.“, sagte er dann kurzerhand.
Es dauerte zwei Sekunden, dann weiteten sich Tetsuyas Augen. „Was?!“, fragte er ungläubig. „Ist das dein Ernst?“
Langsam nickte Hyde. „Es tut mir leid. Ich möchte mich von nun an nur noch auf VAMPS konzentrieren.“ Leicht zuckte der Sänger zusammen, als Tetsuya mit den Handflächen auf seine Oberschenkel schlug und sich leicht zu ihm beugte.
„Was soll das, Hideto? Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht lustig! L’arc en ciel ist unser Schatz, unser Meisterwerk! Mit so etwas scherzt man nicht!“, ereiferte Tetsuya sich und funkelte Hyde wütend an. Sowas konnte er gar nicht leiden. Aber Hidetos trauriger Blick ließ ihn verstummen.
„Das ist kein Scherz, Tetsuya.“, sagte dieser leise. „Es tut mir wirklich leid. Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht.“
Kurz musterte der Bassist seinen besten Freund. „Aber warum?“, fragte er dann leise. „Warum willst du unseren gemeinsamen Traum aufgeben? Natürlich hatten wir unsere Hochs und Tiefs, aber wir hatten fast zwanzig Jahre lang großen Erfolg. Und du… du bist die Stimme von L’arc en ciel. Was sollen wir denn ohne dich machen?“
Diese Worte trieben Hideto Tränen in die Augen. Schnell blickte er zur Seite und stand dann auf, umklammerte mit den Fingern den Saum seines Pullovers. „Ich glaube, ich sollte gehen.“, sagte er mit brüchiger Stimme und wollte zum Flur laufen.
Aber noch bevor er zwei Schritte gehen konnte, war Tetsuya bei ihm und packte ihn an den Schultern. „Ich lasse dich nicht gehen, bevor du mir nicht gesagt hast, warum du L’arc en ciel verlassen willst, Hideto!“
Er suchte nach Hydes Blick und bemerkte dann, dass dieser weinte und krampfhaft versuchte, den Blick nicht zu erwidern. „Warum tust du das, wenn es so sehr schmerzt, Hideto?“, fragte er traurig. „Warum?“
Nun weinte Hyde noch mehr und hob den Blick. „Weil ich dich liebe.“, sagte er dann mit erstaunlich fester Stimme. Tetsuya starrte ihn an und weil er nach ein paar Sekunden immer noch nichts gesagt hatte, riss Hideto sich von ihm los. „Ich liebe dich schon seit Jahren. Und ich dachte, ich kann es aushalten, dir immer so nah zu sein. Aber es geht nicht. Ich kann das nicht mehr. Deswegen kann ich nicht mehr L’arc en ciels Sänger sein, verstehst du? Es tut mir leid, aber ich denke, es ist besser, wenn wir uns erstmal nicht mehr sehen.“ Er drehte sich um und lief in den Flur. Durch seine Tränen sah er alles verschwommen und immer wieder leise schniefend, zog er seine Stiefel an.
Die Wohnung war vollkommen still und nun wusste Hyde, dass es vorbei war. Er hatte seinen besten Freund verloren. Seine Band. Und das allerletzte Fünkchen Hoffnung, Tetsu würde genauso fühlen wie er. Er richtete sich wieder auf, wischte sich fahrig mit dem Handrücken über die Augen und wollte dann nach seinem Mantel greifen. Aber plötzlich spürte er zwei Arme, die sich um seinen Bauch legten und einen Körper hinter sich, an den er fest gedrückt wurde.
„Tetsu.“, schluchzte Hyde. „Bitte lass mich los.“
Aber Tetsuya schüttelte den Kopf. „Nein. Ich lasse dich nicht gehen.“, sagte er.
Leicht drückte sich Hyde gegen ihn. „Bitte mach es mir doch nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist!“
Tetsuya aber drückte den kleinen Sänger nur noch fester an sich.
„Du bist ein Idiot.“, sagte er mit überraschend sanfter Stimme. Hyde runzelte die Stirn. Was sollte das denn werden? Wollte Tetsuya sich über ihn lustig machen?
„Seit Jahren, sagst du?“, fuhr Tetsuya dann fort, ohne Hyde Zeit für eine Erwiderung zu geben. „Warum hast du nie etwas gesagt?“
Da wand Hyde sich endgültig aus den Armen des Größeren, drehte sich zu ihm um und blickte ihn wütend an. „Was denkst du denn? Dass das einfach ist? Weißt du, wie scheiße es ist, wenn man sich in seinen besten Freund verliebt? Ich verliere nicht nicht nur denjenigen, den ich liebe, sondern auch meinen besten Freund! Ich hatte so große Angst vor diesem Augenblick!“, rief er verzweifelt. Aber Tetsuya lächelte, und das irritierte Hideto zutiefst. „Warum guckst du so? Findest du das so amüsant?“, fragte er verletzt. Der Bassist schüttelte den Kopf. „Ich weiß, wie du dich fühlst.“, sagte er dann. „Denn ich liebe dich schon, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.“
Stille. Hydes Augen weiteten sich immer mehr, während noch ein paar kleine Tränen seine Wangen hinab liefen. „…was?“, fragte er dann leise. War das ein Traum?
Tetsuya überbrückte die Distanz zwischen ihnen mit zwei Schritten, schlang die Arme um Hydes zierlichen Körper und drückte ihn fest an sich. „Ich liebe dich.“, sagte er leise.
Das riss den Sänger aus seiner Trance und er hob die Arme, legte sie um Tetsuya. „Ich glaube, ich träume.“, sagte er dann leise und Tetsuya lachte. „Das ist zum Glück kein Traum.“, gab er zurück.
Leicht lösten sie sich voneinander und sofort streckte Hyde sich ein Stück zu Tetsuya nach oben, gab ihm einen vorsichtigen Kuss. Lächelnd erwiderte der Bassist diesen und sehr lange standen sie in Tetsuyas Flur, küssten sich immer wieder.
Danach setzten sie sich wieder ins Wohnzimmer, diesmal aber eng aneinander geschmiegt. „Und du… du liebst mich schon… von Anfang an?“, fragte Hyde dann und blickte Tetsuya an. Dieser nickte. „Ich hab‘ dich das erste Mal in diesem Park gesehen. Du hast auf einer Bank gesessen und auf einer alten Gitarre gespielt, und dein langes Haar hing dir ins Gesicht. Irgendwie… war es wie Liebe auf den ersten Blick.“, sagte der Bassist und strich dem Kleineren durchs Haar. Der grinste. „Und warum hast du nie etwas gesagt?“ Tetsu schmunzelte. „Aus demselben Grund wie du. Ich wollte unsere Freundschaft und die Band nicht gefährden.“ Sie küssten sich erneut und dann blickte Tetsu Hyde fragend an. „Was… was ist mit Megumi?“, fragte er. Da lächelte Hyde. „Wir sind schon seit über einem Jahr kein Paar mehr. Wir haben uns im Guten getrennt. Es war auch höchste Zeit, das, was wir die letzten Jahre geführt haben, war alles, nur keine Ehe.“
Das brachte Tetsuya richtig zum Strahlen und er drückte den Sänger fest an sich. „Von nun an keine Geheimnisse mehr, ja?“ Hideto nickte und lehnte seinen Kopf an die Schulter des Bassisten. „Und ich hoffe, du lässt Laruku nun doch nicht im Stich?“ Da blickte Hyde wieder auf. „Niemals.“, lächelte er. „Und dich auch nicht.“
